Im Gottesländchen/Talsen und Umgegend

Zwischen Zabeln und Talsen Im Gottesländchen
von Edgar Baumann
In den Bergen bei Talsen
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Talsen und Umgegend.

Bis zum Pastorate, ungefähr 4 Werst vor Talsen, sahen wir recht wenig Wald, nur mäßige Anhöhen, Wiesen, Felder und Gehöfte. Beim Pastorate wurde es anders, da wir hier einen Teil der sogenannten Talsenschen Schweiz durchfahren mußten. Die Gegend war hier bergig und stark bewaldet. An einer Stelle hinter dem Pastorate hatten wir einen herrlichen Blick in ein Waldtal, wo im tiefen Grunde, von schönen, sich romantisch die Bergabhänge hinanziehenden Nadel- und Laubwaldungen umrahmt, ein silberner See schimmerte. Dort, wo sich unser Weg kurz vor Talsen mit der Nurmhusenschen Chaussee vereinigte, funkelte uns links ein anderer spiegelglatter See entgegen. Das war der Sunktursee beim Berge gleichen Namens. Gleich darauf erblickten wir, den Wald verlassend, hinter einer Anhöhe den Turm der Talsenschen lutherischen Kirche und ein paar Minuten später das Städtchen selbst. Kurz vor diesem lag links die Villa eines Barons mit einem großen, neuangelegten Parke. Im oberen Stadtteil machten wir in der Rigaschen Straße beim Hotel Grunsky halt.


Wenn es wahr ist, was der Volksmund erzählt, daß auf dem hohen Berge diesseit des tiefen Tales, in dem der Talsensche See liegt, einst ein Kloster gestanden hat, worauf ja auch der Name „Klosterberg" hinweise, so muß man gestehen, [15] daß sich die Mönche eine der schönsten Stellen der Gegend zu ihrem Wohnsitz ausgesucht hatten. Von diesem Berge konnte man weit Ausschau auf die schöne, ländliche Umgegend von Talsen und das Städtchen selbst halten. Auf hügeligem Boden erstreckten sich Felder und Wiesen, schattige Haine und Wälder; dazwischen sah man Gehöfte, hin und wieder ein stattliches Gutsgebäude; unten im Tale schimmerte in seinen hellgrünen Ufern der stille See; in seinen Fluten spiegelten sich rechts die Häuser von Talsen, die sich diesseits zum laubbeschatteten Kirchberge, wo sich die wohl noch aus katholischer Zeit stammende Kirche erhob, und zum Schloßberge hinter der Kirche, wo jetzt die Mühle stand, hinanzogen, jenseits aber bis Neu-Talsen hinaufreichten, an das sich das rechtgläubige Viertel mit dem netten Gotteshäuschen schloß. Aus dem Klosterberge waren noch Spuren von Schanzen erkennbar, die aus den schwedischen Kriegszeiten herrühren mochten. Unter dem Berge befänden sich, wie erzählt wird, unterirdische Gänge. So soll man vor Zeiten oben auf eine Tür gestoßen sein, die in einen Gang geführt habe. Kinder hätten sie beim Spielen entdeckt. Bis sie aber heruntergekommen, um es den Erwachsenen zu sagen, sei jene Tür wieder verschwunden. Eine andere Mär, die ich übrigens auch bei Zabeln und Kandau gehört, lautete dahin, daß Enten, die auf dem Berge Nahrung gesucht, oben verschwunden seien, um bald darauf auf dem Wasser des Sees aufzutauchen. Daraus habe man geschlossen, daß der betreffende Gang unter dem See eine Öffnung haben müsse. Schön war der Ausblick vom Klosterberge; doch entzückend die Aussicht auf Talsen und Umgegend vom gegenüberliegenden, höheren Letzberge aus. Der Ausruf: „Hier ist es schön; hier laßt uns Hütten bauen!" entrang sich einem unwillkürlich dort oben beim Anschauen der von der Abendsonne freundlich beschienenen Landschaft.

