Textdaten
Autor: Theodor Lessing
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Titel: Hindenburg
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aus: Prager Tagblatt, 25. Februar 1925, S. 3
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Entstehungsdatum: 1925
Erscheinungsdatum: 1925
Verlag: Heinrich Merch Sohn
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Erscheinungsort: Prag
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Quelle: ANNO und Scan auf Commons
Kurzbeschreibung: Berühmter Artikel über den General und Politiker Paul Hindenburg (1847-1934)
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Hindenburg.
Von Theodor Lessing (Hannover).

Wenn man in das gute väterliche Antlitz des alten Hindenburg blickt, so fällt zunächst auf: die fast furchtbare Schwere dieses Antlitzes. Henrik Ibsen gebraucht von solchen Menschen, die nicht loskommen können von der Begrenzung ihres Selbst, die Formel: „Sie sind eingespunden im Fasse des Ich.“ Solch ein Eingespundener, die schwere Masse der Erde, der gewiß nichts ferner liegt als alles leichte Spielen und Schweben und Tänzertum, solch ein Ernster und Gediegener ist der alte Hindenburg. Ich kenne dies Antlitz und kenne sein Leben seit früher Jugend. Ich habe es oft mit Lächeln, oft mit Ehrfurcht, immer mit Rührung betrachtet. Bismarck hat von sich selber das schöne Wort gebraucht: „Ich bin mit vollem Bewußtsein auf einer gewissen Stufe der Entwicklung stehen geblieben.“ Das hatte der alte Hindenburg nicht nötig. Die Natur hat ihn so einfach, gradlinig und selbstverständlich gewollt, daß es überhaupt nichts zu entwickeln gab; nur die unbedenkliche Entfaltung eingeborener Vorurteile. Deutscher, Preuße, Christ, Monarchist, Soldat, Kamerad, zugehörig nach Lebensschnitt und Gesichtskreis der sauberen und gehaltenen Menschenschicht, die im „Kleinen Gotha“[1] und in der „Rangliste“ ihre Normen hat, das war alles so zweifelsohne und so selbstverständlich, daß Menschen, die anders fühlen, eben anmuten wie ein Chinese oder wie ein Anbeter des Buddha; das mag es geben; aber „es gehört doch nicht mit dazu“. Und wenn er Wir sagt und Wir Deutsche, dann setzt er treu und warmherzig gesinnt voraus: im normalen Falle müßten alle richtiggehenden Menschen eben auch so sein, wie die im Gotha und die in der Rangliste. Wenn man gewohnt ist, die ungeheure Allseitigkeit und irre Buntheit des Lebens mit der Kraft wissenden Geistes zu bewältigen, dann blickt man mit der Rührung und dem Lächeln, mit dem man auf die Blume und den Vogel blickt, auch auf eine Mannesgestalt, die mit der ganzen Schönheit der Unwissenden durch Meere von Blut, durch Ströme von Galle, über Berge von Hindernissen kinderleicht hinschreitet, von ungeheuren Verantwortungen bedrückt und doch im Kerne unverantwortlich, weil nicht einmal im Stande, das Recht der anderen Seite und die Doppelnatur alles Lebendigen auch nur zu sehen. Welcher Mensch eignete sich besser zum Fetisch, zur Statue, zum Symbol? Als Hannover noch Königreich war und der König immer in England weilte, da hat man statt seiner in der Hofburg den leeren Thronstuhl aufgestellt, und mehrere Menschenalter lang hat der weltliche Adel an jedem Sonntag vor dem leeren Thronstuhl seine Reverenz und sein Defilé gemacht. Und man hatte damals nicht einmal eine symbolische Puppe…

