Ernst Haeckel’s Gasträa-Theorie

Textdaten
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Autor: Carus Sterne
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Titel: Ernst Haeckel’s Gasträa-Theorie
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 527–530
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Eine Auseinandersetzung mit einer Theorie von Ernst Häckel
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Ernst Haeckel’s Gasträa-Theorie.


Eine Theorie, welche die jüngere Zoologenschule nicht weniger lebhaft in Spannung erhält, als die türkische Frage unsere Politiker, verdient auch wohl den Lesern der „Gartenlaube“ ihren allgemeinen Umrissen nach vorgeführt zu werden. Dieselbe beabsichtigt uns nämlich über einige Dinge aufzuklären, über die wir, trotz unseres großen Interesses daran, kaum jemals einen Aufschluß erwartet hätten, nämlich darüber, wie die ersten Thiere ausgesehen haben, die auf der Erde erschienen sind und von denen die andern abstammen müssen, wenn die Darwin’sche Theorie eine Wahrheit ist. Es liegt den Zwecken der „Gartenlaube“ fern, neuen Theorien, die sich noch im heftigsten Läuterungsfeuer der Meinungen befinden, Anhänger zu werben, und der folgende Artikel will nur weiteren Kreisen eine offene, jedenfalls sehr wichtige Frage darlegen, die sich Jeder nach seinem Standpunkte und Wissen selber zurechtlegen und beantworten mag.

Es sei uns zuvörderst gestattet, die einfachen nackten Thatsachen, welche diese viel angefeindete Theorie in’s Dasein riefen, mit Hülfe einiger Abbildungen zu erläutern, welche die Entwicklungsgeschichte einer kleinen, vor einigen Jahren von Professor Haeckel im Rothen Meere entdeckten und zu Ehren Darwin’s [528] Monoxenia Darwinii benannten Koralle darstellen.[1] Das junge Thier erscheint, wie alle seine irdischen Brüder ohne Ausnahme, zunächst als ein kleines, mit Flüssigkeit erfülltes Bläschen (Fig. A), in welchem sich bald darauf ein sogenannter Zellkern bildet (Fig. B). Durch wiederholte, am Zellkern beginnende Theilung oder sogenannte Furchung entstehen daraus nacheinander zwei, vier, acht, sechszehn, zweiunddreißig u. s. w. Zellen, die zuletzt einen dichten, kugelförmigen Haufen von der Gestalt einer Brombeere oder Maulbeere (Morula) bilden (Fig. C. D. E). Dann rücken die einzelnen Zellen in der Mitte auseinander und umschließen in Blasenform einen mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum (Fig. G). Diese inzwischen mit Flimmerhaaren umwachsene Hohlblase (Fig. F) läßt, lustig umherschwimmend, bald darauf eine Einstülpung wahrnehmen (Fig. H), die immer tiefer wird, bis der ursprüngliche Hohlraum völlig verschwunden ist und beide Zellenlagen, sich dicht aneinander schmiegend, einen neuen Hohlraum gebildet haben, der sich bis auf eine kleine Oeffnung schließt (Fig. I. K). Es ist dies ein Abbild der Gasträa, die der Theorie, von der wir sogleich sprechen, ihren Namen gab.

Das Nachdenkliche an der Sache, was eigentlich jeden nicht auf den Kopf gefallenen Zoologen zum Theoretisiren herausfordern müßte, besteht nun darin, daß der eben beschriebene, höchst einfache Entwicklungsgang bei Thieren der verschiedensten Berufsarten, bei Schwämmen und Korallen, Medusen und Würmern, bei Krebsen und Sternthieren, bei Muscheln und Schnecken, ja sogar bei dem niedrigsten Wirbelthier, in ganz derselben Weise verläuft, sodaß unser Gruppenbild nicht allein die ersten Entwicklungsstufen der genannten Koralle, sondern mit nur dem Kenner merklichen Abweichungen auch diejenigen von hundert andern Thieren aus den verschiedensten Abtheilungen des Reiches, die im ausgewachsenen Zustande auch nicht die leisesten Aehnlichkeiten unter einander darbieten, vorstellen könnte. Aber noch mehr, Haeckel hat in einer wichtigen, vor drei Jahren erschienenen Abhandlung über „Die Eifurchung der Thiere“ zu zeigen gesucht, daß obige Entwicklungsstufen bis zur Gasträa-Form, wenn nicht den genauen Umrissen nach, so doch in erkennbar davon abgeleiteten Formen schlechterdings bei allen Thieren, vom niedersten bis zum höchsten, wiederkehren, so daß hier ein allgemein gültiger Grundtypus der ersten Schritte der Thierwelt vorliegt.

