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Epistel-Postille (Wilhelm Löhe)
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Am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.

Phil. 1, 3–11.
3. Ich danke meinem Gott, so oft ich euer gedenke, 4. (Welches ich allezeit thue in alle meinem Gebet für euch alle, und thue das Gebet mit Freuden,) 5. Ueber eurer Gemeinschaft am Evangelio, vom ersten Tage an bisher. 6. Und bin desselbigen in guter Zuversicht, daß, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen, bis an den Tag JEsu Christi. 7. Wie es denn mir billig ist, daß ich dermaßen von euch allen halte; darum daß ich euch in meinem Herzen habe, in diesem meinem Gefängnis, darinnen ich das Evangelium verantworte und bekräftige, als die ihr alle mit mir der Gnade theilhaftig seid. 8. Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlanget von Herzensgrund in JEsu Christo. 9. Und darum bete ich, daß eure Liebe je mehr und mehr reich werde in allerlei Erkenntnis und Erfahrung, 10. Daß ihr prüfen möget, was das Beste sei, auf daß ihr seid lauter und unanstößig bis auf den Tag Christi, 11. Erfüllet mit Früchten der Gerechtigkeit, die durch JEsum Christum geschehen (in euch) zur Ehre und Lobe GOttes.

 DAs Evangelium von den zehntausend Pfunden und des Apostels freudiges Vertrauen, daß der HErr, welcher in den Philippern das gute Werk angefangen hat, es auch vollenden werde bis auf den Tag JEsu Christi, wie stimmt dieser Doppelinhalt der beiden heutigen Texte zusammen? Wahrlich, man könnte einen Augenblick in Verlegenheit kommen, die Texte zusammen zu reimen, von welchen ich euch so eben den hervorstechenden Inhalt angegeben habe, wenn nicht in dem Knechte, welchem so viel vergeben wurde, der sich aber alsdann durch Härte um allen Segen brachte, doch ein leuchtendes Beispiel gegeben wäre, wie das angefangene Werk des HErrn durch die sündige Verkehrtheit des Menschen aufgehalten und vernichtet werden konnte. Da zeigt also der Knecht, wie man nicht vollendet wird bis zum Tag JEsu Christi. Damit wird das Evangelium zum Widerspiel der Epistel, tritt aber auch eben dadurch mit ihr in Zusammenhang. So wie bei dem ebräischen Parallelismus der Poesie ähnliche und ebensowohl auch entgegengesetzte Gedanken zu einem Verse zusammengefaßt werden, so tritt in den beiden Lectionen des heutigen Sonntags Satz und Gegensatz zusammen. Und wir lernen auf das Ende schauen und uns zur Ewigkeit bereiten in dem einen Texte, wie in dem andern. Laßet euch, lieben Brüder, diese Vereinigung beider gefallen und geht nun mit mir in die liebliche Epistel hinein, welche dem ernsten warnenden Evangelium mit der Kraft der süßesten Lockung zur Seite tritt.

 Diese Epistel zerfällt vor unsern Augen in drei Theile. Der erste, Vers 3–5, enthält des Apostels freudigen Dank für die Gemeinschaft der Philipper am Evangelium vom ersten Tag, da sie es vernahmen bis zu dem Tage, an welchem der Brief geschrieben ist. Der zweite, Vers 6 und 7, legt des Apostels fröhliches Vertrauen vor, daß das in den Philippern angefangene gute Werk auch werde vollendet werden bis an den Tag Christi. Diese Abtheilung bildet den Gipfel und Höhenpunkt des Textes. Die dritte aber, Vers 8–11, redet von dem großen Liebesverlangen des Apostels nach den Philippern und ihrer Vollendung. Alle drei Theile sind Ein schönes Ganzes, beginnend mit Dank, sich gipfelnd im gläubigen Vertrauen, sich senkend und lösend in liebevoller Fürbitte.

