Textdaten
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Autor: Arthur Zapp
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Titel: Ein Lieutenant a. D.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–49, S. 669–675, 689–692, 709–714, 725–728, 741–744, 757–761, 773–776, 799–803, 812–818, 828–832,
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ein Lieutenant a. D.

Roman von Arthur Zapp.


Frau Wagner lauschte mit angehaltenem Athem nach der Kammerthür hin. Was war das? Das klang nicht wie das ruhige Athemholen eines sanft Schlummernden, eher wie das dumpfe Röcheln eines Schwerkranken. Voll Unruhe erhob sie sich um in die Kammer hinüberzugehen. Aber da war es schon wieder still. Hatte ihre krankhaft erregte Einbildungskraft ihr wieder einmal einen Streich gespielt? Seit dem jähen Tod ihres Mannes litt sie an trüben Ahnungen, die nicht selten zu völligen Sinnestäuschungen wurden.

Die blasse Frau, die, trotzdem sie kaum das fünfzigste Jahr erreicht hatte, ganz das Aussehen einer gebrechlichen, vom Alter gebeugten, lebensmüden Greisin hatte, setzte sich wieder und nahm ihr Strickzeug vor. Aber die gewohnte Arbeit wollte ihr heute nicht so rasch wie sonst von der Hand gehen. Ihre flinken Finger machten häufige Pausen und ruhten ganze Minuten lang müßig im Schoß, während sie, vornübergebeugt, das Ohr nach der kleinen Kammer hin neigte, in der ihre einzige Tochter Klara sich vor einer Viertelstunde zum Schlaf niedergelegt hatte. Welche Sorge ihr das Mädchen machte! Seit Wochen trug Klara ein so sonderbares Wesen zur Schau, sie, die immer das Muster eines guterzogenen, fleißigen und braven Mädchens gewesen war. Bald war sie lebhaft, mit einem eigenen Schimmer großen Glückes in den dunklen Augen, heiter bis zur Ausgelassenheit, dann wieder, ohne Uebergang, ohne ersichtlichen Grund, in sich gekehrt, grüblerisch und zerstreut. Fragen, die man dann stellte, beantwortete sie entweder mit einem fröhlichen Lachen – sie sei ja jung, warum sollte sie nicht lustig sein – oder sie begegnete ihnen mit einer ganz ungewohnten nervösen Gereiztheit: die Mutter solle sie nicht quälen; du lieber Gott, man könne doch nicht immer vergnügt sein. Und nun heute vollends! Klara war in einem wahrhaft erschreckenden Zustand nach Hause gekommen, bleich, das Gesicht verzerrt wie von einem inneren Krampfe. Das Abendbrot hatte sie unberührt stehen lassen und mit matter tonloser Stimme erklärt, früh ins Bett zu wollen. Die Mutter solle sich nicht beunruhigen, sie sei nur furchtbar ermüdet und habe heftiges Kopfweh. Im Geschäft – sie war Buchhalterin in einer der großen Fabriken der Dammvorstadt – habe sie heute außergewöhnlich viel Plackereien gehabt, dazu Verdruß und Aerger mit dem Prinzipal. Deshalb sei sie auch zeitiger nach Hause gegangen.

Als Frau Wagner ihre Tochter in die Kammer begleitet und sich angeschickt hatte, ihr beim Auskleiden behilflich zu sein, immerfort fragend und klagend, da hatte Klara heftig abgewehrt und mit beiden Händen [670] ihre Stirne zusammengepreßt. Jedes Wort, jeder Laut schmerze sie; Ruhe, völlige Ruhe, das sei alles, was ihr noththue – morgen werde sie Rede und Antwort stehen. Damit hatte sie, nach einem hastigen „Gutenacht“, die kleine schwache Frau um die Schultern gefaßt und sanft zur Thür hinausgeschoben. Dann war alles still geworden.

Aber was war das wieder? Diesmal hörte es die erschreckt auffahrende Frau ganz deutlich, dieses beängstigende verzweifelnde Stöhnen. Trotz ihrer Schwäche und Gebrechlichkeit war sie mit ein paar schnellen Schritten an der Kammerthür. Ungewißheit und Angst waren nicht länger zu ertragen. Mit einem Ruck riß sie die Thür auf, die ihre Tochter – Gott sei Dank – nicht zugeriegelt hatte, und nun gellte ein so furchtbarer markerschütternder Schrei von den Lippen der alten Frau, daß das ganze Haus alarmiert wurde.

Klara lag, noch in ihren Kleidern, auf dem Bett. Ihr bläulich blasses Gesicht war von den furchtbaren Schmerzen, die den zuckenden Körper durchwühlen mußten, unheimlich verzerrt. Von den Augen, die ganz nach oben gerichtet waren, war fast nur das Weiße sichtbar, und auf den fahlen Lippen zeigte sich weißer Schaum. Auf dem Fußboden lag ein Wasserglas, dem der Rest einer dunklen Flüssigkeit entsickerte.

Fassungslos warf sich die alte Frau über ihr Kind. Mit einem Blick war ihr die Lage in ihrer ganzen Entsetzlichkeit klar geworden – ihre Tochter hatte Hand an das eigene Leben gelegt, hatte sich vergiftet! Schmerz und Verzweiflung drohten der unglücklichen Mutter fast den Verstand zu rauben, und ohne zu bedenken, daß sie vielleicht kostbare unersetzliche Zeit verlor, machte sie dem gepreßten Herzen in schluchzendem Klagen Luft. „Mein Kind, mein unseliges Kind – das konntest Du mir thun, Deiner armen alten Mutter? Hörst Du mich nicht? Hilfe, Hilfe – sie stirbt, mein Kind stirbt!“

Inzwischen waren mehrere Frauen herbeigeeilt, die im Hause wohnten. Während die meisten sich damit begnügten, sich mit roher Neugier um das Lager des Mädchens zu drängen, griff die beherzte Frau des auf dem gleichen Flur wohnenden Schuhmachers hilfreich zu, riß der Stöhnenden das Kleid auf und befahl dem Lehrburschen ihres Mannes, der ihr neugierig nachgeschlichen war, schnell zum Doktor zu laufen. Dann bedeutete sie eine der müßig herumstehenden Hausgenossinnen, so rasch als möglich heiße Milch zu besorgen, und drängte die Uebrigen zur Kammer hinaus.

Glücklicherweise war der Arzt, der nur ein paar Häuser entfernt wohnte, zu Hause gewesen. Er folgte unmittelbar hinter dem Schusterjungen, der triumphierend, der Wichtigkeit seiner erfolgreichen Sendung sich bewußt, auf den Schauplatz des interessanten Vorfalls zurückkehrte. Der Doktor unterwarf die Kranke einer eiligen Prüfung, ließ sich das Glas reichen, das die Schusterin aufgehoben hatte, roch zuerst vorsichtig an der bräunlichen Flüssigkeit und führte dann eine Probe davon mit der Fingerspitze seiner Zunge zu. „Phosphor!“ erklärte er, mehr zu sich als zu den beiden Frauen sprechend.

Man flößte der Kranken von der warmen Milch ein, die eben herbeigebracht wurde, und nach einigen Wiederholungen stellte sich Erbrechen ein.

„Aengstigen Sie sich nicht, liebe Frau,“ tröstete der Doktor die angstvoll an seinen Mienen hängende zitternde Mutter, „wir bringen sie durch! Ich stehe Ihnen dafür.“

Mit einem Seufzer der Erleichterung sank die geängstigte Frau, die sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, auf einen Stuhl neben dem Bett nieder. Der Arzt aber zog sein Taschenbuch heraus, schrieb mit Bleistift ein paar Hieroglyphen auf einen mit seinem Namen und seiner Adresse bedruckten Zettel und reichte diesen der Schusterin, die er für eine Familienangehörige halten mochte, mit dem Auftrag, das Rezept sofort nach der Apotheke zu schicken. Während Fritz, der Schusterbursche, sich zum zweiten Male dienstwillig in Trab setzte, beschäftigte sich der Doktor sorgfältig von neuem mit der Kranken, gab noch einige Anweisungen wegen der Tropfen, die er verordnet hatte, und entfernte sich dann mit dem Versprechen, später noch einmal nachzusehen.

Die Tropfen aus der Apotheke kamen und wirkten Wunder, denn die Zuckungen ließen nach, das Wimmern hörte auf, die Augen nahmen wieder ihre natürliche Stellung an und der Athem ging weniger schwer und röchelnd.

Glücklich über die so offenkundig eingetretene Besserung und doch zugleich überwältigt von Besorgniß und Kummer, beugte sich Frau Wagner zu ihrer Tochter nieder, der allmählich das Bewußtsein zurückzukehren schien, und die hellen Thränen liefen ihr über die eingefallenen Wangen. Jetzt bewegte sich die Kranke, sie schaute sich verstört um und ihre Augen wanderten verständnißlos von der Mutter zu der Schustersfrau, die eben an der Kammerthür dem Lehrburschen etwas ins Ohr flüsterte, worauf sich der Junge, eifrig und vergnügt nickend, eilig davonmachte.

„Klara – mein liebes Kind!“ rief die Mutter und bedeckte das Gesicht der Armen mit ihren Küssen.

Und nun schien auch dem jungen Mädchen die Erinnerung aufzudämmern, sie warf die Arme um den Hals ihrer Mutter und brach in ein wildes verzweifeltes Schluchzen aus. Die Schustersfrau aber fuhr sich gefühlvoll mit der Hand über die Augen und schlich sich auf den Zehenspitzen aus der Kammer hinaus.

*  *  *

Das Infanterieregiment, das nebst einem Regiment Kavallerie und einer Abtheilung Artillerie in der ziemlich großen, fast hunderttausend Einwohner zählenden Provinzialhauptstadt in Garnison stand, hatte seine Kaserne außerhalb der Stadt, nahe an dem breiten Flusse, über den eine große Brücke zur Stadt hinüberführte.

Es war zwischen sechs und sieben Uhr abends. Im größten Mannschaftszimmer des Füsilierbataillons fand eben Instruktionsstunde statt. Der junge Offizier, der heute selbst unterrichtete, hatte die Leute einen Halbkreis bilden lassen, in dem er, fragend und vortragend, auf und ab ging. Lieutenaut Erwin von Buschenhagen hatte während der letzten Jahre den Posten des Bataillonsadjutanten bekleidet und erst heute den ersten Zug der zehnten Kompagnie übernommen, nachdem er vor kurzem zum Premierlieutenant vorgerückt war. Ein Paar großer, blauer, freundlich blickender Augen, eine feingezeichnete geradlinige Nase, der Mund mit den frischen Lippen, der üppige nach oben gedrehte Schnurrbart, das volle etwas weichliche Kinn und die schlanke Gestalt machten den jungen Mann, der noch nicht viel über die Mitte der Zwanzig hinaus sein mochte, zu einer anziehenden Erscheinung. Man sah es seinen Gesichtszügen, der Art seines Verkehrs mit seinen Untergebenen auf den ersten Blick an, daß wohlwollende Freundlichkeit den Grundzug seines Charakters bildete. Er stieß die Sätze nicht in der kurzen unzusammenhängenden Weise und in dem schnarrenden rauhen Ton heraus, wie viele seiner Kameraden im Interesse ihres Ansehens es thun zu müssen glaubten, sondern unterrichtete mit ruhiger Stimme, ohne es für nöthig zu halten, der Aufmerksamkeit und dem Verständniß seiner Leute durch allerlei kräftige, nicht eben schmückende Beiwörter zu Hilfe zu kommen. Da er die Namen der Mannschaft seines Zuges noch nicht recht inne hatte, so gebrauchte er an deren Stelle meistens Aushilfsbezeichnungen wie „der zweite Mann vom rechten Flügel“, „der Dritte vom linken Flügel“ oder auch „der Lange im zweiten Gliede mit dem großen Fettfleck auf der Brust“. Nur einen der Leute, den rechten Flügelmann im zweiten Gliede, redete der Lieutenant, so oft er sich an ihn wandte – und er that dies merkwürdig oft und immer mit unverkennbarem Interesse – ohne sich auch nur einen Augenblick zu besinnen, mit seinem Namen an: „Wagner“. Der also aufgerufene Soldat mochte etwa zweiundzwanzig Jahre zählen, er hatte eine kräftige gedrungene Gestalt, sein Gesicht, in dem lebhafte dunkle Augen funkelten, zeigte hübschere und gescheitere Züge als die der meisten seiner Kameraden.

Auffallend war es auch, daß der Lieutenant fast jeder dienstlichen Frage, die er an Wagner richtete, Erkundigungen über dessen Privatleben folgen ließ.

„Wie heißen die drei Haupttugenden des Soldaten, Wagner?“

„Treue, Muth und Gehorsam.“

„Gut! – Sagen Sie ’mal, Wagner, was sind Sie in Ihrem Civilverhältniß?“

„Monteur, Herr Lieutenant.“

„Und wo haben Sie sich zuletzt aufgehalten?“

„Hier in der Stadt, Herr Lieutenant.“

Nachdem Buschenhagen einige andere Leute befragt hatte, kehrte er mit augenscheinlicher Hast zu Wagner zurück.

„Durch welche äußere Auszeichnung unterscheidet sich der Generalfeldmarschall von den übrigen Generalen?“

„Durch die kreuzweis übereinander liegenden Kvmmandostäbe auf den goldenen Achselstücken.“

„Gut! – Welchen Beruf übt Ihr Vater aus, Wagner?“

„Mein Vater ist tot, Herr Lieutenant. Er hatte ein Materialwarengeschäft.“

„So, so.“ Der Lieutenant sah eine Sekunde lang nachdenklich [671] zu Boden und richtete dann den Blick wieder auf den Soldaten, der ihn verwundert anschaute. Offenbar hatte er noch eine Frage auf dem Herzen. Aber er besann sich eines besseren und drehte sich kurz nach der anderen Seite um.

Doch das eine, das seine Wißbegierde noch zu reizen schien, ließ dem jungen Offizier keine Ruhe, und plötzlich kehrte er zu dem Flügelmann zurück und ohne jede weitere Einleitung fragte er diesmal: „Haben Sie noch Geschwister, Wagner?“

Der Angeredete starrte seinen Vorgesetzten erstaunt an und in seiner Ueberraschung vergaß er die Antwort. Auch die übrigen Soldaten sahen jetzt mehr oder weniger verwundert auf den neugierigen Lieutenant, der, ohne dieser Wirkung seiner Worte Beachtung zu schenken, seine Frage ungeduldig und in offenbarer Spannung wiederholte.

„Nur eine Schwester, Herr Lieutenant,“ entgegnete Wagner, den eine unbestimmte Unruhe zu erfassen begann und der nun seinerseits seine Augen mit einem ganz vorschriftswidrig forschenden, argwöhnischen Ausdruck auf Buschenhagen heftete. Und wenn sich dieser nicht im gleichen Augenblick hastig abgewendet hätte, so wäre dem Soldaten die jähe Röthe, die mit einem Mal im Gesicht des Lieutenants aufstieg, sicherlich nicht entgangen. Die Instruktion nahm nun ohne weitere Unterbrechungen ihren gewöhnlichen Verlauf. Es war noch eine Viertelstunde bis sieben Uhr. Buschenhagen bemühte sich gerade ebenso eifrig wie vergeblich, einem seiner Leute die Stufenleiter der militärischen Rangordnung vom Unteroffizier bis zum Generalfeldmarschall in der richtigen Reihenfolge beizubringen, als die Thüre heftig aufgerissen wurde und ein halbwüchsiger Junge hochroth und pustend vor Eifer und Erregung ins Zimmer stürmte. Bei dem Anblick so vieler Soldaten prallte er erschrocken zurück, und als er gar des Offiziers ansichtig wurde, blieb ihm das Wort im Halse stecken, obgleich er den Mund schon weit zum Sprechen geöffnet hatte.

„Was willst Du?“ fragte ihn der Lieutenant kurz, während sich aller Augen neugierig auf den Jungen richteten und Wagner, der in ihm den Lehrling des Meisters Müller, des Flurnachbars seiner Mutter, erkannt hatte, einen Laut der Ueberraschung nicht unterdrücken konnte.

„Ach Gott, Herr Leitnant, nehmen Sie’s man nich übel,“ stammelte der Junge, „ich wollte man bloß zu – zu –“ der Sprechende sah im Kreise der Soldaten umher und deutete dann auf den Flügelmann des zweiten Gliedes, der unwillkürlich einen Schritt vorgetreten war – „zu dem da, Herr Leitnant!“

„Zum Füsilier Wagner?“

„Jawohl, Herr Leitnant, zu Wagnern wollt’ ich man bloß.“

Und als der Soldat, von innerer Unruhe ergriffen, auf einen Wink seines Vorgesetzten sich dem kleinen Burschen hastig genähert hatte, platzte dieser mit dem ganzen Eifer seiner fünfzehn Jahre heraus: „Die Frau Müllern, was meine Meisterin ist, schickt mich und Sie sollten man gleich zu Hause kommen, Herr Wagner, Ihre Schwester Klara hat sich vergiftet.“

Der Angeredete taumelte zurück, auch der Lieutenant wechselte jäh die Farbe, indes die Uebrigen nicht wußten, welche Miene sie zu der seltsamen Botschaft aufsetzen sollten. Buschenhagen faßte sich zuerst, und während der Soldat ihm mit einem stumm flehenden Blick in die Augen sah, sagte er mit einer sonderbar heiser klingenden Stimme: „Gehen Sie, Wagner! Und wenn es nöthig sein sollte, so können Sie über den Zapfenstreich ausbleiben. Berufen Sie sich auf mich!“

Der Soldat stürmte davon, ohne ein Wort zu entgegnen und ohne an das vorschriftsmäßige Kehrt zu denken. Der junge Offizier aber trat mit dem Unglücksboten auf den Flur hinaus und befragte ihn über die Art und den bisherigen Verlauf des Unglücksfalles mit einer solchen Unruhe, daß es dem Burschen hätte auffallen müssen, wenn dieser sich nicht selbst in einer erklärlichen Aufregung befunden hätte. Nie in seinem Leben hatte er mit einem wirklichen Offizier gesprochen, und so war er ganz durchdrungen von diesem bedeutsamen Augenblick. Noch monatelang nachher erzählte er mit höchster Genugthuung allen, die es mit anhören mochten, von seinem Gespräch mit dem „Herrn Leitnant“.

