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Titel: Fritz van der Kerkhove
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 765–767
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Fritz van der Kerkhove.
Nachdruck verboten.


Im verflossenen Juni waren in Paris in einem Kunstlocale der Rue Lafitte hundert kleine in Oel gemalte Landschaften ausgestellt, vor welchen mancher Maler Herzklopfen bekam und mancher Weltmensch für eine Stunde zum Träumer wurde. Diese Landschaften, diese gemalten Naturgedanken, so eigenartig, von so wunderbarem Ausdruck, von so schmerzlicher Gewalt und wahrhaft abgründiger Tiefe – wer schuf sie? Ein Kind. Fritz van der Kerkhove starb am 12. August 1873 im Alter von zehn Jahren und elf Monaten. Eine Seele, die den schwächlichen Körper verzehrte. Armer Fritz! Armer kleiner Märtyrer!

Von seinem siebenten Jahre bis zu seinem Tode malte und skizzirte Fritz etwa sechshundert Motive. Sein Vater, ein hochgeachteter Kaufmann in Brügge und geschickter Dilettant in der Genremalerei, legte wenig Werth auf des Knaben Arbeiten, welche ihm mehr absonderlich als bedeutend erschienen.

Nach des Kindes Tode zeigte der Vater einige der Täfelchen dem flämischen Dichter Siret, mit welchem er bis dahin nur oberflächlich bekannt gewesen. Siret, der Poet, erkannte darin, was dem Dilettanten entgangen war: den lebendigen Pulsschlag, den Genius, das Wunder.

Als er auch die übrigen gesehen, veranlaßte er Herrn van der Kerkhove zu einer öffentlichen Ausstellung von hundert der vorzüglichsten Bilder in Brügge, welcher Ausstellungen in Antwerpen, Gent und Brüssel folgten. Aber der Neid der zünftigen Maler ertrug das Genie des Kindes nicht. Es entstand in den belgischen Kunst- und anderen Journalen eine Polemik, welche man für unmöglich halten würde, hätte Siret sie nicht gesammelt und seinem Bande über Fritz van der Kerkhove beigegeben. Mit Schmerz muß ich sagen, daß diese Polemik über zwei Drittheile des Bandes ausfüllt, was um so mehr befremdet, da sie doch von Künstlern stammt, von denen man vor Andern Hoheit des Gemüthes verlangen darf. Auf die gehässigste Weise sah sich Herr van der Kerkhove Monate lang als Betrüger verdächtigt und genöthigt, auf die unwürdigsten Fragen zu antworten, er, dessen Charakter in Brügge so hoch geschätzt ist. Seid ihr, normal begabte Künstler, denn weniger, wenn ihr eine Wundererscheinung anerkennt? Wünschet nicht, ein Fritz van der Kerkhove zu sein! Der Knabe litt unter seinem Genius, wie unter einem Dämon. Oder könnt ihr Wunderkinder überhaupt leugnen? Schrieb Mozart nicht mit vierzehn Jahren eine Oper? Verfaßte Victor Hugo nicht schon mit neun Jahren bemerkenswerthe Gedichte, und schrieb er nicht ein paar Jahre später, das Gerstenzuckerstängelchen im Munde, eine Tragödie „Irtamène“? Veröffentlichte der unglückliche Chatterton mit vierzehn Jahren nicht drei Bände Gedichte, welche nicht nur große geschichtliche Momente, sondern die höchsten metaphysischen Fragen in Fülle zum Gegenstande hatten? Und hinterließ der kleine, mit sieben Jahren verstorbene Graham nicht mehrere gehaltvolle Messen und Streichquartette? Spielte Henry Vieuxtemps nicht mit elf Jahren schon so meisterhaft die Geige, daß de Bériot dem Vater erklärte, er könne dem Kinde nichts mehr lehren, es spiele so gut wie er? Und war in Paris im diesjährigen „Salon“ nicht ein großes, wunderschönes Blumenstück von unbedingt künstlerischem Werthe ausgestellt? Es war von dem elfjährigerr M. de Hadencq gemalt.