Man kann von dieser nicht zu leugnenden Uebereinstimmung der ersten Anläufe aller thierischen Entwicklung zweierlei Erklärungen versuchen, indem man nämlich entweder annimmt, aus rein formellen Ursachen müsse sich überall erst eine Blase mit einfacher Zellenwandung und dann ein doppelwandiger Hohlbauch bilden, oder indem man schließt, jene Reihenfolge sei die Wiederholung des natürlichen Entwicklungsganges der Dinge, und alle eigentlichen Thiere leiteten sich demgemäß von einer der Entwicklungsstufe K im Wesentlichen gleichen Grundform ab. Dies ist die vielberufene Gasträa-Theorie, die zuerst von Haeckel in seinem großen Werke über die Kalkschwämme (1872) aufgestellt wurde und seitdem der Gegenstand ebenso heftiger Angriffe, wie herzlicher Zustimmung gewesen ist.

Die Entwickelung von Monoxenia Darwinii,
einer Koralle des rothen Meeres, nach Haeckel.

Für die erstere Meinung sind keine anderen Gründe in’s Feld geführt worden, als eben der, daß die zweite unzulässig sei, und es wird nunmehr unsere Aufgabe sein, zu zeigen, welche Gründe Haeckel veranlassen konnten, eine so kühne Behauptung aufzustellen. Jeder unserer Leser weiß, meistens aus eigener Beobachtung, daß der Frosch in seiner Jugend, als sogenannte Kaulquappe, einem Fische in Gestalt und Lebensweise gleicht, und die Forschung hat gezeigt, daß auch alle höheren Wirbelthiere in ihren frühesten Entwicklungszuständen gewisse Aehnlichkeiten mit den Fischen darbieten. Da nun die Fische nachweisbar die ältesten Wirbelthiere sind, welche schon vor der Bildung unserer Steinkohlenlager im Urmeere lebten, und da die Fische unserer Zeit in ihrer Jugend den damals lebenden Urfischen gleichen, so hat man daraus in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts den Schluß gezogen, diese Aehnlichkeiten kämen daher, weil die niederen Thiere auf dem Wege, höhere Thiere zu werden, stehen gebliebene Anfänger seien. Den geistvolleren Forschern entging keineswegs, daß diese noch heute von einigen Querköpfen festgehaltene Meinung eine Umkehrung von Ursache und Wirkung sei, und dem Vater der neueren Entwicklungsgeschichte, Karl Ernst von Baer, ging bereits 1828 die Ahnung der Gasträa-Theorie auf, als er schrieb: „Je weiter wir in der Entwicklung zurückgehen, um desto mehr finden wir auch in sehr verschiedenen Thieren eine Uebereinstimmung. Wir werden hierdurch zu der Frage geführt: Ob nicht im Beginne der Entwicklung alle Thiere im Wesentlichen sich gleich sind, und ob nicht für alle eine gemeinschaftliche Urform besteht. Da der Keim das unausgebildete Thier selbst ist, so kann man nicht ohne Grund behaupten, daß die einfache Blasenform die gemeinschaftliche Grundform ist, aus der sich alle Thiere nicht nur der Idee nach, sondern historisch entwickeln.“

