Eine erste Vorstellung im königlichen Schauspielhaus zu Berlin

Textdaten
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Autor: Max Ring
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Titel: Eine erste Vorstellung im königlichen Schauspielhaus zu Berlin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 64–66
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine erste Vorstellung im königlichen Schauspielhause zu Berlin.

Das hört sich ganz leicht an und ist doch unendlich schwer. Der junge Dichter, der sein erstes Drama geschrieben hat und von großen Erfolgen, von Ruhm und glänzenden Tantièmen träumt, hat so wenig wie das Publicum eine Ahnung von den Hindernissen, Zufälligkeiten, Kabalen und Unannehmlichkeiten, womit eine erste Vorstellung verbunden ist. Jährlich werden bei der königlichen General-Intendanz in Berlin mehr als dreihundert Stücke eingereicht, von denen kaum zehn zur Annahme sich eignen und höchstens zwei einen Erfolg haben. Die Prüfung dieses kaum zu überwältigenden Materials ist eine wahre Sisyphus-Arbeit, welche hauptsächlich auf den Schultern des Intendanturraths, Doctor Titus Ullrich, ruht, der als ausgezeichneter Dichter und ebenso humaner wie geistvoller Kritiker der „National-Zeitung“ sich bereits früher einen hoch geachteten Namen erworben hat, weshalb Herr von Hülsen ihn mit diesem bedeutenden Amte betraute. Derselbe ist verpflichtet, alle eingegangenen Stücke zu lesen und darüber ein kurzes, motivirtes Urtheil zu fällen, außerdem die ganze Correspondenz mit den Schriftstellern, Schauspielern und Bühnenleitern zu führen, wozu eine nicht gewöhnliche Kenntniß der deutschen, französischen, englischen und italienischen Sprache erforderlich ist.

Jedes eingereichte Manuscript wird von ihm erst einer sorgfältigen Prüfung unterworfen und entweder zur weiteren Lesung empfohlen oder zurückgelegt. Nach dieser Sichtung der Spreu von dem Weizen gelangen die nur einigermaßen tauglichen Stücke in die Hände seines literarischen Beiraths, der aus einigen sachverständigen, unparteiischen Schriftstellern und Gelehrten besteht und das frühere sogenannte Lesecomité ersetzen soll. Was aus diesem kritischen Fegefeuer hervorgeht, gelangt zunächst an den Director Hein, einen durch tüchtige Bühnenpraxis, ästhetische Bildung und technische Leistungen rühmlichst bekannten Regisseur. Die letzte Entscheidung jedoch hängt einzig und allein von dem General-Intendanten Herrn von Hülsen ab, der selbst die ihm so empfohlenen Stücke liest und nochmals prüft. Trotz aller Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit kommen noch immer zuweilen Mißgriffe und Täuschungen bei dieser Auswahl vor, da bekanntlich nichts schwerer ist, als den Erfolg eines Dramas vor der Aufführung zu bestimmen. Selbst der geübteste Kritiker und erfahrenste Bühnenleiter kann sich in dieser Beziehung irren, wie zahlreiche Beispiele zeigen. So wurde unter Anderm das bekannte Lustspiel „Rosenmüller und Finke“ von Töpfer von dem damaligen Lesecomité zurückgewiesen, trotzdem aber auf besonderen Wunsch des damaligen General-Intendanten, Herrn von Küstner, gegeben und von dem Publicum mit rauschendem Beifalle begrüßt. Dasselbe Schicksal hatten Freytag’s „Journalisten“; von der königlichen Bühne wegen der damaligen Zeitverhältnisse abgelehnt, gelangten sie auf dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater mit so glänzendem Erfolge zur Aufführung, daß die Intendanz sich bewogen fand, später das Freytag’sche Lustspiel ebenfalls zu bringen. Aber auch die entgegengesetzte Erfahrung wird nicht selten gemacht, daß nämlich Stücke, von denen man sich vorher eine große Wirkung verspricht, von dem Publicum kalt aufgenommen werden und nach den drei üblichen Gnadenvorstellungen vom Repertoire sang- und klanglos verschwinden.