Die Ansicht der belgischen Maler war (mit wenigen Ausnahmen) bis nach ihrer vollständigen Wiederlegung diese: Herr van der Kerkhove habe selbst die Landschaften gemalt und, da in den Gemäldeausstellungen seine Genrebilder keine Anerkennung gefunden, diese Landschaften für Werke seines verstorbenen Kindes ausgegeben.

Es liegt, abgesehen von der Thatsache, daß Herr van der Kerkhove niemals von einem Freunde oder Bekannten an einer Landschaft, sondern stets an Genrebildern malend getroffen worden, in jener Anklage ein auffallender Widerspruch. Die Künstler, welche über Kerkhove’s Genrebilder bisher die Achseln gezuckt hatten, hielten ihn nun plötzlich für fähig, die wunderbarsten Landschaften gemalt zu haben. Und diese Landschaften entbehren gerade jener beiden Eigenschaften, welche Herr van der Kerkhove, wie so mancher Dilettant, besitzt: die Routine und das Ansprechende, während sie sich durch eine ganz eminente Eigenartigkeit und eine fast erschreckende Gedankentiefe auszeichnen.

Außerdem zeugt noch ein Umstand für die Aechtheit von Fritzens Autorschaft: die Landschaften sind nicht auf Leinewand, sondern auf hölzerne Brettchen gemalt, oft auf Wände und Deckel von Cigarrenkisten. Denn Fritz malte auf jedes Brett, das er fand. In einer seiner Landschaften befinden sich in der Ecke drei kleine runde Löcher, wie man sie in jenen Cigarrenkisten findet, welche durch rothe Bänder geschlossen sind. Der Gedanke aber, Herr van der Kerkhove habe absichtlich solch primitive Tabletten gewählt, um Fritzens Autorschaft glaubwürdiger zu machen, ist empörend, denn er führt nothwendig zu dem Schlusse, der Vater habe längst auf den Tod seines Kindes speculirt, da er schon wenige Tage nach dessen Hinscheiden Herrn Siret die Landschaften zeigte. Noch tief gebeugt über des Kindes Verlust – wie furchtbar muß Herr van der Kerkhove unter jenen Verdächtigungen und Anklagen gelitten haben! Die Rechtfertigung, die Beweise kamen und schlugen den Neid zu Boden, aber vom Kampfe ist Herrn van der Kerkhove, wohl für’s ganze Leben, eine Wunde im Herzen geblieben. – Er hat jene hundert ausgestellten Bilder, die eine so entsetzliche Explosion hervorbrachten, dem belgischen Staate zum Geschenk gemacht.

Und nun zu den Landschaften selbst! Sie sind unsäglich einfach, unsäglich schwermüthig und – mit Ausnahme zweier, welche einen Feuerregen darstellen – unendlich verschieden. Von Nummer eins bis Nummer hundert läßt sich eine Vervollkommnung entschieden wahrnehmen. Die größten dieser Bilder [766] übertreffen nie die Größe einer Schreibmappe. Was an ihnen beim ersten Hinblicken auffällt, ist der tiefe, männliche Ernst.

Sie geben die Naturanschauung nicht nur eines Mannes, sondern sogar eines ungewöhnlich ernsten, tiefsinnigen Mannes. Der Ausdruck mancher Bilder packt das Gemüth wie eine plötzliche Offenbarung ungeahnter Schmerzen. Und doch sind alle diese Motive höchst einfach, manchmal sogar unscheinbar. Ein Waldrand an einem Wasser oder an einem ganz gewöhnlichen Wege, oder Ufersand und dahinter das träumende Meer oder in der Ferne träumende Felsen. Hinter einigen Bäumen ein altes, sehr trauriges Haus, in welchem gewiß unglückliche Menschen wohnen, und vor den Bäumen ein melancholisches Bächlein mit einer Holzbank.

