Textdaten
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Autor: Victor Blüthgen
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Titel: In letzter Stunde
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 511–515
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[511]

In letzter Stunde.

Novelle von Victor Blüthgen.


Auf dem Bahnhofe einer mecklenburgischen Landstadt war es; an einem wüsten Winterabend, im Februar. Der Wind fegte ein dichtes Schneetreiben bis in den überdachten Bahnsteig herein, daß die Lichter der Laternen Mühe hatten, ihn zu erleuchten – draußen quirlte es, grau und grauer, bald in undurchdringliche Nacht vernebelnd.

Aus dem Zuge, der soeben weiter gefahren, waren nur wenige Personen gestiegen, um rasch im Durchgang oder in den Restaurationsräumen zu verschwinden. Ein großer, starker Mann im Reisepelz, den Kragen hoch bis über die Pelzmütze aufgeschlagen, blieb als der Einzige, der sich dem Unwetter aussetzte. Er bemühte sich, mit Augen und Ohren zu verfolgen, wie man in einiger Entfernung den Lokalzug rangierte, der in wenigen Minuten auf einer Nebenstrecke abgehen sollte; bis hart an die Ecke des Gebäudes wagte er sich in diesem Bestreben, wobei alles an ihm flog, was nicht ganz eng anschloß.

Jetzt sah er unter der Laterne an der Ecke nach der Uhr und schritt plötzlich entschlossen dem Durchgang zu; darauf stand er am Schalter und verlangte ein Billet zweiter Klasse nach R.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür zum Wartesaal dritter Klasse, man hörte Stimmengewirr, dann kam lachend, ein paar Worte hinter sich rufend, ein Mann heraus – gleich darauf stand auch er am Schalter.

„Laudien,“ sagte er, sich vorbeugend, zu dem Beamten, „wir warten nachher auf Sie.“

„Gut,“ klang es innen.

Der Mann hatte ein breites rotes Gesicht mit einem Zug roher Jovialität drin; das Gesicht war bis auf ein Streifchen Backenbart glatt rasiert; eine Tuchmütze saß zurückgeschoben auf dem Hinterkopf, ein grauer Mantel hing lose um die Schultern. Im Abgehen warf er einen Blick auf den andern im Pelz, stutzte, ging drei Schritte, stand, die Finger gegeneinander reibend: „Das ist – wer ist das? …“ Ehe er auf den Bahnsteig trat, drehte er sich noch einmal um.

Der andere kehrte ihm den Rücken, machte sich mit dem Portemonnaie zu schaffen.

„Donnerwetter … das muß er sein … früher hatte er einen Vollbart …“

Man hörte draußen den Zug vorfahren, und der Mann am Schalter, mit dem braunen, schlanken, energisch geschnittenen Gesicht, das allerdings nur einen Schnurrbart aufwies, beeilte sich sichtlich, aus dem Bereich der Halle zu kommen. Er ging draußen am Zuge hin, öffnete sich ein Coupé zweiter Klasse und stieg ein.

„Wohin?“ fragte ein Schaffner, der herzutrat.

„Nach R.“

Kurz darauf kam der Mann im Mantel eilig den Bahnsteig herauf, winkte dem Schaffner. „Ist einer nach R. eingestiegen? Zweiter Klasse? Ein Mann im Pelz?“ fragte er ihn ins Ohr.

„Jawohl!“

Der Frager verschwand mit ein paar langen Schritten im Wartesaal, aus dem er gekommen. Dort saß eine Anzahl Personen in der Nähe des Buffetts um einen Tisch mit Biergläsern, rauchend und schwatzend, unter ihnen ein Gendarm. „Möbius,“ rief der Ankommende, ohne Mütze und Mantel abzulegen, „kommen Sie rasch mal her, ich habe was für Sie.“

Der Gendarm erhob sich bequem und ging zu ihm. „Was haben Sie denn?“

„Sie kennen doch Zellin ganz genau – den von R., der den jungen Storkow totgeschlagen hat – der euch durch die Lappen gegangen ist …“

„Jawohl – was ist mit dem?“

„Ich will gehangen sein, wenn der nicht im Zuge draußen sitzt, in der zweiten Klasse! Ich habe doch so oft seine Gerste gekauft … er hat keinen Vollbart mehr …“

„Ach, was nicht noch – wo wird der so dumm sein und in die Gegend kommen – seine Frau wirtschaftet ja ganz gut …“

„Himmelsakrament, fahren Sie mit, zweite Klasse nach R.! Einer, der genau so aussieht wie Zellin und nach R. fährt, wer soll denn das sein? Was er hier will, ist ganz egal …“

Die hastig gesprudelten Worte machten Eindruck. Der Gendarm nahm rasch seinen Mantel vom Nagel …

Der Zug wollte sich eben in Bewegung setzen, das Abfahrtssignal schrillte noch, als er draußen ankam.