Was Buschenhagen erfahren hatte, beschäftigte ihn derart, daß er, in das Mannschaftszimmer zurückkehrend, den Unterricht kurz abbrach. Dann verließ er selbst mit weit ausholenden Schritten die Kaserne, und nachdem er die Brücke hinter sich hatte, wandte er sich links gegen die zur Dammvorstadt führende Straße, anstatt wie sonst rechts nach seiner Wohnung im Mittelpunkt der Stadt abzuschwenken. Er mochte etwa fünf Minuten gegangen sein, als er unvermittelt stehen blieb und, mit den Zähnen an seinem Schnurrbart nagend, finster zu Boden starrte. Dann zuckte er heftig mit den Schultern und machte mit einem Rucke Kehrt, um sich langsam, ab und zu noch einmal stehen bleibend und einen Augenblick lang überlegend, in seine Wohnung zu begeben.

Dort warf er sich, nachdem ihm sein Bursche dienstfertig Mütze und Säbel abgenommen hatte, mit einem dumpfen Laut auf das Sofa. Doch nur für Minuten. Dann sprang er ungestüm wieder auf, machte ein paar heftige Gänge durch das Zimmer und trat zur Thür. „Jänicke!“ rief er auf den Flur hinaus.

Der Gerufene stampfte eilig herbei und pflanzte sich in strammer Haltung vor seinem Herrn auf. „Herr Lieutenant befehlen?“

„Du gehst sogleich ins Haus des Herrn Kommerzienrath Hendloß, verstanden?“

Der Bursche lächelte mit sehr unzeitgemäßer Vertraulichkeit und bemerkte eifrig: „Jawohl, zu dem gnädigen Fräulein Tochter.“

„Halt’ Deinen Schnabel!“ fuhr ihn der Offizier zornig an, der sonst des Burschen vorwitzige Bemerkungen nicht eben ungnädig aufzunehmen pflegte. „Du gehst zu Herrn Kommerzienrath Hendloß, bestellst eine Empfehlung von mir und sagst: der Herr Lieutenant von Buschenhagen läßt bedauern, daß er der Einladung auf heute abend nicht Folge leisten kann, der Herr Lieutenant ist unpäßlich. Hast Du verstanden?“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant!“

„Gut! Und im übrigen hast Du Dich nichts um Fräulein Hendloß zu kümmern. Kehrt, marsch!“

Jänicke führte das Kommando mit vorschriftsmäßiger Strammheit aus und machte sich eilig davon.

Der junge Offizier stand eine Weile unbeweglich mitten im Zimmer, mit düsterem Blick und gerunzelten Brauen. Dann seufzte er tief auf, trat an die Spiegelkommode zwischen den Fenstern, öffnete die oberste Schublade und nahm ein Photographiealbum heraus. Auf der ersten Seite befand sich das Bild eines jungen Mädchens, das achtzehn bis zwanzig Jahre alt sein mochte. Ueber dem schönen regelmäßigen Gesicht lag der Zauber blühender Jugendfrische. Aus den großen dunklen Augen sprach ein mädchenhaft schwärmerischer Sinn, während die starken, über der Nase zusammenlaufenden Brauen und die vollen rothen Lippen auf ein leidenschaftliches Gemüth schließen ließen. Die Züge des Lieutenants nahmen einen weichen, fast wehmüthigen Ausdruck an. „Arme Klara!“ flüsterte er leise vor sich hin, während er das Bild betrachtete. Plötzlich klappte er mit einer hastigen Bewegung das Buch zu, warf es auf den Tisch und ließ sich schwer auf das Sofa fallen. Was half das dumme Seufzen und Bedauern! Die Geschichte war nun einmal nicht zu ändern, gegen den eisernen Zwang der Verhältnisse war nicht anzukämpfen. Und selbst wenn sie jetzt zu Grunde ging – es würde ja hoffentlich nicht so weit kommen – helfen konnte er ihr nicht! Dumpf starrte er in die Dämmerung hinein, die immer dichter das Zimmer erfüllte. Sein Geist wanderte in die Vergangenheit zurück. Wundervolle unvergeßliche Stunden waren es, die er mit Klara Wagner verlebt hatte. Das berauschende reine Glück der ersten Liebe hatte er sie kennen gelehrt und hatte sich selbst berauscht an dem Ueberschwang von Seligkeit, der dieses Mädchenherz erfüllte, der aus ihrem naiven Geplauder, aus ihren strahlenden verklärten Mienen sprach. Die köstliche Natürlichkeit ihres Wesens, die Tiefe ihrer Empfindung hatten ihn immer von neuem zu ihr hingezogen, und es hatte Zeiten gegeben, wo er sich allen Ernstes sagte, daß er sie aufrichtig liebe und daß sie ihn glücklicher machen würde als alle die affektierten jungen Damen, mit denen ihn das gesellschaftliche Leben zusammenführte.

Kaum sechs Monate waren es her, daß er ihre Bekanntschaft gemacht hatte, Er befand sich in der Dammvorstadt, in Civilkleidung, auf dem Wege nach einer Singspielhalle, welche die Offiziere der Garnison dann und wann verstohlen besuchten. Da fügte es der Zufall, daß er dem vom Geschäft zurückkehrenden jungen Mädchen einen Dienst erweisen konnte, indem er sie vor der Zudringlichkeit eines rohen Burschen beschützte, welcher der Erschrockenen seine ungebetene Begleitung aufdrängen wollte. Eines jener kurzlebigen Abenteuer witternd, die eben so schnell ein Ende nehmen, wie sie eingefädelt werden, hatte er sich ihr als „Erwin Hagen, Architekt“ vorgestellt. Aber dann hatte die Unterhaltung während der Viertelstunde, die er am ersten Abend [674] mit ihr verplauderte, doch einen solchen Eindruck auf ihn gemacht, daß er sich am nächsten Tage wieder am selben Ort einfand, um sie zu erwarten, und er hatte die Genugthuung, zu bemerken, daß ihre Augen freudig aufleuchteten, als er grüßend an sie herantrat.

Aus diedem Anfang hatte sich das Folgende fast mit Naturnothwendigkeit entwickelt. Es verging fast kein Abend, an dem sie nicht eine Stunde zusammen zubrachten, am einsamen Ufer des Flusses lustwandelnd oder in einem der Biergärten außerhalb der Stadt in einer verschwiegenen Ecke einander zuflüsternd, was ihre Herzen schwellte.

Und nun sollte das poetische Sommeridyll ein so häßliches Ende nehmen? „Pah!“ Der Lieutenant sprang auf, griff nach den Streichhölzern und zündete die Lampe an, die Jänicke bereits fürsorglich auf den Tisch gestellt hatte. So war nun einmal das Leben! War er dafür verantwortlich, daß sein Vater ihm eine lächerlich kleine Zulage schickte, die mit der schmalen Lieutenantsgage bei weitem nicht ausreichte, seine Bedürfnisse zu bestreiten? Sollte er sich einsiedlerisch zurückziehen, wenn die besser gestellten Kameraden die Sektpfropfen knallen ließen? Sollte er zu Hause hocken und von Butterbrot und Wasser leben, wenn jeder der Wirthe in der Stadt für den Herrn Lieutenant bereitwilligst ankreidete und Löwenthal und Genossen gegen Wechsel und Ehrenschein mit größter Höflichkeit bares Geld vorschossen? War er schuld daran, wenn es in dieser unvollkommenen Welt nun einmal so eingerichtet war, daß arme Lieutenants reiche Kommerzienrathstöchter heirathen mußten, selbst wenn ihnen diese so unausstehlich vorkamen wie ihm Fräulein Dora Hendloß mit ihren echten Diamanten, ihren falschen Zähnen und ihrem falschen Gesang? Und nun zum Henker mit den Grillen, die doch zu nichts nütze waren! Schickte es sich für ihn, den schneidigsten Lieutenant im Regiment, zu seufzen und zu stöhnen wie ein blöder Schäfer? Lächerlich!

Erwin trat vor den Spiegel, bürstete sich das Haar, zwirbelte den Schnnrrbart empor und schüttete sich über die sorgsam gepflegten Hände mit den schneeweißen Nägeln ein fein duftendes Parfüm. Fünf Minuten später trat er auf die Straße hinaus, um sich nach dem Weinrestaurant am Markt zu begeben, in dem immer ein besonderes Zimmer für die Herren Offiziere bereit gehalten wurde. Leichtsinnig pfiff er seine Lieblingsarie aus der „Fledermaus“ vor sich hin:

„Glücklich ist, wer vergißt
Was nicht mehr zu ändern ist!“


2.

Es war am anderen Tage in der Mittagsstunde. Lieutenant von Buschenhagen war eben vom Dienst nach Hause gekommen, um sich noch ein wenig auszuruhen, bevor er zum Essen ins Kasino ging. Mit Hilfe Jänickes machte er sich’s bequem. Waffenrock und Stiefel legte er ab und schlüpfte in eine behagliche weite Joppe; auf die Füße stülpte ihm der allzeit dienstwillige Bursche die weichen Hausschuhe.

„Haben der Herr Lieutenant sonst noch Befehle?“ fragte er in streng dienstlicher Haltung, denn die finstere Miene seines Herrn lud nicht eben zu irgendwelcher vorschriftswidrigen Nachläßigkeit ein.

„Daß Du Dich zum Kuckuck scherst und mich in Ruhe läßt, sonst nichts!“

„Zu Befehl, Herr Lieutenant.“

Jänicke verschwand, ohne eine Miene zu verziehen. Die zeitweilige schlechte Laune seines Herrn erregte seine Empfindlichkeit nicht. Er wußte, auf Regen folgte Sonnenschein, und bei seinem Lieutenant überwogen die heiteren Tage bei weitem die düsteren. Es ließ sich überhaupt mit dem Lieutenant gut auskommen. Er war freigebig und auch sonst kein Unmensch. Wenn Jänicke einmal ohne Erlaubniß über den Zapfenstreich ausblieb, weil er sich bei des Amtsrichters Köchin drüben verspätet hatte, so drohte der Lieutenant, halb im Ernst, halb im Scherz, nur mit dem Finger, er Jänicke, machte sein dümmstes Gesicht und zeigte eine Miene wie ein begossener Pudel, worauf der Herr Lieutenant lachte und die Sache war abgethan. Höchstens daß es einmal, wenn es schlimm kam, ein „Heiligeskreuzdonnerwetter“ absetzte oder ein „Kerl, ich lasse Dich ins Loch stecken!“

Auch was das Materielle anbetraf, fühlte sich Jänicke in seiner Stellung als Bursche außerordentlich wohl, Er lebte sozusagen in einer förmlichen Gütergemeinschaft mit seinem Herrn. Noch nie hatte er nöthig gehabt, sich Handschuhe zu kaufen, und doch saßen ihm des Sonntags, wenn er Amtsrichters Caroline zum Tanze führte, die weißesten Waschledernen prall zum Zerspringen auf den derben Fäusten. Sie mußten schon tüchtig von seinem Lieutenant getragen und ausgereckt sein, bis es dem biederen Pommer gelang, sie auf seine Finger zu zwängen. Auch um die Beinkleider, in denen er am Sonntag paradierte, brauchte er nicht bange zu sein. Sein Lieutenaut legte deren mehr ab, als Jänicke auftragen konnte, und wenn er sich einmal extrafein machen wollte und die geschenkten „Büchsen“ ihm schon allzu abgetragen vorkamen, so machte er sich kein Gewissen daraus, aus dem Vorrath seines Herrn sich mit einer noch im Gebrauch befindlichen zu versorgen. Der Herr Lieutenant merkte ja nicht das Geringste davon, ebensowenig wie er davon Notiz nahm, daß die Finger seines Burschen sich ab und zu in seinen Cigarrenkasten verirrten. Einmal freilich war Jänicke von seinem Herrn überrascht worden, als er eben den Deckel der Cigarrenkiste aufgeklappt hatte, aber er hatte sich schnell gefaßt und dem Lieutenant mit einer ganz unschuldigen Miene ins Gesicht gesehen. „Der Herr Lieutenant denken doch nicht etwa? Wo werd’ ich denn! Ganz gewiß nicht, Herr Lieutenant! Ich wollte blos ’mal –“

„Laß gut sein, Jänicke,“ war er von seinem Herrn unterbrochen worden, als er ins Stammelu gerieth, denn ihm wollte in der Eile keine unverfängliche Ausrede einfallen, „Du übst Dich wohl ein bißchen im Requirieren, weil es ja doch bald Krieg giebt? Na, mach’s wenigstens menschlich, hörst Du!“

Für diese Milde und Nachsicht war aber Jänicke seinem Herrn auch mit Leib und Seele zugethan, und wenn es nöthig gewesen wäre, so hätte der brave Pommer sein Herzblut für seinen Lieutenant gegeben. Und manchmal kam es jetzt wenigstens so weit, daß er für seinen Herrn hungern und dursten mußte; denn es geschah gegenwärtig nur allzu oft, daß gründliche Ebbe in des Herrn Lieutenants Kasse eintrat und daß Jänicke, natürlich ohne daß sein Herr ihn besonders darum anzugehen brauchte, allerlei kleine Auslagen machte, die er selbstverständlich jedesmal mit reichlichen Zinsen zurückerstattet erhielt, sobald von Herrn Löwenthal oder sonstwoher sich ein neues Goldbächlein ergoß.

Nachdem Jänicke das Zimmer verlassen hatte, warf sich der Lieutenant der Länge nach auf das Sofa, um zu schlafen. Der Vormittag hatte ihn sehr mitgenommen. Es war Kompagnie-Exerzieren gewesen, und ihn, der seit Jahren nicht mehr in der Front gestanden, hatte das viele Laufen und Hin- und Herrennen außerordentlich ermüdet. Er dehnte und reckte sich, aber der ersehnte Schlummer wollte nicht kommen. War es, weil ihm die Geschichte von gestern immer noch im Kopf herumging? Er hätte gern etwas Näheres über den Ausgang erfahren. Aber er hatte es nicht über sich gebracht, Klaras Bruder zu fragen. Der hatte mit bleichem finsteren Gesicht im Gliede gestanden, und es war dem Lieutenant, als er einmal flüchtig nach dem Soldaten hinschaute so vorgekommen, als ob ihm ein wilder Haß aus den Augen des Mannes entgegensprühte. Aber seine innere Unruhe mochte ihm das nur vorgespiegelt haben.

Buschenhagen richtete sich auf und griff nach der Zeitung auf dem Tisch. Er mußte doch einmal sehen, ob die verwünschten Federfuchser sich der Sache bereits bemächtigt hatten. Heutzutage kam ja alles in die Zeitung. Mochte ein Vorgang auch noch so delikat sein und sich in den besten Kreisen abgespielt haben, diese rücksichtslosen Zeitungsschreiber respektierten nichts. Einfach scheußlich!

Richtig, da unter den „Lokalnachrichten“ stand die Geschichte! Na ja! Der Lieutenant schüttelte ärgerlich den Kopf und las dann, nachdem er zuvor das Monocle eingeklemmt – er hatte das nun einmal in der Gewohnheit, selbst wenn kein Zuschauer da war. „Ein junges Mädchen, die Buchhalterin K. W., machte gestern abend um sechs Uhr einen Vergiftungsversuch, glücklicherweise ohne ihren Zweck zu erreichen. Ueber das Motiv der That ist Näheres noch nicht bekannt, wahrscheinlich die alte Geschichte: unglückliche Liebe. Die junge Lebensmüde ist übrigens außer aller Gefahr.“

Der Lieutenant stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Na, das war ja noch gnädig abgelaufen. Wenn die Klara seinen richtigen Namen gewußt, wenn sie geplaudert hätte! Herrgott, wäre das schauderhaft gewesen, Name in der Zeitung, in Verbindung mit einem solchen Skandal, jetzt, wo er im Begriff stand, sich mit der Tochter des reichen Kommerzienraths Hendloß zu verloben! Es war übrigens verdammt hohe Zeit zu dieser Verlobung. Diese geldhungrigen Gläubiger drängten immer unverschämter und waren nur durch die Berufung auf seine [675] stadtbekannten nahen Beziehungen zu der Familie Hendloß zur Geduld und einigen neuen Vorschüssen zu bewegen.