Gerade die königliche Bühne ist bei der Wahl der Stücke durch ihre eigenthümliche Stellung vielfach gefesselt und zu Rücksichten verpflichtet, welche die Privattheater nicht zu nehmen haben. Zunächst hat das königliche Institut die ehrenvolle Aufgabe, die wahre Kunst zu pflegen, das Talent aufzumuntern und vor Allem das classische, vaterländische Drama zu fördern, was auch von seiner Seite nach Kräften geschieht. Ein Hauptverdienst hat sich Herr von Hülsen dadurch erworben, daß er nicht wie andere Bühnenleiter die französische dramatische Literatur auf Kosten der deutschen begünstigt. Selbstverständlich werden alle die bestehende Regierung, die Religion und Sittlichkeit verletzenden Dramen ausgeschlossen, Possen und Uebersetzungen nur ausnahmsweise zugelassen, wodurch allerdings bei der Dürre der dramatischen Production das Repertoire eine gewisse, durch die Verhältnisse gebotene Beschränkung erleidet.

Nachdem das Stück glücklich all die Prüfungen überstanden [65] hat, worüber gewöhnlich mehrere Wochen vergehen, erhält der Verfasser eine schriftliche Anzeige. Mit Ungeduld erwartet er jetzt die Aufführung, welche sich jedoch Monate lang und in einzelnen Fällen über Jahr und Tag hinauszieht. Bald sind es bereits früher eingegangene Verpflichtungen, bald Ueberbürdung der Schauspieler mit andern dringenden Aufgaben, bald bereits abgeschlossene Gastspiele, welche diese unangenehme Verzögerung herbeiführen. Natürlich kann man der Intendanz nicht verdenken, wenn sie den Werken anerkannter Schriftsteller oder solchen Stücken den Vorzug giebt, von denen sie sich einen besonders günstigen Erfolg verspricht.

Eine nicht geringe Schwierigkeit bietet die Besetzung der Rollen, wobei so viel wie möglich die Wünsche des Verfassers beachtet werden. Aber auch bei dieser wichtigen Angelegenheit kommen die keineswegs so einfach daliegenden Bühnenverhältnisse in Betracht. Gerade die besten Schauspieler, denen der Autor seine Arbeit vorzugsweise anvertrauen möchte, sind am meisten beschäftigt und durch anderweitige Leistungen so sehr in Anspruch genommen, daß sie ohne Störung des Repertoires keine neue Rolle lernen können; zuweilen, wenn auch selten, bietet das sogenannte Rollenmonopol und die gegenseitige Eifersucht der Schauspieler unerwartete Hindernisse, oder ein und der andere Künstler ist mit der ihm zugetheilten Aufgabe nicht zufrieden und sucht sich derselben zu entledigen. In solchen Fällen bedarf es der größten Energie von Seiten der Intendanz, der feinsten Diplomatie von Seiten des Schriftstellers, um die vorgeschlagene Besetzung zu erzielen.

Nach Erledigung dieses wichtigen Punktes wird ein Tag für die Abhaltung der Leseprobe angesetzt, wobei sämmtliche in dem Stück auftretende Schauspieler ihre Rollen in Gegenwart des Regisseurs sich gegenseitig vorlesen, um den Inhalt desselben kennen zu lernen. Leider wird in Deutschland und auch in Berlin der Leseprobe keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und der Dichter nur ausnahmsweise hinzugezogen, obgleich er doch allein den besten Aufschluß über den Geist und die Intentionen seines Werkes, sowie über die Natur der von ihm geschilderten Charaktere zu geben vermag. Dieser Mangel ist um so mehr zu bedauern, als häufig das Schicksal eines Stückes von dem richtigen Verständniß der Dichtung abhängt, die lebendige Wechselwirkung zwischen dem Verfasser und den Künstlern das Interesse an der Aufführung steigert und wesentlich zum Gelingen des Ganzen beitragen muß. Außerdem kann der Autor bei der Leseprobe etwaige praktische Winke und Vorschläge benutzen, nothwendige Streichungen, Anordnungen und Verbesserungen vornehmen, was später, wenn einmal die Rollen gelernt worden sind, schwer oder ganz unmöglich ist.