„Halt, halt, ich will mit!“

„Wohin?“

„Zweiter nach R.“

„Rasch – hier …“

Der Gendarm fiel beinahe auf den andern Fahrgast; die Thür schlug zu, der Zug fuhr.

Der Mann im Pelz war leichenblaß geworden, wandte sich [512] dem Fenster der andern Seite zu und spähte scheinbar angelegentlich in die Nacht hinaus, wo doch, obwohl er sich immerfort bemühte, eine Taustelle an der Scheibe offen zu halten, gewiß nicht das Geringste zu erkennen war. Der Gendarm setzte sich zurecht, beobachtete ihn aus seinem Feldwebelgesicht halb neugierig, halb mit amtlicher Würde. Dazwischen suchte er in seinem Gedächtnis. Seine Miene wurde immer zuversichtlicher.

Eine Weile rührte sich nichts im Coupé, man hörte nur den monotonen Viervierteltakt des Bummelzuges. Endlich sagte der Gendarm: „Verdammt schlechtes Wetter heute, was, Herr Zellin?“

Der Mann im Pelz machte eine Bewegnng – dann wandte er plötzlich sein Gesicht herum, das jetzt ziemlich gefaßt aussah, rückte vom Fenster weg näher und nickte dem Gendarm zu. Ein melancholischer Zug legte sich über seine Augen.

„Sie kennen mich, Möbius, wie ich mich sehr wohl auf Sie besinne, wenngleich wir schon jahrelang einander nicht gesehen haben. Ich weiß auch ganz gut, daß mich noch jemand anderes erkannt hat … und ich kann mir denken, wie es gekommen, daß Sie hier sitzen. Mancher Mensch hat eben kein Glück. Ich bin in Ihrer Hand und weiß, daß Sie mich verhaften wollen; der Steckbrief jagt noch hinter mir her.“

Der Gendarm nickte. „Sie sind auch höllisch unvorsichtig, Herr Zellin. Was thun Sie hier?“

„Manchmal reitet einen der Teufel. Ich komme von Schweden, wo mir’s ganz gut ging, und dachte: auf eine Nacht kannst du dich schon mal nach Hause schmuggeln und deine Frau und deine Kinder sehen. Wenn man so jahrelang fort ist von seiner Familie, kriegt man mal die Sehnsucht wie eine Krankheit; sie verwirrt einem ganz den Kopf. Meine Frau hat heute gerade Geburtstag ... Sie sind doch auch verheiratet?“

„Jawohl, sehr – meine Alte wird warten heute …“

„Ich will Ihnen einen Vorschlag machen … nein, nein, Sie sollen mich nicht etwa laufen lassen, hol’s der Fuchs, ich hab’ mich drein ergeben … aber verhaften Sie mich wenigstens heute nicht! Kommen Sie mit auf das Gut, wir trinken einen guten Tropfen auf das Wohl meiner Frau zusammen und machen ihr irgend etwas weis, was sie beruhigt. Wir kneipen die Nacht durch, ich gehe Ihnen nicht aus den Augen, früh um sechs fahren wir ab. Wenn Sie wollen, auch früher, mit Gespann.“

„Hm!“ sagte der Gendarm, mit einem Blick, der in die innersten Gedanken des Herrn Zellin dringen sollte.

„Meine arme Frau hat dann wenigstens einen glücklichen Geburtstagsabend; sie hat Gram genug ausgestanden – verderben Sie ihr bloß heute den Tag nicht. Sie wird nachher noch Jammer genug haben. Wollen Sie? Wir müssen ja doch heute auf dem Gut nächtigen – bei dem Wetter, was soll sonst werden?“

Er hielt dem Gendarm die Hand hin. „Na gut,“ sagte der und schlug ein. „Aber ich passe höllisch auf!“

Ueber das Gesicht des Herrn Zellin flog etwas wie ein Lampenflackern; er blinzelte, nur eine Sekunde.