Obwohl ich die Gestalt des Helden, der mehr Menschen um der „Ideale“ willen in den Tod schicken konnte als Alexander, Cäsar und Attila, obwohl ich das gute, schwere, demütig treue Antlitz, dank vielerlei zufälliger Verknüpfung aus naher Nähe seit früher Jugend kenne, so habe ich doch die volle Einfalt und Heiligkeit dieser geschichtlichen Person erst spät begreifen gelernt. Es war an einem Jahrestage der Schlacht von Tannenberg. Ich war aushilfsweise an einem Gymnasium der Stadt als Lehrer tätig, und die Schulen sollten, „Deutschland über Alles!“ singend, an Hindenburgs, von der Stadt geschenktem Hause vorüberziehen. Die vielen hunderte von hellbegeisterten Kindern gingen unter Führung der Lehrer froh jubelnd an dem alten Mann vorüber; der stand schwer und ernst auf der Vortreppe seines Hauses; wir hatten das Glück, gerade unmittelbar vor ihm zu stehen, als er die Hand hob und seine herzenswarme Ansprache an die Jugend begann. Ich möchte diesen Augenblick wohl noch einmal erleben; diese Mischung der Gefühle, Komik und Ergriffenheit, vollkommene Vereinsamung und Einssein mit allen den Kindern; herzliches Lachen des Uebermutes und geheiligte Demut; vor allem aber mein Erstaunen, denn diesen Grad von Kindlichkeit hatte ich doch nicht für möglich gehalten. Hindenburg (wir standen Auge in Auge) sagte voller tiefsten Ernstes:

„Deutschland liegt tief darnieder. Die herrlichen Zeiten des Kaisers und seiner Helden sind dahin. Aber die Kinder, die hier „Deutschland über Alles“ singen, diese Kinder werden das alte Reich erneuern. Sie werden das Furchtbare, die Revolution, überwinden. Sie werden wiederkommen sehen die herrliche Zeit der großen siegreichen Kriege. Und Sie, meine Herren Lehrer, Sie haben die schöne Aufgabe, in diesem Sinne die Jugend zu erziehen.“ (Die Bengels stupften mich und feixten.) „Und Ihr, meine lieben Primaner, werdet siegreich wie die Väter waren, in Paris einziehen. Ich werde es nicht mehr erleben. Ich werde dann bei Gott sein. Aber vom Himmel herab werde ich auf Euch niederblicken und werde mich an Euren Taten freuen und Euch segnen.“

Dies alles in tiefstem, heiligstem Ernste! Man fühlte: dieser alte Mann glaubt Wort für Wort alles, was er da sagt: da ist kein unlauterer Klang. Das glaubt er allen Ernstes: nach dem Tode kommt er zu Gott; sitzt auf einer Wolke; betrachtet sich von bevorzugtem Sitze aus Deutschland und segnet meine siegreichen Jungen. Der keckste von ihnen zeichnete nach diesem „historischen Erlebnis“ ein Bild: Hindenburg als Engel auf der Wolke schwebend und unsere Prima segnend. Es wäre leicht gewesen, solchen Spott zu stärken; aber (und dies ist merkwürdig), es war keiner unter uns, der ihn nicht beleidigt verwarf. Wir fühlten: es ist nicht ritterlich, es ist gemein, dort mit Waffen des Geistes zu kämpfen, wo überhaupt gar keine Macht und Möglichkeit gegeben ist, mit ähnlichen Waffen zu erwidern. Aber selbst im altpreußischen Adel und in jenem Junkertum, dessen geistige Ansprüche vollauf gedeckt sind durch „wochentags die Kreuzzeitung[2] und sonntags eine gute Predigt bei Herrn Pastor,“ selbst in jenem ganz von Traditionen und Außenschliff lebendem Beamtenklüngel, der aus den feudalen Korps der Universitäten oder aus den für standesgemäß geltenden bevorzugten Regimentern seinen geistigen Nachwuchs bezieht, dürfte die gleiche Geistesferne und Geistesfremde doch wohl nicht häufig sein. Als Hindenburg als Kommandeur