Holland in Noth (Die Gartenlaube 1874/8)

Textdaten
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Autor: J. Loewenberg
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Titel: Holland in Noth
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 136–138
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Holland in Noth.


Als Papst Alexander der Sechste durch die berüchtigte Demarcationslinie alle Länder der Erde zwischen den katholischen Majestäten der Spanier und Portugiesen theilte, hatte seine Unfehlbarkeit keine Ahnung davon, daß alsbald auch die ketzerischen, protestantischen Holländer Ansprüche auf solchen Länderbesitz mit glücklichstem Erfolge geltend machen würden. Der Freiheitskampf derselben gegen Spaniens Despotismus hatte für Holland nicht nur die Freiheit in der Heimath errungen, sondern auch einen Theil der fernen Meeresherrschaft. Die Holländer bethätigten damals alle Eigenschaften und Kräfte, die zum Ziele großer Unternehmungen führen; sie hatten Ausdauer, Sündhaftigkeit, Kühnheit, Glück.

Aber allmählich zeigte sich die Verschiedenheit der natürlichen Eigenart und der Grundsätze zwischen den Holländern und Iberiern, den Spaniern, Portugiesen. Die Seeunternehmungen der Holländer waren anfangs mehr darauf gerichtet, den Feind an leicht verletzbaren Stellen anzugreifen und seine Macht zu schwächen, als Eroberungen und Entdeckungen zu machen. Darum schlichen sie nur an meistens schon bekannten Küsten umher. Der Spanier trat überall als Ritter auf, der Holländer als Krämer. Der Iberier suchte Abenteuer und glänzende Thaten, der Holländer Geschäfte und kaufmännischen Gewinn; der Iberier suchte Heiden, um sie zu bekehren, der Holländer zweibeinige Wesen, um mit ihnen zu handeln. Der Iberier durstete nach Gold, um alsbald seine stolze Grandezza, seine Prachtliebe und Genußsucht zu befriedigen; der Holländer hungerte nach Schätzen, um sie aufzuspeichern für die stille Behaglichkeit in alterschwachen Jahren. Unähnlich den Spaniern, die auf ihre Opfer losstürzten und nicht eher rasteten, als bis mächtige Reiche ihnen zitternd zu Füßen lagen, überließen die Holländer die Erringung ihrer Herrschaft dem schleichenden Gange der Zeit und waren vorläufig mit dem ersten Theile ihres Wahlspruchs, divide et impera (theile und herrsche)! zufrieden.

Schweigsam waren sie Beide, der Iberier und der Holländer; aber der Erstere brütete, der Letztere calculirte. Auf der geschlossenen Lippe des Iberiers saß Stolz, Verwegenheit, Verachtung, auf der Lippe des Holländers Kälte und Schlauheit. Das Feuer, das dem Iberier aus dem Auge blitzte, sein durchbohrender Falkenblick, die Gluth, die seine dunkle Wange im Zorne überflog, sie zeigten offen die glühenden Leidenschaften im Innersten seines Busens, während die blutleere Wange des Holländers, seine amphibienhafte Kaltblütigkeit, der nebelhafte Blick im feuchten, grauen Auge die angenommene Maske nur täuschender machten.

Daher traten auch die Holländer anfangs in keine feindliche Berührung mit den Eingeborenen. Nur Verdrängung, Vernichtung der Iberier war ihre Hauptaufgabe, zu deren Lösung der Eingeborene ihnen hülfreich beistand. Seitdem vollends Portugal und seine ostindischen Colonien 1580 mit Spanien vereint wurden, waren es diese einst portugiesischen Colonien, gegen welche die Holländer ihre Angriffe richteten, und sie erwarben dabei als Schutzmacht der Eingeborenen außer dem Krämergewinn auch noch Dank und Ruhm. So fallen in die drei ersten Viertel des siebenzehnten Jahrhunderts ihre wichtigsten Erwerbungen. Sämmtliche portugiesische Besitzungen an der Küste Malabar und Koromandel wurden bis auf Goa und einige unbedeutende Niederlassungen erobert; die gewürzreichen Molukken und Sundainseln wurden besetzt, in Japan ein ausschließlicher Handel und am Cap der guten Hoffnung, wie in einzelnen Punkten auf Ceylon die vortrefflichste Vormauer der östlichen Besitzungen gesichert.