Talsen liegt zu beiden Seiten und inmitten eines Tales, [16] in dem zwei kleine Seen den unteren Teil des Städtchens begrenzen. Vor mehreren Jahrzehnten, so erzählte man mir, soll das Städtchen ein ganz kleiner Flecken gewesen sein, der aus ein paar Hänsern und einem Kruge in der Nähe des Kirchberges bestanden habe. Über den noch ungeteilten See im Tale, der jetzt rechts und links vom Städtchen den Talsenschen und den Wolfssee bildet, sei man damals mit einem Floße gefahren. Später sei jene Überfahrtsstelle versumpft, dann verschüttet worden, und auf diese Weise ein Landweg entstanden, wo im Herbste die Pferde und Wagen tief in Schmutz und Schlamm versunken seien. Erst vor wenigen Jahren sei dem Übel durch Pflasterung abgeholfen worden, und jetzt ziehen sich längs der Straße durch das Tal Häuser hin, hier bergab, dort bergan. Das alte Talsen, das hier gestanden, soll in Kriegszeiten seinen Untergang gefunden haben. Eine Erinnerung an dasselbe bilden hier ausgegrabene alte Kanonen, die jetzt drüben am Wege nach Dondangen als Wegepfeiler friedlichen Zwecken dienen. Die Entstehung des heutigen Talsen fällt nach Possart (Gouv. Kurland) ins 17. Jahrhundert. Auf dem Schloßberge hinter der Kirche hat einst, zurzeit des alten Talsen, ein ritterliches Schloß gestanden. Dort be­finden sich jetzt die Mühle und das steinerne Wohnhaus des Herrn G., eins der besten in Talsen, mit einem schönen Garten. Bei diesem Hause hat man gleichfalls einen lohnenden Ausblick auf das Städtchen. Unten im Tale liegt dort der von grünen Wiesen umrahmte Wolfssee, dessen Ufer früher mit Nuß­gesträuch bewachsen waren. Am andern Ende dieses Sees liegen die Güter Wolfshof und Talsenhof. In Wolfshof machte man mich auf eine Riege aufmerksam, von der sich das Volk folgendes erzählen soll. Nach einem Brande derselben habe man dort beim Neubau Menschengebeine, Säbel, Schwerter und Dolche gefunden, und lange nachher, als die Riege wieder benutzt worden, sei es unmöglich gewesen, [17] in ihr die Nacht zu verbringen: man habe Waffengeklirr gehört, und plötzlich sei der Schläfer von unsichtbarer Gewalt aus seinem Bette geworfen worden. — Auch in Talsen ist das jüdische Element stark vertreten. Auf den Gassen sahen wir überall Judenkinder sich tummeln, denen im Sommer ihr halbadamitisches Kostüm sehr zustatten kam. Früher sollen die Juden noch zahlreicher gewesen, jetzt aber viele nach Amerika ausgewandert sein. Die neue Synagoge, deren Inneres uns der Pförtner zeigte, stammt aus dem Jahre 1850. — So mancher, der später das „gymnasium illustre“ in Mitau be­sucht und darauf eine Hochschule bezogen, hat in der früheren Kreisschule (jetzt Privatknabenschule) zu Talsen seine erste Ausbildung genossen. Der Inspektor dieser Schule war ein gar lieber Mann, der sich freute, seine gewesenen Schüler und deren Kommilitonen bei sich zu sehen. Er hatte die Freundlichkeit, seinen früheren Schulbuben, jetzt Musensöhnen, einen Einblick in die alten Klassenbücher zu gestatten. Da gab es ein großes Gaudium, als man verzeichnet fand, daß dieser oder jener von ihnen dazumal für Aufführung oder Fortschritte gar unbefriedigende Nummern, z. B. 1 3/4 oder 2 1/3, aufzuweisen gehabt hat.


In der Nähe von Talsen lag links an der Goldinger Landstraße das Gut Feldhof, wo wir bei Herrn R., D.'s Bruder, abgestiegen waren. Er hatte dieses Gut und das rechts von der Landstraße gelegene Althof in Arrende. Beide Güter umfaßten gegen 1000 Hofstellen und gehörten zu Postenden, das etwas weiter links zu sehen war. Zwischen diesem Stammgute und Feldhof lag das Gesinde Drawnieken (das „Bienenzüchter“-Gehöft). Am Nachmittage des 27. Juni[WS 1] — es war ein Sonntag — weilten wir mit anderen Gästen dort zum Besuche. Dem Gesinde gegenüber befand sich jenseit der Landstraße der Juschku-Purwis, ein zum Teil [18] ausgetrockneter, mit Birken bestandener ehemaliger Moorgrund (Purwis: Morast, Sumpf), wo ein Grünfest stattfand. Am Abend begaben wir uns auf einige Augenblicke hinüber. Auf einem Rasen wurde bei den Klängen der Musik eifrig getanzt. Die Festteilnehmer waren Landleute und Handwerker aus Talsen. An kleinen Holztischen erfrischten sich die guten Leute auch an Gerstenbräu. Bis in die Nacht hinein huldigten sie unermüdlich dem Tanzvergnügen. Zum Schluß wurde ein Feuerwerk abgebrannt, das hauptsächlich aus Leuchtkugeln und Raketen bestand.