„Nun sagen Sie bloß, Herr Zellin, wie haben Sie den Menschen totschlagen können! So ’n Mann wie Sie!“

„Gewollt hab’ ich’s ja nicht; ich habe ihn bloß so unglücklich getroffen, nur mit der Faust. Und ich habe wahrhaftig hinterher genug ausgestanden in meinem Gewissen. Die Sache ging so zu: er war ja ein reicher Junge, der einzige Sohn, und sein Vater galt für ’nen halben Thalermillionär. Wir wußten wohl, daß er auf Janekow, das ihm der Alte gekauft, schlecht wirtschaftete, oft verreiste und Geld mit Spiel und anderm Unfug verthat; aber als er kam und mir zwanzigtausend Mark abborgte, hatte ich doch noch keine Ahnung, daß er bankrott war. Er gab mir für das Geld Wechsel, die ich fällig machen konnte, wie ich wollte. Auf einmal höre ich, er ist fertig, der Alte hat das Gut für die Taxe übernommen und will für den Sohn auf die Hälfte accordieren. Ich klage rasch die Wechsel ein, schreibe dem Herrn Sohn meine Meinung – da kommt er, spielt den Gekränkten und schlägt mir vor, ich solle nur in den Accord willigen, für den Ausfall wolle er mir neue Wechsel geben. Ich gebe mich denn, nehme die Wechsel und accordiere. Bald darauf starb der Alte, der Junge erbte. Jetzt will ich die Wechsel bezahlt haben – er lacht mich aus. Wollen sehen, mein Junge, sage ich, zuerst klage ich sie mal ein. Was sagt der Kerl? Ich hätte ja accordiert und mich gegen seinen Vater befriedigt erklärt; wenn ich klagte, würde er mich beim Staatsanwalt denunzieren, daß ich seinen Vater betrogen hätte.“

„So ’n Kerl!“ rief der Gendarm.

„Natürlich klagte ich. Da verreiste er, war nirgends zu finden, ließ aber durch seinen Anwalt erklären, er wolle beschwören, daß die Zehntausend mit dem Accord beglichen wären. Zwei Jahre zog er den Prozeß hin; als er dem Eid am Ende nicht mehr entgehen konnte, blieb er im Termin aus und ich gewann. Da denunzierte er mich richtig und ich kam auf die Anklagebank, weil ich die Sache anfangs zu leicht genommen hatte. Am Ende wurde ich ja freigesprochen, aber denken Sie sich die Scherereien und meine Wut!“

Zellin machte eine Pause, dann fuhr er fort:

„Da war ich mal abends in der Stadt, im Kasino, ging spät in der Nacht ins ,Braune Roß’ zu meinem Fuhrwerk. In der Langen Gasse begegnete mir der Mensch unter einer Laterne, blieb stehen und lachte, daß die ganze Straße schallte. Ich konnte mich nicht halten, hatte wohl auch’n bißchen viel Rotspohn getrunken – kurz, ich schlug ihn mit der Faust gegen den Kopf; wohin ich traf, war mir egal. Er fiel um wie ein Sack. Ich wurde nüchtern, untersuche ihu, kriege eine Todesangst … die Sache war faul. Kein Mensch in der Nähe. Ich lasse anspannen, jage nach Hause. Ich ein Mörder! Denken Sie sich bloß das Gefühl, und die Scene mit meiner Frau! Aber es half doch nichts, ich ordnete das Nötigste, dampfte mit dem Frühzug nach Rostock, von da mit einem Norweger Dampfer weiter … aber da sind wir …“

Der Zug bremste, eine Glocke schallte.

„Seitdem haben Sie Ihre Frau nicht gesehen?“ Der Gendarm erhob sich.

„Doch, einmal, in Stettin. Aber sie stand solche Angst aus, daß ich sagte: Nicht wieder.“

„Aber geschrieben haben Sie sich doch mit ihr?“

„Ja, ab und zu, durch eine Cousine von ihr.“

„Haben Sie kein Gepäck?“

Sie standen jetzt draußen auf dem Bahnsteige.

„Ich habe alles in Stralsund gelassen.“

Es gab hier nur eine Haltestelle: ein kleines Häuschen, die unumgänglichste Beleuchtung. Das Schneetreiben hatte etwas nachgelassen, aber der Wind pfiff grausam kalt weiter. Niemand war außer ihnen auf dem Bahnsteige als der Wärter der Haltestelle, und der hielt seine Aufmerksamkeit dem Zuge zugewendet.

„Kommen Sie rasch,“ sagte Zellin, nahm den Arm des Gendarmen und führte ihn um das Gebäude herum. „Ich kenne den Weg.“

Sie schritten im Schnee einen absteigenden Weg hinunter; das Schneelicht reichte kaum hin, ihn zu bezeichnen. Der Himmel war pechfinster. Die beiden schwiegen, während sie nun über Feld gingen, durch das eisige Sausen. Nur einmal fragte der Gendarm: „Zu Hause bei Ihnen wissen sie wohl, daß Sie kommen?“ – „Nein,“ sagte der Gutsbesitzer. Beide mußten schreien, um einander zu verstehen. – Endlich kamen kahle Bäume rechts und links; ein Hund schlug an, ein halb Dutzend andrer nahm das Gebell auf. Ein Häuschen – ein paar andere, mit dunklen Fenstern; Scheunen, ein Hof: da ist das langgestreckte, zweistöckige, weiße Gutshaus. Eine große Dogge rannte aus einem Winkel, Zellin rief: „Diana!“ und der Hund stutzte, heulte und sprang an seinem Herrn wie toll in die Höhe, daß der Mühe hatte, ihn zu beruhigen. Er drängte vorwärts, den hellen Parterrefenstern zu.

