Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich

Textdaten
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Autor: Moritz Busch
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Titel: Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, 44, 46, 49, 52, S. 708–711, 738–741, 776–779, 825–828, 872–875
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[708]
Erinnerungen aus dem Kriege mit Frankreich.
Von Moritz Busch.
1. Das mobilisirte Auswärtige Amt.[1]
Nachdruck verboten.

Wie ein Traum, fast wie ein Wunder kommt es mir vor, wenn ich mir vergegenwärtige, unter welchen Umständen ich vor nunmehr sieben Jahren meine erste und letzte Reise durch Frankreich machte, und doch steht mir keine andere so lebendig vor der Erinnerung. Man wird Beides begreiflich finden, wenn ich sage, daß sie von Saarbrücken über Sedan nach Versailles führte, und daß ich die Ehre hatte, mich in den sieben Monaten, die sie währte, in der unmittelbaren Umgebung des Reichskanzlers – oder, wie er damals noch hieß, des Bundeskanzlers – zu bewegen. Mit anderen Worten: diese Reise hing mit dem Feldzuge von 1870 und 1871 zusammen, und ich war dabei dem mobilgemachten Auswärtigen Amte beigegeben, welches wiederum der ersten Staffel des großen Hauptquartiers der deutschen Heere zugetheilt war. Daß ich dabei Gelegenheit hatte, nicht blos einigen entscheidenden militärischen Actionen an einem guten Platze beizuwohnen, sondern auch andere bedeutende Vorgänge aus nächster Nähe zu sehen und zu hören, war eine Fügung, die einem Manne in bescheidener Stellung, welcher acht Monate vorher nicht einmal daran hatte denken können, mit dem Kanzler in persönliche Berührung zu kommen, recht wohl damals wie später zuweilen wie ein Traum erscheinen konnte. Man sah dicht vor seinen Augen einen weltgeschichtlichen Proceß sich vollziehen, der kaum je vorher seines Gleichen gehabt hatte. Man fühlte den Odem des Geistes unseres Volkes; man hörte seine Donnerstimme über den Schlachtfeldern, empfand die Bangigkeit der Entscheidungsstunde und erzitterte freudenvoll, wenn die Siegeskunde kam. Nicht minder werthvoll und bedeutsam aber waren die stillen nüchternen Stunden, in denen man Blicke thun durfte in die Werkstatt, von wo ein wichtiger Theil jenes Processes seinen Ausgang nahm, wo die Ergebnisse des Waffenkampfes gewogen, berechnet und verwerthet wurden und wo zuletzt, in Ferrières und Versailles, täglich vielgenannte Namen, gekrönte Häupter, Prinzen, Minister, Generäle, Unterhändler, Parteiführer des Reichstags ein- und ausgingen. Wohlthuend endlich war nach des Tages Mühe der Gedanke, als eins der kleinen Rädchen zu dem Apparat zu gehören, mit dem der Meister sein Denken und Wollen auf die Welt wirken, sie nach seinen Plänen sich gestalten ließ. Das Beste war aber und blieb immer das Bewußtsein, in seiner Nähe zu sein.

Ich glaube Ursache zu haben, die Erinnerung hieran werth zu halten als den höchsten Schatz meines Lebens, und ich meine ferner, daß es jetzt erlaubt sein wird, an Einigem davon Andere theilnehmen zu lassen. Selbstverständlich kann das, was ich mittheile, meist nur in Aeußerlichkeiten bestehen. Aber ich denke, Alles ist von Interesse, was zu dem hochherrlichen Kriege gehört, der uns ein deutsches Reich und eine sichere Westgrenze gewann, und auch das scheinbar Kleinste ist werthvoll, was zu dem Antheile in Beziehung steht, den der Graf von Bismarck an den Ereignissen während desselben hatte. Alles sollte deshalb aufgehoben werden. In großer Zeit erscheint das Kleine kleiner; in späteren Jahrzehnten und Jahrhunderten ist es umgekehrt: das Große wird größer und das Bedeutungslose bedeutungsreich. Oft wird dann bedauert, daß man sich von den oder jenen Ereignissen und Persönlichkeiten kein so lebendiges, farbiges Bild machen kann, wie man möchte, weil anfangs unscheinbares, jetzt wünschenswerthes Material mangelt, da sich kein Auge, das es sah und keine Hand, die es beschrieb und bewahrte, gefunden hat, als es Zeit war. Wer wüßte jetzt nicht gern Genaueres über Luther in den großen Tagen und Stunden seines Lebens, bestünde es auch aus sehr harmlosen und wenig charakteristischen Zügen, Umständen und Beziehungen? In hundert Jahren wird Fürst von Bismarck in den Gedanken unseres Volkes seine Stelle neben dem Wittenberger Doctor einnehmen: der Befreier unseres politischen Lebens vom Drucke des Auslandes neben dem Befreier der Gewissen von der Wucht Roms, der Schöpfer des deutschen Reiches neben dem Schöpfer des deutschen Christenthums. Viele haben unserm Kanzler diesen Platz in ihrem Gemüthe und unter den Bildern ihrer Wände schon eingeräumt, und so will ich’s auf die Gefahr ankommen lassen, daß Einer oder der Andere sagt, ich hätte nur von der Schale zu erzählen, und der Kern bliebe unberührt. Vielleicht ist mir später gestattet, in bescheidener Weise den Versuch zu machen, auch von letzterem ein Bild zu geben, das einige neue Züge zeigt. Für jetzt verfahre ich solchen Unternehmungen gegenüber nach dem Spruche: „Sammelt die übrigen Brocken, auf daß nichts umkomme!“

Am 31. Juli fuhr der Kanzler, begleitet von seiner Gemahlin und der Comtesse Marie, aus seiner Wohnung nach dem Bahnhofe, um sich mit König Wilhelm auf den Kriegsschauplatz [709] und zunächst nach Mainz zu begeben. Einige Räthe des Auswärtigen Amtes, ein expedirender Secretär des Centralbureaus, zwei Chiffreurs und drei oder vier Kanzleidiener waren bestimmt, ihm zu folgen. Wir Anderen begleiteten ihn, als er, den Helm auf dem Haupte, in den Wagen stieg, nur mit guten Wünschen. Auch ich hatte mich schon darein ergeben, den Krieg blos auf der Landkarte und in den Zeitungen mitzumachen. Doch sollte es sich bald günstiger für mich gestalten.

Am 6. August Abends traf das Telegramm vom Siege bei Wörth im Ministerium ein. Eine halbe Stunde später, nachdem es Feierabend gegeben, überbrachte ich die frohe Botschaft noch frisch und warm einer Gesellschaft von Bekannten, die in einer Weinstube der Potsdamer Straße der Dinge, die da kommen sollten, wartete, und – nun, man weiß ja, wie der deutsche Mann gute Kunde gern feiert. Es war aber eine sehr gute Kunde, und so wurde sie sehr, von Manchem vielleicht zu sehr, von den Meisten jedenfalls zu lange gefeiert. In Folge dessen war ich am nächsten Morgen noch nicht aus den Federn, als ein Kanzleidiener erschien, der mir von Seiten eines der zurückgebliebenen Räthe Abschrift einer telegraphischen Depesche überbrachte, laut deren ich ohne Verzug in’s große Hauptquartier abzureisen hatte. Also doch, gütiges Schicksal! Rasch war das Nothwendigste besorgt; noch im Laufe des Vormittags erhielt ich im Ministerium Paß, Legitimationskarte und Freibillet für alle Militärzüge, und gegen acht Uhr Abends dampfte ich mit den beiden Begleitern, die ich mitbringen sollte, in Gottes Namen aus dem Anhalter Bahnhofe hinaus.

Wir fuhren anfangs in einem Coupé erster Classe, später wurde die dritte, zuletzt ein Güterwagen daraus. Ueberall gab es langen Aufenthalt, der unserer Ungeduld noch länger erschien, als er war. Erst am 9. August früh nach sechs Uhr kamen wir nach Frankfurt. Da wir hier einige Stunden auf Weiterbeförderung warten mußten, hatten wir Zeit, uns zu erkundigen, wo das große Hauptquartier sich jetzt befinde. Der Etappencommandant wußte uns keinen Bescheid zu geben. Der Telegraphendirector, den wir dann mit unserer Frage aufsuchten, konnte uns auch nichts Bestimmtes sagen. „Vielleicht noch in Homburg, wahrscheinlich aber in Saarbrücken,“ meinte er. Gegen Mittag ging es weiter – jetzt im Gepäckwagen – nach Darmstadt, am Odenwald hin, dessen dunkle Berge schwere weiße Regenwolken umwebten, nach Mannheim und auf Neustadt zu. Immer langsamer schlich der Zug hin; immer häufiger stockte die Fahrt vor unabsehbar langen anderen Militärzügen. Allenthalben, wo gehalten wurde, kamen Leute herbei, die den Soldaten in den Wagen zu essen und zu trinken brachten, alte Mütterchen darunter, gutherziges, hülfreiches, armes Volk, das nur Milchkaffee und trockenes Schwarzbrod zu bieten hatte.

Der Rhein wurde bei Nacht passirt. Früh liegt ein elegant gekleideter Herr mit seinem englisch sprechenden Diener neben uns auf dem Boden. Es ergiebt sich, daß es der Londoner Banquier Deichmann ist, der ebenfalls in’s Hauptquartier will, um sich bei Roon die Erlaubniß zum Eintritt in ein Cavallerieregiment zu erbitten. Auf seinen Rath fahren wir auf der Ebene vor Neustadt von Hosbach, wo der Zug nicht weiter will, weil vor ihm drei oder vier andere Züge das Bahngleis einnehmen, in einem schnell besorgten Bauernwagen nach dem Städtchen, das von Soldaten, baierischen Jägern, preußischen rothen Husaren, Sachsen, Landwehr und dergleichen wimmelt.

Hier wurde zum ersten Mal seit der Abfahrt von Berlin wieder warm gegessen. Bis dahin hatte es nur kalte Küche und des Nachts wenig erfolgreiche Schlafversuche auf harten Holzbänken, die Reisetasche unter dem Kopfe, gegeben. Indeß gingen wir ja in den Krieg, auch hatte ich’s bei Touren mit minder lohnendem Ziel schon unbequemer gehabt.

Von Neustadt fuhren wir nach einstündigem Aufenthalt weiter, quer durch die Hardt, durch enge Thäler mit Kiefern und durch eine Anzahl von Tunneln, endlich in die Gebirgslücke hinaus, in der Kaiserslautern liegt. Hatten in den letzten Stunden Sonnenblicke mit Regenschauern gewechselt, so goß es während der Fahrt von hier nach Homburg ohne Unterbrechung wie mit Mulden, sodaß der kleine Ort, als wir nach zehn Uhr Abends in seinem Bahnhofe hielten, nur Nacht und Wasser zu sein schien. Wir stiegen, unsere Koffer auf den Schultern, in den peitschenden Regen hinaus, wateten durch Sümpfe und Tümpel und tasteten und fragten uns nach dem Gasthofe „Zur Post“, wo wir alle Zimmer übervoll fanden und auch von dem, was Leib und Seele zusammenhält, nichts mehr zu haben war. Wir hätten aber auch von günstigeren Verhältnissen wenig Gebrauch machen können; denn wir erfuhren hier, daß der Graf mit dem König schon weiter und vermuthlich in Saarbrücken sei, und es hieß eilen, wenn wir ihn noch in Deutschland einholen wollten. Wieder in die Sündfluth hinaus zu müssen, war nicht erfreulich. Aber man konnte sich einigermaßen darüber hinwegphilosophiren, wenn man an Andere dachte, die schlimmer daran waren. In der Wirthsstube hatten die Schlafenden in einem Gemisch von Tabaks-, Bier- und Lampendunst mit einer Beigabe vom Geruche feuchten Tuches auf den Tischen und Stühlen herumgelegen. In der Senkung links vom Bahnhofe schmauchten, halb erloschen in der nassen Nacht, die Wachtfeuer eines großen Lagers. Als wir nach unserem Zuge zurückwateten, blitzten uns durch den schräg herabströmenden Regen die Pickelhauben und Gewehrläufe eines preußischen Bataillons entgegen, welches sich vor dem Bahnhofshôtel aufstellte. Gründlich durchweicht und ziemlich müde geworden, fanden wir endlich wieder ein Unterkommen in einem Güterwagen, wo Deichmann für sich und mich in einer Seitenabtheilung ein Plätzchen am Fußboden zum Ausstrecken und ein paar Hände voll Stroh zum Kopfkissen entdeckte. Die anderen Reisegefährten, unter denen sich ein Baron und ein Professor befanden, hatten es nicht so gut. Sie mußten unter Postpacketen, Briefträgern und Trainsoldaten auf Kisten vorlieb nehmen.

Gegen ein Uhr setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Nach mehrmaligem Stillstand hielten wir, als der Morgen graute, in der Nähe eines Städtchens mit schöner, alter Kirche. Im Thale daneben lag eine Mühle, an der die Chaussee nach Saarbrücken sich hinschlängelte. Wir hörten, daß letzteres noch eine halbe Meile entfernt sei, und waren somit dem Ziele sehr nahe, aber unser Zug schien nicht wieder in Gang zu kommen, und jeden Augenblick konnte das Hauptquartier aufbrechen und die Grenze überschreiten, jenseits deren es vorläufig keine Eisenbahn und aller Wahrscheinlichkeit nach wenig andere Fahrgelegenheit gab. Bedeckter Himmel und ein feiner Sprühregen trugen nicht bei, die ungeduldige, besorgte und verdrießliche Stimmung zu verbessern. Wir hatten gegen zwei Stunden auf das Pfeifen der Locomotive zum Aufbruch gewartet, als Deichmann wieder aus der Noth half. Er verschwand, und als er wiederkam, hatte er den Müller drunten gewonnen, uns mit seinem Gespann nach der Stadt zu fahren, Deichmann hatte aber versprechen müssen, dem Müller dafür zu stehen, daß die Soldaten ihm die Pferde nicht nähmen.

Während der Fahrt erzählte uns der Müller, daß die Preußen ihre Vorposten schon bis Metz vorgeschoben. Zwischen neun und zehn Uhr waren wir in St. Johann, wo wir nicht viel von den Spuren der Beschießung durch die Franzosen, sonst aber schon ein recht lebendiges Bild kriegerischer Zustände sahen. Ein Gewirr von Marketenderkarren, Bagagewagen, Soldaten zu Fuß und zu Pferde, Johannitern mit der Kreuzbinde und dergleichen bewegte sich durch die Straßen. Hessische Truppen zogen vorbei, Dragoner und Artillerie; die Reiter sangen: „Morgenroth, leuchtest mir zum frühen Tod.“

Im Gasthofe, wo wir uns umzogen, erfuhr ich, daß der Bundeskanzler noch im Orte war und bei dem Kaufmann und Fabrikanten Haldy Quartier genommen hatte. Es war also nichts versäumt worden, und ich hatte glücklich den Hafen erreicht, aber allerdings mit genauer Noth; denn als ich nun zu Haldy ging, um mich zu melden, hörte ich schon auf der Treppe von Graf Bismarck-Bohlen, dem Vetter des Ministers, daß man gleich nach Mittag weiter zu gehen gedenke. Ich schaffte meinen Koffer aus dem Gasthofe auf den Fourgon, der mit anderen Wagen unten an der Saarbrücke aufgefahren war; dann kehrte ich in das Haldy’sche Haus zurück, wo ich mich dem Kanzler, der eben aus seinem Zimmer trat, um sich zum König zu begeben, auf dem Vorsaal vorstellen konnte, worauf ich das nebenan etablirte Bureau aufsuchte, um zu fragen, ob es für mich zu thun gäbe. Es gab genug zu thun; die Herren hatten alle Hände voll, und ich bekam unverzüglich meinen Antheil davon.

Kurz vor ein Uhr hielten bei stechender Sonne die Wagen vor den Stufen zur Hausthür, alle vierspännig, mit Soldaten [710] auf den Sattelpferden, ein Wagen für den Kanzler, einer für die Räthe und den Grafen Bohlen, einer für den geheimen expedirenden Secretär und die beiden Chiffreurs. Nachdem der Minister mit dem Geheimrath Abeken in dem seinen Platz genommen, und Graf Bohlen sowie die beiden anderen Räthe sich zu Pferde gesetzt, verfügten auch die Uebrigen sich mit ihren Actenmappen in ihre Wagen. Ich bestieg für diesmal sowie später, wenn die Herren ritten, den der Räthe. Fünf Minuten später überschritten wir den Fluß und kamen in die lange Hauptstraße von Saarbrücken. Dann ging es die von Pappeln beschattete Chaussee hinauf, die am Schlachtfelde des 6. August vorbei nach Forbach führt, und nach einer halben Stunde waren wir auf französischem Boden. Von dem blutigen Kampfe, der fünf Tage vorher hier hart an der Grenze gewüthet hatte, waren noch mancherlei Spuren zu bemerken, von Kugeln abgerissene Baumäste, weggeworfene Tornister, Fetzen von Kleidern und Leinenzeug auf den Stoppelfeldern, Kohlen von Kochfeuern, zerschossene Räder, Gruben, von Granaten gewühlt etc. Die Todten aber waren, soweit man sehen konnte, bereits bestattet.