Aber in der Wahl ihrer Ansiedelungen waren sie nicht immer glücklich; für Moräste behielten sie die heimische Vorliebe. Batavia, gegründet 1621, sollte an den Ruhm der alten Bataver erinnern und wurde ein indisches Amsterdam. Diese Hauptstadt, fast unter dem Aequator, ist ebenso von Canälen und Cloaken, von infernalen, mephitischen Dünsten durchzogen, wie die europäische Mutterstadt unter dem zweiundfünfzigsten Breitengrade. Batavia ist die größte Leichenkammer der Europäer geworden. In dreiundzwanzig Jahren erlagen hier nach Sir Stamford Raffles eine Million und hunderttausend Menschen. Die tropische Sonne hat hier das dicke Holländerblut, statt es zu wallender Leidenschaft zu entflammen, nur zu phlegmatischer Indolenz verdickt. Die unendliche Lebensfülle hat zu keinem höheren Aufschwung beseelt; der feenhafte Glanz des indischen Lebens, die blitzende Pracht der Juwelen und Perlen, der Farbenglanz, der berauschende Duft blühender Wälder, Alles ging spurlos an ihnen vorüber. Die steife Förmlichkeit der Heimath wurde nur darin gemildert, daß in heißen Tagen der schwere Rock mit leichtem Camisol, die Stutzperrücke mit baumwollener Schlafmütze vertauscht wurde.

Seitdem aber diese Zustände, namentlich durch die erbliche Colonialaristokratie, hier bleibend geworden, folgte Zerrüttung und Verfall noch schneller, als der Aufschwung gekommen. Die Schulden der ostindischen Handelscompagnie wurden untilgbar. Der Staat konnte nicht helfen; die Besitzungen wurden ein unheilbar schadhaftes Glied, dessen Amputation das Leben des Ganzen gefährdete. Inzwischen hatten auch die Engländer weit und breit, auch auf Sumatra, festen Fuß gefaßt und, seitdem Holland 1810 französisch geworden, alle holländischen Colonien in Besitz genommen. Hollands Colonialmacht in Ostindien war erloschen. Erst mit der Restauration der europäischen [137] Machtverhältnisse, 1814, kam Holland wieder in Besitz seiner früheren Colonien, mit Ausnahme des Caps der guten Hoffnung und einiger anderer Punkte. Endlich vertauschte es 1824 seine Besitzungen auf dem asiatischen Festlande und die Insel Singapore an England gegen dessen Colonien im indischen Archipel. So wurde Holland nach unvermeidlichen, aber glücklichen Kämpfen mit den Eingeborenen die größte europäische Macht im ostindischen Archipel, und sein Colonialbesitz hier, der nur dem Englands nachsteht, bildet die Grundlage für den Wohlstand des europäischen Mutterlandes. Das gesammte Ländergebiet mit fast neunundzwanzigtausend Quadratmeilen und über dreiundzwanzig Millionen Bewohnern ist überreich an Naturproducten jeder Art, an Edelsteinen, Gold, Zinn, Eisen, vor allem an edlen Gewürzen, Zimmt, Muscaten, Nelken, Pfeffer, an Kaffee, Tabak, Opium, Betel, Thee, Reis, Zucker, Campher, an Indigo und Cochenille und den vortrefflichsten Holzarten. Und wie die Flora bietet auch die Fauna werthvolle Producte, wie Elfenbein, Thierhäute, Vögel und viele andere, so daß die Gesammtausfuhr jährlich hundert Millionen holländische Gulden übersteigt.

Was Wunder, daß die Holländer diese Colonien in hohem Werthe halten und sie fort und fort durch Tausch, Verträge und blutige Kämpfe zu verstärken und zu vergrößern suchen. Gegenwärtig sind sie auf Sumatra schwer beschäftigt, und hier kam in letzter Zeit – – „Holland in Noth“.

Sumatra, von allen Inseln auf der Erde, wenn man Neuholland ausnimmt, der Größe nach die dritte, liegt in paralleler Nähe von Malakka, fast sechs Breitengrade auf beiden Seiten des Aequators. Von ihrem auf acht- bis zehntausend Quadratmeilen geschätzten Areal besitzt Holland im Süden und an der Westküste weit über die Hälfte mit über anderthalb Millionen Bewohnern.