Uebrigens sind nur in wenigen von Fritzens Bildern die Gebäude ein Gegenstand, wenn ich so sagen darf; meistens sind sie Häuser eines in unendlicher Ferne liegenden Dorfes, beinahe wie schwarze Punkte hingemalt, aber von einer Wirkung! Die kleinsten der Bilder – oft nur fünf Centimeter hoch und zwölf Centimeter lang – haben zum Gegenstand das Einfachste, was man sich denken kann: ein Stückchen Weg und ein paar Bäumchen oder ein Felsstück. Auf allen Bildern aber ist der Himmel die Hauptsache. Viele haben nur einen Finger breit Erde, und alles andere ist Himmel, Himmel. Es ist, als ob Fritz eigentlich im Himmel lebte und aus Versehen auf die Erde kam, wo ihn alles mit Schwermuth erfüllte und wo seine Seele vor Durst nach dem Himmel verging. Wer diese Bilder nicht sah, kann sich keinen Begriff von der schmerzlichen Gewalt machen, mit welcher sie die Seele des Beschauers an sich ziehen, an sich fesseln und nicht wieder losgeben. Ein sensibler Mensch, der den Muth hätte sie in seine Stube zu hängen, müßte gar bald sagen: „ich habe nicht sie: sie haben mich.“

Die beiden Bilder, aus welchen es Feuer regnet, sind nur Himmel. Vielleicht dachte Fritz dabei an den Untergang der Welt. Die Flammen sind nicht gesondert, sondern sehen aus wie entzündete und wirbelnde Luft. Braunschwarzes Gewölk speit das düster rothe Feuer aus, und ein rasender Sturm peitscht es niederwärts.

Mit Ausnahme dieser beiden und zweier wehmüthig mattblauer Himmel sind alle grau, wie ja auch der flandrische Himmel meist grau ist. In diesem Grau ziehen dunkle und helle Wolken in dichten Gruppen von solcher Natürlichkeit, daß man glaubt, ihre Schichten herabkommen zu sehen. Nirgend ist heller Sonnenschein. Auf einem und dem anderen Bilde ist der Horizont durch Nebel hindurchgefärbt, während über ihm Gewölk in schweren Massen liegt. Oder mitten aus dem Gewölk tritt ein greller Flecken, hinter welchem man die Sonne ahnt, hervor. Wenn dieser Himmel über dem Meere liegt, so hat er einen drohenden Anblick; man fühlt, daß der Sturm bald kommen und das wie todt daliegende Meer aufrütteln wird.

Aber die kleinsten, die unscheinbarsten dieser Bilder sind die rührendsten, die ergreifendsten. Und wodurch? Hier ist z. B. ein Stückchen Weg, kaum einen Finger breit, mit einigen Grasbüscheln und einigen zarten, schmächtigen Bäumchen, die sehr wenig Laub haben und sehr traurig sind. Hinter und über ihnen träumt ein sanftgrauer, schwermüthiger Himmel unendliche Träume. Ein Maler, welcher mit mir vor diesen gemalten Melancholien stand, sagte: „Dieses Kind muss doch ein Wesen aus einer höheren Welt gewesen sein, um dies schaffen zu können.“ Auf einem anderen stehen an einem schlafenden dunkeln Wasser zwei Feldsteine mit röthlichen Brüchen und große üppige Waldbäume, herbstlich gefärbt. Alles im Abendschatten. Braunrothes Laub lugt hier und dort zwischen dem dunkeln Grün hervor. Die Harmonie und Wärme des Colorits sind wahrhaft magisch. Und der Ausdruck, das Leben! Eine ergreifende Sprache!

Fritz sah die Natur nicht nur mit den Augen, sondern auch mit der Empfindung. Die höchste Aufgabe der Kunst, die Natur auszudrücken, ihren Geist, ihre Seele und ihre Physiognomie – Fritz hat sie gelöst mit kindlicher Hand und mit dem Herzen des Poeten.