Der Gendarm, an dem jetzt der Hund herumschnüffelte, blieb hart hinter ihm, er hatte durchaus nicht die Absicht, den Herrn Zellin entwischen zu lassen, wie sehr ihm der Mann auch nach seiner Erzählung persönlich leid that. Erst kurz vor dem Hause hielt er sich etwas zurück.

Zellin spähte in die Stube, klopfte an die Scheibe. „Mieke!“ rief er mit rauher, halb erstickter Stimme. „Mieke!“ Und gleich darauf wurde der Flügel aufgerissen.

„Adolf – Adolf – allmächtiger Gott …“

„Ich komme, Dir zum Geburtstag zu gratulieren . . .“ weiter brachte er nichts heraus, die Gatten hingen aneinander wie verwachsen, man hörte das aufgeregte Schluchzen der Frau. Plötzlich hielt Zellin ihren Kopf mit beiden Händen fest und sagte laut: „Ich bringe den Gendarm Möbius mit, aber fürchte nichts für mich, auch wenn ich morgen noch einmal mit ihm abfahre – ich werde frei sein.“ Und dann bog er sich einen Augenblick hart an ihr Ohr und flüsterte hastig hinein: „Frag’ nicht weiter darüber, mit keinem Wort – hörst Du?“

[514] Die Frau schloß das Fenster, ließ die beiden ein. „Entschuldigen Sie, Frau Zellin,“ sagte der Gendarm, „ich muß Ihren Mann nur amtlich morgen melden, es wird sich alles machen. Ich gratuliere auch zum Geburtstag!“ Er sprach das mit einer gewissen plump gutmütigen Vertraulichkeit, die eher Verdacht erweckend als beruhigend wirken mußte.

„Ich danke Ihnen; bitte, kommen Sie nur herein!“

Zellin war schon in der Stube, während der Gendarm und die Frau das Vorzimmerchen durchschritten; er warf Pelz und Mütze auf den ersten besten Stuhl, wie eine bis zur Erschöpfung getragene Last, und ging in mühsam verhaltener Erschütterung auf zwei hübsche halbwüchsige Mädchen zu, die vollkommen verwirrt am Tisch unter dem Licht der Hängelampe standen, hochrot, mit großen fragenden Augen … „Annemieke mein Kind Du – Du – so sieht Dein armer Vater aus – Ditha, meine Kleine – mein Braunköpfchen …“ Er riß sie leidenschaftlich an sich, erst eine nach der andern, dann setzte er sich, jede mit einem Arm an sich gepreßt, sie küssend, den Anblick ihrer Blumengesichter trinkend. Nun ließ er sie los, stützte die Arme auf die Kniee und barg den Kopf hinein; nur aus dem Krampf, der ihn schüttelte, merkte man, daß er aufhörte, sich zu beherrschen.

Seine Frau stand neben ihm, legte ihren Arm um seinen Nacken. Der Gendarm, welcher seinen Mantel im Vorzimmer abgelegt hatte, blieb nahe der Thür – er kam sich sehr überflüssig vor und behalf sich mit seiner Amtspositur. Zellin erhob sich, den Arm der Gattin ablösend und um seine Taille ziehend, dann nahm er ihren Kopf um, preßte sie fest an sich und führte sie durch die Stube. „Nehmen Sie am Tische Platz, Möbius, ich bin gleich fertig, ich muß nur erst meine Frau wieder haben. – Mieke,“ flüsterte er mit heißer Zärtlichkeit zu ihr nieder … und dann wieder einmal: „Meine Mieke … so lange entbehrt …“ Er küßte nur ihr Haar.

Sie schritten auf und ab so. Einmal, beim Fenster, sagte er so leise, daß sie es kaum verstand: „Nur dieser Abend noch vorbei – bete, Mieke!“

„Wie lange sind Sie eigentlich fortgewesen, Herr Zellin?“ fragte der Gendarm, dem bei aller Teilnahme die Sache langweilig wurde.

Frau Zellin fühlte einen heftigen Druck von dem umschlingenden Arm, als wollte er ihr mit einer Warnung die Kehle zuschnüren.