in Oldenburg stand, hielt der Freund meiner Jugend, Wilhelm Jordan[3], einer der besten und größten Männer Deutschlands, dort in der „Literarischen Gesellschaft“ eine Rhapsodie aus den Nibelungen. Hindenburg wurde gebeten, diesen Abend zu „protegieren“. Er antwortete mit einem Brief, in welchem es heißt: er habe als Militär leider nicht Zeit gefunden, sich mit Literatur zu beschäftigen und könne daher die Nützlichkeit und den Wert des Abends nicht beurteilen. Es gehört doch immerhin ein gut Stück Barbarei dazu, um als Deutscher die Bedeutung des Nibelungenliedes nicht zu kennen; aber es bezeugt eine seltene Klarheit und Ehrlichkeit, daß ein braver Soldat das eingesteht. Aber wenn man die Anzahl der Bücher, die er in seinem Leben gelesen hat, gewiß zählen kann, er hat eine Beziehung zu den bildenden Künsten, die merkwürdig ist: er sammelt Madonnenbilder; es kommt nicht darauf an, von wem sie sind, es kommt nicht darauf an, woher sie sind. Er sammelt sie wie andere Briefmarken sammeln, und keineswegs etwa aus religiösem Triebe: ein Zimmer seiner Villa ist dazu bestimmt, nur Madonnenbilder aufzunehmen. Diese Erscheinung bietet dem Menschenbetrachter alle die Freude, die das eng in seiner Grenze beschlossene und seine Grenze naiv bejahende, unbekümmert sich selbst erfüllende Leben gibt. Klare, wahre, redliche und verläßliche Natur, ohne Problematik und Falschheit. So zeigt sich auch dieser Mann im Spiegel seiner Lebenserinnerungen. Aber man[4] soll sich dennoch sehr hüten, zu urteilen: das ist ein ganzer und voller Mensch. Ich will nicht sprechen von der Unmenschlichkeit und dem warmherzigen Egoistentum dieser naiven Selbstgerechtigkeit. Von dem Augenblick, wo dieser unpolitischste aller Menschen zu einer politischen Rolle mißbraucht wird, wird ein Anderes entscheidend: dieser Mann ist durch und durch Mann des Dienstes. Hier sind noch nicht einmal die Ansätze zu einer selbst entscheidenden und grübelnden und wägenden Persönlichkeit. Hier wird immer die Instruktion, die Ueberlieferung, der Consensus, das „Man muß doch“, „Man darf doch nicht“ das allein Wesentliche sein. Ein guter, treuer Bernhardiner ist der „getreue Ekart“, der „brave Hort und Schirm“ doch nur gerade so lange, als ein kluger Mensch da ist, der ihn in seine Dienste spannt und apportieren lehrt; in Freiheit würde aus ihm ein führungsloser Wolf. Eine Natur wie Hindenburg, wird bis zum Tode fragen: Wo kann ich dienen? Es ist gewiß ergreifend und rührend, daß während des Weltkrieges eine der übelsten und bösesten Naturen der Weltgeschichte[5] gerade diese einfältigste und treugläubigste seinem Ehrgeiz und seinem Machtwillen dienstbar machte, gedeckt von der Flagge der nationalen Ideale. Aber da zeigt sich auch die Gefahr! Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: besser ein Zero als ein Nero. Leider zeigt die Geschichte, daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Adelskalender, ein genealogisches Nachschlagewerk, siehe auch Der Gotha
  2. Neue Preußische Zeitung
  3. Wilhelm Jordan
  4. Vorlage: mna
  5. gemeint ist Erich Ludendorff, seit August 1914 Generalstabschef beim Oberbefehlshaber der VIII. Armee in Ostpreußen (Hindenburg). Er übernahm im August 1916 die Leitung der deutschen Kriegsführung. Verbreitete später die Dolchstoßlegende, förderte die NSDAP und wurde zum Theoretiker des „totalen Krieges“ (1935)