28. Juni. In der Umgegend von Talsen wird kein reines Lettisch gesprochen. So z. B. sagen hier die Leute statt „tuhwak“ (näher) — „tuhjak“. Besonders charakteristisch ist die Vorliebe für die Endung e, die überall zu Tage tritt: statt „wirßu“ (oben) sagt man hier „wirße“, statt „pienu pagrabah“ (der Lokativ: „im Milchkeller“) hörte ich „piemu pagrabe“ sagen. Das Hilfszeitwort sein hat im Präsens für alle drei Personen die Form der 3. Person „ir“. So teilte man mir die Aufschrift des jüdischen Leihhauses „Zur goldenen Ente“ in Talsen mit, die lautete[1] : „Es ir ta selta pihle, kuo wissi ljaudis mihle; pie man warr dabbuht naudu par tjihle.“ (Wörtlich übersetzt: „Ich bin die goldene Ente, die alle Menschen lieben; bei mir kann man Geld für ein Pfand bekommen.“ „Es ir“ steht hier für „es eßmu“ des Schriftlettischen. — Am Nachmittage gingen wir nach Althof hinüber, wo wir beim Aufseher K. einkehrten, der uns eigengebrautes Bier, lettisch „tahping“ genannt, vorsetzte. Dieses Getränk ist bedeutend schwächer als das in den Brauereien hergestellte und dient in der heißen Jahreszeit als ein gutes durststillendes Mittel. Im Zimmer, wo wir uns aufhielten, [19] gab es ein großes Fliegengesumm, denn dieser Sommer war auf dem Lande ein fliegenreicher. Während wir dort saßen, erschien draußen eine abgelumpte Jüdin mit einer großen Schar halbnackter Kinder, die sämtlich wie die Zigeuner braungebrannt waren. Das Weib klagte über ihre verzweifelte Lage, erzählte, daß sie in Schagarren (an der kurischen Grenze in Litauen gelegen) abgebrannt seien und nur das bloße Hemd am Leibe besäßen. K. ließ sich nichts vorschwindeln, sondern verwies sie an die reichen Stammesgenossen in Talsen, wohin sich denn auch die braune Schar auf den Weg machte. Im Garten von Althof sollen Schätze vergraben liegen. So gehe, sagt man, seit alten Zeiten die Sage unter dem Volke. Leider seien die Nachgrabungen der früheren Pächter erfolglos gewesen. Dennoch erhalte sich hartnäckig das Gerücht von ihrem Vorhandensein. Im Teiche beim Herrenhause wurde ein Fischzug unternommen. Drei Männer gingen mit zwei an langen Stangen befestigten Netzen, die an einem Ende verbunden waren, in den Teich, durchwateten ihn und zogen am anderen Ufer allerlei Gewächse heraus, in denen Fische stecken geblieben waren. Dieses Durchwaten des Teiches nahmen sie an verschiedenen Stellen vor und fingen auf diese Weise im Lauf von einigen Stunden recht große Karauschen und andere Fische, die einen Spann füllten. Die Karauschen schmeckten uns später, gebraten und kalt gereicht, sehr gut. Von Althof begab man sich über dürre Wiesenstrecken nach Feldhof zurück. Auf der Rampe des Herrenhauses sitzend und die Gegend ringsum betrachtend, schrieb ich dort folgende Zeilen ins Tagebuch: „Es ist Abend. Die Sonne steht noch recht hoch am Himmel. Da es am Tage sehr heiß gewesen ist, wirkt der Abendwind erfrischend. Von allen Seiten wird Feldhof von Kornfeldern umgeben, was sich sehr gut ausnimmt. Rechts liegt hinter hell- und dunkelgrünen Feldern und Wiesen das freundliche Talsen. Weiterhin nach vorne erheben sich [20] Haine und Gebüsche. In der Richtung nach Saßmacken blinken verschwommen ferne Wälder. Links schimmert zwischen grünem Laube das Herrenhaus von Postenden, ein großes, weißes, schloßartiges Gebäude mit einer säulengetragenen Vorderfassade. Heu wird eingeführt. Vöglein zwitschern. Dort auf der Weide sang eben ein Hütermädchen ein Volkslied. Auf der nahen Goldinger Chaussee erhebt sich hinter einem Gefährt eine große Staubwolke: das einzige Störende in der friedlichen Sommerlandschaft.“ Um die Zeit des Sonnenunterganges begleiteten wir Herrn B., der hier zum Besuche gewesen war und nach Kandau zurückfuhr. Diesmal ging es die Tuckumer Chaussee entlang. Ganz nahe bei Talsen sahen wir zur Linken sich mächtige, bewaldete Höhen erheben: die Berge der Talsenschen Schweiz. Weiterhin gab es so manche schöne Partien, die unsere Blicke auf sich lenkten. Das waren kleine, niedliche Silberseen, die vom Tannenwalde oder von grünen Hügeln eingefaßt wurden, wobei sich in ihren lichten Fluten Wald, Gesinde und das darüber ausgebreitete Abendrot spiegelten. Im Adlerkruge, wo der Weg nach Windau abzweigt, 7 Werst hinter Talsen, wurde gerastet und Abschied genommen. Erst nach Mitternacht ging es bei Nebel und Mondenschein in geschärftem Trabe nach Talsen und Feldhof zurück.