„Ich weiß es selber kaum – eine halbe Ewigkeit, glaube ich –“

Er führte die Gattin an den Tisch vor, unter das Lampenlicht, eine aschblonde Mecklenburgerin von echtestem Typus, stattlich von frauenhafter Fülle und mit jenem Anflug von Phlegma, der vornehm läßt. Jetzt sah sie erregt, verweint und unsicher aus – sie stand vor einer Situation, die sie nicht recht faßte und die sie immer wieder unerwartet einschränkte. Er wird frei sein – kommt einen Tag früher als … da sitzt ein Gendarm … es braucht Vorsicht … was heißt das?

Zellin ließ sie los, breitete die Arme auseinander, holte tief Atem, als befreite er sich von etwas, und sagte: „Ah! … Wir wollen Geburtstag feiern, Mieke. Hast Du Wein im Keller?“

„Ja, noch von früher her.“

„Der muß gut sein. Hast Du jemand bei der Hand, in den Keller zu schicken? Aber laß niemand hier herein, wir wollen unter uns bleiben. Und etwas zu essen könnte auch nicht schaden.“

Sie nickte und ging hinaus.

„Noch ein paar Minuten Geduld, Möbius! Heute sollen Sie mal einen ordentlichen Tropfen trinken. Seien Sie gemütlich, Mann Gottes; mir ist ganz leicht jetzt – was sein muß, das muß sein. Ich mach’ mir keine Sorge mehr. Bis Zwölf ist Freiheit, dann legen Sie mir die Hand auf die Schulter. Meine Kleinen! Was treibt ihr denn? Lernt ihr denn was? Wo habt ihr Schule?“

Er saß wieder zwischen den Mädchen, jedes mit einem Arm umfassend, und sie schmiegten sich willig an ihn.

„Bei Fräulein,“ sagte die kleine Brünette zuthulich.

„Was? Ach so, ihr habt ein Fräulein. Wo ist sie denn?“

„Auf ihrer Stube.“

„Sie will Briefe schreiben,“ fügte die ältere hinzu.

„Das paßt ja –“ er sagte das für sich. „Seht ihr – und der arme Papa hat so lange nichts von euch gehabt … ist weit fort gewesen auf Reisen: wißt ihr, wo Schweden liegt?“ …

Er plauderte mit den Mädchen, erzählte ununterbrochen fort, krampfhaft gesprächig – die Hausfrau deckte, still für sich hin, nur flogen verstohlene, sorgende, fragende Blicke auf den Gatten – einmal, zweimal nahm sie seinen Kopf im Vorbeigehen, preßte ihn an sich: „Du hast Dich nicht viel verändert, Adolf,“ sagte sie, und dabei leuchtete es auf in den lichtblauen Augen. „Du auch nicht,“ nickte er. „Aber die zwei hier.“

„Soll ich das Bett für den Herrn Möbins richten?“ fragte sie, als sie mit den Weinflaschen herein kam.

„Na – wie wär’s?“

„Herr Zellin …“ betonte der Gendarm, hob wichtig die Brauen und die Schultern. O, er paßte auf den Dienst!

„Laß nur, Mieke. Das wird sich später finden. Viel Mühe macht’s ja nicht. Also jetzt …“

Er entkorkte zwei Flaschen und goß ein.

„Dein Wohl, meine tapfere Mieke, und Gott füge es noch gut mit uns beiden! Trink aus!“

„Ihre Gesundheit, Frau Zellin,“ sprach der Gendarm mit seinem tiefsten Baß. Er trank auch aus, langsam, bedächtig, während die Gatten einander umschlungen hielten und küßten. „Das ist, glaube ich, was sehr Gutes, Herr Zellin, soweit ich es verstehe,“ dehnte er schnalzend.

„Ja, das ist noch ein Fünfundsiebziger. – Nun schieß mal los: was macht die Wirtschaft, Mieke?“

Er schenkte wieder voll, während sie berichtete. Es war alles im Stande, sie hatte einen guten Inspektor. Dann kam Möbius dran. „Was machen sie denn bei Ihnen in der Stadt?“ Zellin fragte einzeln durch, was ihn interessierte, bis der Gendarm gesprächiger wurde. Er erzählte breitspurig – Zellin saß auf dem Sofa mit seiner Frau; nach dem Essen holte er Cigarren aus der Tasche; immer wieder schenkte er ein – saß zwischendurch, hielt die Gattin umfaßt, bis die aufstand, um die Kinder ins Bett zu bringen. Dann erhob auch er sich, sagte ihnen Gute Nacht. „Soll Papa nun bei euch bleiben?“ „Ja, Vadding, ich lasse Dich nicht wieder fort,“ rief die Kleine und küßte ihn stürmisch; worauf sie der Mutter nachging. „Ihr Unschuldsengel,“ sagte er resigniert hinter ihnen her. „Na, es wird ja auch werden!“