Buschenhagen strich sich nachdenklich den Schnurrbart. Da kam ihm ein Gedanke. Die Uhr zeigte erst auf halb ein Uhr, er hatte gerade noch Zeit, bei der Hendloß einen kleinen Besuch zu machen, ehe er sich ins Kasino begab.

Er war eben im Begriff, an seine Toilette zu gehen, als ein Wortwechsel auf dem Flur draußen seine Aufmerksamkeit erregte. Unwillkürlich lenkte er seine Schritte der Thür zu. Er erkannte die Stimme seines Burschen, der mit einem andern, dessen Stimme dem Horchenden ebenfalls bekannt vorkam, immer mehr in Streit zu gerathen schien.

„Mensch, wenn ich Dir doch sage, daß der Herr Lieutenant schläft,“ erklärte Jänicke eben in aufsteigendem Zorn.

„So weck’ ihn auf!“ Kurz und schroff klang das aus dem Munde des Fremden.

„Daß ich verrückt wär’! Um eine Grobheit oder vielleicht gar den Aschbecher oder sonst was Hartes an den Kopf zu kriegen?“

„Aber ich muß ihn sprechen, und wenn Du mich nicht melden willst, so –“ der Sprechende bemühte sich offenbar, zur Thür zu gelangen, während ihm Jänicke den Weg zu vertreten schien.

„So nimm doch Vernunft an! Komm’ in einer Stunde wieder, vielleicht daß Du dann –“

„Da hab’ ich Dienst.“

„Na, dann warte, bis der Herr Lieutenant in die Kaserne kommt,“ begütigte der Bursche.

Der andere schien sich einen Augenblick zu besinnen, dann entgegnete er zögernd: „Es ist nichts Dienstliches, sondern eine Privatangelegenheit.“

„Eine Privatangelegenheit?“ Jänicke lachte laut auf. „Na, hör’ mal, ich möcht’ wohl wissen, was Du mit meinem Lieutenant für Privatsachen –“

„Das geht Dich nichts an,“ unterbrach ihn der Angeredete schroff. „Willst Du mich nun melden ober nicht?“

„Fällt mir gar nicht ein!“

„Gut, dann werde ich selbst –“

Ein heftiges Ringen entspann sich nach diesen Worten. Der junge Offizier sprang mit einem Satz zum Tisch zurück und drückte auf die Zimmerglocke. Jänicke erschien, hochroth in dem dicken pausbäckigen Gesicht, schnaufend und pustend. „Wer ist draußen?“

„Der Wagner, Herr Lieutenant – von des Herrn Lieutenants Zug. Ich hab’ ihm all gesagt, daß der Herr Lieutenant jetzt nicht zu sprechen sind. Aber er verlangt partuh –“

„So laß ihn herein!“

Jänicke entfernte sich, nicht ohne durch ein Kopfschütteln sein Befremden über den erhaltenen Befehl auszudrücken.

Ueber den Lieutenant war einige Sekunden lang eine jähe Bestürzung gekommen. Aber im nächsten Augenblick richtete er sich wieder hoch auf. Es war ja nicht denkbar, daß ein gemeiner Soldat es wagen würde, ihn, seinen Vorgesetztem zur Rede zu stellen! Lächerlich das, ganz undenkbar!

Wagner trat ein. Einen Schritt seitwärts von der Thür blieb er in dienstlicher Haltung stehen. Sein Gesicht war bleich, seine Augen hefteten sich fest und entschlossen auf seinen Vorgesetzten, der sich auf einen Stuhl niederließ.

„Was wollen Sie, Wagner?“ fragte Buschenhagen in einem Ton, aus dem Verlegenheit und Aerger klangen. Dem Soldaten schoß das Blut ins Gesicht, die Finger, die er vorschriftsmäßig an die Hosennaht gelegt hatte, geriethen in zuckende Bewegung. Er schluckte und würgte und begann dann: „Der Herr Lieutenant wissen etwas Näheres von dem, was sich gestern bei – bei mir zu Hause ereignet hat?“

„Nein!“ Das kam scharf und abweisend heraus.

In den Augen des Soldaten blitzte es auf; aber er entgegnete fast ruhig: „Der Herr Lieutenant waren zugegen, als ich abgerufen wurde, gestern bei der Instruktion –“

„Ja, ja – erinnere mich,“ warf Herr von Buschenhagen nachlässig hin. „Wie geht es Ihrer Schwester?“ Er zog sein Taschentuch hervor, nahm sein Monocle zwischen zwei Finger der linken Hand und begann, daran herumzuwischen.

In der Erregung, die ihn vorwärts trieb, setzte Wagner unwillkürlich den einen Fuß etwas vor, auch die Hände entfernten sich aus ihrer bisherigen Lage. Ohne auf die Frage seines Vorgesetzten zu antworten, sagte er finster: „Der Herr Lieutenant wissen, warum meine Schwester einen – einen Selbstmordversuch begangen hat?“

„Ich?“ Der Offizier hielt eben das Glas vor den Mund, um es anzuhauchen. „Wie sollt’ ich!“

Der Soldat schien immer mehr das Bewußtsein seiner untergeordneten Stellung zu verlieren. „So will ich es Ihnen sagen, Herr Lieutenant! Sie, Sie sind schuld, daß Klara sich ans Leben wollte!“ Rauh, mit unheilverkünbendem Grollen hatte er die Worte hervorgestoßen, während er mit einer heftigen Bewegung auf den Offizier deutete.

Dieser sprang auf und blickte den Untergebenen mit zornfunkelnden Augen an. „Mensch, was fällt Ihnen ein? Nehmen Sie die Hand herunter! Sofort! Wissen Sie, vor wem Sie stehen?“

Den Soldaten durchfuhr es wie ein elektrischer Schlag. Er zog mit einem Ruck den einen Fuß an den andern heran, aber seine Hände, die jetzt wieder an den Körper angelegt waren, ballten sich, seine Brust wogte.

Buschenhagen näherte sich dem Manne. „Wie können Sie sich unterstehen –“

Aus den Augen Wagners sprühte ihm ein so glühender Haß entgegen, daß er unwillkürlich innehielt. Mit vor Aufregung heiserer Stimme entgegnete der Soldat: „Ich wollte Sie nur fragen, Herr Lieutenannt, was Sie in dieser Angelegenheit zu thun gedenken.“

„Ich? In welcher?“

„In der Angelegenheit des Architekten Hagen und meiner Schwester.“

Buschenhagen schlug nun doch vor dem fest auf ihn gerichteten Blick Wagners seine Augen nieder. „Ach so, das ist also Ihre Schwester,“ versetzte er stockend.

„Ja, die Braut des Architekten Hagen ist meine Schwester, und es hat ihr fast das Leben gekostet, als ihr gestern ein Zufall enthüllte, daß dieser Hagen in Wirklichkeit der Lieutenant von Buschenhagen ist, von dem das Gerücht umgeht, er werde sich mit der Tochter des Kommerzienraths Hendloß verloben.“

Der Offizier hatte noch immer seine Fassung nicht wieder erlangt. Das Gefühl seines Unrechts überwog die Empfindung seiner beleidigten Würde.

„Ich habe meiner Schwester gesagt,“ fuhr Wagner lauernd fort, „daß dieses Gerücht eine Lüge sei.“

Der Lieutenant steckte die Hände in die Taschen seiner Joppe und erhob den Blick. „Das Gerücht ist wahr,“ erklärte er fest. Und mit emporgezogenen Augenbrauen, mit der hochmüthigen Ueberlegenheit des Vorgesetzten, in kaltem befehlenden Ton fuhr er fort: „Sagen Sie Ihrer Schwester, es thue mir leid, wenn sie sich falschen Hoffnungen hingegeben habe, die – die selbstverständlich unerfüllbar seien.“

Der Solbat fuhr zurück. „Unerfüllbar?“ rief er drohend.

Die Scene fing am dem Lieutenant fast langweilig zu werden. Diese lächerliche Unterredung hatte schon viel zu lange gedauert; es war Zeit, ein Ende zu machen. „Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen, Sie können gehen.“

Wagner zitterte am ganzen Leibe, sein Oberkörper beugte sich vor wie zum Sprunge, die Adern auf seiner Stirn schwollen an. In sich überstürzenden Worten stieß er hervor: „Woher nehmen Sie das Recht, ein braves Mädchen, in dem Sie monatelang den Glauben an Ihre Liebe genährt haben, von sich zu werfen wie ein Spielzeug, dessen man überdrüssig geworden ist? Ein Mann von Ehre –“

„Mensch, sind Sie von Sinnen?“ Der Lieutenant wies gebieterisch nach der Thür. „Fort! In der Kaserne werden Sie wohl wieder zur Vernunft kommen!“

Seiner nicht mehr mächtig, trat der Soldat dicht an seinen Vorgesetzten heran und schrie ihm ins Gesicht: „Also belogen, betrogen, schändlich an der Nase herumgeführt! Das ist wohl kavaliermäßig, nicht? Aber ich nenne es –“

Der gelle Klang der Glocke, zu der Buschenhagen gegriffen hatte, ließ das Folgende nicht mehr zu Gehör kommen. Jänicke, der augenscheinlich vor der Thür auf der Lauer gestanden hatte, war im Nu im Zimmer.

„Führe den Menschen da hinaus! Er findet den Weg nicht allein,“ befahl der Lieutenant kalt und drehte sich zum Fenster um.

Wagner fuhr zusammen und einen Augenblick schien es, als wollte er sich auf Buschenhagen stürzen, aber der Pommer hielt ihn mit kräftigem Arm zurück und zog ihn zur Thür hinaus, während er ihm erregt zuraunte: „Kerl, willst Du Dich unglücklich machen?“

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 41, S. 689–692

[689] Die zehnte Kompagnie hatte am Nachmittag in den Korporalschaften unter Aufsicht der Unteroffiziere von zwei bis vier Uhr Putzen. Um fünf Uhr sollte ein Appell in feldmarschmäßiger Ausrüstung stattfinden, den laut Kompagniebefehl der Premierlieutenant Buschenhagen abhalten mußte. Die Korporalschaftsführer hatten ihrerseits das Antreten schon für halb fünf Uhr befohlen. Das eingehende Besichtigen ihrer Leute kostete Zeit, und es war immer im letzten Augenblick noch ein und das andere am Anzug der Mannschaften nachzuholen.

Wagner war den ganzen Nachmittag über in einem rauschähnlichen Zustande gewesen. Mechanisch hatte er die vorgeschriebenen Putzarbeiten an Kleidungsstücken und Waffen in Angriff genommen, ohne mit seinen Gedanken bei der Sache zu sein und ohne recht zu wissen, was er eigentlich that. Er war auch wiederholt von seinem Unteroffizier gerügt worden, wenn er, einen Schloßtheil seines Gewehrs in der Hand, unthätig vor sich hinstarrte oder wie ein Unsinniger an den Knöpfen seines Waffenrocks rieb, obgleich diese längst funkelten und blitzten, als wären sie von Gold.

Das Geschick seiner Schwester, die höhnische Zurückweisung, die ihm bei dem Lieutenant widerfahren war, gingen ihm unablässig im Kopfe herum. Klara, fassungslos, voll Verzweiflung, hatte ihm gestern alles gebeichtet. Ein wüthender Zorn machte sein Blut sieden, wenn er an das jammervolle Bild der Schwester dachte und dann an diesen Menschen, der ihr Glück leichtsinnig mit Füßen getreten hatte. O daß er gegen diese Schmach nichts thun konnte als mit den Zähnen knirschen, daß er den würgenden Grimm stillschweigend in sich hineinfressen mußte – es war zum Wahnsinnigwerden! Dann wieder kamen weichere Regungen über den Grübelndem und ihn erfüllte nur noch das Mitgefühl mit seiner alten Mutter, der das Leben sowieso schon Kummer genug gebracht hatte, und der rathlose Schmerz wegen der Zukunft seiner Schwester, die an dieser bitteren Enttäuschung zu Grunde zu gehen drohte. Wie ihn das peinigte und folterte, daß er vor unerträglicher Seelenqual laut hätte aufschreien mögen! Er war ja für Klara nicht nur der Bruder, sondern auch der sorgende Vater gewesen. Nur für sie hatte er gearbeitet, seit der Vater plötzlich an einem Schlaganfall verschieden war und er selbst vorzeitig die Schule verlassen mußte, weil das kleine Vermögen kaum hinreichte, die bescheidenen Bedürfnisse der Mutter zu decken. Wie stolz war er gewesen, als Klara sich mit seiner Hilfe in Sprachen und kaufmännischen Fächern ausgebildet hatte und nun auf eigenen Füßen stand! Mit welcher Freude hatte er ihre Schönheit, ihre natürliche Anmuth sich entfalten sehen! Und nun war sie, die ihm als das Theuerste auf Erden galt, erniedrigt, beschimpft, als [690] wäre sie eine Leichtsinnige, die es sich zur Ehre anrechnen müßte, von so einem Herrn Lieutenant überhaupt einer Beachtung gewürdigt zu werden. Stand denn jener, nur weil er den Offiziersrock trug, so hoch über ihm, dem schlichten Soldaten, daß er sich nicht einmal erkühnen durfte, den Wortbrüchigen an seine Pflicht zu erinnern, daß er nicht mit der Wimper zucken durfte angesichts der Schmach, die, wäre sie diesem Herrn Lieutenant widerfahren, im Blut des Gegners hätte gesühnt werden müssen? Besaß denn er selbst nicht ebenso gut ein Gefühl für Recht und Unrecht wie jener, war seine Ehre eine andere, eine schlechtere, weil er dem Vaterlande im einfachen Rock des gemeinen Soldaten zu dienen hatte?

Das alles stürmte und brauste durch die Seele des Unglücklichen und entfachte seinen Haß gegen Buschenhagen zu lodernden Flammen. Wie im Fieberfrost schlugen seine Zähne aufeinander und er besaß kaum die Selbstbeherrschung, um ruhig im Gliede zu stehen, als die Mannschaft jetzt zum Appell auf dem Kasernenhof antreten mußte. Schlag fünf Uhr erschien von der Stadt her der Lieutenant auf dem Platze. Gnädig griff er an den Mützenrand, während der Feldwebel seine Meldung abstattete, und ließ dann nach einem flüchtigen Blick die Front hinab „rühren,“ um sogleich korporalschaftsweise die Musterung vorzunehmen. Er schien nicht gerade besonders gut aufgelegt, denn er hatte allerlei zu erinnern und zu tadeln, und ab und zu rief er dem Feldwebel einen Namen zu, den dieser notierte, um ihn dem Hauptmann zu melden. Als Buschenhagen an die dritte Korporalschaft kam, nahmen seine Mienen einen noch strengeren Ausdruck an. „Seitengewehre aufpflanzen!“ befahl er.

Langsam, die mit raschem Griff aufgesteckten Bajonette musternd, schritt er die Front hinab. Hier und da ließ er sich ein Gewehr reichen, um die Sauberkeit der einzelnen Theile genauer zu untersuchen. Manchen Tadel, manchen Fluch setzte es ab. Bei jedem Schimpfwort des Vorgesetzten zuckte ein Mann im ersten Gliede zusammen - es war Wagner. Das Herz schlug ihm mit einem Ungestüm, daß er es bis zum Halse herauf spürte; alles Blut drängte sich ihm zum Kopfe.

Als jetzt der Lieutenant vor ihn hintrat, da war es ihm, als ob ein höhnisches herausforderndes Zucken über das Gesicht des Offiziers huschte. Oder war es ein Trugbild seiner erregten Sinne? Er hatte keine Zeit, weitere Beobachtungen anzustellen, denn der Vorgesetzte befahl ihm, sein Gewehr zu zeigen. Wagner streckte es mit einer so heftigen Gebärde vor, daß sein Unteroffizier erstaunt aufblickte. Was hatte der Mann, der sonst einer der besten in der ganzen Kompagnie war? Warum blickte er den Lieutenant, der eben das Gewehr von allen Seiten aufmerksam betrachtete, mit einem solch respektwidrigen Ausdruck an? Der von blinder Ehrfurcht gegen jeden Vorgesetzten erfüllte Unteroffizier erschauderte bis in die tiefste Seele hinein. Und jetzt, Herrgott, was war das? Während der Offizier den Mann mit heftigem Tadel auf einen dicken röthlich schimmernden Rostfleck ganz oben im Lauf aufmerksam machte, ballte der Mensch, der plötzlich den Verstand verloren zu haben schien, die Fäuste, sein Oberkörper dehnte und reckte sich wie im Krampfe und aus seiner Kehle drang deutlich ein heiserer Laut, ein wildes Schimpfwort. Im nächsten Augenblick durchfuhr ein eisiger Schrecken die hundertundfünfzig Zuschauer: Wagner hatte mit jähem Griff sein Gewehr an sich gerissen, fällte es blitzschnell und rannte in blinder Wuth gegen den Offizier an, ihm mit dem aufgepflanzten Seitengewehr den Aermel des Rockes durchbohrend. Doch noch ehe der Rasende seine Waffe zurückziehen und zu neuem, besser gezieltem Stoß ausholen konnte, hatten sich ein paar Unteroffiziere dazwischengeworfen und bändigten den sich wie sinnlos Gebärdenden mit vereinten Kräften.

„Zur Wache!“ befahl der Lieutenant, bleich bis in die Lippen, aber äußerlich gefaßt und ruhig. Dann ließ er die Kompagnie wegtreten.