Belehrend und interessant war für den Städter ein Gang mit Herrn R. durch die Hafer- und Weizenfelder von Feldhof zu einer Anhöhe in nächster Nähe von Talsen, bis zu der die Ländereien des Gutes reichten. Hier konnten wir ganz Feldhof und Althof übersehen, deren Felder und Wiesen sich bis zum Horizonte drüben jenseit der Landstraße erstreckten. Weite Flächen waren mit frisch gemähtem Klee bedeckt, der einen angenehmen Geruch verbreitete. An einigen Stellen [21] war er ungemäht stehen geblieben. Herr R. sagte, das sei geschehen, damit im nächsten Jahre wieder Samen zur Aussaat vorhanden sei. In diesen Feldstücken sollten sich jetzt Hasen aufhalten, die dort gute Nahrung fänden. Abends kämen sie aus dem Klee heraus, um in andere Felder hinüberzu­gehen. So manchesmal habe er, auf der Anhöhe sitzend, ihr Treiben beobachtet, auch wohl zuweilen einige dabei erlegt. An manchen Stellen zwischen den Feldern befanden sich kleine Teiche, in denen Karauschen lebten. Diese sollen dort nur eine geringe Größe erreichen, da sie nicht, wie z. B. die Karauschen im großen Teiche von Althof, mit Hechten zu kämpfen hätten. Im Kampfe ums Dasein seien die dortigen Fische erstarkt, diese dagegen infolge des Wohllebens verweichlicht. Eine erhöhte Stelle bezeichnete Herr R. als diejenige, wo in früheren Zeiten die Buschwächterei Puhteln gelegen habe. Diese sei, als der Wald urbar gemacht worden, einige Werst weiter verlegt worden. Wo früher im Waldesschatten das Haus gestanden, wo sich ein Obstgarten befunden, da wird jetzt gepflügt und wogt im Sommer in weitem Umkreise das Meer der goldenen Ähren. So ändert sich im Laufe der Zeiten das Bild einer Landschaft! Nur eine Eiche, die einsam und verlassen an der Landstraße stand, bezeichnete noch die Stelle, wo früher der Weg in den Wald zur Buschwächterei geführt hatte. Die Reste des Waldes befinden sich jetzt eine Werst von der Chaussee entfernt. Der Name dieser Buschwächterei ruft uns eine alte Nationalspeise der Bewohner von Kurland, die Puh­teln (lettisch nach Ulmann auch als Singular Puhtelis gebräuchlich), ins Gedächtnis. Diese Speise wird hier ebenso gern gegessen, wie in anderen Gegenden Lettlands die saure Grütze (lettisch skahba putra). Zur Bereitung der Puh­teln nimmt man bei Talsen allerlei Getreide: Roggen, Weizen, Gerste, wie auch Erbsen. 8—15 Stof dieser Mischung wer­den in einen großen Kessel getan, Wasser darauf gegossen und [22] das Ganze durchgekocht, worauf es getrocknet und in der Mühle zu Puhtelmehl, das man in Talsen auch auf dem Markte zu kaufen bekommt, zermahlen wird. Ein paar Handvoll davon werden mit gegorener Milch vermengt, die neue Mischung gehörig durchgeklopft und einige Stof Puhteln sind fertig. Uns Livländern schmeckte die Speise nicht; man muß sich eben daran gewöhnen. Während das Wort „Pnhteln“[2] lettischen Ursprungs zu sein scheint (vgl. auch den im 13. Jahrhundert vorkommenden Namen einer Landschaft in Semgallen „Puhtelene“), klingen einige andere Gesindenamen in nächster Nähe von Feldhof ganz unlettisch, z. B. Uhkjens, Jlles, Teruksch, Turku muischa (Althof; muischa ist das russische мыза, das estnische mõis). Ortsnamen sind oft sehr alt, älter als das Volk, welches zurzeit eine Gegend bewohnt. Vor vielen Jahrhunderten soll ja die Gegend bei Talsen eine livischkurische Kilegonde (Bezirk) gewesen sein, was den unlettischen Charakter der angeführten Namen begreiflich machen würde. (Doch weisen wir hier auf die unter den Gelehrten gleichfalls verbreitete Ansicht hin, daß die Letten als Ureinwohner von Kurland anzusehen seien, die finnischen Liven dagegen sich als Eroberer später im Lande niedergelassen hätten.)