Wieder vergehen einige Wochen, welche der Regisseur zur Einrichtung und Inscenirung, zur Beschaffung der zu brauchenden Costüme und Decorationen, die Schauspieler zum Auswendiglernen und Studium ihrer Rollen verwenden, worauf die eigentlichen Proben beginnen. Während in Frankreich gewöhnlich fünfzehn bis zwanzig Proben bei einem neuen Stück stattfinden, so daß der Souffleur fast überflüssig wird, läßt man sich in Deutschland in der Regel mit deren drei bis vier genügen. Hauptsächlich dient die erste Probe nur dazu, die verschiedenen Stellungen zu marquiren, die Gruppirung anzugeben und den dabei anwesenden Inspicienten auf die zur Verwendung kommenden Requisiten aufmerksam zu machen. Die Mehrzahl der Schauspieler hat die Rollen noch nicht inne und spricht dieselben ohne Ausdruck und Mienenspiel, wobei der Souffleur fortwährend dem schwachen Gedächtniß zu Hülfe kommen muß. Häufig unterbricht der auf der Bühne sitzende Regisseur den Dialog mit seinen Bemerkungen, indem er bald eine falsche Stellung oder die unrichtige Betonung eines Wortes rügt, bald dem Inspicienten oder den Schauspielern eine nöthige Weisung giebt. Der arme Dichter, welcher indeß nur selten der ersten Probe beiwohnt, empfindet dabei Höllenqualen, wenn er die Gleichgültigkeit bemerkt, mit der die Schauspieler vorläufig das Werk seiner Nächte behandeln.

Nicht viel besser geht es auf der zweiten Probe her; erst in der dritten und noch mehr bei der Generalprobe strengen sich die Schauspieler an, ihren Rollen gerecht zu werden, wozu die Gegenwart des General-Intendanten mit beiträgt. Jetzt erst gewinnt das Ganze eine gewisse Abrundung, greifen die Scenen rascher und sicherer in einander, so daß der anwesende Dichter einen klaren Einblick in sein eigenes Werk erhält. Es ist eine Lust, zu sehen, wie durch begabte Darsteller Fluß und Ebenmaß, Zug und Feuer in die Gestaltung und Veranschaulichung eines Stückes kommt, wie alles sich unter Künstlerhand klärt und formt. Dieses Wachsen und Werden, geleitet und gelenkt durch den Regisseur, gewährt ein überaus belebtes, oft durch komische Intermezzos unterbrochenes Bild, und erst wenn alles klappt und stimmt, wenn Wort und Seufzer, Sturm und Donner, Versenkung und Verwandlung präcis und prompt von Statten gehen, treten gleichzeitig die Mängel und Vorzüge des Stücks deutlicher hervor; denn erst bei einigermaßen abgeklärter Darstellung zeigt sich der geistige und künstlerische Werth einer dramatischen Arbeit. Dann kann es wohl auch vorkommen, daß noch in der letzten Stunde die bereits angekündigte Aufführung wegen nöthiger Veränderungen verschoben wird, oder auch gänzlich unterbleibt, wie dies vor nicht langer Zeit einem namhaften Bühnendichter geschehen ist – ein unangenehmer Vorfall, der vielleicht durch eine strenger gehandhabte Leseprobe sich vermeiden ließe.

Endlich kommt der langersehnte Tag der ersten Vorstellung, wenn nicht noch im letzten Augenblicke durch eine plötzliche Erkrankung eine Abänderung nothwendig wird, weshalb der Verfasser mit ängstlicher Sorge die Gesundheit der in seinem Stück beschäftigten Schauspieler überwacht. Gewöhnlich werden bei jeder neuen Aufführung die Billete schnell vergriffen und, wenn das Publicum sich einen besondern Genuß oder einen kleinen Scandal verspricht, die Plätze den Unterhändlern doppelt und dreifach bezahlt. An dem bestimmten Abend füllt sich das Haus vorzugsweise mit den Theaterfreunden, welche so leicht keine Novität zu versäumen pflegen. Gewöhnlich sieht man eine große Anzahl bekannter Personen und dieselben Gesichter immer wieder bei einer solchen Gelegenheit. Wenn auch das Theater nicht mehr die Bedeutung wie in früherer Zeit hat und durch andere Interessen abgelöst worden ist, so übt doch eine erste Vorstellung noch jetzt einen eigenen Reiz auf die Bewohner der Residenz. Das Berliner Publicum zeigt dabei eine ganz eigenthümliche Physiognomie und erscheint besonders im königlichen Schauspielhause weit kritischer, anspruchsvoller, schonungsloser, zur Parteinahme und Opposition mehr geneigt als bei andern dramatischen Aufführungen.