Diese dämmernden Ahnungen begannen erst eine bestimmte Form anzunehmen, als Haeckel im Jahre 1868 die Darwin’sche Theorie in die Praxis einführte, indem er ein genealogisches System entwarf, d. h. den Stammbaum der Thiere zu zeichnen suchte, wobei er freilich nach Art der Wappenmaler seine Phantasie zu Hülfe nehmen mußte. Hatte doch Darwin, von der Krone des Baumes ganz abgesehen, nicht einmal die Hauptäste angedeutet, ja demselben natürliche Wurzeln abgesprochen. Damals und bei diesen Bemühungen wurde es Haeckel klar, daß die Darwin’sche Theorie ewig ein Gewebe von Meinungen bleiben [529] müsse, wenn man nicht die Spuren der vermutheten Abstammung am lebenden Wesen und in dessen Entwicklung selbst nachweisen könne, und damals bereits stellte er sein entwicklungsgeschichtliches Grundgesetz auf, welches lautet: Die Keimesgeschichte ist der Auszug der Stammesgeschichte, d. h. mit anderen Worten: die Zustände, die ein Thier in seiner Entwicklung durchläuft, sind mehr oder weniger veränderte Nachbilder seiner Ahnen, eine leibhaftige Ahnengallerie. Durch dieses Gesetz hat die Abstammungslehre erst Fleisch und Blut, Hand und Fuß gewonnen; sie ist nun kein haltloser Schatten mehr, sondern wir können mit Secirmesser und Mikroskop ihre Aufstellungen begründen oder zurückweisen. Das ist es, was ich mit den Worten sagen wollte: Haeckel habe die Darwin’sche Theorie in die Praxis eingeführt. Nun wieder zu unserem speciellen Thema!

Außer den schon mitgetheilten Gründen giebt es noch zwei andere, welche der Gasträa-Theorie sehr günstig zu sein scheinen und ihr eine gewisse Wahrscheinlichkeit sichern. Erstens nämlich begegnen die oben beschriebenen, bei niedern Thieren vollkommen mündig im Wasser umherflanirenden Herren F, K u. s. w. auf Schritt und Tritt Doppelgängern, die schon auf der Höhe ihrer Laufbahn stehen und doch diesen kleinen Anfängern auf’s Flimmerhaar gleichen, ihnen ähnlich sehen wie ein Ei dem andern, und dazu kommt zweitens die Erwägung, daß es aus physiologischen und mechanischen Gründen gar nicht gut ohne die Gasträa abgegangen sein kann, wenn die Darwin’sche Theorie auch nur einen Schatten von Wahrheit einschließt. Die Sache wird beinahe so wahrscheinlich, wie die, daß wir Alle einmal Wickelkinder gewesen sind.

Was den ersten Punkt betrifft, so bestehen die niedersten lebenden Wesen, welche wir durch Haeckel’s Forschungen (seit 1864) kennen, die Moneren, gerade wie die niederste Stufe (Fig. A) aller jetzt lebenden Thiere aus einem Tröpfchen lebendigen Schleims, dem also in beiden Fällen alle Lebensfähigkeiten einwohnen. Da wir uns noch einfachere Wesen nicht einmal zu denken im Stande sind, so müssen die dieser Einfachheit wegen sogenannten Moneren jedenfalls die erste Sprosse der thierischen Stufenleiter gebildet haben, und diesen Urbildern zu Liebe nennt Haeckel die betreffende, ihnen gleichende Entwicklungsstufe Monerula. Aus der Monerula wird durch Abscheidung des Kernes eine sogenannte Zelle und von gleichwerthigen einzelligen Wesen, die durch Umbildung ihrer Haut mancherlei Gestalten annehmen, wimmeln alle stehenden Gewässer. Die durch wiederholte Furchung der Zelle entstehenden Zellenklümpchen begegnen ebenfalls im Meere wie im süßen Wasser mannigfachen Ebenbildern, die nach Alter und vollkommener Aehnlichkeit ihre Urahnen sein könnten. So könnte man denn auch die als Larvenform Blastula oder Planula genannte Blase (Fig. F) mit mancherlei voll ausgebildeten Thierchen verwechseln, die genau ebenso aussehen. Unter Andern entdeckte Haeckel 1869 an der norwegischen Küste ein Kugelthier (Magosphaera planula), welches auf das Vollkommenste dem Begriffe einer „Planäade“ entspricht, gerade so aussieht und entsteht wie unsere Entwicklungsform, nur daß sie zufrieden ist, es „so herrlich weit gebracht zu haben“ und niemals, so weit beobachtet, den Versuch macht, durch Einstülpung weiter zu kommen, vielmehr das oben abgebildete Einmaleins immer wieder von vorne anfängt.