Nebst dem Himmel sind die Bäume die Hauptsache in seinen Bildern. Diese Bäume, so einfach, so wahr, sind manchmal unerhört reich, manchmal dürftig belaubt, so dürftig, daß man Mitleid für sie fühlt. Hier nach einer Seite geneigt, als wären sie einer innern Sehnsucht nachgewachsen, dort aufrecht, hier jämmerlich vom Winde mißhandelt, dort in ruhiger Kraft gedeihend; hier in einer Gruppe sich ängstlich zusammen thuend, wie ein paar Unglückliche, von Gott und den Menschen verlassen, dort in der Ferne ein Wäldchen bildend, eine weiche, dunkle, duftige Linie – alle diese Bäume leben. Sie träumen; sie empfinden; sie ruhen; sie sind bewegt; sie frieren; sie haben Angst; sie rufen uns an; sie sind traurig; sie wollen sterben; sie sind resignirt.

Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß Fritz in seinen Landschaften keinerlei Staffage, weder Menschen noch Thiere malte. Seine poetische, spiritualistische Naturanschauung läßt dies leicht errathen. Um so mehr ist zu bedauern, daß der Vater aus Pietät für sein Kind nach dessen Tode in beinahe jede Landschaft eine Knabengestalt malte, welche betrachtend steht oder sitzt. Als ob dies nöthig gewesen wäre! Im Gegentheile. Dieses gemalte Männchen erinnert daran, daß die Landschaften auch gemalt sind. Denn man vergißt diesen Umstand vollständig. Die kleinste Miniaturlandschaft wächst vor uns, wird lebensgroß und lebt, und wir stehen davor oder mitten darin, in der wirklichen Natur. Aber das gemalte Männchen reißt uns zuletzt aus der Täuschung, die vollständig war. Es ist dies ein Beweis, daß der Vater van der Kerkhove die Natur nicht versteht, wie Fritz sie verstand, folglich diese Bilder auch nicht malen konnte. Es ist unleugbar, daß das Männchen in diesen Landschaften stört, welche so ganz Stimmung, so ganz Ausdruck sind.

Eines ist noch hervorzuheben: die Luft. Es ist erstaunlich. Auch um die kleinsten Bäumchen glaubt man herum gehen zu können. Von der Durchsichtigkeit einer kleinen Winterlandschaft kann ich vielleicht einen Begriff geben, wenn ich mit getreuester Wahrheit sage, daß sie aussieht, als ob sie auf Glas gemalt wäre. Oft, wenn man, von der Wahrheit eines Gegenstandes, eines Licht- oder Wasserstreifens, eines Schattens, einer Einsenkung oder Erhöhung frappirt, hinzutritt, findet man erstaunt, daß sie durch ein primitives Pünktlein oder ein verzittertes Strichlein, einen Farbenspritzer oder eine Gruppe von haarfeinen in die Farbe gegrabenen Linien hervorgebracht wurde. Die Lichtstreifen im Wasser werden meistens durch solche eingegrabene Linien erzeugt. Alles, Alles ist, wie ein Maler in Paris sagte, „wunderbar, daß man darüber den Verstand verlieren könnte.“ Diese Bilder vereinigen in ihrer äußeren Behandlung die Feinheiten des erfahrenen Malers mit der kühnen, unfehlbaren Intuition des Genies.

Fritz malte an keiner Staffelei. Er setzte sich auf den Boden, legte sich auch wohl hin, neben sich den Farbenkasten und ein Stück Holz, welches ihm als Palette diente. In der linken Hand hielt er das Brettchen, auf welches er malte, in der rechten das Messer, mit welchem er die Farben auftrug; denn Fritz malte fast ausschließlich mit dem Messer, einem Taschenmesser mäßiger Größe. Er strich, nachdem er die Hauptfarben in dicken Massen aufgetragen, mit einem Hölzchen oder mit dem Daumen der Hand sie über und durch einander, im Sinne der Form, welche er hervorbringen wollte. Den Pinsel gebrauchte er nur zu feinen Details, namentlich zum Laub der Bäume, welches er wunderschön und wahr hervorbrachte, indem er mit dem Pinsel rasche, aber wohlberechnete faserige oder runde Spritzer auf das Bild drückte.