 Ich danke meinem Gott, so oft ich euer gedenke (welches ich allezeit thue in allem meinem Gebet für euch alle, und thue das Gebet mit Freuden), über eurer Gemeinschaft am Evangelio vom ersten Tage an| bisher.“ Abermals ein Zeugnis von der Gebetsgemeinschaft des Apostels mit seinen Gemeinden, wie wir erst am 18. Sonntag nach Trinitatis ein ähnliches gelesen haben. Abermals ein vorwurfsvolles Wort wohl für uns alle, die wir kaum von den liebsten Menschen, die wir besitzen, werden sagen dürfen, was St. Paulus in Betreff aller Philipper, also aller ihm bekannt gewordenen einzelnen Christen in der eben angedeuteten Stadt, versichern kann. Er sagt, er bete mit Freuden für die Philipper, für alle und jede, und in einem jeglichen Gebete steigere sich bei ihrer Erwähnung das Gebet zum Dank. Also beten mit Freuden, oft beten, denn auch das liegt in der Stelle, jedes Gebet zum Danke werden laßen, das war die große Fertigkeit und Tugend des heiligen Apostels. Wir aber, beten wir denn mit Freuden für andere, für ganze Gemeinden, für alle und jede? Beten wir oft, und löst sich unser Gebet in Dank auf, wo überall es sich darin auflösen kann? Wer von uns allen hat wohl das gute Gewißen, so etwas von sich selbst zu behaupten? Wir sind meistens so arm und lahm, wenn es gilt die Flügel des Gebetes zu schwingen, zumal für andere, zumal im Dankgebet. Unsere Vergleichung mit dem Apostel fällt traurig aus, noch ehe wir nur wißen, wofür eigentlich der Apostel gedankt hat, ehe wir also nur fragen können, ob wir jemals für diesen Gegenstand ein Dankgebet gesprochen haben. Wie wirds erst sein, wenn wir diesen Gegenstand des Dankes erkannt und uns zum Bewußtsein gebracht haben.

 Der Gegenstand des Dankes ist im 5. Verse des Textes treulich angegeben, er ist nichts anderes, als die Gemeinschaft der Philipper am Evangelio vom ersten Tage an, da sie es hörten, bis zum Tage, da der Apostel schrieb. Die Gemeinschaft am Evangelio ist also dem Apostel so viel werth, daß sie ihm in den Sinn kommt, so oft er betend an die Philipper denkt, daß er sich angetrieben fühlt, dafür zu danken, so oft er für sie betet. Was für Viele von uns vielleicht ebenso wenig ein Gegenstand des Dankes ist, als die Luft, die wir täglich einathmen, das gibt seinem Geiste Feuer und Andacht. Und doch müßen wir sagen, daß die Gemeinschaft am Evangelio ein Ausdruck ist, welcher im bescheidensten Maße eine hochwichtige Sache benennt. Aus der Gemeinschaft am Evangelium entspringt doch alle Gemeinschaft mit Gott, mit Christo, mit Seinen Heiligen. Man ist an der Mutter Brust, man sitzt an der Quelle, wenn man am Evangelium hangt, es hört und aufnimmt, und wer aus dieser Gemeinschaft nicht geht und ihr treu verbleibt, für den ist selbst dann noch zu hoffen, wenn er, weit entfernt, dem Evangelium den Einfluß auf sich zu laßen, welchen die Philipper zuließen, im Gegentheil sein Herz den Kräften des Evangeliums größtentheils verschließt. Wer nur irgendwie noch im Zusammenhang mit dem segensreichen Worte Gottes bleibt, für den kann eine Aenderung eintreten, ehe man sichs versieht, und ein Tag anbrechen, während noch tiefe Mitternacht über Ihm zu liegen scheint. Der Ausdruck „Gemeinschaft am Evangelium“ umfaßt vieles, nicht bloß alle Stufen der Innigkeit unseres Verhältnisses zum göttlichen Worte, sondern auch alles Maß des Segens, welcher aus diesem Verhältnisse fließen kann und fließt. Er kann so inhaltreich sein, daß der Dank eines Apostels daran erglüht, aber auch so klein an Fülle, daß er nur gerade noch hinreicht, ein Herz zu trösten, welches keinen Segen sieht und inne wird. Bei einer solchen Dehnbarkeit des Begriffes und einer so herrlichen Anwendung desselben auf alle Fälle und Zustände, in denen man sein und leben kann, darf man wohl zugestehen, daß uns in demselben Anlaß zu unendlichen Dank gegeben wird. Haben wir bisher den Dank versäumt, so liegt in dem heutigen Texte eine Regung zur Buße und Beßerung, und es wäre uns sehr zu wünschen, daß wir diese Regung nicht übersehen noch übergehen, sondern sie pflegen, wie einen Funken, der leicht verlöschen, aber auch zur hellen Flamme aufschlagen kann.