Wenn wir nun zu der nächsten Hauptstufe übergehen, um die es sich hier hauptsächlich handelt, so müssen wir zunächst gestehen, daß man freischwimmende Gasträaden unter den „vollendeten“ Schwimmern noch nicht kennen gelernt hat, wiewohl es dieser erst nach längerer Beobachtung zu „entlarvenden“ Bäuchlinge genug geben mag. Beobachten wir aber die wirkliche Larve, hinter der sich ein Schwammthier, eine Koralle oder ein sonstiger Ableger vom Polypenstamm verbergen mag, einen Augenblick weiter, so sehen wir sie demnächst vor Anker gehen, indem sie mit dem der runden Oeffnung entgegengesetzten Ende ihres Körpers auf Felsen oder Tanglaub festwächst und in diesem festgewachsenen Zustande ihre weitere Entwicklung vollendet, Notabene, wenn sie eine solche haben. Denn unter den Kalkschwämmen sowohl, wie unter den naheverwandten Fläschchenthieren (Physemarien) hat Haeckel eine Anzahl verschiedener Thiere nachgewiesen, die nur in ganz unwesentlichen Dingen über die Bildungsstufe der Gasträaden hinaus kommen, als solche leben und sterben. Unsere Figuren L und M stellen eine solche festgewurzelte „Gasträade“ vor, die ihre Hauptschicht mit Sandkörnchen und Nadeln von Kalkschwämmen inkrustirt hat. Es ist das Meerfläschchen (Haliphysema primordiale) aus dem Mittelmeer, welches man meist auf Meerpflanzen festgewachsen findet. Andere durch die Auswahl ihrer Panzernadeln unter dem Mikroskope noch viel zierlicher erscheinende Fläschchenthiere hat Professor Haeckel in einer im vorigen Jahre erschienenen Abhandlung über die „Gasträaden der Gegenwart“ abgebildet.

Wir sehen daran, daß der Name Gasträade oder Bäuchling nicht blos formell, sondern auch physiologisch richtig ist, denn wie der Apostel Paulus einst, mit dem griechischen Worte Gaster spielend, von den Kretern behauptete, so könnte man vielleicht mit noch mehr Recht von diesen Meerfläschchen sagen, es seien „faule Bäuche“. Das ganze Thier ist ein „Bauch sans phrase“, der nichts thut als verdauen, was sich in ihn verirrt. In früheren Zeiten, als man noch gar nicht ahnte, daß manche Pflanzen mit ausgezeichneten Bäuchen versehen sind – der geneigte Leser wolle sich nur der im Jahrgange 1875 der „Gartenlaube“ abgebildeten Kannenpflanzen[WS 1] erinnern –, haben einige Naturforscher geglaubt, der Besitz eines Magens sei der durchgreifendste Charakter, der das Thier von der Pflanze unterscheidet, und so viel ist wahr daran, daß die Gasträaden die ersten Thiere sind, bei denen sich der Hauptunterschied des Thieres von der Pflanze, Centralisirung aller Thätigkeiten, zeigte. Bei den höheren Thieren sind Kopf oder Herz diese Centra, die den Pflanzen fehlen; auf der ersten Stufe konnte nur der Magen diesen vornehmen Platz einnehmen. Mit gutem Fug stellt Haeckel anderseits alle thierartigen Wesen, die sich noch nicht bis zur Bildung eines solchen Urmagens erhoben haben, mit den niedersten pflanzenartigen Gebilden in das neutrale Reich der Protisten oder Urwesen.

Das Meerfläschchen L von außen, M im Durchschnitte.
Der Bauch- oder Urdarm d öffnet sich oben in den Urmund m, durch welchen die jungen Keimzellen e austreten, um sich in der oben geschilderten Weise zu neuen Gasträaden zu entwickeln. Während die Zellen des Hauptblattes h unter einander und mit den fremden Körpern verschmolzen sind, bleiben die mit Flimmerhärchen bedeckten des Magenblattes g deutlicher unterschieden.