Das Innere von Sumatra ist größtentheils noch wenig bekannt, von vulcanischen, in einzelnen Höhen auf über zehntausend Fuß aufsteigenden Gebirge durchzogen und von wilden Stämmen bewohnt, von denen die Battas Menschenfleisch auch noch roh, wie Beefsteak à la Tartare, verschmausen. Das Klima ist in den heißen und niedrigen Küstenstrichen nicht besser, als das von Java; die Wärme variirt zwischen achtundzwanzig und dreiunddreißig, und im innern Hochlande zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Centesimalgraden. Die Westküste, von der die Holländer über drei Viertel inne haben, unterscheidet sich indeß vortheilhaft von der im Osten durch eine Reihe mehr oder weniger geschützter Häfen und Ankerplätze, von denen die unter anderthalb Grad nördlicher Breite gelegene Bai von Tappanoli groß und tief genug ist, um eine Kriegsflotte, wie die englische, aufzunehmen. Die Ostküste ist dagegen flach, nur an den Flußmündungen von mephitischen Morästen unterbrochen, und meilenweit landeinwärts unbewohnbar.

Die Mannigfaltigkeit, Fülle und Schönheit der Naturproducte ist größer als auf irgend einer andern Insel des indischen Archipels und übertrifft selbst den wunderbaren Reichthum Javas. Vor Allem ist die Vegetation an Nahrungsstoffen, edlen Gewürzen, Pflanzen- und Baumgattungen, die in technischer oder ökonomischer Weise hochgewerthet werden, überschwänglich groß. Hier blühen die Muscaten- und Cardamomwälder, hier ist seit Alters her die unerschöpfliche Urheimath der Pfeffersäcke, von andern Gewürzen und Harzen, von Kaffee, Tabak, Baumwolle u. dgl. gar nicht zu reden.

Die Menge der Holzarten ist zahllos in allen nur denkbaren Abstufungen und Uebergängen, von den leichtesten und losesten bis zu den allerhärtesten und festesten. Während das Holz der Aeschynomene-Arten kaum ein Gewicht besitzt und sich wie Hollundermark zwischen den Fingern zusammendrücken läßt, ist das verschiedener Sideroxylon-Arten so hart, fest und schwer, daß das schärfste Beil sich daran nach wenigen Hieben abstumpft, und alle sonst zerstörenden Einflüsse des Klimas und der Atmosphäre machtlos gegen dasselbe erscheinen. Dieses Eisenholz ist das vortrefflichste Material für den Schiffsbau.

Auch die Thierwelt ist hier reichlichst vertreten. Wir nennen nur die Aristokraten von uraltem Grundbesitze, den Elephanten, Tiger, Büffel, das Nashorn, den Orangutang nicht zu vergessen, der hier von den Eingeborenen schon lange vor Darwin und Vogt als Urahn und Erzvater verehrt und daher niemals getödtet wurde, weil in ihm die Seelen ihrer Voreltern wohnen sollen.

Den nördlichen Theil dieser an werthvollen Ausfuhrproducten überreichen Insel Sumatra bildet das Königreich oder Sultanat Atschin mit der Hauptstadt gleichen Namens. Auf einem Areal von etwa achthundert Quadratmeilen mit zwei Millionen Bewohnern hat es von jeher vollen Antheil an dem Productenreichthume der Insel und für die Verwerthung derselben durch die Nähe Malakka’s die günstigste Lage. Die Ausfuhr an Pfeffer allein beträgt an zweihunderttausend Picol oder eine Viertelmillion Zollcentner. Hier liegt der Hase im Pfeffer, und dies der Grund, die Besitzlust der Holländer zu reizen, die seit Kurzem in blutigen Krieg ausgebrochen ist.

Atschin ist das einzige Reich auf der großen Insel, welches eine Geschichte in unserem Sinne hat und die schon bis zur Zeit der Hedschra hinaufreicht. Es war immer unabhängig und mächtig durch Handel und mußte schon eben deswegen mit den Portugiesen und ihren Nachfolgern, den Holländern, in mehr ober minder harte und anhaltende Conflicte kommen. Bemerkenswerth ist indeß, daß nach dem Tode des mächtigsten Herrschers, Iskander Muda, 1641, vier Frauen in ungestörter Folge nacheinander achtundfünfzig Jahre, bis 1699, die Regierung führten, von denen die erste sich sogar mit einem Holländer vermählen wollte, wozu indeß die Handelscompagnie die Zustimmung versagte.

In neuerer Zeit sollen – sagen die Holländer – anhaltende Beleidigungen, Menschenraub, Grenzverletzungen, Piraterie alle friedlichen Vermittelungen vereitelt haben, und es sei ihnen nichts übrig geblieben, als am 26. März 1873 dem Fürsten von Atschin den Krieg zu erklären. Wie gewöhnlich in solchen Fällen wurde auch hier das sachliche und formale Recht auf die Interpellation eines Abgeordneten den überraschten Kammern nachträglich vom Colonial- und Kriegsminister vordemonstrirt, als die Holländer schon nach ihren ersten Angriffen im April 1873 mit einem Verlust von zweiunddreißig Officieren, unter denen auch der commandirende Generalmajor von Köhler, und über vierhundert Mann zurückgeschlagen waren, ein Verlust, der bei dem nur viertausend Mann starken Expeditionscorps schwer in’s Gewicht fällt. Und noch schwerer wiegt die Schuld der Unwissenheit und Indolenz, die das Eintreten des hier beginnenden Monsuns nicht früh genug beachtet, die ganze Expedition der größten Gefahr ausgesetzt und zu einer fluchtähnlichen Heimkehr genöthigt hat.