Und hier, am Anfang unserer Reise durch Frankreich, will ich in meiner Erzählung abbrechen, um einige Worte über das mobilisirte Auswärtige Amt und über die Art und Weise zu sagen, wie der Kanzler mit seinen Leuten reiste, wohnte und überhaupt lebte. Der Minister hatte sich zu seiner Begleitung die Geheimen Legationsräthe Abeken und von Keudell, den Legationsrath Graf Hatzfeld und den Grafen Bismarck-Bohlen gewählt. Dazu kamen der Geheimsecretär Bölsing vom Centralbureau und die Chiffreure St. Blanquart und Willisch, endlich ich. Als Boten und Aufwärter gingen die Kanzleidiener Engel, Eigenbrodt und Theiß mit. In ähnlicher Eigenschaft begleitete uns Herr Leverström, der bekannte „schwarze Reiter“, der in den Straßen Berlins Stafettendienste thut. Die Sorge für unser Leibliches war einem Koch anbefohlen, der während der Fahrt als Trainsoldat fungirte und dessen Name mir leider entfallen ist. In Versailles vervollständigte sich der Kreis der Räthe durch Lothar Bucher und den jetzigen Legationsrath von Holstein, sowie durch den jungen Grafen Wartensleben. Bölsing wurde als unwohl geworden durch den Geheimsecretär Wollmann ersetzt, und die gesteigerte Masse der Geschäfte erforderte zwei weitere Chiffreure, auch traten noch einige Kanzleidiener hinzu. Die Güte unseres „Chefs“ – so wird der Reichskanzler von den Angehörigen des Auswärtigen Amtes in gewöhnlicher Rede bezeichnet – hatte es so angeordnet, daß seine Mitarbeiter auch gewissermaßen Glieder seines Haushalts waren: wir wohnten, wenn es anging, in demselben Hause mit ihm und hatten die Ehre, an seiner Tafel zu speisen.

Der Kanzler trug während des ganzen Krieges Uniform, und zwar in der Regel den bekannten Interimsrock des gelben Regiments der schweren Landwehrreiterei und weite Aufschlagstiefel, bei Ritten nach Schlachten oder Aussichtspunkten auch an einem Riemen ein Futteral mit einem Feldstecher und zuweilen, außer dem Pallasch, einen Revolver. Nur in Versailles sah ich ihn einige Male im Schlafrocke, und da war er nicht wohl – ein Zustand, von dem er sonst während des Feldzuges meines Wissens völlig unangefochten blieb. Auf der Reise fuhr er meist mit dem jetzt verstorbenen Abeken, einmal mehrere Tage nacheinander auch mit mir. In Betreff der Quartiere machte er sehr geringe Ansprüche und begnügte sich auch da, wo Besseres zu haben war, mit einem höchst bescheidenen Unterkommen. Während in Versailles Obersten und Majore mitunter eine Reihe brillanter Gemächer innehatten, bestand die Wohnung des Bundeskanzlers während der fünf Monate, die wir hier verweilten, in zwei kleinen Stuben, von denen die eine zugleich Arbeitscabinet und Schlafkammer war, und einem nicht sehr geräumigen und wenig eleganten Empfangssalon im Erdgeschosse. Einmal, im Schulhause zu Clermont en Argonne, wo wir mehrere Tage blieben, hatte er nicht einmal eine Bettstelle, sodaß man ihm sein Lager auf dem Fußboden bereiten mußte.

Auf der Reise fuhren wir meist unmittelbar hinter dem Wagenzuge des Königs. Wir brachen dann gewöhnlich gegen zehn Uhr Morgens auf und machten bisweilen starke Touren bis zu sechszig Kilometern. Im Nachtquartier eingetroffen, ging man stets sofort an die Einrichtung eines Bureaus, in welchem tapfer gearbeitet wurde. Feldjäger kamen und gingen mit Depeschensäcken; Boten brachten und holten Briefe und Telegramme; die Räthe verfaßten nach den Weisungen des Chefs Noten, Erlasse und Verfügungen; die Kanzlei copirte und registrirte, chiffrirte und dechiffrirte. Von allen Weltgegenden strömte Material herzu, das in Versailles manchmal kaum zu bewältigen schien und doch zu rechter Zeit bewältigt wurde. Allerlei Besuch stellte sich ein, Militärs und Civilpersonen, Diplomaten, Leute vom Hofe, Fürsten, Prinzen, französische Unterhändler und Agenten, Minister aus Berlin und anderen deutschen Residenzen, Parlamentarier, Finanziers, selbst amerikanische Generale, und für Alle hatte der von tausend wichtigen Fragen in Anspruch genommene Mittel- und Gipfelpunkt der Maschine, die in diesen großen Tagen die Weltgeschichte machte, Zeit und Interesse.

Die fast übermenschliche Befähigung des Kanzlers, zu arbeiten, schöpferisch, aufnehmend, kritisch zu arbeiteten, die schwierigsten Aufgaben zu lösen, überall sofort das Rechte zu finden und das allein Geeignete anzuordnen, war vielleicht nie so bewundernswerth wie während dieser Zeit, und sie war in ihrer Unerschöpflichkeit um so erstaunlicher, als nur wenig Schlaf die dabei aufgewendeten Kräfte ersetzte. Wie daheim, stand der Minister auch im Felde, wenn nicht eine zu erwartende Schlacht ihn an der Seite des Königs schon vor Tagesanbruch zum Heere rief, meist spät, in der Regel gegen zehn Uhr auf. Aber er hatte dann die Nacht durchwacht und war erst mit dem durch's Fenster scheinenden Morgenlichte eingeschlafen. Oft kaum aus dem Bette und in den Kleidern, begann er bereits wieder zu denken und zu schaffen, Depeschen zu lesen und mit Anmerkungen zu versehen, Zeitungen zu studiren, den Räthen und anderen Mitarbeitern Instructionen zu ertheilen, Fragen vorzulegen und Aufgaben der verschiedensten Art zu stellen, selbst zu schreiben oder zu dictiren. Später waren Besuche zu empfangen und Audienzen zu geben oder es war dem Könige Vortrag zu halten. Dann wieder Depeschenstudium, Correctur von befohlenen Aufsätzen, Niederschrift von Concepten mit den bekannten großen Bleistiften, Abfassung von Briefen, Information zu Telegrammen oder Aeußerungen in der Presse, und dazwischen zuweilen abermals Empfang von Besuchen, die zuweilen nicht willkommen sein konnten. In Ferrières und Versailles, wie vorher in Donchery und Haute Maison, kamen dazu noch langwierige Besprechungen mit französischen Unterhändlern. Erst gegen zwei, manchmal erst drei Uhr gönnte sich der Kanzler an Orten, wo für längere Zeit Halt gemacht worden, einige Erholung, indem er einen Spazierritt in die Nachbarschaft unternahm. Darauf wurde nochmals gearbeitet, bis man zwischen fünf und sechs Uhr zum Diner ging. Spätestens anderthalb Stunden nachher war er wieder in seinem Zimmer an der Arbeit, und häufig sah ihn noch die Mitternacht lesen oder schreiben.

Auch hinsichtlich seiner Mahlzeiten lebte der Kanzler in eigner Weise. Früh genoß er eine Tasse Thee und wohl auch ein oder zwei Eier, dann aber in der Regel nichts bis zu dem in die Abendstunden verlegten Diner. Sehr selten nahm er am zweiten Frühstück und nur dann und wann am Thee theil, welcher zwischen neun und zehn Uhr servirt wurde. Er aß somit innerhalb der vierundzwanzig Stunden des Tages nur einmal. Diplomaten halten sprüchwörtlich auf eine gute Tafel und stehen hierin, wie ich mir habe sagen lassen, kaum den Prälaten nach. Es gehört das zu ihrem Gewerbe, da sie häufig einflußreiche oder sonst bedeutende Gäste bei sich sehen, die zu dem oder jenem Zwecke in angenehme Stimmung gebracht werden müssen, und nichts so angenehm stimmt, wie die Vorräthe eines wohlversorgten Kellers und die Ergebnisse der Kunst eines durchgebildeten Kochs. Auch Graf von Bismarck führte einen guten Tisch, der sich, wo die Umstände es gestatteten, zur Opulenz erhob. Dies war namentlich in Reims, Meaux, Ferrières und zuletzt in Versailles der Fall, wo das Genie des Künstlers in der Trainmontur uns Frühstücke und Diners schuf, denen ein an einfache bürgerliche Kost gewöhntes Gemüth fast mit dem Gefühle Gerechtigkeit widerfahren ließ, in Abraham's Schooße zu sitzen, zumal bei ihnen außer andern werthen Gaben Gottes aus dem Bereiche der Getränke der Sekt nicht vermißt wurde. Der Küchenwagen hatte zu solchen Mahlzeiten zinnerne Teller, Becher aus silberähnlichem Metall, inwendig vergoldet, und ebensolche Tassen mitgebracht. Einiges zur Verschönerung der Tafel, die uns so freundlich nährte, trugen in den letzten fünf Monaten Spenden aus der [711] Heimath bei, die auch ihres Bundeskanzlers liebreich gedachte und ihn reichlich mit allerlei leckeren Gaben fester und flüssiger Natur, Spickgänsen, Wild, Fasanen, Baumkuchen, einer riesigen Forellenpastete, trefflichem Bier und edelstem Wein, sowie hundert anderen hochachtbaren Dingen versorgte.

Ich bemerke zum Schlusse noch, daß außer dem Kanzler zu Anfang nur von Keudell und Graf Bohlen Uniform trugen, während alle Räthe beritten waren und sich gelegentlich ihrer Pferde bedienten. Später – ich glaube, daß der Gedanke zuerst in Ferrières angeregt wurde – erhielt das gesammte mobile Auswärtige Amt mit Ausschluß des Ministers und der unmittelbar nach ihm Genannten, doch mit Einschluß der Kanzleidiener eine Art Phantasieuniform, die in einem dunkelblauen Rocke mit schwarzem Sammtaufschlag, einer Mütze mit den gleichen Farben und (bei den Räthen, Secretären und Chiffreuren) einem Degen mit goldenem Portépée bestand. Der alte Geheimrath Abeken, der auch sein Roß wacker tummelte, nahm sich in diesem Costüm ungemein kriegerisch aus.

[738]
2. Von der Grenze bis Gravelotte.


Der vorige Abschnitt schloß an der französischen Grenze. Daß wir sie überschritten, sagten uns die Dorfbezeichnungen. Man liest an den betreffenden Tafeln: „Département de la Moselle“. Die Straße war voll Fuhrwerke und Truppen, jeder Ort voll Einquartierung. In der überall hügeligen, theilweise bewaldeten Gegend waren hie und da kleine Lager im Entstehen, Pferde an Pfählen, Kanonen, Pulverwagen, Marketender.

Kamen nach Forbach. (Ich muß die Fülle meiner Erinnerungen zusammendrängen, und so sei gestattet, in kurzangebundenem Tagebuchstile weiter zu erzählen. Auch Lücken und Sprünge und zwar bisweilen solche, die Bedeutendes unberührt lassen, wird man mir erlauben müssen, da ich fast nur Äußerlichkeiten mitzutheilen versprochen habe.) In der Stadt französische Schilder an Werkstätten und Kaufläden, doch die Namen der Inhaber meist deutsch, z. B. Schwarz, Boulanger. Manche von den Einwohnern grüßen in die Wagen; die Mehrzahl macht ein verdrießliches Gesicht. Alle Fenster voll blauer Preußen.

So geht es fort über Thal und Hügel, durch Wäldchen, durch Dörfer nach Saint Avold, wo wir bald nach vier Uhr eintreffen und allesammt mit dem Kanzler auf der Rue des Charrons Nr. 301, im Hause eines Herrn Laity einquartiert werden. Einstöckiges Haus mit weißen Jalousien, nur fünf Fenster in der Front, aber tief; hinten hübscher Obst- und Gemüsegarten. Der Minister bewohnt das eine Vorderzimmer; die Uebrigen haben die hintern Stuben inne, wo sich auch das Bureau etablirt. Es wird fleißig gearbeitet (was ich in der Folge als selbstverständlich unerwähnt lassen werde). Abends sieben Uhr essen wir mit dem Grafen in der an dessen Zimmer anstoßenden Stube, die auf den mit Gartenanlagen geschmückten kleinen Hof hinaussieht. Die Unterhaltung bei Tische lebhaft. Chef hält einen Ueberfall nicht für unmöglich. Unsere Vorposten stünden nur drei Viertelstunden von hier und weit auseinander. Man spricht von allerlei Dingen, von der vielen Wäsche, die unser mit seiner Frau abgereister Wirth – er soll ein verabschiedeter Officier sein – zurückgelassen, von Steinmetz, von Bier, dem der Minister nicht wohl geneigt ist, und dem er einen guten Kornbranntwein vorzuziehen erklärt, von den Mormonen, von Religionsfreiheit etc.

Die Nacht ruhig verlaufen. Früh kommt Feldjäger mit Depeschen. Ist Montag, den 8. von Berlin weg, heute, den 12. hier, also, obwohl er mehrmals Extrapost genommen, nicht schneller gereist, als ich. Vormittags, während der Chef beim König, mit den Räthen in die große hübsche Stadtkirche, in der uns ein Caplan herumführt. Nachmittags, wo der Minister ausgeritten, nach dem preußischen Artilleriepark am Berge hinter dem Orte. Um vier Uhr mit dem Bundeskanzler und den Andern gespeist. Der Minister war weit weggewesen, um seine beiden Söhne, die als Gemeine bei den Gardedragonern dienen, aufzusuchen, hatte aber erfahren, daß die Cavallerie schon bis Luneville vorgeschwärmt. Er ist sehr gut aufgelegt. Als das Gespräch sich auf Mythologisches lenkt, äußert er, daß er „niemals Apollo leiden gekonnt“. Hätte „Einen aus Einbildung und Neid geschunden (Marsyas) und aus ähnlichen Gründen die Kinder der Niobe todtgeschossen“. – „Er ist der echte Typus eines Franzosen; ’s ist einer, der es nicht ertragen kann, daß Jemand besser oder eben so gut die Flöte spielt wie er.“ Auch daß er’s mit den Trojanern gehalten, hätte ihm nie zugesagt. Sein Mann wäre der ehrliche Vulcan gewesen, und noch besser hätte ihm Neptun gefallen – vielleicht wegen des Quos ego! was er aber nicht sagte.

Am 13. weiter nach Faulquemont oder Falkenberg. Durch hügelige, meist auch waldige Gegend an allerlei Kriegsbildern vorüber. Die Chaussee bedeckt mit Wagenzügen, Geschützen, fahrenden Lazarethen, Armeegensd’armen, Ordonnanzen. Unabsehbare Reihen von Infanterie auf der Straße und zur Rechten quer durch die Stoppelfelder auf den hier abgesteckten Colonnenwegen. Bisweilen sieht man einen umfallen, und hier und da liegen Marode in den Gräben; denn die Augustsonne brennt grimmig hernieder. Endlich durch eine dicke Staubwolke in das Städtchen hinein, wo ich bei Bäcker Schmidt einquartiert werde. Der Minister ist mit dem Könige nach dem Dorfe Herny weiter gefahren. Den ganzen Tag Durchmarsch von Truppen, darunter auch hessische Infanterie. Die Sachsen stehen in der Nachbarschaft. Nachmittags bringen preußische Husaren in einem Wagen mehrere Gefangene, darunter einen schwarzbraunen Turco, der seinen Fez mit einem Civilhute vertauscht hat. Meine Wirthsleute sind sehr höflich und gutmüthig; er spricht geläufig, sie nur gebrochen Deutsch. Wollen, was sie unverlangt auftragen, nicht bezahlt nehmen.

Sonntag, den 14., fort zum Minister. Tiefblauer Himmel, starke Hitze, von der es über den Feldern flimmert. Links von der Straße hessisches Fußvolk, das Feldgottesdienst hält, die katholischen Soldaten in einem, die protestantischen ein Stück davon in einem zweiten Ringe um den Geistlichen. Letztere singen: „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Kommen in Herny an, wo der Minister in einem langen, niedrigen weißen Bauernhause mit Aussicht auf die Düngerstätte wohnt. Ziehen zu ihm, ich mit Abeken zusammen. Hatzfeld’s Stube ist zugleich Bureau. Der König hat sein Quartier beim Pfarrer gegenüber der hübschen, alterthümlichen Kirche, deren Fenster Glasmalereien zeigen. Das Dorf ist eine langgestreckte Gasse mit dicht an einander stehenden Häusern, die sich unten nach dem kleinen Bahnhofe abzweigt. In letzterem arge Verwüstung, herumgestreute Papiere. Neben dem Gebäude Soldaten mit zwei französischen Gefangenen. Nach vier Uhr mehrere Stunden dumpfer Kanonendonner aus der Gegend von Metz hörbar. Beim Thee sagte der Kanzler: „Das hätte ich vor vier Wochen auch nicht gedacht, daß ich heute mit den Herren meinen Thee in einem Bauernhause zu Herny trinken würde.“ Dann war unter Anderm von Gramont die Rede, und der Graf wunderte sich, daß Jener nach Wörth und Spicheren nicht in ein Regiment eingetreten wäre, um seine Dummheit zu sühnen. „Ich hätte es anders gemacht 1866, wenn es nicht gut gegangen wäre,“ fügte er hinzu. Als er sich auf sein Zimmer, beiläufig ein sehr ländliches Stübchen mit wenig Möbeln, zurückgezogen, wurde ich zweimal zu ihm gerufen, um Aufträge zu empfangen.

Am nächsten Morgen bald nach vier Uhr wurde in die Parterrestube, in der Abeken und ich schliefen, gemeldet: „Excellenz geht gleich fort; die Herren sollen sich parat machen.“ Sofort stand ich auf und packte. Es war indeß ein Mißverständniß; mit den Herren waren nur die Räthe gemeint. Gegen sechs Uhr fuhr der Kanzler mit Graf Bohlen fort; Abeken, Keudell und Hatzfeld folgten zu Pferde. Wir Andern blieben vorläufig in Herny, wo es zunächst genug Beschäftigung gab, und wo wir uns später anderweit nützlich machen konnten. Wiederholt gingen in dicken, gelbgrauen Staubwolken große Züge Infanterie durch das Dorf, unter Anderm drei preußische Regimenter, zum Theil Pommern, große schöne Leute. Die Musik spielte: „Heil Dir im Siegerkranz“ und: „Ich bin ein Preuße.“ Wir trugen in Eimern und Krügen Wasser herzu und reichten es während des Marsches – denn sie durften nicht Halt machen – in die Reihen und Glieder hinein. Unser Wirth heißt Matthiote; er spricht übrigens ein wenig Deutsch, seine Frau nur das französische Patois der Gegend; beide zeigen wenig guten Willen. Nach drei Uhr kommen unsere Reiter zurück, etwas später auch der Minister. Inzwischen haben sich Graf Henckel und der Reichstagsabgeordnete Bamberger eingestellt, desgleichen ein Herr von Olberg, der Präfect oder etwas der Art werden soll. König und Kanzler haben, wie man bei Tische hört, eine Art Recognoscirungstour bis etwa eine Meile vor Metz gemacht, zu der sich auch Steinmetz eingefunden hat. Die außerhalb Metz stehende französische Arrièregarde ist gestern von unseren Leuten angegriffen und in die Festung hineingeworfen worden. Beim Thee erzählt der Minister unter Anderm, daß er zweimal, in San Sebastian und zwischen Petersburg und Schlüsselburg, in Gefahr gewesen, von einer Schildwache erschossen zu werden.