Noch am selben Abend verbreitete sich wie ein Lauffeuer das Gerücht in der ganzen Garnison, daß der Füsilier Wagner auf den Lientenant von Buschenhagen vor versammelter Mannschaft einen Mordversuch gemacht habe.


3.

Die Anklage gegen den schuldigen Soldaten nahm den vorgeschriebenen Verlauf. Der Arrestant wurde als Untersuchungsgefangener in das Militärgefängniß der Garnison übergeführt, von der Kompagnie wurde der Thatbestand zu den Akten eingereicht und das Verhör vor dem Auditeur begann.

Auf den Angehörigen des Unglücklichen lastete dieser neue Jammer wie ein erdrückender Alp. Frau Wagner, die noch unter den Folgen des letzten Schreckens zu leiden hatte, wurde auf das Krankenbett geworfen. Aber schon nach wenigen Tagen raffte sie sich auf, so elend und schwach sie sich auch fühlte, um womöglich das Schicksal ihres Sohnes zu erleichtern. Sie eilte zum Feldwebel, von da zum Hauptmann, aber dieser zuckte bedauernd die Achseln. Die Angelegenheit war seinem Machtbereich entrückt und er hatte gar keinen Einfluß auf den Verlauf und das Ergebniß der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens. Alles, was er thun konnte, war, daß er der Wahrheit gemäß der bisherigen Führung des Gefangenen das beste Zeugniß ausstellte. Auch der Oberst, den die alte Frau in ihrer Herzensangst noch aufsuchte, erklärte bei aller Höflichkeit und Freundlichkeit, die er der fassungslos Weinenden gegenüber an den Tag legte, mit aller Entschiedenheit, daß er ihr in keiner Weise dienen könne.

„Ihrem Sohne vermag kein Mensch zu helfen, liebe Frau,“ sagte er ernst, „denn offene Widersetzlichkeit, noch dazu mit thätlichem Angriff, das ist das schwerste Verbrechen, dessen sich der Soldat seinem Vorgesetzten gegenüber schuldig machen kann. Bei uns muß unbedingte Subordination sein, sonst geht alle Ordnung aus Rand und Band.“

Wankend kehrte die alte Frau zu ihrer Tochter zurück, die über dem unseligen Geschick ihres Bruders das eigene Unglück vergessen hatte und sich in bitterer Reue anklagte, daß sie an allem die Schuld trage. Vergebens zermarterte sich Klara das Gehirn, wie sie dem Bruder helfen und das Schreckliche, das ihm bevorstand, abwenden könnte. Die abenteuerlichsten Pläne schossen ihr durch den Kopf, ja sogar der Gedanke, den Lieutenant von Buschenhagen aufzusuchen und ihn um Rettung für den Bruder anzuflehen. Aber konnte er noch helfen, und wenn er es konnte, durfte sie dem Manne, der das Beste in ihr getötet hatte, den sie haßte, durfte sie diesem Treulosen jemals wieder, noch dazu als Bittende, gegenübertreten?

So saßen die beiden Frauen rathlos beisammen und suchten vergebens einander zu trösten. Von dem Verkehr mit ihren Hausgenossen und anderen Bekannten zogen sie sich fast ganz zurück, denn die rohe Neugier, die Uebertreibungen, in denen sich diese gefielen, vermehrten nur ihre fieberhafte Angst.

„Ich sage Ihnen,“ hatte der Schuhmachermeister Müller gemeint, indem er eine ungeheuer wichtige Miene aufsetzte, als hinge von ihm das Schicksal des gefangenen Soldaten ab, „die Sache ist nicht auf die leichte Achsel zu nehmen. Was denken Sie wohl: Angriff mit blanker Waffe vor offener Front – das ist das reine Majestätsverbrechen. Wäre die Sache im Kriege passiert, na, Ihrem Sohn thäte schon heute kein Glied mehr weh; eine Kugel wär’ ihm sicher gewesen. So aber werden sie ihm wohl bloß so ’ne zehn oder fünfzehn Jahre aufpacken.“

Diese freundliche Aeußerung hatte zur Folge, daß die tödlich erschreckte Mutter in einen heftigen Weinkrampf verfiel. Ihr Sohn zehn, fünfzehn lange Jahre, die schönste Zeit seines Lebens, im Gefängniß! Wegen einer im raschen berechtigten Zorn begangenen That, die den Betroffenen gar nicht geschädigt hatte! Nein, nein, das war unmöglich! So unmenschlich hart konnten die Richter nicht sein! Und ein kleiner Hoffnungsstrahl, der von ihrer Tochter nach Kräften genährt wurde, zog wieder ein in ihr bekümmertes Herz.

Inzwischen verbrachte ihr Sohn die Zeit in dumpfer Betäubung. Er aß nur das Nothdürftigste und hatte nicht einmal den Trost, wenigstens im Schlafe seinen Jammer zu vergessen. Wilde Träume schreckten ihn auf, wenn er Ruhe zu finden meinte, und düster vor sich hinbrütend, saß er die endlosen Nächte hindurch auf seinem harten Lager. Bald aber wehrte sich seine ungebrochene Jugend gegen diese kraftlose Verzweiflung. Ein harter zäher Trotz überkam ihn. Er wußte gut genug, daß seine That nach militärischem Gesetz ein schweres Verbrechen war, das ihm die härteste Strafe eintragen konnte. Sollte er sich in das Schicksal, das ihm gewiß war, widerstandslos fügen, sollte er lange entsetzliche Jahre in der Sträflingsjacke zubringen, um dann vorzeitig gebrochen, seinem Beruf entfremdet, als ein Bettler in der Welt dazustehen? War es da nicht besser, mit einem Schlag ein Ende zu machen?

Der Tag der Gerichtsverhandlung kam. Der peinliche Akt fand in der Kommandantur statt, und der Angeklagte wurde durch einen Gefreiten und einen Soldaten mit geladenen Gewehren vom [691] Gefängniß nach dem Sitzungssaal gebracht. Der Weg führte über die lange breite Brücke, welche die Stadt mit der Kaserne verband, und währte im ganzen etwa zehn Minuten. Mehr als einmal durchblitzte den Gefangenen auf dem kurzen Gange der Gedanke, einen Fluchtversuch zu wagen und seine Rettung der Schnelligkeit seiner Füße anzuvertrauen. Aber das Aussichtslose eines solchen Wagestücks hielt ihn zurück. Ehe er auch nur zehn Schritte gemacht haben würde, hätten ihn seine Wächter niedergeknallt!

Die Verhandlung begann um drei Uhr nachmittags und zog sich bis gegen sieben Uhr hin. Dem Gefangenen, dessen Lebensglück sich hier entschied, wurden die Stunden zur Ewigkeit. Endlich, endlich erfolgte der Spruch. Er lautete auf sechs Jahre Gefängniß, „nur“ auf sechs Jahre, weil man den Anlaß zu der That als mildernden Umstand hatte gelten lassen.

Sechs Jahre! Den Verurtheilten durchschauerte es vom Kopf bis zu den Füßen. Das war ebenso gut, als hätte man ihn zum Begrabenwerden bei lebendigem Leibe verdammt. Und plötzlich überkam ihn kalte Ruhe, die Ruhe des Verzweifelten, der nichts mehr zu verlieren hat. Sein Entschluß war gefaßt: fliehen oder sterben!

Auf dem Wege von der Kommandantur zur Brücke machte er seinen Plan, einen tollkühnen wahnsinnigen Plan, aber es war der einzige, der die Rettung wenigstens nicht ganz ausschloß.

Der Transport befand sich ungefähr auf der Mitte der Brücke; gleichmüthig zogen die beiden Soldaten mit dem Gefangenen vorwärts. Mit einem verstohlenen prüfenden Blick sah sich dieser um. Dort unten rechts, stromabwärts, lag die Dammvorstadt, durch Wiesen und Gärten vom Fluß getrennt. Dort weilten Mutter und Schwester in Verzweiflung, den Sohn und Bruder als einen Verlorenen beklagend. Noch einmal athmete er tief auf. Dann ein Sprung an den Brückenrand und blitzschnell, noch ehe seine Begleiter recht zum Bewußtsein gekommen waren, hatte er sich in stürmischem Anlauf auf das Geländer und von da kopfüber in die Tiefe geschwungen.

Als der Flüchtling aus dem Wasser wieder auftauchte, lagen die beiden Wächter am Geländer der Brücke in Anschlag; sobald sie den Kopf des Schwimmenden erblickten, gaben sie Feuer. Aber die bereits hereingebrochene Dämmerung und die Erregung verhinderten ein genaues Zielen – oder war es das Mitgefühl mit dem um sein Leben ringenden Kameraden, das ihre Hand unsicher machte?

Auf der Brücke entstand ein Auflauf, ein hastiges Schreienn und Fragen. Scharen von Vorübergehenden sammelten sich, um in die Tiefe nach dem kühnen Schwimmer hinab zu spähen, während die beiden Soldaten, von einigen Neugierigen begleitet, dem Ende der Brücke zurannten, um im Kahn die Verfolgung aufzunehmen. Allein der Flüchtling, ein geübter Schwimmer, hatte schon einen großen Vorsprung, begünstigt von der schnellen Strömung des Flusses, und als die Soldaten endlich in Begleitung eines Schiffers vom Lande abstießen, hatte er schon unweit der Dammvorstadt das Ufer erreicht. In vollem Lauf durcheilte er die Wiesen und Gärten; obgleich ihm die nassen Kleider schwer am Leibe hingen. Keine Furcht erfüllte ihn, sondern nur der Gedanke an die mit jedem Pulsschlag, mit jedem Athemzug ersehnte Freiheit.

Von der Hofseite her näherte er sich dem Hause seiner Mutter. Vorsichtig spähend, um keinem zu begegnen, tappte er sich in das Haus hinein, und nun stürmte er in das kleine Wohnzimmer. Ein lauter Schrei der entsetzt auffahrenden Frauen empfing ihn. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie den in triefenden Kleidern, erhitzt, athemlos vor ihnen Stehenden an. In fassungsloser Ergriffenheit ohne ein Wort hervorbringen zu können, sank die erschütterte alte Frau vor ihrem Stuhl auf die Knie nieder und streckte die Arme voll Sehnsucht und Hilflosigkeit nach dem geliebten Sohn aus. Dieser sprang hinzu und zog die Hinfällige empor.

„Fasse dich Mutter!“ rief er, die alte Frau liebevoll stützend. „Schnell, schnell! Sechs Jahre haben sie mir gegeben, sechs Jahre! Ich bin ihnen entwischt, die Verfolger sind hinter mir! Um Gotteswillen, faßt Euch! Meinen Civilanzug, Klara! Rasch, ehe es zu spät ist!“

Und schon hatte er sich der nassen Uniform entledigt, und während die Schwester, ohne ein Wort zu erwidern, in das Hinterzimmer eilte, um die Kleider des Bruders zu holen, legte dieser trockene Wäsche an, um dann in fliegender Hast in den Civilanzug zu schlüpfen. Die alte Frau half ihm, so viel sie konnte, obgleich sie sich in einem Zustand tödlicher Aufregung befand. Aus ihrem Gesicht war jede Spur von Farbe gewichen, ihre Glieder zitterten wie im Fieber.

„Franz, Franz, was wirst Du nun anfangen? Wovon wirst Du leben?“

Unter Thränen mußte er lächeln. „Das ist das Wenigste, Mutter. Wenn ich nur erst im Ausland wäre! Vor dem Verhungern fürchte ich mich nicht.“

„Herr des Himmels – so weit, ins Ausland?“ Und sie eilte, so schnell ihre wankenden Beine sie tragen wollten, an den Sekretär ihres verstorbenen Mannes, zog aus einem der Fächer die goldene Uhr hervor, die Franz von dem Vater geerbt hatte, aber in der Kaserne nicht tragen mochte, und reichte sie ihm; dann wollte sie ihm mit aller Gewalt alles im Hause vorräthige Geld aufdrängen. Aber er nahm nur einen Theil davon und wies das Uebrige standhaft zurück. Und nun zog er Mutter und Schwester an seine Brust zum letzten Abschiedsgruß. Für eine kurze Sekunde packte auch ihn fassungslose Weichheit, ein Schluchzen erschütterte seine Brust. Dann nahm er alle Kraft zusammen.

„Sei ruhig, Mutter, sei stark! Ihr werdet bald von mir hören und dann kommt Ihr mir nach, Duu und Klara – und alles ist gut!“

Sie klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn nicht von sich lassen, und er mußte sich fast mit Gewalt von ihr losreißen.

„Bleib’ brav, Klara, bleib’ gut! Tröste die Mutter!“

Und schon stand er an der Thür. Da fiel ihm noch etwas ein. Sich umwendend, deutete er auf die nassen Uniformstücke, die am Boden lagen. „Verstecken – im Garten! In den Fluß damit! Und leugnet, daß ich hier gewesen bin!“ Dann war er auf dem Flur, jetzt mit raschen Sätzen in den Hof, in den Garten, auf die Wiesen zurück und von da im Bogen um die Stadt herum, der Landstraße zu.

Während er bald in athemlosem Laufe, bald langsam vorsichtig spähend, vorwärts drang, überlegte er. Am sichersten schien es ihm, ein paar Stunden zu Fuß zu gehen und dann, noch in der Dunkelheit der Nacht oder mit dem ersten Morgengrauen, auf einer der nächsten Stationen die Eisenbahn zu besteigen. Wenn dann nicht irgend ein tückischer Zufall seinen Verfolgern zu Hilfe kam, so durfte er sich als gerettet betrachten.

Als er die Landstraße betrat, hielt er erschöpft eine Weile an. Mit fieberhafter Aufmerksamkeit horchte er nach der Stadt zurück. Da hörte er ganz deutlich Pferdegetrappel, das sich rasch näherte. Eine Kavallerie-Patrouille, die ihn verfolgte! Er kauerte sich in ein nahes Gebüsch und lauschte mit angehaltenem Athem. Nun unterschied er, daß es ein Wagen war, der auch nach wenigen Minuten sichtbar wurde. Eine ungestüme Freude loderte in dem Flüchtling auf – es nur ein Bauer, der aus der Stadt nach dem Heimathdorf zurückfuhr und auf Wagners Zuruf rasch anhielt. Nach einigem Hin- und Herreden ließ er den Fremden neben sich auf dem Strohsack Platz nehmen, und vorwärts ging die Fahrt durch die immer dunkler werdende Nacht „Gerettet!“ jubelte es in der Brust des Deserteurs, und ein wonniges Gefühl der Sicherheit wollte ihn überkommen. Da ertönte mit einem Mal rechts vom Felde her lautes Rufen – „Halt!“ schallte es gebieterisch herüber. Unwillkürlich gehorchend, zog der Bauer die Zügel an. Und noch ehe Wagner sich besinnen konnte, hatten auch schon drei Gestalten den Straßengraben überspringend, den Wagen umstellt, drei Gestalten mit Helm und Gewehr – eine Patrouille, wahrscheinlich von seiner Kompagnie, die auf die erste Meldung von seiner Flucht allen anderen vorausgeeilt war. Wie gelähmt saß der Flüchtling da; wie im Traume erkannte er in der Stimme des Vordersten, der jetzt dicht vor den Bauer hintrat und ihn fragte, ob er nicht einen fliehenden Soldaten in Waffenrock und Mütze, einen Deserteur gesehen habe, die seines Korporalschaftsführers. An allen Gliedern bebend, saß Franz da, sein Schicksal erwartend, und er wäre widerstandslos gefolgt, wenn man sich in diesem Augenblick seiner bemächtigt hätte. Aber während der Bauer die ihm vorgelegte Frage verneinte und Auskunft über sich gab, raffte sich Franz auf. „Widerstand bis zum letzten Blutstropfen!“ gelobte er sich. Er biß die Zähne zusammen und machte sich zum Sprunge bereit. Die glühenden Augen heftete er fest auf das Gewehr des Unteroffizier, das dieser unterm Arme trug. Sobald ihn der Vorgesetzte erkannte, wollte er sich mit unwiderstehlicher Kraft auf ihn werfen, ihm [692] die Waffe entreißen und ihn niederschlagen. Entweder gelang es ihm dann, in der ersten Verwirrung zu entkommen, oder man schoß ihn tot. Aber so oder so – Kampf, so lange noch ein Athemzng in ihm war!

Während der Unteroffizier mit dem Besitzer des Fuhrwerks sprach, entzündete einer seiner beiden Begleiter ein Streichholz und wollte damit dem Bauern ins Gesicht leuchten, doch ein Windstoß verlöschte die Flamme. Schon schickte er sich an, sein Manöver zu wiederholen, als der Unteroffizier, der mit flüchtigem Blick auch in der zweiten Gestalt einen Civilisten erkannt hatte und es für ausgeschlossen hielt, daß der Deserteur in dieser kurzen Zeit sich andere Kleidung verschafft haben könnte, ein kurzes verdrießliches „Vorwärts! Weiter!“ ausstieß und sich kurz umdrehte.

Und alle Vorsicht vergessend, entriß Franz mit heftigem Griff seinem Nachbar die Peitsche und schlug so ungestüm auf die Pferde los, daß sie sich in gestreckten Lauf setzten. Im Nu hatten sie die Soldaten im Rücken, und wie im Fluge ging es auf der glatten Landstraße vorwärts.