Die Atschinesen sind übrigens kriegerisch, groß, kräftig, heftiger und stolzer Gemüthsart und zeichnen sich vor allen übrigen eingeborenen Bewohnern Sumatras durch Intelligenz und manche Kunstfertigkeit aus. Sie sind größtentheils Mohammedaner. Die Hauptstadt Atschin ist zwar lange nicht mehr von der früheren Bedeutung, zählt aber noch immer in achttausend Häusern an dreißig- bis vierzigtausend Einwohner. Der Palast des Sultans, der „Kraton“, ist ziemlich verfallen, aber auch nicht der einzige und Hauptpalast, wie denn überhaupt der Besitz der Stadt Atschin noch in keiner Weise für die Eroberung des Landes maßgebend wäre, das sehr respectable Mittel hat, den Widerstand längere Zeit mit Erfolg fortzusetzen. Die Befestigung von Atschin, das an der äußersten Nordspitze etwa zwei und eine halbe englische Meile vom Meere entfernt liegt, beschränkt sich auf einige Schanzen und Wälle an der Küste, von denen der „Missigit“ am stärksten ist. Von den drei Mündungen des Flusses, an dem die Hauptstadt liegt, ist die mittlere zwanzig bis dreißig Fuß tief und an dreihundert Fuß breit, während die beiden andern meist ziemlich seicht sind und nur zur Regenzeit einigen Tiefgang gewähren.

Wer sich der brüsken Haltung der Holländer gegenüber Deutschland zur Zeit des letzten Krieges mit Frankreich erinnert, wird ihren Eifer erklärlich finden, die Schmach vor Atschin zu rächen und zu tilgen. Ein Credit von fünf und einer halben Million holländischen Gulden wurde dem Ministerium zur Fortführung des Krieges bewilligt. Die Küsten Atschins wurden in Blokadezustand versetzt. Von vierzehn zu vierzehn Tagen gingen aus den holländischen Häfen Truppentransporte, Waffen und Munition ab, und die holländische Armada soll an neunundzwanzigtausend Mann zählen, unter denen aber kaum dreitausend Europäer, während die Atchinesen an fünfzigtausend Krieger haben, die durch befreundete Stämme noch vermehrt werden. General van Swieten, in den Kriegen der ostindischen [138] Colonien wohl erfahren, ist in seinem sechsundsechszigsten Jahre aus dem Haag als Oberstcommandirender abgegangen und Ende August vorigen Jahres in Batavia gelandet.

Seit einigen Wochen nun wissen wir, daß neuntausend Mann Holländer, mit allen Erfordernissen zu einer energischen Kriegführung ausgerüstet, am 9. December vor Atschin unter lebhaftem Feuer zwischen ihren Schiffen und den Küstenbatterien der Eingeborenen gelandet sind, um nicht allein den Sultan zu strafen, sondern auch sein Reich in Besitz zu nehmen. Und am 27. Januar wurde aus dem Haag gemeldet: „Officielle Nachrichten aus Penang vom gestrigen Tage bestätigen, daß der Kraton, nachdem derselbe ringsum eingeschlossen und seine Verbindung mit dem Lande abgeschnitten worden war, am 24. dieses Monats von den Holländern genommen worden ist. Von der Westseite aus wurde ein Angriff auf den Kraton gemacht und hierbei derselbe von den Vertheidigern verlassen gefunden.“

Der „Kraton“ ist indeß, wie schon bemerkt, kein Malakoff; er war nicht befestigt und ist nicht vertheidigt worden, aber die Natur des Tropenlandes kommt hier den Angegriffenen vielfach zu Hülfe. Voraussichtlich wird der Krieg langwierig, und Holland befindet sich vor Atschin in ungleich schwierigerer Lage als die Russen vor Chiwa gewesen und die Engländer jetzt vor Cumassie sind, da die Kosten und Anstrengungen ihm mit der Zeit zu groß werden dürften und seine Marine kaum ein Schatten ihrer ehemaligen Größe ist.

J. Loewenberg.