[739] Am 16. früh halb zehn Uhr geht es wirklich weiter. Landrath Jansen, Mitglied der Freiconservativen im Reichstag, der mittlerweile eingetroffen, um eine Stelle in der Verwaltung der eroberten Landstriche einzunehmen, fährt mit uns. Ueber weite, etwas gewellte Ebene auf die Hügelkette am rechten Moselufer zu, in der sich der Kegel des Mousson mit seiner Ruine weithin auszeichnet. Mehrere stattliche Dörfer mit hübschen Mairien und Schulen passirt, die Chaussee vortrefflich. Auf dem Wege wieder Alles bunt von Soldaten, darunter auch kleine Detachements sächsischer Reiter. Endlich nach drei Uhr über den Berghang in das Moselthal hinab und nach Pont à Mousson hinein. Stadt von etwa achttausend Einwohnern zu beiden Seiten des Flusses, schöne Steinbrücke, große alte Kirche auf dem rechten Ufer. Wir fahren über die Brücke und dann über den Markt, auf dem sächsische Infanterie auf Stroh lagert, und biegen dann in die Rue Saint Laurent ein, auf welcher der Minister mit Abeken, Keudell und Graf Bohlen in einem von rothblühenden Schlingpflanzen umrankten Schlößchen an der Ecke der Rue Raugraf einquartiert ist. Er wohnt in einem großen Hinterzimmer der ersten Etage des Hauses und sieht in den kleinen Garten hinter dem letzteren hinaus. Das Bureau richtet sich in der linken Hinterstube des Erdgeschosses ein, und in der rechts gegenüber gelegenen soll gespeist werden. Der Landrath, ich, Secretär Bölsing und die mobilen Chiffreurs wurden ebenfalls auf der Rue Saint Laurent, etwa zehn Häuser weiter, auf der anderen Seite der Straße, wo sie an einem kleinen Platze endigt, in einem Hause untergebracht, das nur von französischen Damen bewohnt zu sein scheint. An den Ecken verschiedene Bekanntmachungen, eine, die unsern Sieg vom 14. verkündigt, eine wegen Aufhebung der Conscription, eine dritte, in welcher der Maire – es muß gestern oder vorgestern hier ein Angriff auf unsere Truppen stattgefunden haben – die Einwohner zur Besonnenheit ermahnt. Ferner ist befohlen, daß letztere bei Nacht Lichter an die Fenster zu stellen und Läden und Hausthüren aufzulassen haben; auch müssen Alle ihre Waffen auf das Rathhaus abliefern.

Den größten Theil des Nachmittags abermals ferner Kanonendonner zu vernehmen. Abends bei Tische erfährt man, daß wieder bei Metz gekämpft wird, und daß es hart hergeht. Jemand bemerkt, vielleicht gelänge es nicht, die Franzosen, die sich von dort nach Verdun zurückziehen wollen, aufzuhalten. Der Minister erwidert scherzhaft: „Molk, der kaltherzige Bösewicht, sagte, ein solches Mißgeschick wäre gar nicht zu beklagen; denn dann hätten wir sie sicher.“ Von anderen seiner Aeußerungen noch die, nach welcher ihm „die kleinen schwarzen Sachsen, die so intelligent aussehen,“ bei seinem gestrigen Besuche derselben ungemein gefallen haben. Er meinte die Jäger oder das 108. Regiment.

In der folgenden Nacht einige Male durch den tactmäßigen Tritt durchmarschirenden Fußvolkes geweckt. Es sind, wie man früh im Bureau wissen will, Hessen gewesen. König und Minister sind schon bald nach vier Uhr fort, nach Metz zu, wo heute oder morgen Hauptschlacht zu erwarten. Gehe früh sechs Uhr, da es einmal nichts zu thun giebt, mit Willisch spazieren. Zuerst stromaufwärts über die Pontonbrücke der Sachsen hinaus, die auf dem linken Ufer einen großen Fuhrpark (Wagen aus Dörfern bei Dresden dabei) aufgestellt haben. Wir schwimmen über den Fluß und wieder herüber. Dann Besuch der Kirche auf der rechten Seite des Wassers, wo ein außerordentlich schönes Grab Christi mit den schlafenden Wächtern. Besonders die letzteren wahre Meisterwerke der Zeit des Ueberganges aus dem Mittelalter in die Renaissance. Zurück in's Bureau, wo noch immer Feierabend ist. Habe daher Zeit, mit Jansen und Willisch dem Gipfel des Mousson und seiner Ruine einen Besuch abzustatten. Steil hinauf durch die Weinberge. Droben von den Trümmern der Burg, in die sich ein recht ansehnliches Dorf eingenistet hat, weite, wunderschöne Aussicht. Alle Höhen mit Reben bepflanzt; unten schlängelt sich, etwa so breit wie die Saale bei Giebichenstein, lichtblau im Grünen die Mosel. Rechts und links im Thale und auf den Hügeln Dörfer und Schlößchen. Auf den weißen Straßen hier und da wie Ameisenzüge Colonnen mit blitzenden Helmen und Waffen. Dichter Staubnebel hinter ihnen. Wieder hinunter in das kriegerische Getümmel und nach dem Bureau. Der Minister ist noch nicht zurück, aber man hat Nachrichten vom gestrigen Kampfe. Wir erfahren, daß es starke Verluste gegeben hat und der Durchbruch Bazaine's, der in Metz commandirt, nur mühsam verhindert worden ist. Hauptpunkt der Schlacht soll das Dorf Mars la Tour gewesen sein. Ein Kürassierregiment wäre fast ganz aufgerieben, und die Gardedragoner hätten gleichfalls schwer gelitten; keine Division, die nicht arg beschädigte Abtheilungen hätte. Heute indeß, wo wir, wie gestern die Franzosen, die Uebermacht hätten, wäre ein Sieg zu erwarten. Ganz sicher scheint das jedoch nicht zu sein. Man ist in Folge dessen etwas unruhig, hat kein rechtes Sitzfleisch. Man geht nach dem Markt und der Brücke, wo allmählich Leichtverletzte zu Fuß und Schwerverwundete in Wagen eintreffen. Man geht auf die nach Metz führende Chaussee hinaus, wo wir einem Zuge von etwa hundertundzwanzig Gefangenen begegnen. Meist kleine dürftige Leute, doch auch hochgewachsene, breitschulterige Burschen darunter, Garden, an den weißen Litzen auf der Brust erkennbar. Man geht wieder nach dem Markte. Man geht in den Garten hinter dem Hause, „wo der Hund begraben liegt“ – der Hund eines Herrn Girard Aubert nämlich, wie ein rührendes Epitaphium in Versen sagt, dessen Verfasser vermuthlich unser Wirth ist. Er soll ein alter Herr und jetzt mit seiner Frau verreist sein.

Endlich, gegen sechs Uhr, kommt der Kanzler zurück. Es hat heute keine Schlacht stattgefunden, aber wahrscheinlich giebt es morgen wieder etwas. Der Chef hat seinen während eines großen Reiterangriffs bei Mars la Tour durch einen Gewehrschuß in den Oberschenkel verwundeten ältesten Sohn, Graf Herbert, besucht, der im Feldlazareth von Mariaville liegt. Inzwischen ist der amerikanische General Sheridan in der Stadt eingetroffen. Er wohnt am Markte im Croix Blanche und hat um eine Zusammenkunft mit unserm Kanzler gebeten. Gehe auf dessen Wunsch zu ihm und sage ihm, daß Graf von Bismarck ihn im Laufe des Abends erwarte. Der General, ein kleiner corpulenter Herr von etwa fünfundvierzig Jahren mit dunklem Schnurr- und Zwickelbärtchen, spricht den allerechtesten Yankeedialekt. Er hat seinen Adjutanten Forsythe und (als Dolmetscher) den New-Yorker Journalisten Mac Lean bei sich. In der Nacht wieder starke Durchmärsche, diesmal, wie ich höre, von Sachsen.

Am nächsten Morgen erfahre ich im Bureau, daß der König und der Minister schon um drei Uhr weggefahren sind. Es wird ungefähr auf dem Schlachtfelde von vorgestern gekämpft. Unruhig, ungeduldig, Näheres zu erfahren, machen wir uns zu einem Gange in der Richtung nach Metz hin auf. Kommen bis etwa vier Kilometer von Pont à Mousson. Begegnen Leichtverwundeten, die einzeln, paarweise und in größeren Gesellschaften der Stadt zu wandern. Viele tragen ihr Gewehr noch, Andere gehen an Stöcken; Einer hat sich einen rothen französischen Reitermantel umgehangen. Sie haben vorgestern bei Mars la Tour und Gorze mitgefochten. Ueber die heutige Schlacht bringen sie nur Gerüchte mit, gute und schlechte, was sich dann in der Stadt in Uebertreibungen wiederholt. Zuletzt behalten die guten Nachrichten die Oberhand, Gewisses aber giebt es auch am späten Abend noch nicht. Wir essen ohne den Minister, der bis Mitternacht vergeblich erwartet wird. Zuletzt hört man, daß er mit Sheridan und Graf Bohlen beim König im Dorfe Rezonville ist.

Freitag, den 19. August, wo wir mit Bestimmtheit erfuhren, daß Tags vorher die Deutschen gesiegt – eine feste Burg ist unser Gott! – fuhren Abeken, Keudell, Hatzfeld und ich hinaus nach dem Schlachtfelde. Zuerst zwischen den Pappeln der Chaussee durch das anmuthige Moselthal. Rechts der Fluß, links über der bald breiten, bald schmalen Thalsohle Weinberge mit Villen und hübschen Dörfern unter Burgruinen. Wir passiren die Orte Vendières, Arnaville und Novéant. Dann hinauf nach Gorze, einem Städtchen, das sich großentheils in langer, schmaler Gasse durch eine Senkung in der Hügelkette zur Linken zieht. Die Räthe stiegen hier aus, um zu Pferde weiter zu gehen. Ich und unser getreuer Kanzleidiener Theiß suchen uns mit dem Wagen durch die Fuhrwerke, die sich in der engen Hauptstraße verfahren haben, hindurch zu helfen, es ist aber unmöglich. Von unserer Seite kommen Leiterwagen mit Heu, Stroh, Holz und Bagage, von der andern Gefährte aller Art mit Verwundeten sowie Munitionskarren, und so [740] bleiben wir nach kurzer Zeit stecken. Fast alle Häuser des Ortes sind durch Genfer Fähnchen als Lazarethe bezeichnet, und beinahe an allen Fenstern sehen wir Leute mit verbundenem Kopfe oder dem Arme in der Binde.

Nach etwa einstündigem Warten rückten wir langsam vorwärts und nach einer Weile waren wir hinaus auf die Hochfläche seitwärts vom Orte. Erst Wald, wo uns ein heftiges, aber rasch vorübergehendes Gewitter überfiel. Dann eine weite gewellte Ebene mit Stoppelfeldern, durchschnitten von Straßen, die meist mit Pappeln bepflanzt waren. Rechts in der Ferne mehrere Dörfer und darüber hinaus Hügel und Senkungen mit Gehölz. Nicht weit von Gorze zweigt sich zur Rechten ein Weg ab, der uns nach Rezonville gebracht hätte, wo ich den Minister und unsere Reiter wieder treffen sollte. Meine Karte gab aber in Betreff derselben keinen Rath. Die Straße war hier ganz einsam; ich glaubte, auf jenem Wege zu nahe nach Metz hinzukommen, und so ließ ich auf der Chaussee weiterfahren, die uns erst an einen einzeln stehenden Meierhof, wo Haus, Scheune und Stall voll Verwundeter waren, dann nach Mars la Tour brachte.


Bismarck’s Wohnung in Herny.
Nach der Natur aufgenommen von Holt in Metz.


Schon unmittelbar hinter Gorze Spuren von Gefechten: Kugelgruben im Erdboden, abgeschossene Baumzweige, einzelne todte Pferde. Weiterhin wurden letztere häufiger; an einzelnen Stellen zählte man zwei bis drei neben einander; an einer lag eine Gruppe von acht solchen Cadavern. Die meisten waren furchtbar aufgeschwollen und streckten die Beine in die Luft, während die Köpfe schlaff auf der Erde lagen. Bei Mars la Tour ein Lager von Sachsen, im Dorfe ein Haus abgebrannt. Frage hier einen Ulanenlieutenant, wo Rezonville. Weiß es nicht. Wo König? An einem Orte etwa drei Stunden von hier, wobei der Officier nach Osten zeigt. Eine Bauernfrau, die uns die Lage von Rezonville beschreiben soll, zeigt ebenfalls dahin, und so fahren wir in die Straße hinein, die nach dieser Richtung führt und uns nach einer Weile in das Dorf Vionville bringt. Kurz vor dem Orte sehe ich rechts auf dem Rande zwischen Stoppelfeld und Chausseegraben den ersten Todten, einen preußischen Musketier. Er sieht im Gesichte schwarz wie ein Turco aus und ist furchtbar aufgedunsen. Im Dorfe alle Häuser voll Schwerverwundeter, auf der Straße deutsche und französische Hülfsärzte und Krankenpfleger mit der Genfer Kreuzbinde.

Ich beschließe, Minister und Räthe hier zu erwarten, da ich meine, daß sie auf alle Fälle und bald hier durchkommen müssen. Durch eine Seitengasse links von der Straße, in deren Graben unter einem Bündel blutiger Lappen ein abgeschnittenes Menschenbein hervorsieht, hinüber auf das Schlachtfeld. Etwa vierhundert Schritt vom Dorfe zwei parallel laufende circa dreihundert Fuß lange Gruben von geringer Breite und Tiefe, an denen noch gearbeitet wird, und neben denen große Haufen von deutschen und französischen Todten liegen. Einige halb entkleidet, die meisten noch in Uniform, alle grauschwarz und schrecklich geschwollen. Es mögen zweihundert Leichen sein, die hier zusammengebracht sind, und immer noch führt man Karren mit neuen herbei. Viele sind ohne Zweifel schon beerdigt. Weiterhin steigt das Schlachtfeld ein wenig an, und hier scheinen besonders viel Leute gefallen zu sein. Ueberall ist der Erdboden mit französischen Mützen, mit Pickelhauben, mit Tornistern, Waffen, Uniformen, Wäsche, Schuhen und herumgestreuten Papieren bedeckt. Dazwischen liegen einzelne Todte auf dem Gesicht oder dem Rücken, dem einen ist das ganze rechte Bein, dem andern der halbe Kopf abgerissen. Hier und da ein Einzelgrab, das ein Holzkreuzchen oder ein mit dem Bajonnet hinein gespießtes Gewehr bezeichnet. Der Leichengeruch sehr merklich, bisweilen, wenn der Wind von einer Gruppe Pferdecadaver herweht, fast unerträglich.

Es wird Zeit, zu dem Wagen zurückzukehren, auch habe ich genug von dem Bilde der Wahlstatt. Gehe einen andern Weg, aber auch hier wieder Haufen von Todten, diesmal lauter Rothhosen, und Massen von umhergeworfenen Kleidungsstücken, Hemden, Schuhen, Papieren und Briefen, Dienst- und Gebetbüchern. Der Minister ist nicht gekommen, und es ist vier Uhr. Wir kehren daher auf näherem Wege, auf dem ich inne werde, daß wir die beiden langen Seiten eines Dreiecks umfahren haben, statt die kurze zu wählen, nach Gorze zurück. Hier treffen wir Keudell, dem ich unser Mißverständniß und unsern unglücklichen Umweg erkläre. Er ist mit Abeken und Hatzfeldt beim Chef in Rezonville gewesen. Letzterer hat sich während der gestrigen Schlacht mit dem König etwas weit vorgewagt und sich eine Zeit lang in Gefahr befunden. Hat dann die Schwerverwundeten eigenhändig mit Wasser erfrischt. Sehe ihn Abends neun Uhr wohlbehalten in Pont à Mousson anlangen. Essen hier Alle wieder mit ihm. Die Unterhaltung bei Tische dreht sich natürlich in der Hauptsache um die letzten beiden Schlachten und ihren Gewinn und Verlust. Die Franzosen haben Massen von Leuten auf dem Platze gelassen. Der Minister sah ihre Garde bei Gravelotte reihen- und haufenweise von unserer Artillerie hingestreckt. Aber auch unsere Verluste sind ungeheuer. Erst die vom 16. sind genau bekannt. Eine Menge von preußischen Adelsfamilien werden Trauer anlegen müssen. „Wesdehlen und Reuß in Ein Grab gelegt,“ sagt der Chef, „Finkenstein todt, Rahden (der Mann der Lucca) durch beide Backen geschossen, eine Masse von Regiments- und Bataillonscommandeuren gefallen oder schwer verwundet. Das ganze Feld bei Mars la Tour war weiß und blau von gefallenen Kürassieren und Dragonern.“ Es hat nämlich eine große Reiterattacke gegen die vordringenden Franzosen stattgefunden, die zwar von der feindlichen Infanterie und Artillerie im Stil von Balaklawa abgewiesen worden ist, aber insofern genützt hat, als sie den Gegner aufhielt, bis Verstärkung eintraf. Die Söhne des Kanzlers sind dabei tapfer mit drein geritten, und der ältere hat drei Schüsse bekommen, einen durch das Bruststück des Rockes, einen auf die Uhr und einen durch den [741] Oberschenkel. Der jüngere scheint unverletzt davon gekommen zu sein, und der Chef erzählt, daß er bei der Umkehr zwei Cameraden, die ihre Pferde verloren, mit kräftigen Armen aus dem Getümmel gerettet habe. Gestern ist noch mehr Blut geflossen, aber wir haben gesiegt. Am Abend wich die Armee Bazaine's definitiv nach Metz zurück, und die gefangenen Officiere selbst sagten dem Minister, daß es nun mit ihrer Sache zu Ende. Die Sachsen, die gestern und vorgestern ungeheure Märsche gemacht haben, stehen auf der Straße nach Thionville, und damit ist Metz rings von unseren Truppen eingeschlossen. Schließlich wurde bei Tische viel von der barbarischen Kriegführung der Rothhosen gesprochen, die auf die Genfer Kreuzfahne und sogar auf einen Parlamentär geschossen haben sollen.