Ein strahlender Blick richtete sich aus den Augen des Flüchtlings zum dunklen Firmament empor.


4.

Das Attentat auf den Lieutenant von Buschenhagen und die Flucht des Verurtheilten erregten unter der. Bevölkerung der Stadt großes Aufsehen. Daß ein Soldat sich an einem Offizier thätlich vergriff war eine so große Seltenheit, daß der Fall schon aus diesem Grunde zum Stadtgespräch wurde. Und hier kam noch der Selbstmordversuch der jungen Buchhalterin hinzu und gab der aufregenden Geschichte einen willkommenen pikanten Beigeschmack. Der Skandal wurde vollends öffentlich, als das in der Stadt erscheinende „Volksblatt“ sich des interessanten Stoffes bemächtigte und in einem donnernden Leitartikel gegen das „Vorrecht der Offiziere im Staat und in der Gesellschaft“ zu Felde zog.

Für Herrn von Buschenhagen hatte die peinliche Angelegenheit allerlei unangenehme Folgen. Sein Oberst zeigte ihm eine sehr frostige Miene und verwandelte seine frühere vertrauliche Anrede: „Mein lieber Buschenhagen“ flugs in das förmliche „Herr Lieutenant von Buschenhagen“. Diejenigen bürgerlichen Kreise, mit denen der junge Offizier gelegentlich in Berührung kam, begegneten ihm mit einer gewissen absichtlichen Kälte, und Löwenthal – so berichtete der treue Jänicke – war neulich während der Abwesenheit des Herrn Lieutenants in dessen Wohnung gewesen und hatte in sehr aufdringlichem Tone nach ihm gefragt. Im Hause des Kommerzienraths Hendloß hatte sich der junge Offizier seit dem Tage des Attentats aus leicht begreiflichen Gründen nicht mehr sehen lassen; es sollte erst ein wenig Gras über die Geschichte wachsen.

Schließlich kam die Angelegenheit auch vor den Ehrenrath des Offiziercorps. Doch die Kameraden Buschenhagens sprachen ein „Nichtschuldig“. Buschenhagen habe die Standesehre nicht verletzt. Es sei weder erwiesen noch anzunehmen, daß er der Schwester des Soldaten Wagner irgendwelche bindenden Versprechungen gegeben habe. Daß diese sich trotzdem Illusionen gemacht habe, dafür sei Buschenhagen nicht verantwortlich.

Peinlicher als der Ehrenrath des Regiments nahm der Familienrath im Hause Hendloß die Sache, als eines Tages der Lieutenant in feierlichem Aufzug erschien, um in aller Form um Fräulein Doras Hand anzuhalten. Er hatte zwar eigentlich noch länger zuwarten wollen, aber das erwies sich als unmöglich. Es war die höchste Zeit, daß etwas geschah, um die unruhig gewordenen Gläubiger zu besänftigen, die weder neue Anleihen gewähren, noch die alten Verbindlichkeiten stunden wollten.

Unter diesen Umständen traf ihn die Antwort des Kommerzienraths, der äußerst höflich, aber sehr entschieden bedauerte, die seiner Familie zugedachte Ehre zurückweisen zu müssen, wie ein betäubender Schlag. Und als drei Tage später Hendloß gar die Verlobung seiner Tochter mit dem Sohn eines Geschäftsfreundes öffentlich anzeigte, da begannen des Lieutenants unverwüstliches Selbstgefühl und die ihm angeborene Leichtlebigkeit ins Wanken zu gerathen. Ganze vierundzwanzig Stunden ging er mit sich zu Rathe. Dann faßte er seinen Entschluß.

Der erste Schritt war, daß er eine lange Unterredung mit Herrn Löwenthal, seinem Hauptgläubiger und dem Wortführer der anderen, abhielt; es gelang ihm, den Geldmann zu dem Versprechen zu bewegen, während der nächsten vierzehn Tage nichts gegen seinen Schuldner zu unternehmen. Dann kam er um einen kurzen Urlaub ein, der ihm sogleich gewährt wurde. Er packte seinen kleinen Handkoffer, ließ ihn von seinem Burschen nach dem Bahnhof tragen und dampfte schweren Herzens nach dem kleinen Städtchen ab, in dem seine Eltern wohnten.

Was er vorhatte, war eine That der Verzweiflung. Aber er sah keinen anderen Ausweg. Hatte dieser letzte Versuch nicht den gewünschten Erfolg, dann schlugen die Wasser über ihm zusammen, dann ade, du goldene Lieutenantszeit!

Als Erwin am Abend im elterlichen Hause eintraf, war die Freude, wenigstens unter den weiblichen Familienmitgliedern, eine stürmische. Nur sein Vater, der Major und Bezirkskommandeur Hans von Buschenhagen, zeigte eine mißtrauische Miene. Der unerwartete Besuch seines Sohnes erregte seinen Verdacht.

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 42, S. 709–714

[709] Am ersten Tage seiner Anwesenheit im elterlichen Hause schlief Erwin bis in den Vormittag hinein, und als er in das Wohnzimmer hinüberkam, war der Major schon auf seinem Bureau. Der Lieutenant athmete erleichtert auf. Die unerquickliche, verdrießliche Geschichte kam immer noch frühzeitig genug zur Sprache.

Der Vormittag gehörte der Mama und den beiden Schwestern. Erwin mußte allerlei Neuigkeiten aus seiner Garnison auskramen – welche Versetzungen und Beförderungen im letzten Jahre stattgefunden hätten, ob die neue Kommandeuse eine liebenswürdige Dame sei, ob es auf den Gesellschaften bei Hauptmann Bielefelds noch immer so knapp zugehe, wer zur Zeit der flotteste Tänzer sei und ob Lieutenant Graf Werra von den Dragonern der Jenny Hoff, der Heroine des Stadttheaters, noch immer auffallend den Hof mache.

Als man sich satt geschwatzt hatte, schlugen die beiden jungen Mädchen einen Spaziergang vor, während die Frau Major sich der Küche widmen wollte. Es drängte die Schwestern, sich mit dem schmucken Bruder an der Seite den Kleinstädtern zu zeigen. Denn weder die Tochter des Amtsgerichtsdirektors noch die unausstehliche Lucie Döring, die Tochter des reichen Fabrikbesitzers vorm Thor, noch irgend eine der anderen Honoratiorendamen [710] der Stadt hatte einen Lientenant als Bruder aufzuweisen. Der Spaziergang fand denn auch statt und erzielte den von Erwins Schwestern gewünschten Erfolg. Zum Schluß wurden noch einige kurze Besuche gemacht, die nachher beim Mittagstisch zu Hause Stoff zu einem launigen, mit anzüglichen Bemerkungen gespickten Gespräch geben mußten. Was die Mahlzeit selbst betraf, so war Erwin nicht gerade sehr erbaut davon, obgleich die Mama sich sichtlich bemüht hatte, ihrem Liebling zu Ehren der Tafel einen außergewöhnlichen Glanz zu verleihen.

Den verwöhnten Augen des Lieutenants erschien alles ärmlich und dürftig, nicht nur die Mahlzeit, sondern auch das Geschirr, das Mobiliar der Wohnung. Die ganze Haushaltung hatte einen kleinbürgerlichen, fast kärglichen Zuschnitt, den der junge Offizier niemals so unangenehm empfunden hatte wie gerade jetzt. Die Beschränktheit der Mittel, über welche der zur Disposition gestellte Major verfügte, verrieth sich in allem und jedem, und Erwin würde schon jetzt an dem Gelingen seines Vorhabens gezweifelt haben, wenn er nicht gewußt hätte, daß von seiten seiner Mutter ein kleines Vermögen vorhanden war.

Als der Major sich nach Beendigung der Mahlzeit erhob, nahm Erwin all seine Energie zusammen. Was half alles Zögern? Es mußte sein.

„Papa!“ sagte er, hastig aufstehend, mit heiser klingender Stimme.

„Du wünschest?“ Der Major drehte sich halb nach dem Sohne herum, während die übrigen Familienmitglieder erstaunt auf Erwin blickten, dessen verstörtes Wesen ihnen auffiel.

„Ich – ich möchte – ich hätte gern etwas mit Dir besprochen,“ stammelte er.

„So komm’!“ gab der Major kurz zur Antwort und verließ das Zimmer.

In seinem kleinen, sehr bescheiden ausgestatteten Arbeitsstübchen angelangt, ließ sich der Major vor dem Schreibtisch nieder und sagte mit einem durchdringenden Blick auf seinen Sohn: „Sprich! Aber wenn ich bitten darf, ohne Umschweife!“

Erwin strich sich über die Stirn, die sich ganz feucht anfühlte und senkte die Augen. Ohne Umschweife! Das war leicht gesagt, aber schwer gethan, ja es war in seiner Lage geradezu eine Unmöglichkeit. Was für ein Gesicht der strenge alte Herr wohl gemacht haben würde, wenn sein Sohn mit der kurzen Erklärung herausgerückt wäre: „Du, Papa, ich habe Schulden, schauderhaft viel Schulden. Sei doch so gut und bezahle sie!“ Wahrscheinlich hätte damit die Unterredung ein schnelles unliebsames Ende genommen. Nein, er mußte vorsichtig, Schritt für Schritt vorgehen! Einen Operationsplan hatte er sich bereits zurechtgelegt.

Sich zu einer harmlosen Miene zwingend, begann er langsam, fast tastend: „Sage ’mal, Papa, sind hier bei Euch die Lebensmittelpreise währeud der letzten Jahre auch so gräßlich gestiegen wie in unserer Garnison?“

Der Major blickte erstaunt auf und entgegnete dann in seiner militärisch knappen Weise: „Weiß nicht, kümmere mich nicht um Wirthschaftsgeschichten.“

„Aber an dem Wirthschaftsgeld, das Du der Mama zahlst, wirst Du es doch merken?“

„Ich zahle ihr heute keinen Pfennig mehr als vor fünf Jahren.“

„So? Hm! Na, dann könnt Ihr von Glück sagen. Bei uns ist die reine Theurung ausgebrochen.“

Der alte Offizier sah jetzt ironisch lächelnd zu dem Sprechenden hinüber. „Seit wann bekümmerst Du Dich denn um die Fleisch- und Mehlpreise?“ bemerkte er spöttisch.

„Na, man liest doch seine Zeitungen, Papa,“ antwortete der Lieutenant mit gekünstelter Lebhaftigkeit, um etwas langsamer fortzufahren: „Und dann, siehst Du, dann wird unsereiner von einer solchen Preissteigerung doch auch in Mitleidenschaft gezogen. Ja, unser Regimentsadjutant machte kürzlich schon Andeutungen, daß der Mittagstisch im Kasino möglicherweise aufschlagen dürfte.“

Der alte Offizier warf einen forschenden Blick auf seinen Sohn und begann mit den Fingern auf der Platte des Schreibtisches einen Marsch zu trommeln. „Das kann sich doch höchstens um fünfundzwanzig Pfennig täglich handeln. Die wirst Du wohl noch erübrigen können, mußt eben ein Glas Bier weniger trinken.“

„Hm!“ Erwin räusperte sich, zupfte eine Weile an seinem Schnurrbart und entgegnete dann in einem bestimmteren Tone: „Ja, Papa, wenn das das Einzige wäre! Aber da sind noch so viel andere Dinge, die theurer geworden sind, so daß –“ jetzt, wo die Entscheidung nahte, kam doch wieder ein Gefühl lähmender Bangigkeit über ihn.

Aber der Vater selbst drängte ihn vorwärts. „Nun?“ sagte derselbe streng, fast drohend.

Der Lieutenant biß sich auf die Lippen. Lebhaft sprang er auf und stieß mit krampfhafter Entschlossenheit heraus: „Papa, ich kann unmöglich mehr mit meiner Zulage auskommen. Du mußt – mußt mir schon noch etwas zuschießen.“

„Muß ich?“ Das kam so scharf und beißend heraus, daß Erwin zusammenfuhr während seine Wangen vor Aerger dunkelroth wurden. „Ja, Papa, ich stehe sonst für nichts,“ entgegnete er achselzuckend.

Die Augen des alten Offiziers schossen Blitze nach dem Sohn hinüber; er richtete sich in seiner ganzen stattlichen Größe im Sessel auf. „Wenn Du mir etwa drohen willst, Du werdest Schulden machen, falls ich Deine Zulage nicht erhöhe, so laß Dir ein für allemal gesagt sein, daß Du die Folgen eines solchen Leichtsinns selbst zu tragen haben wirst. Und damit Du klar siehst, so sage ich Dir hiermit ein für allemal, daß von einer Erhöhung Deiner Zulage nie, hörst Du, nie die Rede sein kann. Im Gegentheil!“

Der Lieutenant war ganz blaß geworden. „,Im Gegentheil‘ sagst Du, Papa? Was soll das heißen? Du wirst doch nicht verlangen, daß ich mich von allem zurückziehe und mich vor den Kameraden lächerlich mache!“

„Lächerlich?“ Der alte Offizier stand auf und trat dicht vor den Sohn hin. „Glaubst Du, daß ich mich je in meinem Leben lächerlich gemacht habe?“

Erwin warf einen scheuen Blick auf die hohe breitsthulterige Gestalt des Vaters, der in seinem weißen Haar, mit den ehrenfesten ehernen Zügen aussah wie das verkörperte Bild der Rechtlichkeit. „Nein, Papa!“ entgegnete er kleinlaut.

„In Deinem Alter,“ fuhr der alte Herr immer erregter fort, „in Deinem Alter mußte ich noch mit viel weniger auskommen als Du. Mein Vater hatte flott und über seine Verhältnisse gelebt, und als er starb, war so gut wie nichts vorhanden. Nur meine Zulage war sichergestellt und ich schätzte mich glücklich, daß ich sie meiner Mutter überlassen konnte. Mir blieb ja mein Gehalt, das für mich ausreichte, ausreichen mußte, wenn auch die Lieutenantsgage damals noch um ein gut Theil geringer war als heute.“

Der Lieuteuaut schlug die Augen nieder. Seine ganze Entschlossenheit war dahin. „Ich begreife nicht –“ stammelte er.

„Ich hatte eben eine andere Auffassung von dem Beruf und der Ehre des Offiziers als Ihr heutzutage.“ Der Sprechende warf einen geringschätzigen Blick auf die breiten, mit einer frisch gebügelten Prinz Wales-Falte versehenen Beinkleider, auf die spitzen, fast absatzlosen Halbstiefelchen des Sohnes und auf den modischen Interimsrock, der oben in einen übermäßig hohen Kragen auslief und unten kaum bis auf die Schenkel reichte. „Ich hielt es nicht für die Aufgabe des Offiziers,“ fuhr er fort, „jede neue Mode eilfertig nachzuäffen, ich war nicht der Ansicht, daß es die Offiziersehre erfordere, jeden Ball, zu dem ich geladen wurde, mitzumachen, die theuersten Weine zu trinken, keine Delikatesse der Saison auszulassen und jede mir angebotene Wette zu halten. Ich fürchtete auch nicht, daß es meine Würde beeinträchtige, wenn ich, statt im theuren Restaurant zu speisen, abends zu Hause saß bei Brot und Butter. Ich betrachtete es vielmehr als eine Aufgabe des Offiziers, daß er mäßig lebe, seinen Körper stähle und sich in Selbstbeherrschung übe, um sich kriegstüchtig zu erhalten. Ein Mensch, der ein weichliches Leben führt, seinen Körper bei Gelagen und Schwelgereien zerrüttet, ist ein unnützes Mitglied des Offiziercorps, denn er wird nicht imstande sein, im Felde seinen Mann zu stehen.“

Der alte Herr schwieg, seine hohe Gestalt sank etwas in sich zusammen, als habe ihn die lange, mit gerötheten Wangen und blitzenden Augen gesprochene Rede ermüdet.

Der Lieutenant fand kein Wort der Erwiderung; den Kopf auf die Brust gesenkt, stand er regungslos da. Eine verzweifelte Stimmung war über ihn gekommen; Reue und Angst kämpften mit dem Rest von Muth, den er krampfhaft festzuhal1en suchte. [711] Sollte er jeden weiteren Versuch aufgeben, Hilfe von dem Vater zu erlangen? Aber wenn er sie hier nicht fand, so war er verloren! Und die Liebe für seinen Beruf, die ihm von Jugend an eingeimpft worden war, fluthete mächtig in ihm empor. Gewiß, der Vater war streng, aber er war doch sein Vater und konnte den Sohn nicht herzlos zu Grunde gehen lassen. Wenn er ein offenes Geständniß ablegte, wenn er bei seiner Ehre gelobte, ein anderer zu werden, dann konnte ihn der Vater nicht im Stiche lassen. Und ganz durchdrungen von diesem Gedanken, erhob er sein Gesicht und begann, während ihm ein ehrlicher Eifer aus den Augen leuchtete: „Du hast recht, Papa. Man legt in unsern Kreisen viel zu viel Werth auf Aeußerlichkeiten und macht sich den Kopf heiß um Dinge, die im Grunde doch recht überflüssig sind. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht einen Strich durch die Vergangenheit mache, einen dicken Strich, und ein vernünftiger Kerl werde!“ Er erhob sich und näherte sich mit ausgestreckter Hand dem Major, der ihn erstaunt, mit einem Ausdruck von Mißtrauen betrachtete.