 Werden wir dankbarer für die Gemeinschaft, so wird damit die Gemeinschaft selber wachsen und zunehmen, auch Kraft gewinnen, sich zu erstrecken von einem Tag zum andern; im Danke für sie liegt zugleich Lebensfristung. Das aber ist ohne Zweifel das nöthigste für uns alle, daß wir in der Gemeinschaft des Evangeliums bleiben bis ans Ende. Der Tag, wo diese Gemeinschaft aufhörte, wäre für uns ohne Zweifel der größte Unglückstag: die Quelle des lebendigen Waßers, welches ins ewige Leben springt, hörte damit auf zu fließen, die ausgereckte Hand einer ewigen Hilfe wäre zurückgezogen. Bei dem Blick auf eine so schreckensvolle Möglichkeit können| wir kaum etwas für nöthiger finden, als den Dank für die bereits bestehende Gemeinschaft. Danke für die Gemeinschaft, die du hast, so wird ihr Segen über dich kommen; vergiß den Dank, so kommt dein inneres Leben in Gefahr.

 Im zweiten Theile unseres Textes spricht der Apostel, wie bereits gesagt, sein Vertrauen aus, daß das in den Philippern begonnene Werk der Gnade auch werde vollendet werden bis an den Tag JEsu Christi: „Ich bin desselbigen in guter Zuversicht, daß, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird es auch vollführen, bis auf den Tag JEsu Christi.“ Vom Anfang bis zu der Abfaßungszeit des Briefes Pauli blieben die Philipper in der Gemeinschaft des Evangeliums und ihr Verharren in der Gnade gab dem Apostel Anlaß zu dem großen Dank, welchen er allezeit Gott um jener Gemeinde willen darbrachte. Die schöne Vergangenheit erweckte zum Dank, denn Gott hatte ja ganz offenbar das gute Werk in den Philippern begonnen. Die Vergangenheit aber machte auch Muth für die Zukunft. Wer in der Wahrheit eine Weile geblieben ist, für den faßt man leicht die Hoffnung, daß er auch ferner darin verharren werde; an der alten Erfahrung, an der dadurch klar gewordenen Möglichkeit des Verharrens im göttlichen Segen entzündet sich bereits die Zuversicht und Hoffnung auf fernere gleichartige Erfahrungen, noch ehe man sich besonnen hat, ob man auch den mächtigen Grund zur Hoffnung habe, welchen St. Paulus hatte. St. Paulus setzte seine Hoffnung wegen der zukünftigen Vollendung der Philipper nicht so wohl auf den bereits gemachten Anfang der Philipper im Guten, als auf den Anfänger des Guten in ihnen, den HErrn selbst. Rührt ein guter Anfang in nöthigen Dingen von dem Allmächtigen her, so wird sich die Zuversicht auf künftige Fortsetzung des Guten desto kräftiger erheben dürfen und können. Vermuthet man schon, daß diejenigen, welche eine Zeitlang der Wahrheit und ihrem Geiste nicht widerstanden haben, auch ferner nicht widerstehen werden, so wird man um so mehr nicht bloß vermuthen, sondern gewis hoffen können, daß der treue Gott, der früherhin Seine Heiligen wunderbar leitete, sie auch ferner leiten, ja sie vollenden werde bis ins ewige Leben. Diese auf Gott gesetzte Hoffnung spricht der Apostel so schön aus, indem er sagt: „Der HErr wird das gute Werk vollführen und vollenden bis auf den Tag JEsu Christi.“ Der Tag der Zukunft JEsu ist der Wendepunkt der Zeiten, wer bis zu diesem Tage ausgehalten hat, der hat gewonnen; von dort an hört Versuchung und Bewährung auf; der treue Jünger JEsu tritt von dort an ein in den Frieden eines ungestörten und ungehemmten Fortschritts, eines unendlichen Zunehmens und Werdens, welches denen die vollkommenste Befriedigung gewährt, die es erfahren. Es braucht sich daher auch die Treue Gottes und Seiner Philipper zunächst gar nicht weiter zu erstrecken, als bis zu dem Tage hin; die Ausdehnung bis dahin ist Vollendung – die Vollendung bis dahin ist Eingang in die ewige Herrlichkeit.