Am 20. früh kam ein Herr von Kühlwetter an, der Civilcommissär oder Präfect im Elsaß oder in Lothringen werden soll. Um elf Uhr machte der Kronprinz, der fünf Meilen von hier auf dem Wege von Nancy naoch Chalons stehen sollte, dem Kanzler seinen Besuch. Nachmittags ging ein Zug von zwölfhundert Gefangenen, darunter zwei Wagen mit Officieren, von preußischen Kürassieren bewacht, durch die Rue Notredame. Abends bei Tische waren Sheridan und seine Begleiter Gäste des Chefs, der sich mit dem General in gutem Englisch unterhielt.

Am nächsten Tage gab es auch für uns Soldaten von der Feder wieder gehörig zu thun, und ich bekam mehrmals Aufträge vom Minister. Abends beim Thee fragte er, als ich ins Zimmer trat:

„Wie geht's Ihnen, Herr Doctor?“

Ich sagte: „Danke, Excellenz, gut.“

„Haben Sie denn auch was gesehen?“

„Ja, das Schlachtfeld bei Vionville, Excellenz.“

„Schade, daß Sie unser Abenteuer vom 18. nicht mit erlebt haben.“

Und nun erzählte er ausführlich seine Erlebnisse von gestern, wie ich sie im folgenden Abschnitte, durch Anderes ergänzt, mittheilen werde.

Montag, den 22. August. Der Minister ist nicht recht wohl. Dysenterie? Gott behüte ihn davor! Es wäre schlimmer als eine verlorene Schlacht. Graf Herbert ist von Mariaville hier angekommen und liegt oben im Zimmer seines Vaters. Seine Wunde ist schmerzhaft, scheint aber vorläufig nicht gefährlich. Bei Tische wird unter Anderem wieder von der ungehörigen Kriegführung der Franzosen gesprochen, und der Minister erzählt, daß sie bei Mars la Tour einen unserer Officiere – es soll Finkenstein gewesen sein –, der verwundet auf einem Steine gesessen, umgebracht haben. Die Einen behaupten, erschossen, die Andern, durch einen Degenstich. Der Chef meint, daß er lieber erstochen als erschossen sein möchte.

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3. Ein improvisirtes Bureau. – Der Bundeskanzler in Rezonville. – Eine Schlacht und eine Wahlstatt.

Auch von unserer Fahrt von Pont à Mousson nach Commercy, von hier nach Bar le Duc und von da nach Clermont en Argonne und unserm Aufenthalt an diesen Orten wäre mancherlei zu berichten, was des Erzählens werth sein möchte und mittheilbar sein würde. Indeß eile ich an dem hier Gesehenen und Gehörten vorüber und erwähne nur, daß wir Commercy am 23. August erreichten, und daß der Kanzler hier im Hause des Grafen Macore de Gaucourt wohnte, ferner, daß er und wir mit ihm in Bar le Duc, einer schön gelegenen Mittelstadt, in der das große Hauptquartier am 24. eintraf, der Bank gegenüber bei einem Herrn Pernay einquartiert waren, und daß hier ein großer Theil der beiden baierischen Armeecorps vor dem König vorbeidefilirte, endlich, daß wir am 26. gegen Abend in Clermont anlangten, wo wir mit Ausnahme von Keudell und Hatzfeldt in der auf der linken Seite der Hauptstraße gelegenen Knabenschule Unterkunft fanden.

Clermont liegt malerisch in einer Senkung der hier nicht hohen, mit Laubwald bedeckten Hügelkette der Argonnen neben und auf einem kegelförmigen Berge mit einer Capelle. Die lange Grande Rue ist voll Bagagewagen und Kutschen, dicker gelber Koth auf dem Pflaster; denn es hat kurz vorher einige tüchtige Regenschauer gegeben. Hier und da sächsische Jäger. Bei sinkender Sonne gehe ich auf steinernen Stufen mit Abeken am Abhang hinter dem Hause nach der alten gothischen Kirche hinauf, die, von hohen Bäumen umgeben, auf der halben Höhe des Berges steht. Sie ist offen, und wir treten hinein in die Dämmerung, in der man Kanzel und Altar nur in Umrissen sieht. Die ewige Lampe wirft ihren rothen Schein auf die Bilder an den Wänden, und durch gemalte Fenster fällt ein Restchen Abendlicht auf den Fußboden. Wir sind allein. Alles ist tief still wie eine Gruft. Nur gedämpft dringt von unten her das Stimmengewirr und Rädergerassel der Menschenmenge, die den Ort durchfluthet, das Tramp-Tramp durchmarschirender Truppen und das Hurrahrufen derselben vor dem Hause des Königs zu uns herauf.

Als wir hinunter kommen, ziehen gerade die „Maikäfer“ vorbei. Der Minister ist fort und hat hinterlassen, daß wir zu ihm ins „Hôtel des Voyageurs“ kommen und da mit ihm essen sollen. Unser Küchenwagen ist nämlich erst spät oder noch gar nicht eingetroffen. Wir gehen hin und finden im kegelschubartigen Hinterzimmer, wo Alles voll Lärm und Tabaksqualm, bei ihm noch Platz und Atzung. Ein Officier mit langem dunklem Barte und einer Johanniterbinde speist mit uns. Es ist Fürst Pleß. Er erzählt, daß die gefangenen französischen Officiere in Pont à Mousson sich unverschämt betragen und die ganze Nacht gezecht und gespielt haben. Ein General hat durchaus einen besondern Wagen für sich verlangt, was ihm natürlich nicht gewährt worden ist. Man spricht dann von den Franctireurs und ihrer uncommentmäßigen Kriegführung, und der Chef bestätigt, was wir schon Abeken berichtet, daß er denen, die wir diesen Nachmittag an der Straße als Gefangene trafen, sehr ernstlich die Levite gelesen. „Ich sagte ihnen: Vous serez tous pendus; vous n’êtes pas soldats; vous êtes des brigands, des assassins. Der Eine fing dann laut zu flennen an.“ Der Kanzler ist sonst nichts weniger als hart. In Bar le Duc erzählte er uns: „Vorige Nacht fragte ich die Schildwache draußen vor der Thür, wie es ihr ginge, und wie es mit dem Essen stünde; da erfuhr ich, daß der Mann seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte. Ich ging hinein, suchte die Küche, schnitt ihm einen tüchtigen Knust Brod herunter und trug ihn ihm hinaus, was ihn sehr vergnügt zu stimmen schien.“

Der Minister ist im ersten Stock untergebracht worden; wir haben den Schlafraum im zweiten inne, wo es anfangs von Meublement nichts als zwei Bettstellen, jede mit Matratze, und zwei Stühle gab. Die Nacht ist bitterkalt, und ich habe nichts als meinen Regenmantel zur Decke, aber es geht ganz leidlich, und wie müssen die Soldaten thun, die unten neben der Landstraße im Schlamme der Aecker campiren!

Am Morgen wird unsere Schlafstube zugleich Bureau, Speisesaal und Theezimmer. Durch Theißen’s kunstreiche Hände ist uns aus einem Sägebocke, auf den ein Backtrog gestellt wurde, einer Tonne, auf die zur Erhöhung ein niedriger Kasten kam, und einer ausgehobenen Thür, die vom Künstler über Backtrog und Kasten gelegt wurde, ein stattlicher Tisch bescheert worden, an dem der Bundeskanzler mit uns frühstücken und diniren wird, während in der Zwischenzeit zwischen Frühstück, Mittagsbrod und Thee die Räthe und Secretäre die weltbewegenden Gedanken, die der Graf in der Stube unter uns denkt, an diesem Tisch in Depeschen, Instructionen, Telegramme und Zeitungsartikel verwandeln und säuberlich zu Papier bringen. Ein rissiges, gichtbrüchiges Waschbecken, welches Wilisch, als einstiger Seemann im Pesteln geschickt, mit Hülfe von Siegellack wieder dicht gemacht hat, und ein großer eiserner Topf aus der Küche, der die nothwendigen Zimmergeräthschaften vervollständigt, werden verschämt den Speisenden und Arbeitenden zusehen. Als Leuchter werden uns wie dem Minister leergetrunkene Weinbouteillen – die Champagnerflaschen eignen sich erfahrungsgemäß am besten dazu – geliefert, in deren Hälsen Stearinkerzen ganz ebenso hell brennen wie in den Tüllen silberner Kandelaber. Weniger gut als zu Geräth, Geschirr und Beleuchtung werden wir uns jetzt und später zu dem nöthigen Waschwasser verhelfen, da sogar Trinkwasser schwer zu haben ist, weil die Menschenmasse, die seit zwei Tagen die Brunnen des kleinen Clermont aussaugt, das vorhandene Naß für sich und die Pferde herausgepumpt hat. Nur Einer von uns jammert über diese und andere kleine Mißlichkeiten. Die Uebrigen scheinen sie mit mir guten Humors als das Salz unserer Expedition zu betrachten.

Wir bleiben mehrere Tage hier, und es wird fleißig gearbeitet auf der Tischplatte, was ihr, die eigentlich ihres Zeichens eine Stubenthür, gewiß noch nicht passirt ist und ihr vermuthlich lange im Gedächtnisse bleiben wird. Sehr wichtige Dinge, schon in Herny merklich, dann in Bar le Duc deutlicher erkennbar, sind in der Vorbereitung begriffen: wir werden uns, „wenn es Gottes [777] Wille ist“, eine bessere Westgrenze erobern. Der Chef kommt wiederholt auf die Sachsen, besonders die „kleinen Schwarzen“, und darauf zurück, daß sie sich „am 18. sehr brav geschlagen. In Deutschland sollte man das erfahren, aber sie selbst sprechen in ihren Blättern höchst bescheiden davon.“

Als ich hier zum ersten Male zum Minister gerufen werde, um einen Auftrag zu erhalten, sehe ich, daß er kaum besser untergebracht ist als wir. Er hat die Nacht auf einfacher Matratze am Fußboden geschlafen, seinen Revolver neben sich. Er arbeitet an einem Tischchen, auf dem kaum beide Ellbogen ruhen, in der Ecke neben der Thür. Die Stube ist auf’s Nothdürftigste ausgestattet; von Sopha, Lehnsessel u. dgl. ist nicht die Rede. Der, welcher seit Jahren die Weltgeschichte macht, in dessen Kopfe ihre Ströme sich concentriren, um, nach seinen Plänen verwandelt, wieder daraus hervorzugehen, hat kaum, wo er sein Haupt hinlege, während stupide Hofschranzen in bequemen Himmelbetten vom Nichtsthun ausruhen.


Bismarck's Wohnung in Rezonville nach der Schlacht bei Gravelotte.
Nach der Natur aufgenommen.


Ich überspringe wieder allerhand Bedeutsames, um möglichst rasch zum nächsten Culminationspunkte meiner Erinnerungen zu kommen. Sonntag, den 28., große Nachricht. Wir ändern mit der ganzen Armee, soweit sie nicht um Metz bleibt, die Marschrichtung und gehen, statt nach Westen auf Chalons zu, nach Norden am Fuße der Argonnen hin, nach dem Ardenner Walde und der Maasgegend. Am 29. früh zehn Uhr brechen wir auf. Das anfangs regnerische Wetter bessert sich. Wir passiren verschiedene Dörfer und zuweilen ein hübsches Schloß mit Park. An der Straße baierische Lager, Linieninfanterie, Jäger, Chevauxlegers, Kürassiere. Wir fahren durch das Städtchen Varennes und an dem kleinen, zwei Fenster breiten Hause vorüber, vor dem Ludwig der Sechszehnte auf seiner Flucht vom Postmeister von St. Menehould verhaftet wurde und in dem sich jetzt das Sensenlager der Firma Nicot-Jacquesson befindet. Dann weiter durch andere Dörfer, an andern Lagern, an preußischer Artillerie vorüber nach Grand Pré, wo der Minister auf der Grande Rue rechts, zwei oder drei Häuser vom Markte, Quartier nimmt. Der König wohnt in der nicht weit davon entfernten Apotheke, links vom Wege nach dem düstern alten Schlosse über dem Städtchen. Die zweite Staffel des großen Hauptquartiers, bei der sich der Prinz Karl, der Prinz Luitpold von Baiern, der Großherzog von Weimar und der junge Erbgroßherzog von Mecklenburg befinden, ist in dem nahen Dorfe Juvin untergebracht. Auf dem Markte einige französische Gefangene. Abends kommen noch etliche hinzu. Der Chef speist beim Könige. Erfahre, daß die Bewegung nach Norden dem Marschall Mac Mahon gilt, der mit einer starken Truppenmacht hier oben nach Metz hinzieht, und daß man für morgen einen Zusammenstoß mit ihm erwartet.

Als ich am nächsten Morgen hörte, daß König und Kanzler gleichzeitig wegfahren wollten, um dem großen Kesseltreiben nach dieser zweiten französischen Armee beizuwohnen, faßte ich mir, eingedenk der Worte, die letzterer nach seiner Rückkunft von Rezonville zu mir gesprochen, und des ein andermal von ihm citirten Spruches: „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen“, ein Herz und bat ihn, als der Wagen vorgefahren, mich mitzunehmen. Er entgegnete: „Ja, wenn wir nun aber die Nacht draußen bleiben, was soll da aus Ihnen werden?“ Ich erwiderte: „Einerlei, Excellenz; ich werde mir dann schon zu helfen wissen.“ – „Nun, dann gehen Sie mit!“, sagte er lächelnd. “Er that dann noch einen Gang nach dem Markte, während dessen ich vergnügt Reisetasche, Regenmantel und Tagebuch holte, und als er wiederkam und einstieg, setzte ich mich an seine Seite. Glück muß man haben, und seine Schuldigkeit muß man thun, daß man welches hat.

Es war kurz nach neun Uhr, als wir abfuhren. Zuerst ein Stück auf der Straße zurück, die wir Tags vorher gekommen waren, dann links durch Weinberge hinauf und über mehrere Dörfer in hügeliger Gegend, wo allenthalben marschirende oder ausruhende Truppencolonnen und Geschützparks vor uns und rechts im Thale zu sehen waren, nach dem Städtchen Busancy, wo wir um elf Uhr ankamen und auf dem Marktplatze Halt machten, um den König zu erwarten.

Unterwegs war der Graf sehr mittheilsam. Er befürchtete unter Anderm, daß es heute zu nichts kommen werde, was preußische Artillerieofficiere, die hart vor Busancy über’m Straßengraben bei ihren Kanonen standen, von ihm darauf angeredet, mit betrübter Miene auch meinten. „Das geht, wie mir’s zuweilen auf Wolfsjagden in den Ardennen, die hier beginnen, auch ging,“ sagte er. „Da waren wir halbe Tage hoch oben im Schnee und hörten, daß man die Fährte eines Wolfes gespürt hatte. Aber wenn wir dann nachfolgten, war er entwischt. So wird’s heute mit den Franzosen auch sein.“

Später, nach mancherlei Anderem, erzählte er seine Erlebnisse am Abend des 18. noch einmal. Sie hatten die Pferde eben zu Wasser geschickt und standen in der Dämmerung bei einer Batterie, welche feuerte. Die Franzosen schwiegen, „aber während wir dachten, ihre Geschütze wären demontirt, concentrirten sie nur ihre Kanonen und Mitrailleusen seit einer Stunde zu einem letzten großen Vorstoße. Plötzlich fingen sie ein ganz fürchterliches Feuern an, mit Granaten und ähnlichen Geschossen – ein unaufhörliches Krachen und Rollen, Sausen und Heulen in der Luft. Wir wurden vom Könige, den Roon zurückschickte, abgeklemmt. Ich blieb bei der Batterie und dachte, wenn wir zurückgehen müssen, setzest du dich auf den nächsten Protzkasten. Wir erwarteten nun, daß französische Infanterie den Vorstoß unterstützen würde, und da hätten sie mich gefangen nehmen können, wenn ich auch ein rollendes Revolverfeuer auf sie unterhalten hätte. – Endlich kamen die Pferde wieder, und nun machte ich mich fort. Aber wir waren aus dem Regen in die Traufe gerathen. An der Stelle, wo wir hinritten, schlugen gerade die Granaten ein, die vorher über uns weggeflogen waren. Am andern Morgen sahen wir die Schweinskuhlen, die sie gewühlt hatten.