„Es wird wohl zum Aushalten sein, Herr Zellin. Was werden Sie denn kriegen? Ein paar Jahr Gefängnis. Das glauben sie Ihnen, daß sie den Menschen mit der bloßen Faust nicht gerade haben totschlagen wollen und daß es nichts weiter wie ein Unglück gewesen ist.“

„Wollen’s hoffen,“ nickte der Gutsbesitzer und goß wieder frisch ein. „Prosit – wir wollen drauf eins trinken!“

Die Gläser klangen und Zellin zog die Uhr.

„Noch anderthalb Stunden,“ sagte er und setzte das Glas nieder, „dann haben Sie mich.“

„Ja wie machen wir’s denn nun, Herr Zellin? Bis zum Zuge hier sitzen, das paßt mir nicht, ich bin doch zu müde dazu. Es kann Ihnen doch egal sein, wenn wir mit Fuhrwerk fahren, Pferde und Leute genug sind ja hier. Was meinen Sie?“

„Natürlich – wie Sie denken. Wollen mal sehen, wie es draußen aussieht.“ Er ging das Fenster öffnen, der Gendarm erhob sich vorsichtigerweise auch und trat hinter ihn. Als er den Flügel aufschlug, warf der Wind eine Flockenwolke herein, die sie überschüttete.

„Pfui Teufel,“ rief Zellin, rasch wieder schließend. „Eine nette Fahrt wird das werden, wenn’s so bleibt. Na, in anderthalb Stunden kann sich’s ja ändern. Ich wollte sagen: ich verschwöre meine Seligkeit, daß ich Ihnen nicht durchginge, wenn wir nach Zwölf ruhig uns bis zum Frühzug noch ein paar Stunden hinlegten, aber Sie glauben mir doch nicht.“

„Ich muß meine Schuldigkeit thun,“ meinte der Gendarm achselzuckend. „Es geht nicht, Herr Zellin. Mechow, der Getreidehändler, weiß, daß ich Ihnen auf den Hacken bin …“

„Ist gut,“ nickte der Gutsbesitzer zustimmend. „Sagen Sie nur nachher, wenn es soweit ist, wie Sie’s haben wollen …“

Die Hausfrau kehrte zurück.

„Ich habe doch ein Bett zurechtgemacht. Wo will denn der Herr Möbius noch hin diese Nacht? Bleiben Sie lieber hier, es ist so abscheuliches Wetter.“

„Wir werden’s abwarten, Mieke, wir haben eben darüber gesprochen. Vorläufig bleiben wir bis Zwölf auf, wenn er nachher fahren will, wecken wir einen Knecht und lassen anspannen.“

Sie sah unruhig vor sich hin, sah ihren Mann an, schüttelte leise den Kopf und setzte sich dann. Zellin regte wieder krampfhaft lebhaft, wie er früher nie gewesen, Gespräche an, erzählte dem [515] Gendarm die Umstände seiner Flucht mit allen Einzelheiten, seine weiteren Schicksale, wie er im Holzhandel Beschäftigung gefunden, unter falschem Namen, durch einen Verwandten, der drüben lebte … ihre Blicke ruhten immer mit heimlicher Angst auf dem Wiedergefundenen, der in dieser Begleitung heimkehrte, mit einem Geheimnis auf dem Herzen, an das nicht gerührt werden durfte ... War es denn nur wirklich so, daß sie glauben durfte, ihn zu behalten? Ja, wenn er morgen gekommen wäre, und ohne diese Begleitung! So hatte sie es ja erwartet. War er ein Gefangener, dem man nur auf Stunden die Vergünstigung gewährte, sie wiederzusehen?

Das Herz schnürte sich ihr zusammen bei diesem Verdacht, und ihr wurde eiskalt und ganz schwach im Kopfe.

Belog er sie? Um ihr ein paar glückliche Stunden zu schaffen? Aber das konnte nicht ganz stimmen … in seinem ganzen Benehmen war noch etwas anderes angedeutet. Was? – ja was?