„Ja, Papa, das will ich, wahr und wahrhaftig! Aber nun sei auch gut und hilf mir!“

„Ich? Die Hauptsache ist, daß Du selbst den ehrlichen Willen hast. Ein rechter Mann verläßt sich auf sich selbst und seine eigene Kraft.“

„Nun ja,“ Erwin ließ seine Hand sinken, „das ist ja richtig. Aber siehst Du, es giebt doch Verhältnisse und Umstände und – und Sünden der Vergangenheit, die einem wie Steine im Wege liegen –“

Erschrocken hielt er inne. Der Major hatte einen der Federhalter auf dem Schreibtisch ergriffen und mitten entzweigebrochen. Seine Brauen waren finster gerunzelt und um Auge und Mund lag ein Zug von Härte.

„Hast Du Schulden?“ fragte er kurz und rauh.

Erwin holte tief Athem und stieß dann entschlossen hervor:

„Ja, Papa.“

Mit einer heftigen Bewegung trat der alte Offizier näher. „Du hast gespielt?“ Es war eine angstvolle Spannung, mit der er die Antwort erwartete.

„Nein!“ entgegnete der Lieutenant, den Blick des Vaters voll aushaltend.

„Gottlob!“ Fast unhörbar waren die Worte von den Lippen des alten Mannes gekommen. „Das ist das Schlimmste, das Hazardieren,“ fügte er mit einem tiefen Athemzuge hinzu. „Nun, da Du nicht gespielt hast, kann die Sache ja nicht schlimm sein. Ein paar hundert Mark! Damit wirst Du leicht allein fertig werden.“

„Aber bedenke, Papa!“ unterbrach ihn Erwin mit dem Eifer der Verzweiflung.

„Ich kann Dir auf keinen Fall eine besondere Zahlung leisten,“ fuhr der Major entschieden fort. „Auf keinen Fall! Ich hatte sogar die Absicht, von Dir zu fordern, daß Du jetzt, als Premierlieutenant, zu gunsten Deiner Schwestern auf die Zulage verzichtest. Davon kann allerdings unter diesen Umständen vorläufig nicht die Rede sein. Aber ordne die Sache mit Deinen Gläubigern, biete Ihnen monatliche Abschlagszahlungen oder noch besser: schreibe mir auf, wieviel und wem Du schuldest, und ich sende die dreißig Mark monatlich, die ich bisher zu Deinem Gehalt zuschoß, Deinen Gläubigern ein. Du mußt sehen, wie Du Dich künftig ohne Deine Zulage behilfst.“

Der Lieutenant taumelte erschrocken zurück. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn. Auf zehntausend Mark beliefen sich alles in allem seine Schulden, und diese Summe sollte er in Ratenzahlungen von dreißig Mark tilgen! „Unmöglich!“ Er hatte es unwillkürlich laut gerufen.

„Unmöglich? Unmöglich scheint es Dir, mäßig zu leben und zu sparen, wie Dein Vater es sein ganzes Leben lang gethan hat und noch heute thut? Wenn Du leichtsinnig gewirthschaftet hast, so hast Du die Folgen zu tragen. Oder willst Du auf Kosten der Gesundheit Deiner Eltern, die sich ohnehin alles versagen, Dein altes Leben weiterführen? Von meinem Gehalt kann ich Dir keinen größeren Zuschuß gewähren; das ist bis auf den letzten Heller eingetheilt und vergeben.“

„Aber Mamas Vermögen!“ stieß der Lieutenant heftig hervor. Das Wort war ihm kaum entfahren, so bereute er, es gesprochen zu haben.

Der alte Offizier, wie von einem elektrischen Schlag berührt, war zusammengefahren; seine Augen öffneten sich weit, seine ganze Gestalt erbebte. „Mamas Vermögen!“ stieß er mit bitterem Lachen hervor. „Also danach gelüstet es Dich?“ Und seine Rechte erhebend und sie gegen den Sohn ausstreckend, setzte er mit unheildrohender Stimme hinzu: „Lieber lasse ich mir diese meine Hand abhauen, ehe ich auch nur einen Pfennig von Mamas Vermögen Deiner Verschwendungssucht opfere.“

„Aber –“ stotterte Erwin, nachdem er sich einigermaßen von seinem Schrecken erholt hatte, „ich – ich meine ja natürlich nicht das Kapital, ich rede nur von den Zinsen.“

„Die Zinsen!“ stieß der Alte zwischen den grimmig aufeinander gepreßten Zähnen hervor, und die Hände auf dem Rücken, fing er an, mit dröhnenden Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. Plötzlich trat er wieder vor seinen Sohn hin. „Es ist besser,“ begann er, seine Erregung bekämpfend, „ich rede offen mit Dir. Du wirst dann hoffentlich selbst zu der Einsicht kommen, daß Ehre und Pflicht es verbieten, mit dem Vermögen Deiner Mutter Deine Schulden zu bezahlen. Wie hoch, denkst Du, beläuft sich dieses Vermögen?“

„Soviel ich weiß, sind es dreißigtausend Mark,“ antwortete der Lieutenant bestürzt.

„Dreißigtausend!“ Der alte Offizier lachte höhnisch. „Ja, so viel war es einmal, bis vor fünf Jahren Dein Bruder starb. Dann schmolz es mit einem Mal auf zehntausend zusammen.“

Auf zehntausend! Der Lieutenant starrte seinen Vater ungläubig an. Und der Tod seines Bruders – in welcher Beziehung stand der zu diesem schweren Verlust?

„Niemand weiß um die Sache, auch Mama und Deine Schwestern nicht, und ich fordere von Dir, daß Du das, was ich Dir anvertraue, als ein Geheimniß bewahrst.“

Erwin nickte betheuernd. „Aber wie war es nur möglich?“ rief er unwillkürlich.

Ueber das Gesicht des Majors lief ein schmerzliches Zucken, die Linien um Mund und Augen hatten sich merklich vertieft; der alte Herr schien plötzlich um Jahre gealtert. „Diesen Frühling waren es fünf Jahre,“ begann er langsam, „daß ich durch eine Depesche von Egons Regimentskommandeur an das Sterbelager Deines Bruders gerufen wurde. Als ich ankam, war Egon schon tot. Mir blieb nichts übrig, als seine Leiche mit nach der Heimath zu nehmen. Den Schmerz Deiner Mutter, Deiner Schwestern hast Du selbst mit angesehen. Aber um wieviel bitterer wäre er gewesen, wenn sie die wahre Todesursache erfahren hätten.“

„Wie? Egon fiel nicht im Duell?“ stieß der Lieutenant verwirrt heraus.

Der alte Offizier bewegte verneinend den Kopf und wandte sein Gesicht zur Seite.

„Aber Du selbst hast es uns gesagt! Du selbst!“

„Eine fromme Lüge, um Deine Mutter zu schonen, die unter der Wucht der Wahrheit zusammengebrochen wäre. Egon hat selbst Hand an sich gelegt.“ Von der entsetzlichen Erinnerung übermannt, schlug der alte Herr die Hände vor dem Gesicht zusammen und ein dumpfes Stöhnen entrang sich seiner Brust.

Der Lieutenant sank wie vernichtet auf einen Stuhl. „Schulden?“ kam es tonlos von seinen Lippen.

Der Major ließ die Hände sinken, und in dem eben noch farblosen Gesicht stieg eine glühende Röthe auf, seine Züge verzerrten sich zu einem Ausdruck tödlichen Hasses, während er zornbebend rief:

„Der Dämon, der Vampir, der den jungen Leuten Hirn und Herzblut aussaugt, der ganze Familien zu Grunde richtet - das Spiel hat ihn in den Tod getrieben! Er hat zwanzigtausend Mark verloren in einer Nacht – gegen Ehrenwort.“

Er ließ sich erschöpft in seinen Sessel fallen und stierte schweigend vor sich hin.

Erwin saß wortlos ihm gegenüber und rang mit den Empfindungen, die seine Brust durchstürmten. Am liebsten hätte er sich dem Vater zu Füßen geworfen, um sein Herz durch ein offenes Geständniß zu erleichtern. Aber der Anblick der gramgebeugten ehrwürdigen Gestalt machte ihn verstummen.

Nach einer Weile war der Major seiner Bewegung so weit Herr geworden, daß er in leisem zitternden Ton, der die tiefste Erschütterung verrieth, fortfuhr: „Ich will den unglücklichen Jungen nicht schmähen, der in seiner Weise gesühnt hat. Sich an mich zu wenden, mich um die Bezahlung seiner Ehrenschuld [714] anzugehen, brachte er nicht über sich. Er schrieb an den Kameraden, an den er den hohen Betrag verloren hatte, daß er ihn mit Geld nicht bezahlen könne, er bezahle daher mit seinem Leben. Und so ging er in den Tod. Da er die Strafe so unerbittlich selbst an sich vollzog, hielt ich es für meine Pflicht ihm zu vergeben, was er gefehlt hat. Und damit niemand ein Recht habe, sein Andenken zu verunglimpfen und seine Ehre in den Staub zu treten, nahm ich seine Schuld auf mich und tilgte sie zur festgesetzteu Frist.“

Der Major schwieg, tief aufseufzend, und strich sich mit der Hand über die Augen, in denen es feucht schimmerte. Dann schloß er in festem Ton: „Und nun mein Sohn, weißt Du, warum ich spare und knausere und Zinsen auf Zinsen häufe.“

Mit wogender Brust, aufs tiefste ergriffen, hatte der Lieutenant den Schluß des Berichtes angehört. Jetzt sprang er auf und stürzte zu seinem Vater hin. In überströmender Zärtlichkeit haschte er nach der Hand des überrascht Aufblickenden und küßte sie stürmisch.

*  *  *

Am andern Tage schon lief Erwins Urlaub ab. Als er Mutter und Schwestern zum Abschied umarmte, mußte er sich Gewalt anthun, um seine Ergriffenheit zu verbergen. Er hatte die Empfindung, als sage er ihnen für lange, für immer Lebewohl.

Der Vater begleitete ihn zur Bahn. Schweigend schritten sie nebeneinander her. Kurz vor dem Bahnhof wollte der Major noch einmal auf das gestrige Gespräch zurückkommen, um von dem Sohn nähere Angaben über seine Schulden zu bekommen, aber Erwin wich aus und heuchelte Sorglosigkeit. Er werde die Sache schon selbst in Ordnung bringen – damit brach er kurz ab und fing an, von anderen Dingen zu sprechen. Bis zum Abgang des Zuges plauderte er in einem fort, mit sprudelnder Lebhaftigseit, um jeden Versuch des Vaters, ihn zu weiteren Bekenntnissen zu bewegen, im Keim zu ersticken.

Erst als er allein in dem Coupé war, vor dessen Fenstern Feld und Wald vorüberflogen, gab er sich rückhaltlos der Verzweiflung hin. Sein Schicksal war besiegelt! Verloren! Keine Rettung! Er schloß die Augen und lehnte sich in die Polster zurück, um zu schlafen, um nicht denken zu müssen. Aber vergebens. Der Schlummer, den er herbeisehnte, kam nicht, und so sehr er sich auch vornahm, nicht zu grübeln und zu sinnen, die eine folternde Frage drang unablässig auf ihn ein und ließ ihm keine Ruhe: was nun? was nun?

Als er in seiner Garnison eintraf, war er froh, daß die Dämmerung schon hereingebrochen war. So konnte er, ohne gesehen zu werden, in seine Wohnung gelangen.

Jänicke, der den Lieutenant mit seinem freundlichsten Gesicht begrüßte, wurde zu seiner tiefen Entrüstung keines Wortes gewürdigt, sondern stumm aus dem Zimmer gewiesen. Erwin wollte heute niemand sehen, keinen Menschen, denn er fühlte, daß man ihm die Verzweiflung vom Gesicht ablesen könnte.

Und nun, da er allein war zwischen seinen vier Wänden, schien ihm sein Zustand erst recht nicht erträglich. So dumpf so hoffnungsleer war ihm noch nie in seinem Leben zu Muth gewesen. Er setzte sich, stützte den Kopf in beide Hände und sann und sann. Und dann wieder sprang er empor und fuhr sich mit einer wilden Gebärde an die Stirn. Nicht denken, nicht denken! Denn am Schluß aller seiner Gedanken stand etwas Furchtbares, Entsetzliches, das er nicht sehen wollte, vor dem er die Augen schloß wie ein furchtsames Kind.

Endlich suchte er sein Bett auf, aber ruhelos wälzte er sich hin und her. Ob er das Gesicht in den Kissen vergrub oder in das vom Mondschein erhellte Zimmer starrte, immer und überall sah er ein gräßliches Bild, das ihm das Blut in den Adern erstarren machte: seinen Bruder Egon, wie er im Sarge lag, stumm und bleich, die roth klaffende Todeswunde mitten auf der Stirn.

Am andern Morgen in aller Frühe suchte er den Regimentsadjutanten auf. Dieses einsame Grübeln und Brüten hielt er nicht mehr aus. Er lechzte förmlich nach Mittheilung, nach einem freundlichen Rath, einem aufmunternden Wort.

Als er dem älteren Kameraden sein ganzes Herz ausgeschüttet hatte, entgegnete dieser, sein Auge in ehrlicher Theilnahme auf Erwin ruhen lassend: „Eure Lage ist verteufelt schwierig, lieber Buschenhagen. Habt Ihr denn gar keinen gutmüthigen alten Onkel, gar keine menschenfreundliche Erbtante, der Ihr ein paar tausend Mark abjagen könnt?“

Der junge Offizier schüttelte traurig den Kopf

„Und Euer Alter – wenn Ihr Euch ein Herz fassen und ein offenes Wort mit ihm reden würdet?“

Eine ungeduldige, heftig abwehrende Handbewegung des Kameraden belehrte ihn, daß von dieser Seite nichts zu erwarten sei.

„Also keine, gar keine Hoffnung, das Geld zu kriegen?“ fragte der Adjutant weiter.

„Keine!“

„Nun, Buschenhagen, dann bleibt Euch nur eines übrig.“

Der Angeredete erbleichte und der Kopf sank ihm auf die Brust. „Eine Kugel durch den Kopf!“ sagte er mit tonloser Stimme.

Der Adjutant fuhr auf. „Unsinn! Wer denkt gleich daran! Ein so junger lebenslustiger Mann wie Ihr! Wer weiß, welches Glück Euch noch blüht! Nein, nur den Abschied werdet Ihr nehmen müssen, und ich rathe Euch, Euer Gesuch noch heute einzureichen. Inzwischen besorge ich Euch Urlaub auf vierzehn Tage – bis er abgelaufen ist, wird die Genehmigung Eures Gesuches dasein und Ihr braucht gar nicht mehr zum Regiment zurück.“

Erwin von Buschenhagen lächelte bitter vor sich hin. „Der Abschied? Das ist ebenso gut, als riethen Sie mir zur Pistole.“

Der Adjutant machte ein böses Gesicht. „Na, hört ’mal, Buschenhagen, Ihr übertreibt da unverantwortlich. Giebt es denn außerhalb des Regiments kein Leben?“

„Für mich nicht,“ stieß der junge Offizier leidenschaftlich hervor. „Die Buschenhagens sind nie etwas anderes gewesen als Soldaten, und ich selbst habe nie daran gedacht, etwas anderes zu werden. Was sollte ich auch anfangen, wenn ich den Offiziersrock ausgezogen habe!“

Der Adjutant strich sich bedächtig den starken Schnurrbart und blickte nachdenklich zu Boden. Plötzlich erhellte sich seine Miene und er wandte sich lebhaft an den jüngeren Kameraden: „Sagt ’mal, Buschenhagen, habt Ihr den Schuckmann gekannt, den Freiherrn von Schuckmann von den Dragonern?“

Der Gefragte hob erstaunt den Kopf „Schuckmann? Freilich! Aber was –“

„Ihr wißt,“ unterbrach ihn der andere eifrig, „daß der tolle Schuckmann vor zwei Jahren verschwand, nachdem er sein ganzes väterliches Erbe bis auf den letzten Heller verjubelt hatte. Wo glaubt Ihr wohl, daß er sich heute befindet?“

„Nun?“ Der junge Lieutenant hob gespannt den Kopf.

„In Amerika!“ rief der Adjutant triumphierend, als verkünde er wer weiß was für eine frohe Botschaft, und dem Kameraden seine Hand mit der Miene eines Gönners auf die Schulter legend, fuhr er fort: „Das ist Euer Fall, Buschenhagen! Hier bei uns – da habt Ihr recht – hier würde es Euch schwer fallen, irgendwo wieder Wurzel zu fassen. Drüben ist es besser. Niemand kennt Euch da, alle Vorurtheile und den sonstigen Krimskrams, in dem wir nun ’mal bis über die Ohren stecken, könnt Ihr also hübsch zu Hause lassen. Geht hinüber und zieht in dem neuen Lande einen neuen Menschen an!“

Der Lieutenant war lebhaft emporgefahren. Auf den Schlußsatz hörte er nicht mehr. Das Wort „Amerika“ schien eine magische Wirkung auf ihn auszuüben. Seine hohe kraftvolle Gestalt richtete sich in die Höhe, seine breite Brust hob sich unter einem tiefen erlösenden Athemzug, Ihm war zu Muthe, als sei er plötzlich aus einem duuklen Schacht zum belebenden Tageslicht emporgestiegen. Aus seinen hellen blitzenden Augen strahlte wieder frischer Muth und fröhliches Hoffen. Der zukunftsfreudige Optimismus seiner Jugend und seines lebensfrohen Temperaments begehrte sein Recht. Amerika! Dort und sonst nirgends blühte Rettung! Einfach allen Scherereien und Verdrießlichkeiten aus dem Wege zu gehen. je weiter, desto besser – das war das Vernünftigste! Ueber das Wasser würde ihm Löwenthal nicht folgen!