 Nachdem also der Apostel sein Vertrauen auf die Vollendung der Philipper in dieser Weise ausgesprochen und begründet hat, so gibt er noch innere Gründe seines Vertrauens an. Während er den Brief an die Philipper schrieb, lag er selbst zu Rom in Banden, vertheidigte sich und sein Evangelium gegen seine Feinde zwei Jahre lang und bekräftigte allenthalben durch sein Wort und Zeugnis das Evangelium von der Gnade. Er hatte nicht leichte Arbeit. Die Predigt, die er, ein Gefangener zu Rom, that, fand eigentümliche Hindernisse. Bei seiner gesammten schweren Arbeit aber war ihm das Andenken an seine Philipper und die übrigen Gemeinden in Macedonien etwas sehr Tröstliches. Es war ihm, als hätte er, der mühevolle Kriegsmann, an den Philippern ein Heer gleichgesinnter Streiter hinter sich. Sie waren die Genoßen der Gnade, welche er selbst hatte, der Gnade des Glaubens und auch des Leidens für den Glauben; er wußte, daß er nicht allein in seinem Elend war, sondern daß seine lieben Kinder und Brüder zu Philippi des gleichen Elends theilhaftig waren und es mit Freuden um Christi willen ertrugen. Er sah also nicht bloß auf ihre Gemeinschaft am Evangelio vom Anfang bis dorthin, sondern auch auf das gemeinsame innere und äußere Loos, welches sie mit einander theilten, auf die geistige Verwandtschaft, welche zwischen ihnen bestand. Deshalb hatte er sie auch in sein Herz geschloßen, wie er das ausdrücklich sagt, und die Liebe zu ihnen, die ihn erfüllte, machte ihn willig, alles Gute von ihnen zu hoffen, denn die Liebe hofft alles, wie uns am anderen Ort| der eigene Mund des Apostels lehrt. So hatte also der Apostel für sein Vertrauen auf die glückliche Vollendung des guten Werkes in seinen Jüngern nicht bloß die starken Gründe der schon länger bewiesenen Treue der Philipper und Gottes selbst, sondern sein Herz hatte zur Hoffnung den Liebesgrund, einen Grund, welcher den Menschen sogar dann lustig und muthig macht zu hoffen, wenn nichts zu hoffen ist, geschweige dann, wenn sonst schon Grund genug zur Hoffnung vorhanden ist. All diesen Liebesgrund spricht er in den schönen Worten aus: „Es ist mir ja billig, daß ich dermaßen von euch allen halte, darum daß ich euch in meinem Herzen habe in diesem meinem Gefängnisse, darinnen ich das Evangelium verantworte und bekräftige, als die ihr alle mit mir der Gnade theilhaftig seid.

 Es ist, meine lieben Brüder, eine eigene Sache mit der Zuversicht und Hoffnung, welche man im Betreff des Heiles Anderer hat. Mag auch die Liebe den Menschen zur Hoffnung treiben, und die Zuversicht auf Gott da sein, daß er vollenden werde, wie er angefangen hat; so wißen wir doch, daß dem Menschen sein eigenes Heil in die Hände gelegt ist, wenn auch nicht also, daß er es gewinnen könnte, so doch also, daß er es durch seine Schuld aufhalten und verlieren kann. Da ist man denn oft der Liebe gewis, eben so gewis auch der göttlichen Gnade. Dagegen aber hat man keine Zuversicht rücksichtlich des Menschen selbst, für den man Hoffnung faßen will. Es sind nicht alle Leute Philipper, nicht alle leben und bleiben in der Gemeinschaft des Evangeliums, nicht alle können Mitgenoßen der Gnade genannt werden; dagegen aber baut der leichtsinnige Wandel vieler und ihre sichere faule Trägheit Hindernisse für die hoffende Liebe auf, die wahrlich schwer genug sind, wenn es gilt, sie zu überflügeln oder doch zu übersteigen. Gott der HErr schafft alles Gute, er will, daß allen Menschen geholfen werde, und daß sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, sein Geist schafft alle Möglichkeit; aber der Mensch, der Mensch, sein Widerstreben, sein Unwille, seine Untreue! O wie Bleigewichte hängt sich an die Flügel der Hoffnung die Sünde des Menschen an und sie, die durch vereinte Bemühung aller überwunden werden sollte, wird im Gegentheile eine Macht, welche sich der guten Hoffnung der Ueberwindung entgegen stemmt. Alles geht vorwärts, nichts mislingt, wenn der Mensch nicht Hindernis wird. Bei der Eintracht aller heiligen Wesen in Zeit und Ewigkeit uns zu retten und hindurch zu bringen, gibt es gar kein Unglück, als das eine, welches wir selbst stiften, und welches daher um so mehr uns selbst zur Last und Verantwortung fällt. Darum prüfe ein jeder sich selbst, ob er nicht aller Hoffnung seines ewigen Heiles selbsteigener Mörder sei, ob er nicht schuld ist, daß denen, welche ihn lieben, die selige Freude der Hoffnung verderbt und getödtet wird.