Auch bei einem Spaziergange nach dem 5 Werst von Talsen gelegenen Postenden war Herr R. mein freundlicher Führer. Nach dem Album kurl. Ansichten wird schon 1288 das Felddorf Podestenden in einer Urkunde erwähnt. Seit 1476 gehörte das Gut der Familie von Hahn. Gleich hinter dem Juschkn-Purwis befand sich der Begräbnisplatz der Majoratsfamilie. Einer ihrer Vorfahren hat gegen Ende des [23] 18. Jahrhunderts die riesige Grabkapelle in der Mitte des Friedhofs erbauen lassen, die mir durch ihre plumpe Form auffiel. Die jüngeren Familienglieder wurden auch nicht mehr dort beigesetzt, sondern ruhten in der freien Gotteserde im Schatten von Tannen, die den kleinen Friedhof umgaben. Die Eltern des gegenwärtigen Majoratsherrn hatten auf ihrem Grabe große Marmorblöcke liegen, wo mit goldenen Lettern ihre Namen eingemeißelt waren. Die Knechte des Gutes wohnten in einem stattlichen Knechtsgebäude. Die Fassade des Herrenhauses hatte ein palastähnliches Aussehen. Besonders gut machten sich die hohen Säulen bei der Schloßtreppe. Hinter der Brauerei — der Brauer P. ist ein Preuße, was in Kurland viele Brauer und Krüger sein sollen — führte eine Brücke über den Schloßteich in den Park. Schöne Alleen von allen möglichen Baumarten, grüne Rasen, Blumenbeete, daneben der Teich mit Schwänen, an seinen Ufern lauschige Linden, drüben die Gartenfassade des Schlosses mit der blumengeschmückten Veranda zogen unsere Blicke auf sich. Der jetzige Majoratsherr soll sich mit Erfolg der Landwirtschaft widmen und ein guter, von seinen Leuten geliebter Mensch sein. Durch eine breite Fahrallee, wo die hohen Bäume von innen gewölbeartig beschnitten waren, gelangten wir zu der Schmiede, deren Eingang sonderbarer Weise mit antiken Säulen versehen war, und dann zu den Stallgebäuden, in denen sich gegen 50 Pferde und 130 Rinder, darunter ungefähr 80 holländi­scher Rasse, befanden. Die ausländischen Rinder, die gut gepflegt wurden und nie den Stall verließen, zeichneten sich durch einen erstaunlichen Körperumfang aus. Sie sollen sehr viel Milch geben, was dem Gute ausgezeichnete Einkünfte verschaffe. Hinter dem großen, schilfreichen, moorigen Jahnischteiche befand sich eine Ziegelei. In Postenden sind früher viele Sagen über vergrabene Schätze im Umlauf gewesen. Das Volk hat sich erzählt, daß einmal ein Knecht einen [24] Schatz gefunden oder gestohlen und ihn im Walde vergraben habe. Da er nicht gestehen wollte, wo derselbe geblieben, habe der böse Gutsherr ihn hinrichten lassen. Nachher sei auf seinem Grabe oftmals eine Hand zu sehen gewesen, die nach dem Walde hingewiesen habe, um anzudeuten, wo der Schatz zu finden wäre. Der sei jedoch nicht gefunden worden. Nach einer anderen Sage soll einst in dieser Gegend eine große Stadt gestanden und sich in Postenden die Post befunden haben.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Juli
  1. Im Lettischen liegt der Akzent auf der ersten Silbe des Wortes.
  2. Ein Puhtelgesinde gibt es auch bei Treiden in Livland, das bei den „Kaimabergen“, den Grabhügeln der alten Liven, liegt, wo viele bemerkenswerte Gegenstände aus der Livenzeit ausgegraben worden sind. Daß dort bei Treiden die Puhteln jetzt gegessen werden, haben wir nicht gehört.