Einen Hauptbestandtheil desselben bilden die Damen und Herren der Börsenaristokratie, welche sich amüsiren und jede neue Erscheinung kennen lernen wollen, um darüber mitsprechen zu können und weil es einmal zum guten Tone gehört. Dann kommen die Freunde und Gegner des Dichters, mit der Absicht, entweder zu nützen oder zu schaden, die Vertreter der Presse und die Berichterstatter der verschiedenen Zeitungen, die gerade zur Zeit anwesenden Fremden und Abgeordneten des Reichstages, die Verwandten und Verehrer der Schaupieler und besonders der Schauspielerinnen, endlich die große Zahl der Indifferenten, stets bereit, sich dem Urtheile einiger Stimmführer oder der Majorität anzuschließen. Zu bedauern ist es, daß gerade der Gelehrtenstand und die intelligente Beamtenwelt nur sparsam erscheint, woran wohl hauptsächlich die hohen Preise und der Mangel an Zeit die Schuld tragen mögen. Weit mehr als in andern, selbst kleinern Städten macht sich aus diesem Grunde in Berlin der Mangel an einem tiefern Verständnisse und an einem höhern Interesse auf dem dramatischen Gebiete bemerkbar, wenn auch unserm großen Publicum keineswegs die Freude am Theater, ein instinctmäßiges Gefühl für das Gute und Schöne und ein meist zutreffendes, scharfsinniges Urtheil abgeht. Leider aber werden diese Vorzüge wieder durch das absprechende Wesen und den negirenden, Alles zersetzenden und bekrittelnden Verstand des Berliners getrübt, der theils aus Ueberhebung, theils aus Furcht, sich durch seine Begeisterung lächerlich zu machen, sich mehr ablehnend als anerkennend verhält und jede neue Erscheinung mit einem gewissen kalten Mißtrauen begrüßt, bis er sich erst von ihrem wahren Werthe vollkommen überzeugt hat.

Mit dieser Stimmung des Publicums hat jede erste Vorstellung mehr oder minder zu kämpfen. Außerdem fehlt es nicht an Gerüchten und Bemerkungen über das neue Stück, welche nicht immer aus der reinsten Quelle fließen und nicht selten im Voraus ein ungünstiges Vorurtheil erwecken. Mit Ungeduld erwarten die Zuschauer das Zeichen zum Beginne der Aufführung. Langsam steigt der Vorhang in die Höhe, und die Exposition nimmt ihren Anfang, häufig von dem Lärme der auf- und zuklappenden Sitze [66] des Parquets übertönt und durch das Geräusch der Zuspätkommenden gestört. Nach und nach wird das Publicum aufmerksamer und folgt bald mit größerm, bald mit geringerm Interesse dem Gange der Handlung. Zuweilen applaudiren schon am Schlusse des ersten Actes einige Freunde des Dichters, und die Claque, welche nicht fehlt, macht einen schwachen Versuch, den beliebten Helden oder die erste Liebhaberin herauszurufen.

Im zweiten Acte steigert sich im günstigen Falle die Theilnahme oder die Spannung. Einzelne besonders gelungene Scenen und poetische Schönheiten werden beifällig aufgenommen und lebhaft beklatscht und die eleganten Toiletten der Schauspielerinnen von den anwesenden Damen bewundert. Mitunter verdankt der Dichter dem schönen Kleide und dem reizenden Aussehen einer beliebten Künstlerin einen Erfolg, den er am wenigsten erwartet hat, oder der Ungeschicklichkeit eines untergeordneten Statisten, der eine falsche Meldung macht und über seinen Degen stolpert, eine Störung, die ihn zur Verzweiflung bringt.