 Bis hieher, lieben Brüder, wurden unsere Gedanken von denen des Apostels im zweiten Theile unseres Textes regiert. Nun aber gehen wir zum dritten Theile, zu der herrlichen Aeußerung des Liebesverlangens St. Pauli nach den Philippern und ihrer Vollendung über: „Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Christo JEsu.“ Ein Schwur St. Pauli, zu dem ihn kein Mensch aufgefordert, zu welchem ihn aber die Liebe gedrungen hat, welche zu allem berechtigt, auch zum Schwur. Ein unnöthiger Schwur, ein völlig freiwilliger, der auch mit dem puren Ja das Ja ist, vertauscht und durch dasselbige verhindert werden konnte, welchen aber dennoch kein Mensch aus dem neuen Testamente hinwegwünschen wird, der auch kein Widerspruch ist des edlen einfachen Ja, welches Ja ist, mit nichten verboten, sondern im Gegentheil ein heiliges edles Werk, ein Ueberfluß göttlicher Liebe, unnachahmbar für andere, welche sich ein Maß der Liebe, welche zu Solchem befähigt, nicht zuschreiben können. Der Apostel sagt, es verlange ihn nach den Philippern, und Martin Luther übersetzt den Beisatz, durch welchen dieses Verlangen genauer charakterisirt wird, mit den Worten: „Vom Herzensgrund in Christo JEsu.“ In dem Urtext ist aber die Bezeichnung der Liebe und des Verlangens Pauli noch eine viel stärkere; da heißt es geradezu: „Mich verlangt nach euch in den Eingeweiden JEsu Christi,“ oder wie wir etwa sagen würden: in dem Herzen JEsu. Gewis ein Ausdruck, der für uns nicht so geradehin verständlich und eben deshalb der Deutung fähig und bedürftig ist. Wie man ihn aber auch deute, immerhin wird er eine außerordentliche, der Liebe Christi selbst ähnliche Liebe bedeuten und eine Inbrunst,| die des Herzens Christi würdig, die also rein ist nach der Aehnlichkeit der reinen Liebe JEsu und stark nach der Aehnlichkeit Seiner starken Liebe. Solche Ausdrücke können uns wohl zur Bewunderung der apostolischen Liebe hinreißen, aber sie werden auch geschickt sein, unsere große Liebesarmuth an den Tag zu bringen. Wer von uns allen würde es denn wagen, dem Apostel nach einen heiligen Schwur der Bruderliebe und des brünstigen Verlangens nach der Liebe JEsu zu thun? Dies Wort Gottes kann uns daher zu nichts anderem dienen, als zur Strafe und zur Buße und unsere gesammte Beßerung in diesem Stücke müßte aus dieser Buße hervorgehen.