Manche seiner Landschaften wollen aus einiger Entfernung gesehen werden, namentlich jene, in welchen der Himmel den größten Raum einnimmt. Wo der Himmel, in der Nähe gesehen, ein Chaos von grauer, weißer und schwarzer Farbe zeigt, erblickt man, sich ein wenig zurückziehend, einen großartigen, geballten Wolkenzug, dessen Ausdruck unbeschreiblich ist. Diese Himmel haben eine Sprache.

Manche andere Bilder gewinnen, je näher man zu ihnen hintritt, besonders jene, welche kleine Bäume und Gesträuch, Wasser und Gräser haben. Man entdeckt dann eine Fülle origineller, feiner, reizender Details. So sehen z. B. die zarten, durchsichtigen Laubpartien kleiner Bäume aus, wie ein Theil eines Farrnkrautes, durch das Mikroskop betrachtet. Fritzens Colorit ist von einer Mäßigung und Harmonie, wie man sie nur bei großen Malern zu finden gewohnt ist. Nirgends, mit Ausnahme dreier Bilder, welche zu buntes Gemäuer haben, stört ein Ton; nirgends thut sich eine Farbe mit unedler Aufdringlichkeit [767] hervor. Ueberall ist Schönheit und Wohllaut. Die Pariser Künstler haben ohne Ausnahme diesen Gemälden volle Anerkennung und in mancher Beziehung die größte Bewunderung gezollt. Diese Landschaften sind eben so bedeutend, daß man den Maßstab, welchen man sonst bei Arbeiten sehr begabter Kinder anlegt, hier gar nicht gebrauchen kann. Man steht vor den durchaus künstlerischen Gemälden eines zwanzigjährigen Genies.

Das Urtheil der Pariser Presse läßt sich in dem Satze zusammenfassen: „Fritz van der Kerkhove’s Landschaften sind natürlich keine Meisterwerke, aber sehr bedeutende Gemälde, welche durch ihre Eigenartigkeit, die Poesie, die staunenswerthe Tiefe und Macht ihres Ausdrucks jedem Landschaftsmaler, selbst den größten Meistern, zum Vorbilde dienen können.“

Fritz van der Kerkhove war ein schwächlicher Knabe. Er kränkelte von der Geburt bis zum Tode. Er litt beständig an Kopfschmerz und schlief, mit Ausnahme der Nacht vor seinem Tode, nicht ein einziges Mal einen guten, ununterbrochenen Schlaf. Er aß auffallend viel; sein Durst war krankhaft. So viel der Knabe auch trank, er konnte niemals seinen Durst löschen. Der kleine Märtyrer starb an einem Blutergusse in’s Gehirn. Im fünften Jahre fing er an Bilderbogen zu malen und bald konnte man nicht genug Bilder für ihn aufbringen. Etwas später ließ ihm der Vater Unterricht im Zeichnen geben. Als Fritz über die Striche und die primitivsten Formen hinaus war, duldete seine mächtige Individualität kein gehorsames Copiren mehr; aus den Grundzügen der Vorlage schuf seine Phantasie Eigenes. Wenn der Vater ihm aufgab, einen der Kupferstiche, mit welchen die Wände seines Ateliers bis zum Boden bedeckt waren, zu copiren, so fing der arme Fritz gewissenhaft an nachzuzeichnen, allein schon nach zehn Minuten konnte der Vater nur noch mit Mühe und Noth in der Zeichnung seines Söhnchens einige Punkte des Kupferstichs erkennen. Was er sah, war eine ganz andere.Landschaft, eine von Fritz componirte. Des Knaben Kränklichkeit machte ein strenges Verfahren gegen ihn unmöglich. Mußte er doch oft wochenlang wegen seines Kopfleidens die Schule versäumen.