Entscheidend ist der dritte Act, in dem sich gewöhnlich der dramatische Conflict steigert, die Charaktere wachsen und die Handlung ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Falle, wenn die Schauspieler noch dazu Gelegenheit finden, ihr Talent zu zeigen, und für überraschende Scenen und glänzende Abgänge gesorgt worden ist, wird der Beifall allgemein und rauschend. Selbst der erste Rang applaudirt gegen seine sonstige Gewohnheit, und der glückliche Dichter wird so lange gerufen, bis er die Neugierde der Zuschauer durch sein Erscheinen befriedigt und mit der hergebrachten linkischen Verbeugung dankt. Nicht immer leuchten die Sterne so günstig, und weit öfter ist der Erfolg ein zweifelhafter oder trauriger. Der Vorhang fällt, ohne daß sich eine Hand rührt, oder ein ominöses Zischen macht sich bereits bemerkbar. Manchmal kämpfen noch die bösen mit den guten Geistern und in den Applaus der Freunde und der Claque mischen sich die minder angenehmen Laute der Opposition, bis die eine oder andre Partei den Sieg behält.

In den darauf folgenden Zwischenakten eilt die Menge nach dem Corridore und der Conditorei, theils um frische Luft zu schöpfen, theils um die materiellen Bedürfnisse neben den geistigen zu befriedigen, wobei Bekannte und Freunde ihre Meinungen und Urtheile über das neue Schauspiel austauschen. Hier wird der Mangel an Handlung getadelt, dort die poetische Sprache und die Charakteristik gelobt, das Spiel der Künstler gerühmt oder bemängelt. Am härtesten urtheilen die Collegen des Dichters, deren Stücke entweder zurückgewiesen oder durchgefallen sind, die Agenten und Recensenten der Theaterblätter, welche mit dem Verfasser oder der Intendanz nicht auf freundschaftlichem Fuße stehen. Um die tonangebenden Kritiker der großen politischen Zeitungen, meist hochgebildete und unabhängige Männer, sammeln sich mehr oder minder dichte Gruppen, begierig die Ansichten derselben zu hören und eine geistreiche Bemerkung zu erlauschen, um dieselbe sich anzueignen und weiter zu colportiren. Mancher Recensent, dem es an selbstständigem Urtheile fehlt, schöpft seine Weisheit aus diesen flüchtigen Unterhaltungen des Corridors in den Zwischenacten.

Das Zeichen mit der Glocke unterbricht die Conversation und ruft das Publicum auf seine Plätze. Der vierte und der fünfte Act, diese besonders scharfe Klippe für den Verfasser, verlaufen ohne besondere Störung, außer daß sich vielleicht das Interesse gegen das Ende sehr abschwächt. Am Schlusse müssen die Hauptdarsteller und der Verfasser noch einmal erscheinen, wenn das Stück gefällt, und die erste Liebhaberin erhält wohl auch von einem begeisterten Verehrer ein prächtiges Bouquet oder einen Lorbeerkranz zugeworfen. Im entgegengesetzten Falle folgt ein tiefes Schweigen oder ein lautes Zischen, das sich nur selten zu einem wirklichen Theaterscandale steigert.

Man würde jedoch Unrecht thun, wenn man den Erfolg einer ersten Vorstellung für maßgebend halten wollte. Die Erfahrung lehrt zuweilen, daß Stücke, welche mit vielem Beifall gegeben worden sind und in denen der Verfasser mehrere Male gerufen wurde, schon nach wenigen Aufführungen wieder vom Repertoire verschwinden und sich nicht behaupten können. In der That ist das Publicum mit seinen Launen und Stimmungen unberechenbar, heute überaus freundlich und nachsichtig, morgen kalt und streng. Dazu kommen noch verschiedene Zufälligkeiten, von denen der Erfolg mehr oder minder abhängt. So erzählt Herr von Putlitz, der bekannte Dichter, in seinen „Theater-Erinnerungen“ von einer Aufführung seines Schauspiels „Die blaue Schleife“: „Das Publicum war freundlich, aber nach und nach schien es mir, als ließe die Theilnahme nach und man finge an, sich zu langweilen. Da verfiel die liebenswürdige Frau von Lavallade, mit der ich seit längerer Zeit befreundet, und mit der ich an dem Abend zufällig in derselben Parquetloge zusammengetroffen war, auf ein freundliches Mittel. Sie fing an, sich zu amüsiren, spielte so vortrefflich die Amüsirte, sprach das so sichtlich aus, daß die ganze Umgebung auf sie aufmerksam werden mußte. Das Mittel half wirklich. ‚Nun, wenn die Dame sich so unterhält bei dem Stücke und es so reizend findet, muß es wohl amüsant sein,‘ dachten die Leute, und die Theilnahme, die schon im Erschlaffen war, belebte sich auf’s Neue. Das Mittel ist zu empfehlen, aber es bedarf einer so wohlwollenden Freundin, die zugleich so vortreffliche Darstellerin ist, als Frau von Lavallade es war.“