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 Wie wir bereits oben gesagt haben, vollendet und löst sich das Liebesverlangen des Apostels in Gebet auf. Voraus läßt sich denken, daß St. Pauli Gebet für eine Gemeinde, welche so ganz die seine war und wie aus einem Herzen gewachsen, auch völlig den Bedürfnissen dieser Gemeinde angemeßen sein werde. Diese Erwartung finden wir auch vollkommen gerechtfertigt durch die Betrachtung des in den letzten Versen unseres Textes offen vorliegenden Gebetsinhaltes. Das Hervorstechende an der Gemeinde von Philippi ist die Liebe, Liebe zu Gott und Seinem Christus, die sich auch in großer Liebe gegen den Apostel kund gibt. Was ihr etwa mangelt, ist der reiche volle Fortschritt in der Erkenntnis, der allen nöthig ist, welche in den vorkommenden mancherlei Fällen des Lebens das Rechte treffen, und unter den mancherlei Wegen, die sich zuweilen zu dem Einen großen Ziele eröffnen, den besten betreten wollen. Von diesem Fortschritt in der Erkenntnis hängt dann wieder so gar oft der rechte Fortschritt in den guten Werken und die Reife edler Früchte ab. Wer nicht erleuchtet ist, wie er sein sollte, dem mangelt zu den guten Werken das rechte Licht. So erbittet denn der Apostel seinen Philippern Fortschritt in der Erkenntnis und eine große Fülle von Früchten und guten Werken. Merkwürdiger Weise aber macht er die Erfüllung beider Bitten von einem Fortschritt in der Haupttugend der Philipper, in der Liebe, abhängig, so daß er vor allen um Liebesmehrung betet. So sind es also eigentlich drei Bitten, welche St. Paulus für die Philipper im Herzen trägt: eine Bitte um Liebe, eine zweite um Erkenntnis, eine dritte um allerlei gute Früchte und edle Werke. „Das bete ich, daß eure Liebe noch mehr und mehr überfließe in Erkenntnis und allerlei Erfahrung.“ Das sind die Worte des Apostels, aus denen ihr sehet, daß er um Liebesmehrung betet, auf daß die Erkenntnis völliger werde. Merkwürdig ists, daß mit der Erkenntnis noch das verbunden wird, was ich so eben vorläufig nach Luthers Uebersetzung mit dem deutschen Worte „Erfahrung“ zu geben suchte. Schon unter der Erkenntnis ist hier nicht jene bloß wißenschaftliche oder verstandesmäßige Erkenntnis verstanden, welche man auch ohne Liebe haben kann, sondern es ist eine Frucht der Liebe gemeint, ein liebevolles Eingehen auf die göttliche Wahrheit und das ganze Gebiet des inneren Lebens, auf dem sie sich geltend machen muß. Was aber das Wort „Erfahrung“ betrifft, so steht im Griechischen ein Wort, welches nicht eigentlich von Erfahrung redet, sondern etwas bezeichnet, was wir im gemeinen Leben oft Takt, feinen Takt nennen, was man ein von der Erkenntnis durchdrungenes Gefühl und zarte Empfindung für die mannigfaltigen Abstufungen und Färbungen des Rechten und Wahren nennen könnte. Die Liebe soll die Erkenntnis der Philipper nicht bloß reiner und sicherer, sondern auch zarter machen, sie sollen durch die Liebe gewissermaßen Fühlhörner bekommen, ein vorausgreifendes ahnendes weißagendes Vermögen deßen, was in allen Fällen der Geist der Wahrheit als geziemend bezeichnet. Dieses Vermögen bedürfen die Philipper, „daß sie prüfen mögen, was das beste sei, auf daß sie seien lauter und unanstößig bis auf den Tag JEsu Christi.“ Luther übersetzt, sie sollen prüfen, was das beste sei: dem Wortlaute nach aber heißt es, sie sollen die Unterschiede prüfen. Es kann jemand allewege einen guten Willen haben, wenn ihm aber die eingehendere Erkenntnis und der Takt fehlt, von welchem St. Paulus redet, so ist er nicht fähig, in seinem Verhalten je nach den Winken des Geistes der Wahrheit sich allewege lauter und unanstößig zu verhalten; es mangelt ihm alsdann zu sehr der Prüfungssinn, und die Fertigkeit eines allzeit wachen und in allen Stücken der göttlichen Wahrheit dienenden Geistes. Wir können es alle Tage sehen, was für ein Unterschied zwischen Christen und Christen ist. Es können zwei Menschen, jeder | für sich ganz unzweifelig Anhänger und Diener JEsu Christi sein, dennoch kann das Verhalten des einen im Vergleiche mit dem des andern sich unterscheiden, wie Himmel und Erde, wie Rohheit und edle Bildung, und während der eine mit seinem Wandel nach allen Seiten hin befriedigt, kann der andere an allen Orten