Die Viertelstunden schlichen. „Vorläufig bis Zwölf“, hatte er gesagt. Sie tranken – Zellin wurde immer aufgeregter, der Gendarm bekam eine schwere Zunge, wurde müde und weigerte sich am Ende, mehr zu trinken. „Eh,“ rief Zellin überlustig, „ist das alles, was Sie vertragen können? Nur zu, noch mal auf meine Frau …“

„Ich soll mir einen antrinken, Herr Zellin. Das giebt’s nicht,“ sagte der Gendarm, sich stramm machend und mißtrauische Blicke werfend. „Ich halte mein Wort, aber weiter nichts …“

„Meinetwegen ja; ich will auch weiter nichts. Seien Sie kein Frosch, Möbius … ist gut, ich will Sie nicht elenden –“ Der Gendarm hatte sich schwerfällig und sehr ernsthaft erhoben, nun setzte er sich wieder. Und Zellin sah nach dem Regulator an der Wand, der zehn Minuten vor Zwölf zeigte, und seine Wimpern zuckten und er war plötzlich wie geistesabwesend, so starrte er vor sich hin in die Luft und dann wieder auf seine Frau, worauf seine breite Brust schwer Atem holte.

Frau Zellin war seinen Augen gefolgt. Dicht vor Zwölf … und um Zwölf geschieht etwas, aber was? Etwas Großes oder etwas Furchtbares … seine Augen sagen es. Ihr wurde aufs neue eiskalt zu Mut, tot im Kopf und Herzen, als müßte sie ohnmächtig werden.

Zellin spricht auf einmal wieder sehr ruhig, spricht zu ihr, will wissen, was sie für Kutschpferde jetzt hat. Sie muß Auskunft geben, dabei zittern ihre Lippen. Haarklein fragt er sie aus, wie sie aussehen, wie alt sie sind, von wem gekauft. Was sie vorher für welche gehabt – ob der alte Schlitten noch da sei – dann erzählt er von schwedischem Fuhrwerk, von Schneeschuhfahrten im Winter . . .

Der Gendarm beobachtet ihn wie eine Katze die Maus, obwohl es ihn Mühe kostet, die Augen zu spannen. Der Himmel weiß – ihm ist ein Mißtrauen gekommen, das ihn, wo er schon etwas viel getrunken, wie eine fixe Idee gefangen nimmt, immer ausschließlicher beherrscht. Und Zellin sieht es; ein paarmal fängt er diesen Blick des Gendarmen auf, ohne, so scheint es, Notiz davon zu nehmen, dann nickt er ihm verständnisvoll zu und winkt mit dem Kopf zu dem Regulator hinauf. „Geduld, Möbius – übernehmen Sie sich nicht, wir sind gleich soweit.“

Frau Zellin muß das hören. Sie kann sich nicht mehr halten. Totenblaß fährt sie auf. „Was ist, Adolf? Was habt ihr vor?“

„Ruhig, Mieke,“ sagt er, steht plötzlich neben ihr, umfaßt ihren Kopf und hält ihr wie zufällig den Mund zu. „Sorge Dich nicht, es giebt nur eine Ueberraschung … Sie haben doch Ihre Uhr bei sich, Möbius – dort oben ist’s jetzt Zwölf – stimmt das mit Ihrer Kartoffel?“

Der Gendarm zieht seine Uhr und nickt. „Bei mir ist’s schon fünf Minuten drüber. Ja, Herr Zellin, dann kann ich Ihnen nicht helfen – im Namen des Gesetzes: Sie sind verhaftet; ich kann’s nicht ändern, Frau Zellin …“

Er ist aufgestanden, die Hausfrau jäh in die Höhe gefahren, aber der Gatte drückt sie nieder. „Mieke,“ sagt er, schwerer und immer schwerer atmend, und es preßt ihn, daß er aufschreit: „Mieke – ich bin ja frei – jetzt, von jetzt ab ..“ Und er schluchzt aus tiefster Brust und der schreckliche Krampf, der ihn zusammengeschnürt hat, löst sich mit diesem Schluchzen. „Mein Weib, mein liebes armes Weib – meine Mieke …“ Er umschlingt sie, neben ihr knieend, und drückt seinen Kopf in ihren Schoß. Ihre Augen starren ihn entsetzt an, ihre Gedanken werden ganz verwirrt. „O mein Gott, Adolf, was heißt das, ich begreife ja das alles nicht …“

Er murmelt bloß, was sie nicht versteht, er braucht Zeit, bis er wieder verständlich reden kann. Der Gendarm steht in nächster Nähe, schüttelt den Kopf und sieht um sich, als ob er an Zellins gesundem Verstand zweifelte.