Dankend reichte er dem Kameraden, der das erlösende Wort gesprochen hatte, die Hand.

„Und nun, lieber Buschenhagen,“ sagte dieser und gab den Händedruck herzlich zurück, „reist glücklich und laßt’s Euch gut gehen! Und wenn Ihr drüben den tollen Schuckmann trefft, grüßt ihn von mir – war immer ein braver Kerl, der Schuckmann, nur leichtsinnig, schauderhaft leichtsinnig.“

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 43, S. 725–728
[725]
5.

Franz Wagner hatte während des Restes seiner Fahrt auf dem Leiterwagen keine weiteren Gefahren und Abenteuer zu bestehen. Nachdem er sich von dem Bauer in dessen Heimathort verabschiedet hatte, erreichte er in zweistündigem Marsch eine kleine Eisenbahnstation. Niemand fiel es ein, in dem gutgekleideten jungen Mann einen Flüchtling zu vermuthen, und unangefochten gelangte der Deserteur über die holländische Grenze nach Antwerpen.

Aber auch hier gönnte er sich noch keine Rast. Er konnte auf europäischem Boden seiner Freiheit nicht froh werden und so drängte es ihn, kaum daß er die Seestadt erreicht hatte, nach dem Hafen hinaus. Erst wenn der Ocean zwischen ihm und der Heimath lag, erst dann würde er unbesorgt aufathmen im Vollgefühl der Sicherheit!

Die theure Eisenbahnfahrt hatte seinen kleinen Geldvorrath sehr vermindert, und er besaß nicht einmal mehr so viel, um die Seereise nach New York im Zwischendeck zurücklegen zu können. Aber das dämpfte seinen Muth nicht. Er war kräftig und gesund und scheute sich vor keiner Arbeit, es mußte ihm ebenso gut wie manch anderem armen Teufel gelingen, sich die Ueberfahrt durch seiner Hände Arbeit zu verdienen. Und richtig, schon am zweiten Tag hatte er das Glück, auf einem zur Abfahrt bereit liegenden Passagierdampfer als Feuermann ein Unterkommen zu finden. Lohn bewilligte man ihm nicht, nur die freie Ueberfahrt; dazu war die Arbeit schwer, so schwer, wie Franz sie noch nie in seinem Leben kennengelernt hatte. Aber trotz alledem durchströmte ihn während der ganzen Reise ein stilles Glücksgefühl, und wollte ihn wirklich einmal ein Augenblick der Verzagtheit anwandeln, so schützte er sich dagegen durch ein Mittel, dessen Wirkung nie versagte: er dachte an die Tage seiner Haft zurück, vergegenwärtigte sich die unendliche Pein, in die ihn ein sechs Jahre langes Sträflingsleben gestürzt haben würde, und aller Kleinmuth, alle Unlust schwand wie vor einer Zaubermacht dahin. –

Es war ein wundervoller warmer Junimorgen, als das Schiff in den Hafen von New York einfuhr. Franz hatte seine Fronarbeit beendet, er stand auf Deck und betrachtete mit entzückten Blicken [726] das herrliche Panorama des Hafens und der Stadt und die Großartigkeit des Bildes erfüllte ihn mit Staunen und Bewunderung. Da lag es endlich vor ihm, das ersehnte gelobte Land, das ihm eine zweite Heimath werden sollte! Frei, ein Mensch unter Menschen, würde er wieder sein Antlitz erheben können! Ein Gefühl zukunftsfroher Zuversicht durchströmte ihn, während er mit leuchtenden Augen unverwandt nach der Stadt hinüberblickte. Wie ein Rausch kam es über den Flüchtling.

Die gehobene Stimmung, in der sich der Landende befand, verhinderte ihn nicht, praktisch und nüchtern seine Zukunft zu erwägen. Er sagte sich, daß er auf eine lohnende und dauernde Beschäftigung in seinem Beruf erst dann rechnen könne, wenn er die Landessprache, die ihm fast völlig fremd war, verstehen und die Verhältnisse näher kennengelernt haben würde. Er verlor deshalb seine Zeit nicht mit vergeblichen Versuchen, eine Anstellung als Monteur zu erhalten, alle seine Bemühungen richtete er auf das eine Ziel, eine Thätigkeit zu finden, die Zeit und Kräfte nicht ganz in Anspruch nahm und dabei doch einigermaßen seinen Lebensunterhalt deckte. Als das Nächstliegende und Einfachste erschien es ihm, einen kleinen Handel zu beginnen, und wenn sich auch anfangs etwas wie Scham und Widerwillen gegen diesen Beruf in ihm regte, so wurde er mit dieser Empfindung doch rasch fertig. Er hatte kein Recht, wählerisch zu sein, und am Ende war doch jede Thätigkeit, die ehrlich nährte, für einen vernünftigen Menschen gleich anständig.

Er besann sich also nicht lange, kaufte sich einen kleinen Kram von billigen Toilettegegenständen, von Hemdenknöpfen, Bürsten, Kämmen und dergleichen zusammen und stellte sich damit täglich ein paar Nachmittagsstunden auf dem unteren Theil des Broadway auf, jener großen New Yorker Verkehrsader, durch die täglich Tausende und Abertausende von Geschäftsleuten aller Art ihren Weg nehmen. Um diesen Handel betreiben zu können, dazu gehörte an Sprachfertigkeit nicht viel mehr als die Kenntniß der Zahlen, die Franz sich sehr bald angeeignet hatte. Im übrigen mußten die Waren, die in einem offenen Kasten auslagen, sich selbst anpreisen.

Seine ganze freie Zeit benutzte er dazu, sich im Englischen zu üben. In dem Boardinghause, wo er für vier Dollar wöchentlich Kost und Wohnung hatte, suchte er näheren Anschluß nur an solche Hausgenossen, die englisch sprachen, und ein junger Maschinenschlosser, dessen Bekanntschaft ihm ein Zufall vermittelte, lehrte ihn die in seinem Beruf vorkommenden englischen Bezeichnungen. Nach zwei Monaten gelang es ihm endlich, in der Maschinenfabrik von R. Hoe und Kompagnie, einer der größten ihrer Art in New York, Beschäftigung zu erlangen, vorläufig freilich nur als gewöhnlicher Schlosser. Aber er hatte Aussicht, bei guten Leistungen und wenn er sich geuügend eingearbeitet haben würde, schnell vorwärts zu kommen. Er hatte bald gemerkt, daß man hier weniger auf Empfehlung und Gönnerschaft sah als auf das, was jeder nach seiner Arbeit und Zuverlässigkeit werth war.

Franz pries sich glücklich, und nichts hätte zu seiner vollen Zufriedenheit gefehlt, wenn nur die Nachrichten aus der Heimath etwas tröstlicher gelautet hätten. Seine Mutter war schwer erkrankt, und es schien, als sei die alte Frau nach all den Schicksalsschlägen, die sie betroffen hatten, gänzlich zusammengebrochen. Jedenfalls war in absehbarer Zeit nicht daran zu denken, daß sie die weite Reise über das Meer antreten konnte. Und so sah sich Franz in die harte Nothwendigkeit versetzt, die Erfüllung seines Lieblingswunsches vertagen zu müssen. Wohl hatte er keinen Mangel zu leiden, das Glück begünstigte ihn, alles, was er anfaßte, gelang. Aber doch wollte das rechte Heimathsgefühl sich nicht bei ihm einstellen. Sein Herz war drüben über dem Meer.

*  *  *

Erwin von Buschenhagen packte noch an demselben Tage, an dem er sich von seinem Urlaub zurückgemeldet hatte, seinen Koffer. Der neue Urlaub, der Vorläufer seiner Verabschiedung, wurde ihm schon am nächsten Morgen bewilligt. Pferd und Sattel, die er noch von seiner Adjutantenzeit her besaß, verkaufte er an einen Kameraden. Einige andere Gegenstände von Werth beschloß er mit nach Berlin zu nehmen, um sie dort zu veräußern. Den Kameraden sagte er nur oberflächlich Lebewohl; niemand ahnte, daß der lustige Buschenhagen für immer ging.

Von Löwenthal verabschiedete sich Erwin schriftlich, und zwar erst von Berlin aus, als er im Begriff stand, nach Hamburg abzudampfen. Er erklärte seinem Gläubiger ganz kurz, daß er leider nicht in der Lage sei, seinen Verpflichtungen nachzukommen, daß er aber „später“ alle seine Schulden auf Heller und Pfennig zu bezahlen gedenke. Und mit diesem Vorsatz war es ihm durchaus Ernst, ohne daß er sich freilich im Augenblick irgendwie darüber klar war, in welcher Weise ihm die Einlösung seines Versprechens möglich sein werde.

Nur von seinem getreuen Burschen nahm Buschenhagen persönlich herzlichen Abschied. „Na, Jänicke,“ sagte er, dem biederen Pommer kräftig die Hand schüttelnd, „Du wirst nun wieder in die Front zurücktreten. Das wird Dir in der ersten Zeit zwar nicht schmecken, aber es ist nun ’mal nicht zu ändern.“

Der Bursche fing an, mit den Augen zu blinzeln und furchtbare Gesichter zu schneiden.

„Aber wir wollen uns nicht gegenseitig das Herz weich machen!“ fuhr der Lieutenant fort. „Du bist immer ein guter Kerl gewesen und ich werde Dich in gutem Andenken behalten. Und ich weiß, auch Du wirst Deinen Lieutenant nicht vergessen.“

Jänicke war nicht imstande, ein verständliches Wort zu erwidern. Er mußte sich damit begnügen, ein paar unartikulierte Laute auszustoßen und die rechte Hand bezeichnend auf die linke Brustseite zu legen. Dabei liefen ihm dicke Thränen über die vollen Backen. Auch in des Lieutenants Mienen zuckte es und seine Stimme klang bewegt, als er jetzt von neuem begann: „Und, Jänicke, damit Du auch ein sichtbares Zeichen meiner Zufriedenheit hast und ein Andenken an mich, so nimm das hier“ – er reichte ihm ein einfaches goldenes Medaillon, das er selbst getragen hatte „und hänge es an Deine Uhrkette! Wenn Du Deine Zeit ausgedient hast und Du kommst nach Hause, dann zeige Deinen Eltern dies Bild“ – er öffnete die Kapsel und deutete auf eine kleine Photographie – „und sage: das war er, mein Lieutenant, der mir manchen ‚Esel‘ und ‚Schafskopf‘ an den Kopf geworfen, der es aber trotz alledem immer gut mit mir gemeint hat.“

Jänicke wußte nicht, wie ihm geschah; er blickte bald auf seinen Lieutenant, bald auf das Medaillon, das ihm sein Herr in die Hand gedrückt hatte, und sein breites Gesicht wollte sich zu freudigem Grinsen verziehen. Plötzlich aber brach er in ein lautes herzbrechendes Schluchzen aus. Der Lieutenant klopfte ihm ein paarmal beschwichtigend auf die Schulter und schob ihn dann sanft zur Thür hinaus, worauf Jänicke in seine Kammer stolperte, um sich daselbst ungestört seinem aufrichtigen Schmerz zu überlassen.

An demselben Abend wanderte Erwin im Civilanzug nach der Dammvorstadt hinaus. Er verband mit diesem Gange keine deutliche Absicht, aber ein unbestimmtes inneres Drängen ließ ihm keine Ruhe. Und was hätte er auch mit dem Rest seiner Zeit anfangen sollen? Seine Koffer hatte er durch seinen Burschen nach dem Bahnhof geschickt, der Schnellzug, der ihn nach Berlin führen sollte, ging erst um elf Uhr. Was also beginnen bis dahin, allein zwischen den öden vier Wänden?

Als er die Gegend betrat, die er leichten Herzens noch vor wenigen Wochen Arm in Arm mit Klara durchwandert hatte, da überkam ihn eine ungewohnte wehmüthige Stimmung, und zum ersten Mal seit dem peinlichen Vorfall mit ihrem Bruder überließ er sich der Erinnerung an das geliebte Mädchen ohne jede Beimischung von Groll oder Bitterkeit. War es denn ihre Schuld, daß alles so gekommen war? Nein, sie war immer gut und herzlich gewesen! Ihr anmuthiges kluges Gesicht schwebte ihm vor. Er hatte sie doch aufrichtig gern gehabt und es that ihm leid, nun für immer scheiden zu müssen. ohne ihr das, was sie um seinetwillen erlitten hatte, auch nur mit einem Wort abbitten zu können. Aber was sollte er thun?

So lebhaft war die innere Bewegung des in seine Gedanken Vertieften, daß er jetzt stehen blieb und nachdenklich vor sich hinstarrte. Sollte er sie etwa heirathen? Unsinn! Er wußte ja nicht einmal, wie er sich in Zukunft allein durchbringen würde! Und ganz abgesehen davon – sie war im Grunde doch nur eine . . . na, eine Arbeiterin, viel mehr nicht. Und dann der Bruder, der Deserteur, der davongelaufene Sträfling, der wahrscheinlich eines Tages durch Schub zurückgebracht wurde!

Er erhob die Augen und blickte unentschlossen die Straße hinab. Da, keine hundert Schritte entfernt, stand das einstöckige Häuschen, durch dessen Thür er sie so oft hatte verschwinden sehen. Er erinnerte sich des letzten Abends, an dem er sie in der Dunkelheit bis hierher begleitet hatte, noch in voller [727] Deutlichkeit. Sie hatte ihm wie immer ohne alle Ziererei die frischen Lippen geboten und sich dann losgerissen, um mit fliegenden Schritten die paar Steinstufen zur Hausthür emporzueilen. Dort aber war sie, ganz gegen ihre Gewohnheit, stehen geblieben, hatte sich umgewandt und war dann plötzlich zu ihm zurückgekehrt, um mit leidenschaftlicher Heftigkeit, als ahnte sie, daß es das letzte Mal sei, ihren Arm um seinen Nacken zu schlingen. Buschenhagen lüftete seinen Hut, strich sich mit der Hand über die Stirn und fächelte sich mit der Kopfbedeckung Kühlung zu. Wie deutlich, zum Greifen deutlich das alles vor seinem Auge stand! Er hatte seine Wanderung wieder aufgenommen und stand nun ganz dicht vor dem Hause mit den alten verwitterten Fensterläden, die schon geschlossen waren und durch deren Ausschnitte der Schein einer Lampe auf die Straße herausdrang. Wie Klara wohl jetzt aussehen mochte? Die Ereignisse der letzten Woche waren sicherlich nicht an ihr vorübergegangen, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen.

Vorsichtig schaute er sich nach allen Seiten um. Die kleine schmale Straße war still, wie ausgestorben. Hastig trat er an eines der Fenster heran, hinter dem sich nach Klaras früheren Schilderungen das Wohnzimmer der Familie befinden mußte. Behutsam zog er die beiden Ftüget des Fensterladens, die nicht mehr dicht schlossen, ein wenig auseinander und spähte angestrengt durch die so entstandene schmale Spalte.

Es dauerte einige Sekunden, bis es ihm gelang, die Gegenstände in dem Zimmer voneinander zu unterscheiden und einen Ueberblick zu gewinnen. Mitten in der Stube stand ein Tisch, daraus die Lampe; rechts an der Wand befand sich ein einfaches Sofa; von links her aber, wo wahrscheinlich eine Thür den Zugang zu einem Nebenraum vermittelte, kam eine Frauengestalt in dunklem Kleide. Jetzt trat sie in den Lichtkreis der Lampe.

Mit angehaltenem Athem starrte er nach ihr hin. Sein Herz pochte stürmisch. Es war Klara, aber wie hatte sie sich verändert! Statt der frischen gesunden Röthe bedeckte ein fahles Blaß die schmalen Wangen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen und zeigten einen so müden hoffnungslosen Ausdruck, daß es dem Lauscher in die Seele schnitt. Um den Mund – er bemerkte es deutlich, da sie jetzt dicht an dem Tische stand – lag ein förmlich entstellender Zug von Bitterkeit, der dem Gesicht etwas ganz Fremdes verlieh.

Mit allen Sinnen nahm der Lauscher das Bild in sich auf, obgleich es sich ihm nur eine kurze Minute darbot, denn schon hatte Klara einen Gegenstand vom Tisch genommen und verschwand damit nach links, von wo sie gekommen war.