So mußte denn der König noch weiter zurück, was ich ihm sagte, nachdem die Officiere mir das vorgestellt hatten. Es war nun Nacht. Der König äußerte, daß er Hunger habe und was essen möchte. Da gab es aber wohl zu trinken, Wein und schlechten Rum von einem Marketender, aber nichts zu beißen als trocken Brod. Endlich trieben sie im Dorfe ein paar Coteletten auf, gerade genug für den König, aber nichts für seine Umgebung, und so mußte ich mich nach etwas Anderem umsehen. Majestät wollte im Wagen schlafen, zwischen todten Pferden und Schwerverwundeten. Er fand später ein Unterkommen in einer Schenke. – – Der Bundeskanzler,“ fuhr der Graf fort, „mußte sich wo anders unter Dach zu bringen suchen. Wir ließen den Erben eines der mächtigsten deutschen Potentaten (der Erbgroßherzog [778] von Mecklenburg war gemeint) bei dem Wagen Wache stehen, daß nichts gestohlen würde, und ich machte mich mit Sheridan auf, um nach einer Schlafstelle zu recognosciren. Wir kamen an ein Haus, das noch brannte, und da war es zu heiß. Ich fragte in einem anderen – voll von Verwundeten. In einem dritten – auch voll von Verwundeten. Ebenso hieß es in einem vierten, ich ließ mich aber hier nicht abweisen. Ich sah oben ein Fenster, wo es dunkel war. ‚Was ist denn da oben?‘ erkundigte ich mich. – ‚Lauter Verwundete.‘ – ‚Das wollen wir doch untersuchen,‘ und ich ging hinauf, und siehe da: drei leere Betten mit guten und, wie es schien, ziemlich reinlichen Matratzen. Wir machten also hier Nachtquartier, und ich schlief ganz gut. (‚Ja,‘ hatte Bohlen gesagt, als der Kanzler uns die Historie in Pont à Mousson das erste Mal erzählte, ‚Du schliefst gleich ein, und ebenso Sheridan, der sich – ich weiß nicht, wo er’s hergekriegt – ganz in weiße Leinwand eingewickelt hatte, und der in der Nacht von Dir geträumt haben muß; denn ich hörte mehrmals, wie er murmelte: ‚O dear count!‘ – ‚Hm, und der Erbgroßherzog, der sich mit guter Manier in die Sache fand und überhaupt ein recht angenehmer und liebenswürdiger junger Herr ist,‘ bemerkte der Minister. – ‚Das Beste bei der Geschichte war übrigens,‘ sagte Bohlen, ‚daß eigentlich gar keine solche Noth um Unterkommen gewesen wäre. Denn unterdessen hatten sie entdeckt, daß nahe dabei ein elegantes Landhaus für Bazaine in Stand gesetzt worden war – mit guten Betten, Sekt im Keller und was weiß ich Alles – höchst fein – und da hatte ein General von uns sich einlogirt und hatte ein opulentes Abendmahl mit seiner Gesellschaft gefunden.‘) Ich hatte den ganzen Tag nichts als Conmmißbrod und Speck gehabt. Jetzt kriegten wir ein paar Eier – fünf – wozu später noch einige kamen. Die Anderen wollten sie gekocht, ich aber esse sie gern roh, und so stahl ich mir ein paar, zerschlug sie an meinem Degenknopfe und trank sie, was mich sehr erfrischte. Als es später wieder Tag geworden war, genoß ich das erste Warme seit sechsunddreißig Stunden – eine Suppe, die ich bei General Goeben bekam, bei dem ich während eines Unwetters Zuflucht suchte. Es war nur eine Erbswurstsuppe, sie schmeckte aber ganz vortrefflich.“

In der Zwischenzeit hatte der Kanzler von einem Soldaten ein Huhn gekauft, das aber ungekocht war. Später bot ihm ein Marketender ein gebratenes an. Bismarck nahm es, bezahlte dafür und reichte dem Manne noch obendrein das von dem Soldaten erworbene ungekochte Huhn. „Wenn wir uns im Kriege wiedertreffen,“ sagte er, „so geben Sie mir’s gebraten wieder! Wo nicht, so hoffe ich, daß Sie mir’s in Berlin zurückerstatten.“

Der Marktplatz in Busancy war voll Officiere, Ulanen, Husaren, Feldjäger und Fuhrwerke. Nach einer Weile kamen Sheridan und Forsythe auch an. Halb zwölf Uhr erschien der König, und gleich nachher ging es weiter, da Nachricht eingetroffen, daß die Franzosen unverhofft Stand hielten. Etwa vier Kilometer von Busancy gelangten wir auf höheres Terrain mit kahlen Senkungen rechts und links, jenseit deren wieder Höhen waren. Plötzlich ein dumpfer Knall aus der Ferne. „Ein Kanonenschuß,“ sagte der Minister. Noch eine Strecke weiter hinauf sah ich über der Senkung links auf einer baumlosen Bodenerhebung zwei Colonnen Infanterie aufgestellt und vor ihnen Geschütze, die feuerten. Es war aber so weit, daß man die Schüsse kaum hörte. Der Chef wunderte sich über meine guten Augen und setzte die Brille auf. Kleine weiße Nebelkugeln über der Senkung, über welcher die Kanonen standen, schwebten drei bis vier Secunden in der Luft und verschwanden dann mit einem Blitz – es waren Shrapnells. Die Geschütze waren offenbar deutsche und schienen ihre Geschosse nach dem Abhang auf der anderen Seite der Vertiefung vor ihnen zu schleudern, auf dem oben ein Wald zu bemerken war. Vor demselben mehrere dunkle Linien, vielleicht Franzosen. Noch weiter rechts in der Ferne schob sich eine hohe Bergnase mit drei oder vier großen Bäumen auf der Spitze in’s Land hinaus; sie bezeichnete nach der Karte das Dorf Stonn, wo, wie ich später hörte, der Kaiser Napoleon dem Gefecht zusah.

Das Feuern links hörte bald auf. Bairische Artillerie, desgleichen blaue Kürassiere und grüne Chevauxlegers jagen auf der Straße im Trabe an uns vorüber. Ein Stück weiter, wo wir durch ein kleines Gebüsch fahren, hören wir ein Geknatter, etwa wie eine langgezogene, nicht präcise abgegebene Pelotonsalve. „Kugelspritze!“ sagt Engel, sich auf dem Bocke umdrehend. Nicht fern von da, an einer Stelle, wo bairische Jäger im Straßengraben und in einem Kleefelde rasten, steigt der Minister zu Pferde, um mit dem König, der vor uns ist, weiter zu reiten. Die Jäger scheinen viele Marode zu haben, und wir stärken einige davon mit einem Schluck Cognac. Batterie auf Batterie saust an uns vorüber, bis endlich die Straße für uns wieder frei wird. Gerade vor uns erscheinen abermals weiße Granatenwölkchen über dem Horizont. Es geht da in ein Thal hinab, welches wir aber noch nicht sehen. Der Kanonendonner wird deutlicher, ebenso das Knarren der Mitrailleusen. Endlich wird auf ein Stoppelfeld rechts von der Chaussee, von der es links in eine breite Niederung hinunter geht, hinübergelenkt. Vor uns steigt der Boden zu einer sanften Höhe an, auf welcher der König etwa tausend Schritt von den Wagen und Pferden, die ihn und sein Gefolge hergebracht haben, mit dem Minister und einer Anzahl von Fürstlichkeiten, Generälen und anderen höheren Officieren Stellung genommen hat. Ich folge ihnen über Sturzacker und Stoppelfeld und beobachte nun seitwärts von ihnen bis zum sinkenden Abend die Schlacht von Beaumont.

Vor uns streckt sich ein breites, nicht sehr tiefes Thal aus, auf dessen Sohle sich tiefgrüner Laubwald hinzieht. Weiterhin offene Gegend, die sanft ansteigt, und in der nach rechts hat das Städtchen Beaumont mit seiner großen Kirche sichtbar ist. Zur Rechten davon wieder viel Wald bis an den Horizont. Ebenso ist links auf dem Thalrande im Hintergrunde Gehölz, nach welchem eine Chaussee mit Pappeln führt. Vor dem Gehölz ein kleines Dorf. Man sieht jetzt deutlich die Geschütze feuern. In Beaumont scheint es nach der dunklen Rauchwolke, die über dem Orte steht, zu brennen, und bald darauf geht auch in dem Dorfe am Walde links Qualm auf. Das Schießen war jetzt nicht mehr sehr heftig. Erst war es in der Gegend des Städtchens, dann zog es sich nach links hin, zuletzt erfolgten auch Schüsse aus dem Walde auf der Thalsohle, wahrscheinlich von der Artillerie, die vorher an uns vorbei gefahren war. Eine Zeit lang hielt im Vordergrund zu unserer Linken hinter einem Dorfe, welches die Karte Sommauthe nannte, bairische Cavallerie. Um vier Uhr etwa brach sie auf und verschwand drunten im Gehölz. Etwas später steigt andere Reiterei von der Chaussee hinter der Stelle, wo die Wagen halten, in die Senkung, über der wir zuerst Kanonenfeuer und Shrapnells gesehen, hinab, um, wie es scheint, auf Stonn weiter zu gehen. Am Saume des Waldes über dem brennenden Dorfe vor uns zur Linken wird dem Anschein nach lebhaft gekämpft. Einmal starkes Aufleuchten und dumpfer Knall darnach. Vermuthlich ist ein Munitionswagen aufgeflogen.

Es will dämmern. Der König sitzt jetzt auf einem Stuhle, neben dem man, da ein scharfer Wind weht, ein Strohfeuer angezündet hat, und beobachtet die Schlacht durch seinen Feldstecher. Der Kanzler thut desgleichen, indem er auf einem Rain Platz genommen hat. Man sieht jetzt auch das Blitzen der platzenden Granaten und die Flamme der Feuersbrunst in Beaumont. Die Franzosen ziehen sich immer weiter zurück, und der Kampf verschwindet hinter dem Kamme der baumlosen Höhen, die links von dem Gehölz über dem brennenden Dorfe den Horizont abschließen. Die Schlacht, die von Anfang an ein Rückzugsgefecht des Feindes gewesen zu sein scheint, ist gewonnen. Wir haben den Wolf des Ministers oder werden ihn haben.

Auf dem Rückwege nach Busancy wurde es allmählich ganz dunkel. Auf den Höhen und in den Senkungen neben der Straße begannen Lagerfeuer zu flackern, neben denen Silhouetten sich hin und her bewegten. Die Chaussee war voll baierischen Fußvolks. Eine Strecke weiterhin blinkten auch die Pickelhauben preußischer Infanterie – es waren die Königsgrenadiere. Zuletzt Colonnen von Fuhrwerken, die sich bisweilen verfahren hatten, sodaß es für uns Aufenthalt gab. Einmal bemerkte der Kanzler: „Ich möchte wissen, ob der Grund, daß wir hier stecken bleiben, derselbe ist, wie damals, wo fünf Schwaben, die Klöße gegessen hatten, einen Hohlweg verstopften.“

Am andern Morgen fuhren König und Kanzler weiter nach Vendresse, wobei sie unterwegs das Schlachtfeld vom vergangenen Tage besichtigten. Ich durfte den Minister wieder begleiten, und er war wieder ungemein mittheilsam und der Frage zugänglich. Er sprach zunächst von der grausamen Kriegführung [779] der Franzosen und ihrer steten Verletzung der Genfer Convention, „die freilich nicht viel tauge und in der Praxis kaum durchzuführen sei“. Dann erzählte er, daß die Rothhosen gestern keine große Vorsicht an den Tag gelegt und keinen besonders nachhaltigen Widerstand geleistet hätten. „Bei Beaumont wurden sie am hellen Morgen in ihrem Lager von einer Schleichpatrouille schwerer Artillerie überfallen. Wir werden’s heute sehen: die Pferde liegen erschossen an den Piquetpfählen, viele Todte in Hemdsärmeln, ausgepackte Koffer, Schüsseln mit gekochten Kartoffeln, Kessel mit halbgahrem Fleisch und dergleichen.“ Er kam dann auf Borck, den Schatullenmeister des Königs, von diesem auf Bernstorff, unsern Gesandten in London, und von dem auf seinen Nachfolger auf dem Botschafterposten in Paris, von der Goltz, zu sprechen (der nach seiner Schilderung ein Geistesverwandter Arnim’s gewesen sein muß). Darauf charakterisirte er Radowitz, wobei er äußerte: „Man hätte sich vor Olmütz mit der Armee eher in Positur setzen sollen.“ – – „Statt an Rüstung zu denken, beschäftigte er den König in Verfassungskleinigkeiten, einer wetterauer Grafenbank und anderen mittelalterlichen Scherzen, mit Etiquettesachen und dergleichen. Einmal hatten wir Nachricht, daß Oesterreich in Böhmen 80,000 Mann zusammenzöge und viele Pferde kaufe. Man sprach davon beim Könige, und Radowitz stand dabei. Plötzlich trat er mit der Miene des Bestunterrichteten heran und sagte: ‚Oesterreich hat in Böhmen 22,493 Mann und 2005 Pferde‘ – Sprach’s und drehte sich mit dem Bewußtsein um, wieder einmal imponirt zu haben.“

Vor Beaumont stiegen der König und der Minister zu Pferde, um nach der Stelle zu reiten, wo die „Schleichpatrouille“ gearbeitet hatte. Ich folgte ihnen zu Fuße, während die Wagen nach dem Städtchen hinfuhren, um zu warten. Das betreffende Feldstück lag rechts von der Straße, etwa achthundert Schritt von ihr entfernt. Vor demselben, nach dem Walde der Thalsohle hin, befinden sich heckenumgebene Aecker, auf denen etwa ein Dutzend todte Deutsche liegen – Thüringer vom 31. Regiment. Die Lagerstelle selbst sieht entsetzlich aus. Alles blau und roth von französischen Todten, die zum Theil von den geplatzten Granaten ganz unbeschreiblich übel zugerichtet sind, schwarz von Pulver, starrend von geronnenem Blute, auf einem Flecke sechs beieinander, von denen dreien die Köpfe, einem Unterleib und Eingeweide weggerissen sind, während einer, dem man das Gesicht mit einem Tuche bedeckt hat, noch gräuelvoller entstellt zu sein scheint. Ein Stück weiter liegt eine Hirnschale wie eine Schüssel, daneben das Gehirn wie ein Kuchen. Käppis, Mützen, Tornister, Papiere, Jacken, Schuhe, Wichs- und Kleiderbürsten sind umher gestreut. Offenstehende Officierskoffer, Pferde an Pfahl und Halfter erschossen, an erloschenen Kochfeuern Kessel mit geschälten Kartoffeln oder Schüsseln mit Fleischstücken zeigen, wie unverhofft die Unsern und mit ihnen das Verderben gekommen sind. Auch eine bronzene Kanone ist stehen geblieben. Ich nehme mir von einem Todten eine Messingmedaille mit, die er an einer Gummischnur auf der bloßen Brust trägt. Ein Heiliger ist darauf, also wahrscheinlich ein Amulet; es hat den armen Burschen aber nicht „gefroren“ gemacht. Marketender und Soldaten gehen suchend herum. „Sind Sie ein Doctor?“ ruft man mir zu. – „Ja, aber kein Arzt. Was wollen Sie?“ – „Dort liegt Einer; der lebt noch.“ Es war richtig, und er wurde auf einer mit Leinwand bespannten Tragbahre fortgeschafft. Eine Strecke weiter am Feldwege, der nach der Chaussee führt, war wieder Einer auf den Rücken hingestreckt, der, wie ich mir ihn näher besah, die Augen verdrehte, und dessen Brust noch athmete, obwohl eine Flintenkugel ihn in die Stirn getroffen hatte. Es mochten auf einem Raum von fünfhundert Schritt in’s Geviert wohl anderthalbhundert Leichen sein, darunter nicht mehr als zehn oder zwölf von den Unsern.

Ich hatte wieder einmal genug von solchen Bildern und beeilte mich, nach Beaumont zu den Wagen zu kommen. Auf dem Wege dorthin sah ich rechts von der Landstraße in einem rothen Steinbruche eine Masse Gefangener. „Circa siebenhundert,“ sagte der Lieutenant, der sie bewachte. Am Markte und um die hochgelegene Kirche waren wieder zahlreiche gefangene Rothhosen, darunter mehrere höhere Officiere. Ich fragte einen sächsischen Jäger, wo die Wagen des Königs seien. „Sind schon fort – vor einer Viertelstunde – dort hinaus.“ Also verspätet – fatal! Ich eile nach in der angegebenen Richtung, und es gelingt mir, den Kanzler am Rande des Waldeck über dem Dorfe, das Tags vorher brannte, einzuholen. Er hat gewartet und schon nach mir zurückschicken wollen, sich aber mit dem Gedanken beruhigt: „Der Doctor kommt nicht um. Der bleibt zur Noth des Nachts bei einem Wachtfeuer und fragt sich hernach schon wieder zu uns.“

Er erzählte dann, was er inzwischen erlebt, unter Anderm: „Bei der Kirche bemerkte der König einen Musketier, der verwundet war, reichte ihm die Hand, ohne Zweifel zu großer Verwunderung der französischen Officiere, und fragte, was er für ein Metier habe. – Er wäre Doctor der Philosophie. – ‚Nun, dann werden Sie gelernt haben, Ihre Verwundung philosophisch zu ertragen,‘ sagte der König. – ‚Ja,‘ antwortete der Musketier, das hätte er sich schon vorgenommen.“

Unterwegs holten wir in einem Dorfe marode Baiern ein. „Heda, Landmann!“ rief der Bundeskanzler dem einen zu, „wollen Sie ’mal Cognac trinken?“ Natürlich wollte er und ein anderer und ein dritter ebenfalls, und so tranken sie und noch ein paar aus des Ministers Feldflasche und bekamen dann noch jeder seine Cigarre.

Eine halbe Meile weiter hatte der König für sich und die Fürstlichkeiten in seinem Gefolge in einem Dorfe ein Frühstück arrangiren lassen, an welchem der Chef auch theilnahm, während ich mir auf einem Steine meine Notizen machte und dann den Holländern, die neben dem Orte in einem großen grünen Zelte ihre Hülfsambulanz aufgeschlagen hatten, Verwundete herbeischaffen und pflegen half.

Abends nach sieben Uhr waren wir nach langer Fahrt in Vendresse, wo der Kanzler im Hause der Wittwe Baudnot Wohnung nahm.



[825]
4. Der Tag von Sedan. – Bismarck und Napoleon bei Donchery.

Mit dem Ende des August näherte sich auch die Jagd auf die Franzosen im Maasgebiet ihrem Ende. Am Morgen des 1. September begab sich der Bundeskanzler von dem Hause in Vendresse, in dem er Quartier genommen, nach einer Höhe bei Sedan, um der voraussichtlichen Katastrophe beizuwohnen, und ich durfte ihn wieder begleiten. Bevor wir abfuhren, fragte er, ob ich dechiffriren könne, und als ich dies bejahte, hieß er mich einen Chiffre mitnehmen. Nachdem der König begleitet von der bunten Stabswache vorausgefahren, folgten wir ihm, wobei wir zunächst die Tags vorher berührten Ortschaften Chemery und Chehery wieder durchfuhren und dann bei einem dritten Dorfe, das links von der Chaussee in einer Bodensenkung liegt, am Fuße eines kahlen Hügels auf einem Stoppelfelde zur Rechten der Straße Halt machten. Hier stieg der König mit seinem Gefolge von Fürsten, Generalen und Hofleuten zu Pferde; unser Chef that desgleichen, und Alles begab sich nach dem flachen Gipfel der Anhöhe über uns. Wie uns ferner Kanonendonner verkündete, war die erwartete Schlacht bereits im Gange. Heller Sonnenschein am wolkenlosen Himmel leuchtete dazu.