Es vermag, wie diese kleine, charakteristische Geschichte lehrt, ein einziger wohlwollender Freund eine günstige Stimmung hervorzurufen, aber die Feinde vermögen auch das Gegentheil zu bewirken. Wie Heiterkeit und Lachen, so ist auch Langeweile und Unruhe ansteckend, und das Publicum in seiner Gesammtheit für jeden äußern Eindruck weit leichter empfänglich, als der einzelne Zuschauer. Ein Wort, eine komische oder böswillige Aeußerung, selbst eine Miene kann ein Stück zum Falle bringen, wie ich das selbst schon erlebt habe. In dem Drama „Columbus“ eines berühmten Aesthetikers rief in der ergreifenden Scene, wo der Held die neue Welt erblickt und seine Begleiter „Land! Land!“ jubeln, ein Besucher der Galerie: „Das steht ja in Becker’s Weltgeschichte.“ – Der schlechte Witz wurde applaudirt, belacht und zerstörte die ganze Illusion, sodaß die werthvolle Dichtung nur einen Achtungserfolg errang.

In einem anderen Schauspiele eines ältern, namhaften Berliner Schriftstellers und Kritikers, in dem der sterbende Franz von Sickingen, auf den an seinem Todtenlager stehenden Philipp von Hessen deutend, sagt: „Was ich gewollt, wird Euch dieser verkünden,“ riefen einige lustige Studenten nach dem Fallen des Vorhanges zur Verwunderung des übrigen Publikums nicht den Hauptdarsteller, sondern den Schauspieler, welcher die unbedeutende Nebenrolle des Philipp gab, so lange hervor, bis derselbe endlich erschien. Eine tiefe Baßstimme fragte den Ueberraschten: „Was hat Franz von Sickingen gewollt?“ – und versetzte dadurch dem Stücke einen schweren Streich, von dem es sich nicht wieder erholte. – Ebenso kann die Ungeschicklichkeit eines verlegenen Statisten, die verzeihliche Gedächtnißschwäche eines Schauspielers, ein zweideutiger oder verkehrt gesprochener Satz ein unauslöschliches Gelächter hervorrufen und den schädlichsten Einfluß auf die Stimmung üben.

Nicht selten vernichten die an den folgenden Tagen in den Zeitungen erscheinenden Besprechungen den bereits errungenen Erfolg des ersten Abends. Obgleich man der Mehrzahl der Berliner Kritiker ein richtiges Verständniß, eine tüchtige Bildung und meist auch eine große Unparteilichkeit nachrühmen muß, so liegt es doch einigermaßen in der Natur ihres Amtes und in dem ganzen angeborenen Wesen des Berliners, mehr die Fehler, Schwächen und Lächerlichkeiten hervorzuheben, als die Vorzüge und guten Seiten einer neuen Erscheinung anzuerkennen. So mancher frische Lorbeerkranz des zwei oder drei Mal gerufenen Dichters wird noch hinterher mit schonungsloser Hand zerpflückt und der durch die Bemühungen der Freunde und der Claque erworbene Triumph in eine nachträgliche Niederlage umgewandelt. Nur eine ganz kleine Zahl von dramatischen Arbeiten besteht die Feuerprobe einer ersten Vorstellung, welche übrigens meistens ebenso interessant für die Zuschauer, wie schwierig und gefährlich für den Dichter und die Schauspieler ist.

Max Ring.