Von seinem siebenten Jahre an zeichnete er nicht mehr; er malte nur und zwar auf seine eigene Weise. Er zeichnete seine Landschaften nicht, ehe er sie malte. Die Motive dazu nahm er aus den Spaziergängen und aus seiner Phantasie. Für die wenigen Gebäude, die er malte, fand er Vorlagen in den Kupferstichen, niemals aber copirte er; er sah nur vielmehr die wichtigen Verhältnisse davon ab. Die fabelhafte Schnelligkeit, mit welcher Fritz malte, ergiebt sich aus der Zahl der Bilder, welche er in vier Jahren schuf: sechshundert. Sein Vater sagt, Fritz habe einmal an einem Tage siebenzehn Bilder entworfen. Selten malte er eins fertig, ohne inzwischen mehrere andere zu entwerfen. Wiederholt nahm er sie vor und arbeitete sie nach und nach aus. Herr van der Kerkhove sagt, er sei überzeugt, daß, wenn Fritz durch Kränklichkeit, durch beständiges Leiden nicht so oft am Malen wäre verhindert worden, er statt sechshundert Bilder zweitausend würde gemalt haben. Auf den Spaziergängen hatte er Auge und Empfindung für Alles. Er sah Farben und Farbenabtönungen, welche sein Vater absolut nicht sah, und sprach darüber mit einem Verständnisse, wie man es nur bei feinen und erfahrenen Künstlern findet. Wenn der Vater Kerkhove etwas an Fritzens Bildern corrigiren wollte, dann fing der Knabe bitterlich zu weinen an, lief zu seiner Mutter und klagte ihr, der Vater wolle seine Landschaft „verderben“. Es ist natürlich, daß der geniale Fritz das Eingreifen der platten Routine in seinen eigenartigen Schöpfungen nicht ertrug. Jeder Pinselstrich seines Vaters auf dem Bilde war für ihn ein Dolchstich in’s Herz. Was der Vater glattlecken oder zudecken wollte, das war ja eine unbegriffene Schönheit, ein unverstandenes Gefühl, ein Gedanke, eine Ueberzeugung. Er sah und empfand eben anders als der Vater. „Laß sie doch! Es sind ja meine Bäume,“ sagte er mit Thränen.

Der arme Fritz litt so viel, so beständig und in jeder Weise. Es stand in seinem Antlitz geschrieben, wie sehr er litt. Sein blasses Gesicht hatte die Züge eines Kindes und den Ausdruck eines Mannes, eines tiefsinnigen Mannes. In dem übermäßig großen dunklen Auge lag ein Gedankenernst, der Manchem unheimlich war, und sein Mund war immer schmerzlich, auch wenn er lächelte. Fritz war groß, aber schmal gebaut; nur der Ansatz des Halses, die Hand- und Fußgelenke waren kräftig. Sein Kopf war unförmlich groß, und er trug ihn wie eine schwere Last.

Für grammatikalisches Lernen zeigte er weder Lust noch Leichtigkeit, dagegen liebte er Geschichte und Geographie. Ueber Alles aber liebte er die hohen und tiefen Dinge, das Unbekannte. Er stellte immer Fragen darüber und weinte, wenn man ihm keine befriedigende Antwort gab. Ja, diese Dinge quälten ihn; die Abgründe zogen ihn an. War er doch selbst ein Abgrund.

„Wer ist denn Gott?“ frug er immer wieder. Er hatte eine Vorliebe für den Friedhof, und wenn er einen Leichenwagen sah, so lief er ihm nach. Als seine Mutter ihn einmal fragte, warum er dies thue, antwortete er, er hoffe immer, eine Seele aus dem Wagen fliegen zu sehen.