Ich folgte nach einer Weile den Reitern, indem ich den Wagen unter Engel’s Aufsicht zurück ließ, und fand die Herrschaften oben auf einem Stoppelacker, wo man die Gegend weithin übersah. Vor uns geht es in ein tiefes, breites, größtentheils grünes Thal hinab, durch dessen Wiesen sich ein blauer Fluß, die Maas, an einer mittelgroßen Stadt, der Festung Sedan, vorbei schlängelt. Der Hügelkamm auf unserer Senke ist weiter rechts bewaldet, auch zur Linken ist etwas Laubholz. Der Vordergrund unten vor unsern Füßen bildet vor der Thalsohle noch eine schräge Stufe, und hier stehen rechts vor uns baierische Batterien, die lebhaft gegen die Stadt und über sie hinfeuern, und dahinter dunkle Colonnen, erst Fußvolk, dann Reiterei. Noch weiter rechts wirbelt neben dieser Bodenstufe aus einer Vertiefung eine Säule schwarzen Rauches auf. Es ist, wie man hört, das in Brand gesteckte Dorf Bazeilles. Sedan ist in der Luftlinie eine kleine Viertelmeile von uns entfernt; seine Häuser und Kirchen sind bei dem hellen Wetter deutlich zu unterscheiden. Ueber der Festung, an die sich auf der Linken eine Art zerstreuter Vorstadt anschließt, erhebt sich am andern Ufer des Flusses ein langgestreckter Höhenzug, in der Mitte mit Gehölz bedeckt, welches auch in die Schlucht hinabsteigt, die hier den Bergrücken spaltet, links kahl, rechts mit einzelnen Bäumen und Büschen bestanden. Bei der Schlucht einige Bauernhäuser. Links von dem Höhenzug eine Ebene, aus der noch ein kleiner Hügel aufsteigt, welcher oben eine Gruppe dunkler hochstämmiger Bäume zeigt. Nicht weit davon im Flusse die Pfeiler einer gesprengten Brücke. In weiterer Ferne rechts und links noch drei oder vier Dörfer. Dahinter gegen den Horizont hin ist das Bild vor uns von mächtigen Bergkämmen mit ununterbrochenem schwarzgrünem Walde eingerahmt. Es sind die Ardennen an der belgischen Grenze. Auf den Hügeln unmittelbar jenseits der Festung ist jetzt die Hauptstellung der Franzosen. Unsere Truppen scheinen sie hier umfassen zu wollen. Gegenwärtig indeß gewahrt man deren Heranrücken nur auf der Rechten, indem sich die Linie ihrer feuernden Geschütze, mit Ausnahme der baierischen unter unserm Standpunkte, welche stehen bleiben, langsam heranschiebt. Allmählich geht Pulverrauch auch hinter dem Höhenzug mit der Schlucht im Mittelgrunde auf, und man erkennt daran, daß die den Feind einschließenden Corps die Schlinge, die sie bilden, stetig weiter zuziehen. Auf der Linken des Bildes dagegen ist es noch völlig still. Um elf Uhr steigt auch in der Festung, die, beiläufig bemerkt, nicht selbst schießt, eine schwarzgraue Rauchsäule empor. Jenseits heftiges Feuern der Franzosen und über dem Walde der Schlucht unaufhörlich zu gleicher Zeit eine Anzahl weißer Granatwölkchen. Bisweilen auch das Geknarr und Gerassel einer Mitrailleuse.

Auf unserem Berge glänzende Versammlung: der König, Bismarck, Moltke, Roon, eine Anzahl Fürstlichkeiten, Prinz Karl, die Hoheiten von Weimar und Coburg, der mecklenburgische Erbgroßherzog, Generäle, Flügeladjutanten, Hofmarschälle, Graf Hatzfeldt, der nach einer Weile verschwunden ist, Kutusoff, der russische, und Oberst Walker, der englische Militärbevollmächtigte, General Sheridan, sein Adjutant und Andere, Alles in Uniform, Alles mit Feldstechern vor den Augen. Der König stand; Andere, darunter zuweilen auch der Kanzler, hatten auf einem Rain neben dem Stoppelacker Platz genommen.

Eben entwickelte sich nach elf Uhr unsere Angriffslinie auf dem jenseitigen Ufer der Maas durch weiteres Vorrücken um die Stellung der Franzosen zu einem Halbkreise, und ich verbreitete mich darüber etwas laut gegen einen älteren Herrn vom Hofe, als der Minister mich mit seinem scharfen Ohr hörte, sich umsah und mich zu sich heranwinkte. „Wenn Sie strategische Ideen zu entwickeln haben, Herr Doctor,“ sagte er, „so wäre es gut, wenn das weniger vernehmlich geschähe; sonst fragt der König, wer das ist, und ich muß Sie ihm dann vorstellen.“ Bald nachher hatte er Telegramme erhalten, kam und gab mir deren sechs zu dechiffriren, sodaß das Zuschauen für mich einstweilen ein Ende nahm.

Ich ging zu den Wagen hinunter und fand hier in dem unseren unter der aufgespannten Kutschdecke in Graf Hatzfeldt [826] einen Gefährten, der ebenfalls in die Lage versetzt worden, das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, der dem Wechsel der Situation aber weniger Befriedigung abgewinnen zu können schien. Der Chef hatte ihm einen vier Seiten langen französischen Brief, der aufgefangen worden, zu sofortigem Abschreiben gegeben. Ich bestieg den Kutschbock, nahm den Chiffre und meinen Bleistift und machte mich an’s Entziffern, während die Schlacht jenseits unserer Höhe wie ein halb Dutzend Gewitter brüllte. Im Eifer, rasch fertig zu werden, wurde ich dabei nicht einmal gewahr, daß die stechende Sonne der Mittagsstunde mir das eine Ohr mit Brandblasen bedeckte. Das erste übersetzte Telegramm sandte ich dem Minister durch Engel, der auch etwas sehen sollte, hinauf; die nächsten beiden überbrachte ich ihm selbst, da – sehr nach dem Geschmacke meiner Schaulust – auf die drei letzten mein Chiffre nicht paßte. Es war dabei vermuthlich nicht viel verloren; denn der Chef meinte, sie würden wohl nur Empfangsbescheinigungen sein.

Es war ein Uhr geworden. Unsere Feuerlinie umfaßte jetzt die größere Hälfte der feindlichen Stellung auf dem Höhenzuge jenseits der Stadt; in weitem Bogen stiegen Wolken von Pulverdampf auf und erschienen die bekannten weißen Nebelkugeln der Shrapnels, nur links war noch eine stille Lücke. Der Minister saß jetzt auf einem Stuhle und studirte ein mehrere Bogen starkes Actenstück. Ich fragte, ob er etwas zu essen oder zu trinken wünsche, wir wären damit versehen. Er lehnte ab: „Ich möchte wohl, aber der König hat auch nichts.“

Die Gegner drüben über dem Flusse mußten sich nun sehr nahe sein; denn man vernahm häufiger als vorher die häßliche Stimme der Mitrailleusen. Zwischen zwei und drei Uhr ging der König nahe an mir vorbei und sagte, nachdem er eine Weile nach der Vorstadt hingeblickt, zu seiner Umgebung: „Sie schieben da links große Massen vor – ich halte das für einen Durchbruch.“ Kurz darauf sah man durch das Glas französische Reiterei auf dem Hügelkamm links vom Walde aus der Schlucht mehrere Angriffe machen, nach denen besonders bei einem auch mit bloßem Auge sichtbaren halbmondförmigen Wege der Boden mit weißen Gegenständen, Pferden oder Mänteln, bedeckt war. Bald nachher wurde das Artilleriefeuer auf allen Punkten schwächer. Die Franzosen, seit einiger Zeit auch von links her eingeschlossen, wo die Württemberger, die nicht weit von unserem Berge ein paar Batterien aufgestellt hatten, und, wie es hieß, das fünfte und elfte Armeecorps heranzogen, gingen überall nach der Stadt zurück. Nach halb fünf Uhr schwieg ihr Geschütz allenthalben, und etwas später verstummte auch das unsere.

Noch einmal wurde die Scene lebendiger. Plötzlich erheben sich erst an einer, dann an einer zweiten Stelle in der Stadt große weißlichblaue Wolken, zum Zeichen, daß es brennt. Auch Bazeilles steht noch in Flammen und schickt hinter dem Horizonte zur Rechten eine Säule dicken gelblichen Qualms in die klare Abendluft empor. Das warme Licht des Spätnachmittags beginnt, immer intensiver werdend, das Thal drunten zu verklären und zu vergolden. Die Hügel des Schlachtfeldes, die Schlucht in deren Mitte, die Dörfer, die Häuser und Thürme der Festung, die Vorstadt Torcy, die zerstörte Brücke heben sich in der Gluth plastisch ab und werden mit ihren Einzelnheiten von Minute zu Minute deutlicher, wie wenn man schärfere und immer schärfere Brillen vornähme. Gegen fünf Uhr spricht General Hindersin mit dem Könige, und ich glaube zu hören, daß er von „Stadt beschießen“ und „Trümmerhaufen“ redet. Eine halbe Stunde später sprengt ein baierischer Officier den Berg heran: General von Bothmer läßt dem Könige sagen, der General Maillinger melde, daß er mit den Jägern in Torcy stehe, daß die Franzosen capituliren wollen und daß man unbedingte Uebergabe verlangt habe. Der König erwidert: „Niemand kann über diese Sache unterhandeln als ich selbst. Sagen Sie dem General, daß der Parlamentär zu mir kommen müsse.“

Der Baier reitet wieder ab in’s Thal. Der König spricht hierauf mit Bismarck, dann Gruppe der Beiden mit dem Kronprinzen, der gegen vier Uhr von links heraufgekommen, Moltke und Roon. Die Hoheiten von Weimar und Coburg stehen etwas abseits auch dabei. Nach einer Weile erscheint ein preußischer Adjutant und berichtet, daß unsere Verluste, soweit bis jetzt zu übersehen, nicht groß sind, bei der Garde mäßig, bei den Sachsen etwas stärker, bei den übrigen Corps geringer. Nur kleine Abtheilungen der Franzosen sind nach den Wäldern an der belgischen Grenze entkommen, die man nach ihnen absucht. Alle Uebrigen sind nach Sedan hineingedrängt. „Und der Kaiser?“ fragt der König.

„Das weiß man nicht, Majestät!“ antwortet der Officier. Bald nach sechs Uhr aber erscheint wieder ein Adjutant und meldet, der Kaiser sei in der Stadt und werde sogleich einen Parlamentär herausschicken. „Das ist doch ein schöner Erfolg,“ sagt der König, sich nach seiner Umgebung umwendend. „Und ich danke Dir (zum Kronprinzen), daß auch Du dazu beigetragen hast.“

Damit gab er dem Sohne die Hand, die dieser küßte. Dann reichte er sie Moltke, der sie ebenfalls küßte. Zuletzt gab er auch dem Kanzler die Hand und unterhielt sich darauf längere Zeit allein mit ihm – was einigen der Hoheiten Unbehagen zu verursachen schien.

Um halb sieben Uhr kommt, nachdem mittlerweile eine Ehrenwache von Kürassieren zur Seite erschienen, der französische General Reille als Parlamentär Napoleon’s den Berg heraufgeritten. Zehn Schritte vor dem Könige steigt er ab und geht auf ihn zu, nimmt die Mütze ab und übergiebt ihm einen großen rothgesiegelten Brief. Der General ist ein ältlicher, mittelgroßer, hagerer Herr in schwarzem, offenem Rocke mit Achselschnur und Epauletten, schwarzer Weste, rothen Hosen und lackirten Steifstiefeln. Er trägt keinen Degen, in der Hand aber ein Spazierstöckchen. Alle treten von dem Könige zurück, der das Schreiben öffnet und liest und hierauf den (jetzt bekannten) Inhalt Bismarck, Moltke, dem Kronprinzen und den übrigen Herrschaften mittheilt. Reille steht noch etwas weiter unten vor ihm, erst allein, dann im Gespräche mit preußischen Generalen. Auch der Kronprinz, Moltke und die Coburger Hoheit unterhalten sich mit ihm, während der König sich mit dem Kanzler beräth, der dann Hatzfeldt beauftragt, die Antwort auf den kaiserlichen Brief zu entwerfen. Nach einer Weile bringt er sie, und der König schreibt sie auf’s Reine, indem er auf einem Stuhle sitzt und den Sitz eines zweiten Stuhles, den Major von Alten, sich vor ihm auf ein Knie niederlassend, auf das andere Knie gehoben hat, als Tisch benutzt. Kurz nach sieben Uhr reitet der Franzose in Begleitung eines Officiers und eines Ulanentrompeters mit weißer Fahne durch die Dämmerung nach Sedan zurück. Die Stadt brennt jetzt an drei Stellen, und auch in Bazeilles scheint nach der rothangestrahlten Rauchsäule, die über ihm steht, die Feuersbrunst fortzudauern. Im Uebrigen hat die Tragödie von Sedan ausgespielt, und die Nacht läßt den Vorhang fallen. Der König geht wieder nach Vendresse. Der Chef, Graf Bismarck-Bohlen und ich fahren nach dem Städtchen Donchery, wo wir bei völliger Dunkelheit ankommen und im Hause eines Doctor Jeanjot Quartier finden. Der Grund, weshalb wir hierher gekommen sind, ist ein Arrangement, nach welchem der Kanzler mit Moltke hier französische Bevollmächtigte treffen soll, mit welchen man sich über die Bedingungen der Capitulation des in Sedan eingeschlossenen Heeres zu verständigen suchen wird.

Ich schlief hier in einem kleinen Alkoven neben dem Hinterzimmer der ersten Etage Wand an Wand mit dem Kanzler, welcher die große Vorderstube inne hatte. Früh gegen sechs Uhr weckten mich hastige Tritte. Ich hörte, daß Engel sagte: „Excellenz, Excellenz, es ist ein französischer General vor der Thür; ich verstehe nicht, was er will.“ Darauf scheint der Minister rasch aufgestanden zu sein und aus dem Fenster mit dem Franzosen – es war wieder General Reille – kurz verhandelt zu haben. Die Folge war, daß er sich hastig anzog, sich, wie er gestern gekommen, ohne zu frühstücken, zu Pferde setzte und eilig davon ritt. Ich eilte in sein Zimmer und an’s Fenster, um zu sehen, in welcher Richtung er sich entfernte. Alles war hier in Unordnung umhergeworfen, am Boden lagen die „Täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeinde für 1870“, unter dem Nachttischchen ein anderes Erbauungsbuch: „Die tägliche Erquickung für gläubige Christen“ – Schriften, in denen der Kanzler, wie Engel sagte, des Nachts zu lesen pflegte. Eilig fuhr ich nun ebenfalls in die Kleider, und nachdem ich unten gehört, daß der Graf nach Sedan zu geritten, um dem Kaiser Napoleon, der sich aus der Festung entfernt, entgegenzugehen, folgte ich ihm, so rasch ich vermochte. Etwa achthundert Schritt von der Maasbrücke bei Donchery steht rechts [827] von der mit Pappeln bepflanzten Chaussee ein einzelnes Haus, das damals von einem Weber bewohnt war. Es ist gelblich angestrichen und einstöckig, hat vier Fenster in der Front, im Erdgeschoß weiße Laden, im ersten Stock Jalousien von gleicher Farbe und ist mit Schiefer gedeckt. Daneben befand sich links ein weißblühendes Kartoffelfeld, während rechts über dem Wege nach dem etwa zwanzig Schritt von der Straße entfernten Hause einige Büsche standen. Ich sehe sogleich, daß der Kanzler den Kaiser bereits gefunden hat. Vor dem Hause befinden sich sechs höhere französische Officiere, von denen fünf rothe, mit Goldtressen besetzte Mützen aufhaben, während der sechste eine schwarze trägt. Auf der Chaussee hält eine viersitzige Kutsche, anscheinend ein Miethwagen. Den Franzosen gegenüber stehen Bismarck, sein Vetter Graf Bohlen, ein Stück davon Leverström sowie ein brauner und ein schwarzer Husar. Um acht Uhr kommt Moltke mit einigen Officieren vom Generalstabe, entfernt sich aber nach kurzem Verweilen wieder. Bald nachher tritt ein kleiner Mann, der eine rothe Mütze, einen schwarzen rothgefütterten Paletot mit Kapuze und rothe Hosen trägt, hinter dem Hause hervor und spricht zunächst mit den zum Theil auf dem Rain neben den Kartoffeln sitzenden Franzosen. Er hat weiße Glacéhandschuhe an und raucht eine Papiercigarre. Es ist der Kaiser. Er sieht abgespannt, aber nicht sehr niederschlagen aus, ist auch nicht so alt, wie ich ihn mir vorgestellt, vielmehr dem Anschein nach ein leidlich conservirter Fünfziger. Nach einer Weile geht er auf unsern Kanzler zu und spricht etwa drei Minuten mit ihm, worauf Napoleon allein, rauchend, die Hände auf dem Rücken, an dem weißblühenden Kartoffelfelde hin- und herwandelt. Dann nochmalige kurze Besprechung zwischen Kanzler und Kaiser, die der erstere beginnt, und nach welcher Napoleon sich wieder mit seiner französischen Begleitung unterhält. Gegen drei Viertel auf neun Uhr entfernen sich Bismarck und sein Vetter in der Richtung von Donchery, wohin ich ihnen folge.