Wir kommen damit zur philosophischen Bedeutung der Gasträa-Theorie, in welcher möglicher Weise ihre Stärke ruht. Fragen wir uns, wodurch ein Wesen sich über das andere erhebt, so lautet die Antwort: durch die in seinem Bau weiter getriebene Arbeitstheilung. Bei den niedrigsten Lebewesen, die noch nicht einmal den Werth einer Zelle erreicht haben, bei den Moneren, ist der zähe Schleim, aus dem sie bestehen, zugleich Hand und Fuß, Haut und Magen, Kopf und Herz. In der Zelle ist ein kleiner Fortschritt insofern vorhanden, als da doch bereits ein Ministerium für äußere und eins für innere Angelegenheiten erscheint; es giebt eine Oberhaut mit provisorischen Bewegungsorganen [530] und ein Oberhaupt in Gestalt des Zellkerns. Aber eine ersprießliche Arbeitstheilung kann offenbar erst erzielt werden, wenn sich mehrere Zellen oder Elementarwesen in die laufenden Geschäfte derartig theilen, daß jede derselben etwas Anderes und zwar immer dasselbe verrichtet und es durch Uebung in seinem Fache zur Meisterschaft bringt. Das ist die Bedeutung der rapiden Zellentheilung, die wir bei jedem jungen Wesen, das es zu etwas bringen will, alsbald eintreten sehen. Und dabei war nun allerdings die Bildung einer Gesellschaft für gute Verdauung in demselben Maße die wichtigste und erste Aufgabe, wie der Hunger noch heute von allen thierischen Trieben der am gebieterischsten seine Stellung fordernde ist. Sehen wir die Keimblase (Fig. F) an, die Ernst von Baer für die Urform der Thiere hielt! Da ist noch jede Zelle soviel werth wie die andere, jede hat ihren Geißelfaden, jede verdaut, athmet, jede kann nach Auflösung des Gemeinwesens eine neue Republik begründen. Haeckel denkt sich den Fortschritt nun so, daß von diesem Zellenstaat eine Bürgergruppe angefangen haben mag, sich vorzugsweise der Nahrungsaufnahme zu widmen. Da es für diesen Zweck günstiger sein mußte, wenn diese Gruppe etwas geschützt lag, so bildete sich allmählich in ganz mechanischer Weise durch natürliche Züchtung ein Grübchen, welches sich im Verfolg dieses Vorganges immer mehr vertiefte und, indem sich die Ernährungsthätigkeiten ganz hierher zurückzogen, zu einem vollkommenen Magen wurde.

Ein guter Magen war die nothwendige Vorbedingung weiterer Entwicklung, das ist auf jeden Fall die Erklärung des Umstandes, daß alle höheren Thiere von dem Urmagenthier abstammen. Wir sehen aber ferner in unserem Bilde die Verdauungszellen von einer schützenden Hautzellenschicht umgeben, denen zunächst die Bewegung des Ganzen und Führung der äußeren Geschäfte oblag. Wir dürfen uns also verständigerweise nicht wundern, aus diesen den Verkehr mit der Außenwelt vermittelnden Zellen auch in der Entwicklung höherer Thiere die edelsten Organe, die Sinne, hervorgehen zu sehen, weshalb man diese äußere Schicht auch das Hautsinnesblatt in der Kunstsprache der Entwicklungslehre nennt. Die übrigen Gewebe gehen später aus Verdoppelungen dieser beiden ersten Keimblätter hervor, und ich will nur noch, da ich mich hier nothwendig kurz fassen muß, hinzusetzen, daß das Nervensystem in einem sehr innigen Anschlusse an die Ausbildung der Ernährungswerkzeuge fortschreitet und daß es kein Zufall zu sein scheint, wenn das Gehirn der Thiere sich überall in der Nähe des Schlundes ausgebildet hat.

Sehr bedeutsam ist ferner für den Forscher die Vergleichung des weiteren Verhaltens der Darmlarve in der Entwicklungsgeschichte zweier sie selbst nur wenig überragenden Thierclassen, nämlich der niederen Schwämme und der niederen Würmer. Es sind dies die einfachsten Formen der beiden Hauptgruppen des Thierreiches, der Pflanzenthiere einerseits und der übrigen Thiere anderseits. Bei den ersteren, zu denen Schwämme, Korallen, Polypen und Quallen gehören, setzt sich die Darmlarve alsbald, wie wir bei dem Meerfläschchen sahen, fest. Es war dies, wenn wir die Theorie einen Augenblick für bewiesen annehmen, ein Act von den bedeutsamsten Folgen für die fernere Ausgestaltung der Gruppe. Alle Pflanzenthiere, die sich von diesen vor Entwicklung äußerer Organe vor Anker gegangenen Magenthierchen ableiten, erwarben dadurch für ihre später ausgebildeten Gliedmaßen eine regelmäßige blumenblattartige Anordnung derselben um die Schlundöffnung, die dabei als Mittelpunkt in Betracht kam. Sie sind ihr Lebelang nicht über den Zustand oftmals herrlich aufgeputzter Bäuche hinausgekommen.