Armer Fritz! Er hatte wohl eine Ahnung, daß er nicht lange leben werde. Wenn man ihn ein und das andere Mal mehr als gewöhnlich liebkoste, dann wurde er traurig und fragte: „Muß ich denn bald sterben?“

Sein Gemüth war sanft und weich; er hatte ein Bedürfniß, einen Durst nach Liebe. Immer hielt er die Hände seiner Mutter oder seines Vaters und schmiegte sich an ihren Körper. Jedem Bekannten, der kam oder ging, reichte er die Hand. Seine Spielkameraden beteten ihn förmlich an. Ich darf nicht vergessen, daß Fritz auch für die Musik ungewöhnlich begabt war. Er sang eigenartige, improvisirte Melodien, suchte auf dem Claviere wohltönende Accorde dazu und fand sie, obgleich er keinen Unterricht im Clavierspiele hatte.

Niemals aber sang er vor Andern, selbst nicht vor seinen Eltern. Oft standen diese vor der Thür und lauschten seinem leisen, wunderbaren Gesange. Trat man dann ein, so verließ er mit einer heiligen Schamröthe auf den erschrockenen Zügen das Zimmer.

Aber der Wunderknabe hatte außer der Malerei und der Musik noch eine Leidenschaft: die Armen. Mit ihnen theilte er sein Brod; mit ihnen litt er. Er wählte vorzugsweise arme Kinder zu Spielcameraden und ging häufig mit ihnen nach Hause. Sah er, daß sie kein Spielzeug hatten, so lief er, holte seines und brachte es ihnen. Wenn er zum Spielen auf die Straße ging, so ließ er sich ungeheure Brodschnitten geben und füllte seine Taschen mit frischem oder getrocknetem Obste für die armen Kinder. Läuteten Arme am Hause und er sah sie vom Fenster aus, so lief er in die Küche und plünderte Teller und Schüsseln in und auf dem Schranke, oder er ging in die Vorrathskammer und schleppte, so viel seine Arme zu tragen vermochten, zur Hausthür, wo „seine Freunde“, Kinder, Frauen und Greise, ihm die liebevollen Hände küßten.

An einem kalten Wintertage, als Arme um Essen baten, und Frau van der Kerkhove, welche sehr wohlthätig ist, sagte, es thue ihr leid, sie könne heute nichts mehr geben, da schlich Fritz, nachdem er die Vorrathskammer geschlossen gefunden, in den Keller, nahm Brode, geräuchertes Fleisch und Kartoffeln und brachte es, keuchend unter der Last, auf die Straße, wo er den heimwärts gehenden Bettelnden nachlief. Gute, barmherzige Seele! Später, als er, am Fenster stehend, Sperlinge vor dem Hause picken sah, fragte er seine Mutter: „Wer sorgt für die Vögel?“

„Gott,“ erwiderte sie. Er blickte eine Weile stumm den Vögeln zu und sagte dann: „Warum sorgt Gott nicht auch für die Armen?“ O, diese wußten, was sie an Fritz verloren. Als er todt war, brachten sie ihm Blumen und weinten an seinem Sarge. Und noch jetzt sieht man häufig Arme einen Blumenstrauß auf sein Grab niederlegen.

Soll man Fritz van der Kerkhove beklagen, daß er der Kunst und dem Leben entrissen wurde, noch ehe er in ihre Reife getreten?

Nein, ihn nicht. Belgien ist zu beklagen, das Land, welchem die Entfaltung und der Ruhm dieses wunderbaren Genies verloren ging. Dich, guter Fritz, armer Märtyrer, Dich beklage ich nicht. Was Du in späteren Jahren mit Deinem Herzen und Deinen Gedanken in dieser Welt würdest gelitten haben, das vermögen ein paar verwandte Seelen zu ermessen, und diese sagen feuchten Auges: „Wohl Dir, Fritz!“