Der Chef erzählte später wiederholt von den Vorgängen dieses Morgens. Ich verbinde diese verschiedenen Mittheilungen im Folgenden möglichst wortgetreu zu einem Ganzen. „Moltke und ich waren nach der Schlacht vom 1. September zum Zweck von Unterhandlungen mit den Franzosen nach Donchery, fünf Kilometer von Sedan, gegangen und die Nacht dort geblieben, während der König und das Hauptquartier nach Vendresse zurückkehrten. Die Verhandlungen dauerten bis nach Mitternacht, ohne zum Abschluß zu kommen. In Donchery erschien dann früh gegen sechs Uhr der General Reille vor meiner Wohnung und sagte mir, der Kaiser wünsche mich zu sprechen. Ich zog mich gleich an und setzte mich, beschmutzt, staubig, wie ich war, in alter Mütze und mit meinen großen Schmierstiefeln zu Pferde, um nach Sedan zu reiten, wo ich ihn noch vermuthete. Ich traf ihn aber schon bei Frénois, drei Kilometer von Donchery, auf der Chaussee. Er saß mit drei Officieren in einer zweispännigen Kutsche, und die anderen waren zu Pferde bei ihm. Ich kannte davon nur Reille, Castelneau, Moscowa und Vaubert.

Ich grüßte militärisch; er nahm die Mütze ab und die Officiere auch, worauf ich sie auch abnahm, obwohl das gegen das Reglement ist. Er sagte: 'Couvrez-vous donc!' Ich behandelte ihn durchaus wie in St. Cloud und fragte nach seinen Befehlen. Er erwiderte, ob er den König sprechen könne. Ich sagte ihm, das sei unerfüllbar, da Seine Majestät zwei Meilen von hier entfernt sei. Auch wollte ich nicht, daß er eher mit ihm zusammenkäme, als bis wir wegen der Capitulation mit ihm im Reinen wären. Dann erkundigte er sich, wo er bleiben könne, was darauf hindeutete, daß er nicht nach Sedan zurückkehren konnte, indem er dort Unannehmlichkeiten erfahren hatte oder befürchtete wegen seines Briefs an den König. Die Stadt war voll betrunkener Soldaten, die den Einwohnern sehr beschwerlich fielen. Ich bot ihm mein Quartier in Donchery an, welches ich sogleich räumen wollte. Er nahm das an. Aber ein paar hundert Schritte vor dem Orte ließ er halten und fragte, ob er nicht in dem Hause, das dort war, bleiben könnte. Ich schickte meinen Vetter hinein und sagte nach dessen Bericht, es wäre sehr ärmlich. Er antwortete, das schadete nichts. Ich stieg nun, nachdem er hinübergegangen und wieder zurückgekommen war, da er wahrscheinlich die Treppe, die hinten hinaufging, nicht gefunden hatte, mit ihm hinauf in’s erste Stock, wo wir in ein kleines einfenstriges Zimmer traten. Es war das beste, hatte aber nur einen fichtenen Tisch und zwei Binsenstühle. Hier hatte ich eine Unterredung mit ihm, die fast dreiviertel Stunden dauerte. Er beklagte zuerst diesen unseligen Krieg, den er nicht gewollt habe. Er wäre zu ihm durch den Druck der öffentlichen Meinung genöthigt worden. Ich entgegnete, auch bei uns hätte Niemand und am wenigsten der König einen Krieg gewollt. Wir hätten die spanische Frage eben als eine spanische angesehen und nicht als eine deutsche, und wir hätten von den guten Beziehungen des hohenzollern’schen Hauses zu ihm erwartet, daß dem Erbprinzen eine Verständigung mit ihm leicht fallen würde. Dann kam er auf die gegenwärtige Lage zu sprechen. Er wollte dabei vor allen Dingen eine günstigere Capitulation. Ich erklärte, auf Verhandlungen hierüber nicht eingehen zu können, da dies eine rein militärische Frage sei, bei der Moltke gehört werden müsse. Dagegen ließe sich über einen etwaigen Frieden sprechen. Er antwortete, er sei Gefangener und folglich nicht in der Lage, hier zu entscheiden, und als ich darauf fragte, wen er hierin für competent hielte, verwies er mich an die Pariser Regierung. Ich bemerkte ihm, daß sich dann die Lage gegen gestern nicht geändert habe, und daß wir darum auf der Capitulation bestehen müßten, um ein Pfand dafür zu haben, daß die Resultate der gestrigen Schlacht uns nicht verloren gingen. Moltke, der mittlerweile, von mir benachrichtigt, eingetroffen war, war derselben Meinung und begab sich zum König, um ihm das zu sagen.

Draußen vor dem Hause lobte der Kaiser unsere Armee und ihre Führung, und als ich ihm darauf zugab, daß die Franzosen sich ebenfalls gut geschlagen hätten, kam er auf die Capitulationsbedingungen zurück und fragte, ob es nicht möglich sei, daß wir die in Sedan eingeschlossenen Corps über die belgische Grenze gehen und dort entwaffnen und interniren ließen. Ich versuchte ihm nochmals begreiflich zu machen, daß dies eine Sache der Militärs sei und nicht ohne Einverständniß mit Moltke entschieden werden könne. Auch habe er soeben erklärt, als Gefangener die Regierungsgewalt nicht ausüben zu können, und so könnten Verhandlungen über derartige Fragen nur mit dem in Sedan commandirenden Obergeneral geführt werden. Ich bemerke noch, daß die Unterhaltung zwischen uns französisch, nicht, wie behauptet worden ist, deutsch geführt wurde. Nur mit der Frau des Webers habe ich ein paar Worte auf deutsch gewechselt. Ich habe überhaupt niemals mit ihm deutsch gesprochen, obwohl er’s kann, wenn auch mit allemannischem Accent.

Inzwischen hatte man nach einem bessern Unterkommen für ihn gesucht, und die Officiere des Generalstabs hatten gefunden, daß das Schlößchen Bellevue bei Frénois, wo ich ihm zuerst begegnet war, zu seiner Aufnahme geeignet, auch noch nicht mit Verwundeten belegt war. Ich sagte ihm das und rieth ihm, dahin überzusiedeln, da es in dem Weberhause unbequem sei und er vielleicht der Ruhe bedürfe; wir würden den König benachrichtigen, daß er dort sei. Er ging darauf ein, und ich ritt nach Donchery zurück, um mich umzukleiden. Dann geleitete ich ihn mit einer Ehrenescorte, welche eine Schwadron des ersten Kürassierregiments stellte, nach Bellevue. Bei den Verhandlungen, die hier begannen, wollte der Kaiser den König haben – er dachte wohl an Weichheit und Gutherzigkeit – doch wünschte er auch, daß ich theilnehme. Ich dagegen war entschlossen, daß die Militärs, die härter sein können, das allein abmachen sollten, und so sagte ich, als wir die Treppe hinaufgingen, zu einem Officier leise, er möge mich nach fünf Minuten abrufen – der König wolle mich sprechen, was denn auch geschah. In Betreff des Königs theilte man ihm mit, daß er diesen erst nach Abschluß der Capitulation sehen könne. So wurde die Angelegenheit zwischen Moltke und Wimpffen geordnet. Dann kamen die beiden Majestäten zusammen. Als der Kaiser darnach wieder heraustrat, standen ihm die dicken Thränen im Gesicht. Gegen mich war er ruhiger und durchaus würdig gewesen.“

Ich muß andere interessante Vorfälle dieser Tage übergehen und theile nur folgende mit. Nach der Begegnung mit Napoleon beritt der König das Schlachtfeld, wobei ihn der Kanzler begleitete. Sie waren bis nach elf Uhr Nachts weg, und somit über zwölf Stunden im Sattel. Der Minister hat dabei die Freude gehabt, seinen jüngeren Sohn zu treffen. „Ich entdeckte an ihm,“ so erzählte er bei Tische, „eine neue rühmliche Eigenschaft: er besitzt ausnehmende Geschicklichkeit im Schweinetreiben. [828] Er hatte sich das fetteste herausgesucht, da die am langsamsten gehen und nicht leicht entwischen. Zuletzt trug er’s fort auf dem Arme wie ein Kind. Es kam den gefangenen französischen Officieren komisch vor, einen preußischen General einen gemeinen Dragoner umarmen zu sehen.

Inzwischen waren Massen von Gefangenen, zum Theil zu Fuß, zum Theil zu Wagen, ein General zu Pferde, auf dem Wege nach Deutschland durch die Stadt gezogen, Kürassiere, Husaren, Infanterie vom 22., 52. und 58. Regiment, alte Troupiers mit Krim-Medaillen, auch etliche schwarze Affengesichter in arabischer Tracht dabei. Dabei soll sich folgender tragikomischer Vorfall ereignet haben. Ein dahermarschirender Gefangener sieht auf dem Markte einen Verwundeten und erkennt in ihm seinen Bruder. „Eh, mon frère!“ ruft er und will auf ihn zu. Gevatter Schwab' aus der Escorte aber sagt: „Ach was frieren, mich friert auch,“ und stößt ihn in die Colonne zurück. Ich bitte um Entschuldigung, wenn das ein Kalauer ist, aber ich habe ihn dann nur nacherzählt, nicht verbrochen.

Unter den Einwohnern unseres Städtchens herrschte Noth, und selbst unser Wirth – beiläufig wie seine Frau eine gute Seele – litt Mangel an Brod. Der Ort ist überfüllt mit Einquartierung und Verwundeten. Hofvolk will unser Haus für den Erbgroßherzog von Weimar in Anspruch nehmen. Wir wehren es mit Erfolg ab. Dann fordert ein Officier für einen mecklenburgischen Prinzen bei uns Quartier. Wir vertreten ihm den Weg und sagen auch ihm, das ginge nicht, hier wohnte der Bundeskanzler. Als ich dann aber eine Weile weg war, hatten sich die Herren doch eingedrängt, und man mußte froh sein, daß sie nicht auch unserm Chef sein Bett genommen hatten.

Am Morgen des 3. Septembers gab mir der Minister fünfhundert Cigarren, die er soeben bekommen, zur Vertheilung an unsere Verwundeten in den Ställen hinter den Häusern und in der zu einem Lazarethe umgewandelten Caserne. Als ich hier anfangs nur den Preußen welche geben wollte, machten die zwischen ihnen sitzenden Franzosen so sehnsüchtig entsagende Gesichter und ihre deutschen Nachbarn auf dem Stroh baten so schön für sie – „Sie dürfen nicht zusehen – sie haben auch Alles mit uns getheilt“ – daß ich es nicht für einen Raub hielt, sie auch zu bedenken.

Als ich gegen elf Uhr mit meinem Auftrage fertig war und bei naßkaltem Regenwetter durch den ungeheuren Koth des Marktes watete, drängte mich ein langer, von schwarzen Todtenkopfshusaren escortirter Wagenzug, der von der Maasbrücke her kam, zur Seite. Es waren vier oder fünf elegante Kutschen, eine Anzahl von Reitpferden und mehrere Küchenwagen. In einer der geschlossenen Kutschen aber saß neben dem preußischen General Boyen der „Gefangene von Sedan“, der Kaiser Napoleon, auf dem Wege über Belgien nach Wilhelmshöhe.

[872]
5. Bismarck und Favre in Haute Maison. – Ankunft im Schlosse Rothschild’s. – Schlechter Empfang. – Endeckungsreisen in Haus und Park. – Eine verkannte Göttin des Barons.
Nachdruck verboten.

Ich übergehe wieder eine große Anzahl interessanter Erinnerungen aus den ersten drei Wochen des September, um dann Einiges über unsern Aufenthalt in Ferrierès, dem Schlosse des Pariser Goldonkels Rothschild, mitzutheilen. Die Stationen auf unserer Reise waren Rethel, wo wir uns nur einen Tag aufhielten, Reims, wo wir am 5. eintrafen, um am 14. wieder wegzufahren, Château-Thierry im Thale der Marne und Meaux, die Stadt Bossuet’s, wo das große Hauptquartier [873] am 15. gegen Abend anlangte und bis zum 19. verblieb, und wo der Kanzler in dem stattlichen Hause des Vicomte de la Motte auf der Rue Tronchon wohnte, während ich mein Quartier unmittelbar gegenüber bei einem Baron de Vaudeuvre hatte, der ausgeflogen war.

Man war hier nur noch etwa fünfzig Kilometer von Paris entfernt und schon unter den ersten unvermischten Galliern, die inzwischen, wie bekannt, die Republik erklärt und eine Regierung der nationalen Vertheidigung eingesetzt hatten. Schon am 15. erfuhr man, daß letztere mit uns unterhandeln wollte, indem Sir Edward Mallet, ein Attaché der englischen Gesandtschaft in Paris, beim Chef erschien, um anzufragen, ob er geneigt sei, mit Jules Favre die Bedingungen eines Waffenstillstandes zu besprechen. Der Kanzler sollte ihm geantwortet haben: „Die Bedingungen eines Friedens, ja, die eines Waffenstillstandes, nein“ – was nach späteren Vorgängen wohl nicht richtig war.

Am 19. früh hörten wir, daß Favre sich für zwölf Uhr Mittags habe ansagen lassen. Zwei Stunden vorher machte sich Alles auf Befehl des Chefs zur Abreise bereit, und als Favre um zwölf Uhr noch nicht da war, wurde aufgebrochen. Doch ließ der Minister auf der Mairie einen Brief für Jenen zurück und sagte dem Bedienten der Vicomtesse, er möge ihn, falls er noch käme, darauf aufmerksam machen. Der Kanzler und die Räthe waren bei dieser Tour zu Pferde und ritten nach einiger Zeit den Wagen voraus, von denen ich den zweiten allein einnahm. Wir folgten erst im Marnethale dem Laufe des Canals und verließen diesen dann beim Dorfe Mareuil, um auf der Höhe über dem uns zur Rechten bleibenden Flusse weiter zu fahren.

Hier kommt uns zwischen den Ortschaften Mareuil und Montry an einer Stelle, wo die Chaussee unter breitwipfeligen Bäumen stark bergab geht, eine zweispännige Kutsche mit zugemachter Decke entgegen, in der mehrere Herren in Civil und ein preußischer Officier sitzen. Unter den Civilisten ist ein graubärtiger Herr mit hervortretender Unterlippe. „Das ist Favre,“ sage ich zum Kanzleidiener Krüger, der hinter mir sitzt: „wo ist der Minister?“ Er war nicht zu sehen, aber wahrscheinlich vor uns und der langen Colonne von Fuhrwerken, welche uns die Aussicht versperrte. Ich ließ rascher fahren, und nach einer Weile begegnete uns der Chef, mit Hatzfeldt und Keudell zurückreitend, in dem Dorfe Chessy, wo Bauern ein todtes Pferd mit Stroh und Häckerling bedeckt hatten, welches brannte und ganz abscheulich roch. „Favre ist vorbei, Excellenz, da hinauf,“ sagte ich.

„Weiß schon,“ erwidert er lächelnd und trabte weiter.

Tags darauf erzählte uns Graf Hatzfeldt Einiges von der Begegnung des Kanzlers mit dem Pariser Advocaten und Regenten. Der Minister und der Graf waren uns wohl eine gute halbe Stunde Wegs voraus gewesen, als Hofrath Taglioni, der Chiffreur des Königs, ihnen gesagt, daß Favre vorbeigefahren. Er war eine andere Straße gekommen und hatte die Stelle, wo diese in die unsrige mündete, später als der Chef passirt. Der letztere war ungehalten, daß er davon nicht eher benachrichtigt worden. Hatzfeldt jagte Favre dann nach und kehrte, als er ihn gefunden, mit ihm um. Nach einer Weile kam ihnen Graf Bismarck-Bohlen entgegengeritten, der es dem mit Keudell noch weit entfernten Chef melden mußte. Endlich sahen sie bei Montry denselben herankommen. Man wollte hier in ein Haus. Sie wurden aber auf das hochliegende Schlößchen Haute-Maison, zehn Minuten Wegs von da, aufmerksam gemacht, und so begab man sich dahin. Hier trafen sie zwei württembergische Dragoner, von denen der eine seinen Karabiner nehmen und vor dem Hause Wache stehen mußte. Auch ein französischer Bauer fand sich vor, der im Gesichte aussah, als ob er soeben eine Tracht Prügel bekommen, und den man fragte, ob es hier wohl etwas zu essen und zu trinken gäbe. Während sie noch mit ihm sprachen, trat Favre, der inzwischen mit dem Chef hineingegangen, auf einen Augenblick heraus und hielt seinem Landsmann eine Rede voll Pathos und Hochsinn. Es wären Ueberfälle vorgekommen, aber das dürfe nicht sein. Er sei Mitglied der neuen Regierung, die das Wohl des Vaterlands in die Hand genommen und dessen Würde zu vertreten habe, und er fordere ihn im Namen des Völkerrechts und der Ehre Frankreichs auf, zu wachen, daß man diese Stätte heilig halte. Seine, des Regenten, und ebenso seine, des Bäuerleins, Ehre forderten dies gebieterisch, und dergleichen mehr. Der gute dumme Bauernknabe zeigte diesem Wortschwall ein sehr einfältiges Gesicht; er verstand davon offenbar so wenig, als ob es Griechisch gewesen wäre, und machte eine Figur, daß Keudell sagte: „Wenn der uns vor Ueberfall behüten soll, da ist mir der Soldat dort doch viel lieber.“

Von anderer Seite hörte ich noch, daß Favre von den Herren Rink und Hell, früheren Legationssecretären Benedetti's, und von dem Fürsten Biron begleitet gewesen, und daß für ihn hier im Dorfe Quartier bestellt worden. Keudell aber erzählte: Als der Bundeskanzler aus dem Zimmer, wo er sich etwa drei Viertelstunden mit jenem besprochen, wieder heraustrat, fragte er den Dragoner vor der Thür, woher er wäre. „Aus Schwäbisch-Hall.“ – „Na, Sie können sich was darauf einbilden, bei der ersten Friedensverhandlung in diesem Kriege Wache gestanden zu haben.“

Wir Andern hatten inzwischen eine Weile in Chessy auf die Rückkunft des Kanzlers gewartet und waren dann, vermuthlich mit dessen Erlaubniß, weiter gefahren, bis wir nach etwa zwei Stunden Ferrières erreichten. Wir befanden uns jetzt innerhalb der Zone, welche die Franzosen um Paris geflissentlich verwüstet hatten. Doch war die Zerstörung hier noch mäßig, nur schien die Bevölkerung der Dörfer, die wir berührten, von den Mobilgarden zum großen Theil verjagt worden zu sein. Nirgends hörte man einen Hund, dagegen sahen wir in einigen Höfen Hühner umhergehen. An den meisten Thüren, die wir passirten, stand mit Kreide „Corporalschaft N.“ oder „1. Officier und 2 Pferde“ oder etwas Anderes der Art geschrieben. In den Dörfern befanden sich oft städtische Häuser, seitwärts Villen und Schlösser mit Parks, was auf die Nähe der Großstadt deutete. Von Wachtposten am Wege und anderen Vorsichtsmaßregeln wie vor Château-Thierry und Meaux war hier nichts zu bemerken, was für den Chef, wenn er spät und mit schwacher Begleitung nachkam, bedenklich werden konnte.