Auf der anderen Seite ging aus denselben Anfängen die Partei der Fortschrittler hervor, denen zu allen Zeiten die Welt gehörte. Die Darmlarve entwickelt sich schwimmend und frei weiter, als ahnte sie den weiten Weg, der vor ihr lag, und der Entschluß, sein Fortkommen und seine Nahrung sich selbst zu suchen, statt den Mund aufzusperren und mit dem, was freiwillig hineinfliegt, zufrieden zu sein, wurde die Ursache zur Ausbildung vollkommener Bewegungs-, Ergreifungs- und Sinnes-Organe. Das Magenthier streckte sich bei seinem „Vorwärtsstreben“ etwas länger und wurde ein Wurm, der sich stets in einer bestimmten Richtung bewegte und daher ein Vorn und Hinten, Oben und Unten, Rechts und Links erhielt, wie es alle höheren Thiere mit Ausnahme eben der Pflanzenthiere und einiger nachträglicher Nachahmer derselben aufweisen. Von den niedrigen Würmern aber führen Beziehungen zu sämmtlichen höheren Thieren, so daß sie sich alle von dem Urmagenthier herleiten lassen. Da die niedern Thiere in ihren Jugendzuständen frei umherschwärmen und also als sogenannte Larven bereits in den Kampf um’s Dasein eintreten, so können wir uns nicht wundern, daß sie auch die Einwirkungen davon in mancherlei gestaltlichen Wandlungen des ursprünglichen Entwicklungsganges, wie wir ihn oben vorführten, erlitten, und dies könnte als eine der Ursachen betrachtet werden, warum das Urmagenthier nicht in der Jugendgeschichte aller Thiere gleich deutlich hervortritt. Wie wir schon erwähnt, läßt es sich aber stets, wenn auch bisweilen in etwas „derangirter Toilette“, wiedererkennen.

Enthusiasten der mechanischen Welterklärung werden in künftigen Jahrhunderten möglicher Weise behaupten, jenes eingedrückte kleine Ei, welches wir kennen gelernt haben, sei das Ei des Columbus in der Entwickelungslehre, und äußerlich wenigstens läßt sich die Sache so an, denn während ein Theil der Zoologen sich an Stelle des Eies selber auf den Kopf stellt, um damit zu beweisen, das Problem sei doch noch nicht gelöst, denken die Andern bei sich: „das hätten wir auch gekonnt“ und schelten auf den kühnen Segler, der ihnen zuvorgekommen. Es ist nun einmal das Schicksal der neuen Theorieen, um so heftiger angefochten zu werden, je bedeutender sie sind. Wir wollen nicht von Galilei sprechen, denn als er die Copernicus’sche Theorie für mehr als eine bequeme Lehrmethode erkannte, sah sich die Autorität der Kirche bedroht. Aber ging es Huygens mit seiner Lichttheorie vor zweihundert Jahren, oder, um das nächstliegende Beispiel nicht zu vergessen, Caspar Friedrich Wolff mit seiner Theorie, daß alle Wesen Neubildungen seien, etwa anders? Ersterer hatte den scharfsichtigsten Physiker und Mathematiker der Zeit, Newton, gegen sich, der Berliner Anatom sogar alle gleichzeitigen Naturforscher von Ruf und Ansehen. Heute werden die Astronomen und Physiker schamroth, wenn sie die Lehren des Copernicus und Huygens noch immer Theorie nennen sollen. Aber es sind Theorieen, wie so vieles, was wir als Gewißheit ausgeben, und die Schöpfung der Welt aus Nichts, oder die Bildung des Menschen aus einem Erdenkloß sind auch Theorieen. Nur der Grad der inneren Wahrscheinlichkeit gewährt der einen den Vorrang vor der andern. Gewißheit haben wir nur für die wenigsten unserer Meinungen, und deshalb können wir, falls der Eine von uns felsenfest an die Gasträatheorie glauben sollte und der Andere ganz und gar nicht, doch ohne Groll von einander Abschied nehmen und ohne Unruhe schlafen.

Carus Sterne.

  1. Die Abbildungen sind mit freundlicher Erlaubniß des Verfassers und Verlegers dem Prachtwerke „Arabische Korallen“ von Ernst Haeckel (Berlin bei G. Reimer 1876) entnommen.

Anmerkungen (Wikisource)