„Ich muß ihn mit fortnehmen, Frau Zellin,“ sagt er, „ich thue meine Pflicht, wenn es auch hart ist. Wir müssen ein Gespann haben, es geht mal nicht anders …“

„Mieke,“ spricht Zellin und hebt den Kopf, und in seinem Gesicht leuchtet alles, „jetzt, gerade um Zwölf, ist alles verjährt – verjährt! Sie können mir nichts mehr anhaben! Bei Gott, wie ich schrieb: es ist so, ich weiß es ganz genau. Jetzt nutzt alles Verhaften nichts mehr. Ich war ja leichtsinnig, daß ich einen Tag früher herfuhr, ich wollte so gern auf Deinen Geburtstag kommen und dachte nicht, daß das Unglück so grausam sein könnte, mir den einzigen Menschen in den Weg zu führen, der alles verderben konnte …“

„Alle Hagel, wenn das wahr ist, dann habe ich mich schön dumm machen lassen, Herr Zellin,“ bricht hier die Ueberraschung des Gendarmen heraus. „Wir wollen’s aber doch erst mal abwarten.“ Und er stemmt einen Arm auf die Hüfte.

„Machen Sie, was Sie wollen, Möbius. Ich lasse anspannen und fahre mit, wenn Sie dafür sind; wir werden mit dem Richter reden und Sie werden sehen, daß ich recht habe. Ich weiß ja die Strfsgesetzbuchparagraphen auswendig wie das Einmaleins: – in zehn Jahren ist die Strafverfolgung verjährt, an dem Tage, wo das Verbrechen begangen ist, und heute war’s, heute vor zehn Jahren, wo mich das grausame Unglück getroffen hat … malen Sie sich bloß aus, Möbius: man will nichts weiter wie einem frechen Menschen seinen Aerger hinter die Ohren schlagen, wie das jedem einmal gelüsten kann, und auf einmal ist man ein Mörder und zehn Jahre flüchtig wie Kain und schleppt außerdem das Grauen bis ans Lebensende mit sich! … Und wenn ich vor Zwölf noch vor den Richter kam, Mieke – wenn mich bloß einer bei ihm meldete und er sagte: Wird morgen vernommen – dann war alles umsonst, jede Handlung des Richters unterbricht die Verjährung! All die Vorsicht, die Angst, die zehnjährige schreckliche Trennung – alles umsonst! … Sie hätten mich ja meinetwegen verhaften können, Möbius – nur der Richter durfte vor Zwölf nichts davon erfahren!“ Er sprudelte das hastig hervor – was er an qualvollen Gedanken bei sich behütet, mußte heraus wie eine verborgene Krankheit, von der man genesen will. Nun hielt er erschöpft inne; so hatte er sich in Aufregung gesprochen, daß ihm der Schweiß in dicken Tropfen auf der Stirne stand.

Der Gendarm hatte mit gerunzelter Stirn zugehört. Ein Vorwurf traf ihn nicht darum, daß er Zellins Bitte nachgegeben; seine Instruktion verlangte nichts, was er versäumt hätte. Ja – im Grunde seines Herzens war er froh darüber, wie sich alles gefügt hatte. Aber die Thatsache war nicht aus der Welt zu schaffen, daß er, der Beamte, sich gründlich hatte nasführen lassen.

„Ich weiß nicht, ob das alles stimmt, Herr Zellin,“ sagte er grob und ärgerlich. „Das mögen sie auf dem Gericht untersuchen. Ich habe meine Pflicht zu thun, und ich muß darauf bestehen …“

„Jawohl, ja doch!“ unterbrach Zellin, sich erhebend. „Sorge, Mieke, daß der Kutscher geweckt wird und anspannt – bei dem Wetter ist die Kutsche besser als der Schlitten, denke ich.“

Auch die Frau stand jetzt auf. Die Hände auf die Brust gepreßt, hatte sie ängstlich dem Gatten während seiner Auseinandersetzung auf den Mund gesehen, nun irrten ihre Blicke von einem der Männer zum andern und plötzlich ergriff sie Zellins Hände: „Adolf,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „bei Deiner Ehre: ist’s wahr, ist’s ganz sicher, daß jetzt alles verjährt ist, daß sie Dich nicht mehr einsperren können? Ich bin auf alles gefaßt.“

„Bei der Todesangst, die ich in diesen Stunden ausgestanden habe, Mieke, es ist so – der beste Advokat, den ich kenne, hat mir’s herausklamüsert.“

*  *  *

Die Männer fuhren in die Stadt, in geschlossener Kutsche vor dem Wettergraus dieser Nacht geborgen. Ein paar Stunden war Zellin in Gewahrsam, dann gab ihn der Richter vorläufig frei, mit einem lächelnden Glückwunsch.

Der arme Zellin war gut beraten gewesen!

Der Gendarm Möbius aber läßt sich gar nicht gern an die Sache erinnern, auch heute noch nicht, wo Jahre darüber vergangen sind. Er – solch ein Pfiffikus!