Endlich, als es zu dämmern anfing, fuhren wir in das Dorf Ferrières und bald darauf in das daneben gelegene Gut Rothschild's hinein, in dessen Schloß der König und mit ihm die erste Staffel des großen Hauptquartiers für längere Zeit Wohnung nahm. Der Minister sollte in den letzten drei Zimmern im ersten Stock des rechten Flügels Quartier haben, wo er auf die Wiesen, den Teich und den Park des Schlosses hinaussah; das Bureau etablirte sich in einer der größeren Stuben des Parterre, während wir in einer kleineren speisten.

Es war schon dunkel, als der Chef auch eintrat und sich bald nachher mit uns zum Diner setzte. Während wir aßen, ließ Favre anfragen, wann er kommen könne, um die Unterhandlungen fortzusetzen, und von halb zehn bis nach elf Uhr hatte er in unserm Bureau eine Conferenz mit dem Minister. Als er wieder ging, sah er (vielleicht noch Rest einer Mimik, die drinnen hatte rühren sollen, bemerkt mein Tagebuch) bedrückt, niedergeschlagen, fast verzweifelnd aus. Es schien also noch nichts aus dem Frieden werden zu sollen. Im Uebrigen erschien er als ein ziemlich großer, ältlicher Herr mit grauem Backenbart, der sich auch um das Kinn zog, etwas jüdischem Gesichtstypus und dicker, hängender Unterlippe.

Bei Tische hatten wir eine Probe von der Gastlichkeit und dem Anstandsgefühl des Herrn Baron bekommen, dessen Haus der König mit seiner Gegenwart beehrte, und dessen Besitz in Folge dessen in jeder Weise geschont wurde. Herr von Rothschild, bis vor Kurzem Generalconsul Preußens in Paris, ließ uns durch seinen „Regisseur“ oder Haushofmeister patzig den Wein verweigern, dessen wir bedurften, wozu ich bemerke, daß derselbe wie jede andere Lieferung bezahlt werden sollte. Vor den Chef citirt, setzte der dreiste Mensch seine Renitenz fort, leugnete erst ganz und gar, Wein im Hause zu haben und gab dann zwar zu, daß er „nur ein paar hundert Flaschen Petit Bordeaux im Keller habe“[2], erklärte aber, uns davon nichts abtreten zu wollen. Der Chef machte ihm jedoch den Standpunkt in sehr kräftiger Rede klar, hob hervor, was das für eine unartige und filzige Manier sei, mit der sein Herr die Ehre erwidere, die ihm der König dadurch erwiesen, daß er bei ihm abgestiegen sei, und fragte, als der vierschrötige Patron sich wieder aufbäumen wollte, kurz und bündig, ob er wisse, was ein Strohbund sei. Er schien das zu ahnen; denn er wurde [874] blaß, sagte aber nichts. Es wurde ihm dann bemerkt, daß ein Strohbund ein Ding sei, auf welches halsstarrige und freche Regisseure so gelegt würden, daß ihre Rückseite oben sei, und das Weitere könne er sich vielleicht vorstellen. – Andern Tages hatten wir, was wir verlangt, und auch später kam meines Wissens keine Klage vor. Der Herr Baron aber erhielt für seinen Wein nicht nur den geforderten Preis, sondern auch noch Pfropfengeld, sodaß er an uns noch etwas Anständiges verdiente. Ob das so geblieben ist, als wir fort waren, war mir eine Zeit lang zweifelhafter, als die Beantwortung der Frage, ob es so hätte bleiben sollen. Deutlicher gesprochen: ich wüßte keinen vernünftigen Grund dafür anzugeben, wenn man den Millionär Rothschild mit Requisitionen, und zwar seinem Vermögen angemessenen Requisitionen, auch dann noch verschont hätte, als man nicht mehr sagen konnte, sie seien für den König und seine Umgebung. In der That wurde später in Versailles erzählt, daß schon am Tage nach unserer Abreise ein halb Dutzend Requisitionscommandos in Ferrières erschienen sei und eine Menge Dinge abgeholt habe, und daß selbst die Hirsche im Gehege am Teiche von unseren Soldaten vergnügt aufgegessen worden seien. Zu meiner tiefen Betrübniß aber mußte ich dann aus glaubwürdiger Quelle erfahren, daß dem nicht so, die Ausnahmestellung des Schlosses vielmehr bis zu Ende des Krieges gewahrt geblieben war. Um so widerwärtiger fühlte man sich durch einen Brief berührt, der aus Paris an die Gräfin M. abgesandt worden und nach dem Rothschild in der dortigen Gesellschaft, jene Rede unseres Chefs lügenhaft übertreibend, verbreitet haben sollte, die Preußen hätten seinen Regisseur in Ferrières prügeln wollen, weil die Fasanen, die er ihnen vorgesetzt, nicht getrüffelt gewesen wären.

Am andern Morgen kam der Minister in die Jagdzimmer, die wir zum Bureau umgewandelt hatten, sah sich das auf dem Mitteltische liegende Jagdbuch an und zeigte mir das Blatt vom 3. November 1856, welches besagt, daß er an diesem Tage mit Galiffet und Andern hier gejagt und zweiundvierzig Stück Wild, vierzehn Hasen, ein Kaninchen und siebenundzwanzig Fasanen geschossen. Jetzt jagt er ein vornehmeres Wild, den Wolf von Grand Pré, wovon er damals wohl noch nichts ahnte und seine Jagdgenossenschaft sicherlich noch weniger.

Um elf Uhr hätte er die dritte Besprechung mit Favre, dann fand eine Berathung beim Könige statt, bei der auch Moltke und Roon zugegen waren. Das gab uns einige Stunden Zeit zur Besichtigung des Schlosses, soweit es uns zugänglich, und seiner Umgebung, die in einem nach Süden hin gelegenen großen Park, einem im Norden sich anschließenden Blumengarten, einem etwa vierhundert Schritt östlich vom Schlosse befindlichen Complex von Ställen und Wirthschaftsgebäuden, denen gegenüber, jenseits der Fahrstraße, eine ausgedehnte Gärtnerei mit Obstpflanzungen, Gemüsebeeten und langgestreckten prächtigen Gewächshäusern liegt, sowie einem noch vom Parke eingeschlossenen Schweizerhäuschen besteht, welches zum Waschlocale dient.

Ueber das Schloß will ich kurz sein. Es ist der Form nach ein Viereck, das zweistöckig ist und an jeder der vier Ecken einen dreistöckigen Thurm mit stumpfer Bedachung hat, der Styl ein Gemisch aus verschiedenen Schulen der Renaissance, bei dem es zu keiner rechten Gesammtwirkung kommt und das Ganze namentlich nicht so groß aussieht, wie es ist. Am besten nimmt sich noch die Südfront mit ihrer stattlichen, vasengeschmückten Freitreppe aus, die zu einer Terrasse führt, auf welcher Orangen- und Granatbäume in Kübeln stehen. Der Haupteingang ist auf der Nordseite, wo man zunächst in ein Vestibül mit Büsten römischer Kaiser gelangt, die ganz hübsch sind, von denen aber nicht recht zu begreifen ist, was sie im Hause des Krösus der modernen Judenheit zu suchen haben. Von hier führt ein etwas gedrücktes Treppenhaus, dessen Wände mit Marmor bekleidet sind, in den Hauptsaal des Schlosses, um den eine von vergoldeten ionischen Säulen getragene Galerie herumläuft. Die Wand über derselben ist mit Gobelins bekleidet. Unter den Gemälden des mit allerlei Prunk ausgestatteten Saales befindet sich ein Reiterbild von Velasquez. Auch sonst ist unter den prächtigen Sachen manches Schöne. Im Ganzen aber macht der Raum den Eindruck, als ob der Besitzer weniger an Schönheit und Behagen, als daran gedacht hätte, recht Theueres zusammenzustellen.

Läßt das Schloß hiernach ziemlich kalt, so verdienen die Garten- und Parkanlagen um dasselbe alles Lob. Das gilt sowohl von den Blumenbeeten vor der nördlichen Façade mit ihren Statuen und Springbrunnen, wie, und zwar in noch höherem Grade, von den vorderen Partien des Parkes, der weiterhin zum Walde wird und nur von geradlinigen Fahr- und Reitwegen durchschnitten ist, von welchen einige nach einem großen Vorwerke führen. Jene vorderen Theile zeigen schöne fremdländische Bäume und geschmackvoll zusammengestellte Gruppen von solchen und hiesigen, anmuthigen Wechsel von Wald, Wiese und Wasser und zuweilen überraschende Durchblicke durch Buschwerk und Wipfel. Vor dem Schlosse flachen sich Wiesen, von Kieswegen durchschlängelt, nach einem Teiche mit weißen und schwarzen Schwänen, türkischen Enten und anderem Geflügel ab. Jenseits des Wasserspiegels erhebt sich rechts ein künstlicher Hügel, wo Schlangenwege durch Strauchwerk, Laub- und Nadelholz nach dem Gipfel führen. Links vom Teiche kommt man an ein Gehege mit Hirschen und Rehen, und weiter hin murmelt ein Bach zwischen hohen Waldbäumen am Saum einer Lichtung. Auf den Wiesen vor der Freitreppe weiden Schafe und gehen Hühner, denen sich zuweilen Fasanen zugesellen, welche auf den ferner gelegenen Blößen in ganzen Trupps auftreten, und deren der Park mehrere Tausende beherbergen soll. Diesen guten Dingen gegenüber verfahren unsere Soldaten, als ob das Alles ungenießbar wäre, und doch haben sie ohne Zweifel eine andere Ansicht und dazu bisweilen einen gesunden Hunger. „Tantalus in Uniform!“ sagte ein mythologisch gestimmtes Gemüth, als wir drei von den leckeren Vögeln, die auch ohne Sauerkraut à la Rothschild, das heißt in Champagner gekocht, gut zu essen sind, so nahe an einer seitab aufgestellten Schildwache vorbeiwandeln sahen, daß sie von ihr mit dem Bajonnet aufgespießt werden konnten. „Ob ein französischer Mobiler das wohl aushielte?“ fragte ein anderer Begleiter.

Auf dem Hügel am Teiche suchten und fanden wir, von Abeken’s Kunstliebe aufmerksam gemacht, eine Statue, mit welcher der Schloßherr diesen Theil seines Besitzes geschmückt hatte. Sie scheint eine von seinen Nebengottheiten neben Adonai zu sein, steht auf dem Gipfel, von Buschwerk umgeben, ist von rothem Thon und stellt eine Dame vor, die einen Spieß in der Hand und eine Mauerkrone auf dem Kopfe hat und etwa anderthalbmal so groß als gewöhnliche Damen ist. Auf dem Piedestal steht – vermuthlich, damit man dem preußischen Generalconsul nicht Unrecht thue und auf den Verdacht gerathe, er habe seinem Park eine Borussia einverleibt – mit großen Buchstaben AVSTRIA. Ein Besucher, voll von ungeregelten Hochgefühlen, hatte, diese Warnung übersehend, der Dame mit Bleistift auf’s Hemd geschrieben: „Heil Dir, Germania, Deine Kinder sind einig!“ Ein Vetter des „Kladderadatsch“ aber hatte darunter bemerkt: „Det war doch früher nich. Ein Berliner Kind“ – eine Glosse, welche ihm auch bei einem zweiten dithyrambischen Gefühlsausbruche eingefallen war, mit dem ein anderer Begeisterter den Schild der thönernen Mamsell bekiselackt hatte, und der lautete: „Deine Kinder sind auf ewig vereint, Du große Göttin Deutschland! 22. September 1870.“

Von unsern Entdeckungsreisen zurückgekehrt, erfahren wir, daß der anfangs so anmaßende Regisseur uns bei näherer Betrachtung doch nicht für so unwillkommene Gäste betrachtet. Er fürchtet sich ungemein vor den „francvoleurs“, wie die Franctireurs von den Besitzenden auf dem Lande jetzt vielfach bezeichnet werden, und diese Furcht hat ihn unserer Anwesenheit neben ihrer verdrießlichen Seite auch eine freundliche abgewinnen lassen: er hat gemeint, daß jene Herren, die mit den Mobilen und den Chasseurs d’Afrique um die Wette überall in der Nachbarschaft geplündert und Verwüstungen angerichtet, bei Clayes in den Landhäusern Alles kurz und klein geschlagen und die Bauern mit dem Säbel in der Hand gezwungen haben, ihre Wohnungen zu verlassen und in die Wälder zu flüchten, wenn wir nicht da wären, leicht auf den Einfall kommen könnten, dem Schlosse ihren Besuch abzustatten und es am Ende gar niederzubrennen. Möglicher Weise in Folge dieser Betrachtung hat er sich besonnen, daß der Keller des Herrn Baron auch Champagner enthält und daß er uns davon eine Anzahl Flaschen abtreten kann, ohne eine Todsünde zu begehen. Wir fangen auf Grund dieser Meinungsänderung an, uns heimischer zu fühlen.

Man erfährt, daß beim Generalstabe die Nachricht eingetroffen [875] ist, Bazaine, der in Metz lückenlos eingeschlossen sein muß, habe beim Prinzen Friedrich Karl brieflich angefragt, ob die ihm durch ausgewechselte Gefangene zugekommene Kunde von der Niederlage bei Sedan und der Proclamirung der Republik begründet, und der Prinz habe ihm das ebenfalls brieflich und unter Beilegung von Pariser Zeitungen bejaht. Abends werde ich zum Chef hinaufgerufen, der nicht zu Tische erschienen und, wie es heißt, nicht recht wohl ist. Eine kleine steinerne Wendeltreppe, die sich „Escalier particulier de Monsieur le Baron“ nennt, führt mich hinauf in ein sehr elegantes Zimmer, wo der Kanzler im Schlafrock auf dem Sopha sitzt. Ich soll telegraphiren, daß die Franzosen gestern – wir hatten die Kanonenschüsse gehört, aber gezweifelt, ob es solche gewesen – mit drei Divisionen in südlicher Richtung einen Ausfall aus Paris gemacht haben, aber in voller Deroute zurückgeworfen worden sind, wobei sie sieben Geschütze und über zweitausend Mann an Gefangenen verloren haben.

Dienstag, den 20. September, wo der Minister sich von seinem Unwohlsein erholt hat, giebt es reichlicher zu thun, doch gehören Inhalt und Zweck der betreffenden Arbeiten nicht hierher, wie denn überhaupt viele gute Dinge, die gethan, erlebt und gehört wurden, sich selbstverständlich der Mittheilung entziehen. Ich sage das blos, um nicht in den Verdacht zu gerathen, den Feldzug in der Hauptsache als vergnügter Phäake und nicht als rechtschaffener „Soldat von der Feder“ mitgemacht und Augen und Ohren vorzüglich für Nebensachen gehabt zu haben.

Als der Chef ausgegangen ist und seine Aufgaben besorgt sind, wieder Ausflug in den Park, wo die Fasanen auch heute noch keine Ahnung davon zu haben scheinen, daß es hienieden Jäger und Schrotflinten giebt. Bei Tische ist Graf Waldersee aus dem benachbarten Lagny zugegen, wo die zweite Staffel des großen Hauptquartiers untergebracht ist. Er erzählt, daß der Ring von Truppen, der sich um Paris seit einigen Tagen herumzieht, nunmehr sich geschlossen hat und daß der Kronprinz sich in Versailles befindet. Officiere, die in Babel an der Seine gefangen gewesen, haben berichtet, die Mobilgarde sei den regulären Soldaten sehr abgeneigt und werfe ihnen vor, sich bei dem letzten Gefecht feig benommen zu haben, ja, man habe schon auf einander geschossen. In drei Steinbrüchen hat man geflüchtete Bauern gefunden. In einem Walde soll man auf Mobilgardisten gestoßen sein, die man mit Granaten herausgetrieben hätte, und welche dann, da sie Officiere ermordet, mit Ausnahme eines einzigen, „den man (sehr wahrscheinlich Mythenbildung, die immer nach einem und demselben Muster webt und der wir schon wiederholt bei ihrer Arbeit begegnet sind) laufen ließ, damit er die Bestrafung warnend weiter erzähle,“ von den Truppen getödtet worden wären. Endlich sollen sich in Sèvres, zwischen Paris und Versailles, die Einwohner preußische Besatzung zum Schutz gegen die Plünderungen und Mißhandlungen der „Francvoleurs“ und „Moblots“ erbeten haben.

Beim Thee erfährt man noch Einiges über die letzte Verhandlung des Kanzlers mit Jules Favre. Es soll Letzterem dabei bemerkt worden sein, daß man ihm die näheren Bedingungen eines Friedens noch nicht mittheilen könne, da sie erst in einer Versammlung der deutschen Nächstbetheiligten festgestellt werden müßten, daß es aber ohne Abtretung von Land nicht abgehen werde, da wir eine bessere Grenze gegen französische Angriffe haben müßten. Es hätte sich indeß weniger um den Frieden als um die Bedingungen gehandelt, unter welchen wir einen Waffenstillstand bewilligen könnten. Favre hätte sich bei der Erwähnung von Landverlust sehr erregt geberdet und sogar patriotische Thränen vergossen. Der Chef erwartet nicht, daß er wieder kommt. Das ist wohl auch dem Kronprinzen geantwortet, der telegraphisch angefragt hat.

  1. Die späteren Capitel werden illustrirt erscheinen.
    D. Red.
  2. In Wahrheit waren es 17,000.