und Enden Anstoß erregen. Das Verhalten des einen kann eine lautere Offenbarung, das des anderen eine Verhüllung des inwendigen Lebens sein. So viel kommt darauf an, daß man den rechten Takt und Prüfungssinn habe, von welchem St. Paulus redet, und daß man die Unterschiede erkenne, die auch dann noch vorhanden sind und sich geltend machen, wenn man im Ganzen und Allgemeinen bereits Christo dem HErrn angehört. Man muß lauter, d. i. durchleuchtig, so vom Geiste durchdrungen werden, daß, genau am Worte und Bilde des Wortes zu bleiben, welches St. Paulus braucht, auch der helle Sonnenstrahl des Auges Gottes an und in uns nichts Böses findet. Dahin muß man streben, diese Stufe für sich und andere erbitten, und von dieser Stufe hängt dann auch das ab, was St. Paulus seinen Philippern drittens wünscht. Sie sollen erfüllt werden mit Früchten, oder wie andere lesen, „mit Frucht der Gerechtigkeit, die durch JEsum Christum geschieht zur Ehre und zum Lobe Gottes.“ Ein Mensch, der jene feinere Erkenntnis, und jenen erwünschten Takt nicht hat, von welchem unser Text spricht, wird auch schwerlich jene reiche Menge von allerlei Früchten eines heiligen edlen und schönen Lebens Gott seinem Schöpfer und Erlöser bringen, welche in unserem Texte angedeutet ist. Es sei mir ein Gleichnis gestattet, welches, wenn auch nicht von Bäumen und Früchten hergenommen, vielleicht doch ganz wohl den Unterschied bezeichnen kann, welcher zwischen der hohen Bildung eines Menschen ist, wie sie St. Paulus will, und dem Zustand eines andern, der sich damit begnügt, in irgend einem Maße mit Christo verbunden zu sein. Ein Steinmetz haut mit roher Hand und grobem Meißel ein Christusbild aus, ein Meister in der Bildhauerei thut in seiner Weise dasselbe: was für ein gewaltiger Unterschied ist zwischen den beiden Arbeiten! In beiden erkennst du, daß dir dein Erlöser vor Augen gestellt wird, aber während das rohe Bild vom Steinmetz nur wie ein Zeichen und eine Erinnerung deßen ist, was es soll und will, so vermochte die Hand des Künstlers der Idee nahe zu kommen, die man von einem Christusbilde hat: bei jenem erinnert die Arbeit im Ganzen an den HErrn, bei diesem die Ausführung jedes einzelnen Theiles. So ist auch der Mensch, der sich durch Liebe zu einer solchen lichten und heiligen Erkenntnis treiben läßt. Er bildet seinen HErrn Christus nicht bloß im Allgemeinen vor, sondern auch in allem Einzelnen. Nicht bloß sein Leben im Ganzen ist eine Frucht des christlichen Geistes, sondern auch sein Verhalten nach allen Seiten hin und in allen einzelnen Dingen. Er ist nicht ein Baum, der seinem HErrn eine einzige große, grobe plumpe Frucht trägt, sondern ein solcher, deßen Aeste und Zweige die reichste schönste Fülle einer heiligen Ernte der Gerechtigkeit seinem Schöpfer zum Opfer bringen.

 Wahrlich, meine Brüder, hier finde ich mich ganz in dasjenige versetzt, was auch ich Euch zu erbitten habe. Der rothe Indianer in Nordamerika nimmt allenfalls das Christentum an, aber er will dabei in seiner Wildnis und ein wilder Mensch bleiben. Er flieht und haßt die Früchte der aus dem Geiste Christi wie von selbst fließenden heiligen Bildung. Nicht gerade so, aber ähnlich verhält es sich mit dem Christentum unserer Landleute. Die verderbte väterliche Sitte, die gesammte Rohheit und all der Schmutz des Lebens und Daseins, welcher unser Landvolk so widerlich entstellt, bleibt unverändert auch bei denjenigen, die ihre Herzen Christo zuneigen. Von eingehender Erkenntnis, von Takt und Gefühl für das Gute und Schöne ist da nicht einmal eine Sprache und wie die Waldbäume keine Aepfel oder Birnen tragen, so sucht auch der HErr vergeblich an Seinen meisten Kindern auf dem Lande die Früchte eines durchleuchtigen, unanstößigen, unterscheidenden, gerechten Wesens. Daher habe ich für die meisten, auch die beßeren unter Euch nicht leicht einen Text zu finden, der mehr ausspräche, als der heutige epistolische Text, was ihr bedürfet. Möchte ich doch beten und beten können, wie Paulus für seine Philipper, und erhört sein, wie er. Möchte der ewige Hohepriester selbst für euch beten, ihr aber keinen Widerstand leisten gegen die Bitte und Erhörung, die euch so nöthig ist. Amen.




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