Buschenhagen wartete noch einige Sekunden, ob Klara nicht wieder erscheinen würde, aber jetzt näherten sich Schritte auf der Straße, und er gab seinen Lauscherposten eilig auf. Aufs Gerathewohl schlenderte er die Straße hinab, ganz in Anspruch genommen von einer seltsamen Bewegung, in der sich Mitleid und Reue, Sehnsucht und quälende Beschämung mischten. Er war noch nicht weit gekommen, als er, wie von einer unsichtbaren Gewalt gezogen, umkehrte und sich dem Hause wieder näherte. Und nun stand er abermals vor der Thür, mit seinen Gefühlen ringend, ohne zu einem Entschluß gelangen zu können. Wie gerne hätte er sie noch einmal gesprochen, um ihr zu erklären, wie alles gegangen sei, und ihr ein paar Worte des Abschieds zu sagen! Und doch fürchtete er sich zugleich, ihr gegenüberzutreten. Er fühlte, daß er ihren Blick, jenen hoffnungslosen Blick, der ihm wie eine stumme Anklage in der Seele brannte, nicht würde ertragen können. Aber eine Macht, die stärker war als alle Bedenken, als Scham und Furcht, trieb ihn vorwärts, und schon hob er den Fuß, um die kleine steinerne Treppe emporzusteigen, als die Hausthür aufgerissen wurde und auf der Schwelle eine Frauengestalt erschien, im bloßen Kopf, ein leichtes Tuch um die Schultern.

Er erkannte sie beim ersten Blick und trat erregt auf sie zu. Seinen Hut lüftend, begann er mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte: „Klara – wie gut, daß ich Sie hier treffe! Ich war auf dem Weg zu Ihnen – es drängte mich, ehe ich die Stadt verlasse, Sie noch einmal zu sehen, zu sprechen. Ich scheide aus dem Dienst und gehe nach Amerika, um mir dort eine neue Existenz zu gründen.“

Sie stand wie betäubt, im ersten Augenblick unfähig, zu verstehen oder etwas zu entgegnen. Als aber das Wort „Amerika“ an ihr Ohr schlug, zuckte sie zusammen, ihre blassen Wangen rötheten sich, und ihn mit einem stolzen abweisenben Blick messend, sagte sie kalt: „Gehen Sie! Ich verachte Sie!“

Wie von einem körperlichen Schlag getroffen fuhr er zurück, während sie hastig über die Straße eilte und in dem gegenüberliegenden Kaufladen verschwand. Langsam setzte auch er sich in Bewegung. „Ich verachte Sie!“ Noch nie hatte es jemand gewagt, ihm einen solchen Schimpf offen ins Gesicht zu schleudern, und jetzt hatte er es hingenommen, ohne jeden Versuch einer Abwehr! Es war weit mit ihm gekommen und wahrhaftig Zeit, daß er diesen Boden verließ! Er blickte sich scheu um. Gottlob, niemand hatte es gehört! Unwillkürlich zog er den Hut tief in die Augen, als fürchtete er, daß man die ihm widerfahrene Schmach von seinem Gesicht ablesen könnte. Dann aber setzte er seinen Weg mit beschleunigten Schritten fort. Um keinen Preis der Welt hätte er noch einmal ihrem Blick begegnen mögen, dem Blick, der ihm vernehmlicher und vernichtender noch als ihr Mund gesagt hatte: „Ich verachte Dich!“


6.

Erwin von Buschenhagen wartete in Berlin seine Verabschiedung ab und beschäftigte sich in der Zwischenzeit damit, was er von den mitgenommenen Habseligkeiten irgend entbehren konnte, zu Gelde zu machen. Seinen Eltern und seinen Schwestern sagte er brieflich Lebewohl und erst im letzten Augenblick, als er schon seine Entlassung in der Tasche hatte. „Ich habe es nicht über mich gebracht,“ schrieb er, „Euch noch persönlich um Vergebung zu bitten. Ich muß erst sühnen, was ich verschuldet habe, muß erst aus eigener Kraft ein neuer Mensch werden, bevor ich wagen kann, Euch wieder unter die Augen zu treten.“

Der Brief war ihm außerordentlich schwer gefallen, und als er das große Werk vollbracht hatte, da war es ihm, als hätte man eine Centnerlast von ihm genommen, und mit leichterem Herzen dampfte er nach Hamburg ab.

An Geld besaß er gegen neunhundert Mark. Um mit der Sparsamkeit, die er sich für die nächste Zukunft zur Pflicht gemacht hatte, unverzüglich zu beginnen, löste er für die Ueberfahrt nach New York nur eine Karte für das Zwischendeck. Ueber die paar unangenehmen Tage, die er damit auf sich nahm, hoffte er schon hinwegzukommen. Aber es waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seit das Schiff den Hafen verlassen hatte, als er seinen Entschluß wieder änderte. Das, was er im Zwischendeck sah und erlebte, der Schmutz, der Lärm und die Ausdünstungen der Hunderte von dicht nebeneinander untergebrachten Menschen erfüllte ihn mit soviel Ekel und Widerwillen, daß er jeden Widerstand aufgab. Sein „aristokratisches Gefühl“, das sich nicht so leicht bezwingen ließ, lehnte sich gegen die Gemeinschaft mit diesen Tagelöhnern und Arbeitern auf, die sich herausnahmen, ihn wie ihresgleichen zu behandeln, die ihm ebenso vertraulich wie derb auf die Schultern klopften und ihm ohne weiteres ihre Kameradschaft und ihr brüderliches „Du“ entgegenbrachten.

Erwin suchte also den Proviantmeister des Schiffes auf, der zugleich das Rechnungswesen führte, und zahlte den Preisunterschied für die zweite Kajüte nach.

Hier waren die Verhältnisse doch erträglich, ja die Verpflegung war sogar vorzüglich und ließ die des Kasinotisches in seiner Garnison weit hinter sich. Weniger angenehm empfand er das Schlafen in den engen Kabinen, und auch die Reisegesellschaft behagte ihm nicht zum besten. Eigentlich wäre eben die erste Kajüte der passende Platz für ihn gewesen – na, zur Noth konnte man auch mit diesen Leuten der zweiten Kajüte leben, und einigermaßen mußte er doch seinen veränderten Verhältnissen Rechnung tragen und einen Uebergang zum schlichten bürgerlichen Leben zu finden suchen.

Es waren nur wenige Fahrgäste, die Erwin von Buschenhagen seines näheren Umgangs würdigte, und unter diesen befand sich vor allem ein ältlicher Herr, ein Amerikaner, mit seiner jungen hübschen Nichte. Je weiter die Reise vorrückte, desto näher schloß er sich an diese beiden an. Mister Edward Hopkins war Prokurist in einer großen New Yorker Fabrik und befand sich nach einer Vergnügungsreise in Europa auf dem Rückweg in die Heimath. Miß Carry Sumner aber hatte ihrer musikalischen Ausbildung wegen und weil es Mode war, sich einige Zeit lang studienhalber im Ausland aufzuhalten, ein volles Jahr in Berlin [728] zugebracht und kehrte nun unter dem Schutz ihres Onkels in das elterliche Haus nach New York zurück.

Sowohl Mister Hopkins wie seine Nichte radebrechten das Deutsche ziemlich geläufig, und das war ein Glück für Erwin, denn er verstand vom Englischen so gut wie nichts. Zwar hatte er sich vorgenommen, sich während der Seereise fleißig mit der englischen Sprache zu beschäftigen, und zu diesem Zweck vorsorglich Grammatik und Sprachführer mitgenommen, aber es kam auch hier anders. Der Teufel mochte in der schwülen Kabine hinter der langweiligen Grammatik sitzen, wenn Miß Sumner mit den blitzenden schwarzen Augen und dem neckischen Lachen einen auf Deck erwartete.

Der Umgang mit der hübscheu Dame hatte etwas ungemein Reizvolles für Erwin, der bis dahin noch nie einer Amerikanerin begegnet war. Die ungezwungene Art, die sie im Verkehr mit ihm zeigte und die so angenehm abstach von dem förmlichen Wesen der jungen Damen seines früheren Kreises, machte auf ihn einen tiefen Eindruck. Mit wahrem Feuereifer widmete er sich ihrem Dienst, und sie verstand es, ihn stets in Athem zu erhalten. Bald „durfte“ er ihr den Plaid aus dem Salon heraufholen, bald den Klappstuhl von einem Ende des Decks zum anderen nachtragen; dann wieder ersuchte sie ihn um seinen Arm, um mit ihm einen Rundgang zu machen. Dabei hatte ihr Wesen etwas Eigenwilliges, Launisches, wie das eines verzogenen Kindes, welches gewohnt ist, daß ihm alle Welt den Willen thut. Und wehe ihm, wenn er ihr zu widersprechen wagte oder sich nicht gleich einem ihrer Wünsche fügte! Sie schmetterte ihn dann mit ihren Blicken förmlich zu Boden und kanzelte ihn majestätisch ab.

Erwin aber fand auch diese Eigenschaft ungemein anziehend und ging ganz auf in seiner Bewunderung für das Fräulein. Wenn dennoch manchmal in Augenblicken des Alleinseins der Gedanke an die Zukunft mahnend und verstimmend durch seine Seele zog, so tröstete er sich schnell mit dem Bewußtsein, daß er ja nicht ganz ohne Mittel dastehe. Befand er sich erst einmal drüben, so war es immer noch Zeit, sich mit der Frage des Fortkommens zu beschäftigen. Vor dem Verhungern schützten ihn vorläufig die sechshundert Mark, die er noch sein eigen nannte. Und mit dem ganzen Leichtsinn seiner Natur gab er sich dann wieder dem Vergnügen hin, das der Umgang mit der Amerikanerin ihm gewährte, Die Bevorzugung, die sie ihm zu theil werden ließ, schmeichelte nicht nur seiner Eitelkeit, sondern regte ihn auch zu allerlei schönen Zukunftsträumen an. Daß Mister Sumner in New York ein wohlhabender, wenn nicht ein reicher Mann war, glaubte er nach allem, was er von seiner Tochter sah und hörte, mit Sicherheit annehmen zu dürfen, überdies war sie, wie sie ihm gelegentlich mittheilte, das einzige Kind ihrer Eltern. Wer wußte, ob es ihm nicht gelang, in Amerika müheloser sein Glück zu machen, als er je zu hoffen gewagt hatte!

Daß Miß Carry Gefallen an ihm fand, lag auf der Hand. Er bedauerte nur, daß er sich bei ihr und ihrem Onkel wie überhaupt auf dem Schiff einfach als „Erwin Hagen“ eingeführt hatte; sein wahrer Name, der mit dem Wörtchen „von“ davor so stattlich klang, hätte ihr gewiß Eindruck gemacht. Aber er tröstete sich bald in der Ueberzeugung, daß ihm die Eroberung der reichen Erbin auch so nicht allzu schwer fallen dürfte. Schade war es nur, daß die Reise so kurz dauerte und wie im Fluge dahinschwand. Doch zweifelte er nicht, daß Carry ihn in das Haus ihrer Eltern einladen und so der lebhafte Verkehr zwischen ihnen in New York sich fortsetzen würde. Denn Miß Sumner schien ohne seine kleinen Dienstleistungen sich gar nicht mehr behelfen zu können und behauptete, es fehle ihr etwas, wenn Erwin einmal durch die Partie Schach, zu der ihn Mister Hopkins alltäglich nach dem Essen mit Beschlag belegte, länger als gewöhnlich festgehalten wurde. Im übrigen störte Mister Hopkins die beiden jungen Leute sehr wenig; er kam nur selten auf das Verdeck und verbrachte den größten Theil seiner Zeit unten im Rauchzimmer.

Der letzte Tag der Seereise war gekommen. Erwin befand sich schon vom frühen Morgen an auf Deck und war in einer außergewöhnlich erregten Stimmung. Doch nicht der Gedanke an die Unsicherheit seiner Zukunft war es, der seine Wangen dunkler färbte und seine Schritte hastiger machte, sondern die Erwartung, was Miß Carry thun werde. Sie hatte noch mit keinem Worte der bevorstehenden Trennung gedacht und ebenso wenig von einer Fortsetzung ihres Verkehrs gesprochen, offenbar, weil sie sich das zum letzten Abschiedswort aufsparen wollte. Aber obgleich er sich immer wieder diese tröstliche Versicherung gab, so kam doch ein beklemmendes Gefühl der Unsicherheit und Angst über ihn, und er machte sich Vorwürfe, daß er seine Zeit nicht noch besser ausgenutzt, daß er sich nicht in einer jener unvergeßlichen Abendstunden, während sie, dicht nebeneinander an der Brüstung des Schiffes lehnend, dem Spiel der Wellen zuschauten, der Amerikanerin offen erklärt hatte. Warum war er nur so unbegreiflich zaghaft gewesen?

Erst sehr spät – Erwins Ungeduld war bereits aufs höchste gestiegen – erschien Miß Carry in Begleitung ihres Onkels auf dem Verdeck. Erwin stürzte ihr entgegen, mit der freudigsten Miene und mit Augen, die alle seine Empfindungen widerstrahlten. Sie aber war auffallend zerstreut, beantwortete seinen herzlichen Gruß nur mit einem Nicken und einem kühlen „Guten Morgen!“ und begann mit ihrem Onkel ein lebhaftes englisch geführtes Gespräch, von dem Erwin nicht ein einziges Wort verstand. Dabei deutete sie ununterbrochen auf verschiedene Punkte der Küste und schien ganz in der Bewunderung ihrer Heimath aufzugehen. Vergebens bemühte sich Erwin, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Entweder überhörte sie seine Bemerkungen oder sie fertigte ihn ungeduldig ab, so daß er schließlich ganz betreten stillschwieg. War das dieselbe Miß Carry, die noch gestern so herzlich mit ihm geplaudert hatte, als gäbe es für sie nichts Wichtigeres in der Welt denn seine Unterhaltung? War es nur das Entzücken über das Wiedersehen der Heimath, das ihr Herz für alle anderen Empfindungen abstumpfte?

Mit solchen Fragen beschäftigt, stand er voll Aufregung und Ungeduld beiseite und wartete auf den ersehnten Zeitpnnkt, wo sie sich ihrer alten Vertraulichkeit erinnern würde. Aber er wartete vergeblich. Je mehr sich das Ziel der Reise näherte, desto offenkundiger wandte sie sich von ihm ab, desto ausschließlicher plauderte sie mit ihrem Onkel. Und nun legte man an dem New York gegenüberliegenden Landungsplatze in Hoboken an, ohne daß sie auch nur ein einziges Mal das Wort an ihn gerichtet hatte. Mit einem plötzlichen Entschluß trat er dicht an sie heran, um sie zu fragen, ob er das Glück haben könne, sie auch in Zukunft zu sehen, aber in demselben Augenblick stürzte sie mit einem lauten Ausruf an die Brüstung vor, zog ihr Taschentuch und winkte damit zum Landungsplatz hinüber. „O dear papa, dear papa!“ rief sie dabei in einem fort und nickte eifrig einem ältlichen Herrn zu, dessen plumpes Gesicht mit der breiten rasierten Oberlippe und dem häßlichen Kinnbart dem neugierig hinunterschauenden Erwin nichts weniger als anziehend vorkam.

Schon wurde die Landungstreppe befestigt, schon verließ der erste Fahrgast das Schiff, als sich Miß Carry endlich ihres deutschen Reisegefährten erinnerte. Sie wandte sich flüchtig nach ihm um und reichte ihm die Hand. „Good bye, Mister Hagen! Leben Sie wohl!“ Nichts weiter, nicht ein Wort des Bedauerns über die Trennung, nicht einmal ein Lächeln, kein herzlicher Blick – nichts, gar nichts als das kalte förmliche „Good bye!“

Und eilig, ohne nur einmal den Kopf nach ihm zu wenden, huschte sie weg. Erwin stand wie betäubt und bemühte sich, seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. Noch ehe er aber seine Haltung wiedergefunden hatte, erklang die Stimme des Mister Hopkins an seiner Seite. „Good bye, Mister Hagen. Lassen Sie sich’s gut gehen! Und wenn ich etwas für Sie thun kann, hier meine Adresse!“ Der Amerikaner reichte ihm eine Karte, nickte und verschwand.

In der ersten Minute hatte Erwin die Empfindung einer unendlichen Verlassenheit. Er kam sich wie ein Abgesetzter vor, und trotz der Wärme des Sommertages fuhr er fröstelnd zusammen. Unentschlossen, verwirrt und rathlos sah er in das Gewühl der Mitreisenden, die sich heiter und zukunftsfroh an ihm vorbeidrängten. Niemand kümmerte sich um ihn, niemand redete ihn an. Fremd war ihm alles, was sein Auge erblickte, unverständlich, was sein Ohr vernahm.

Und dann blickte er auf die Karte, die er noch immer in der Hand hielt, und in plötzlich aufwallender Wuth zerriß er sie in kleine Stücke, die er. mit einer grimmigen Verwünschung ins Wasser warf. Die Adresse, auf die er nur einen flüchtigen Blick geworfen hatte, lautete:

Edward Hopkins  
with R. Hoe & Co. 
124 Grand Street  
New York.  

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 44, S. 741–744

[741] Erwin Hagen – diesen Namen beschloß der ehemalige Lieutenant als den seinen jetzigen Verhältnissen angemesseneren beizubehalten – war über das Gefühl der Verlassenheit, das ihn bei seiner Landung in der Neuen Welt so sehr daniedergedrückt hatte, schnell Herr geworden. Die neuen Eindrücke, die er auf Schritt und Tritt erhielt, brachten die böse Erfahrung mit Miß Carry Sumner bald in Vergessenheit, und wenn er sich der koketten gemüthlosen Amerikanerin je noch einmal erinnerte. so geschah es mehr mit Aerger und Beschämung als mit Schmerz.

Die ersten acht Tage verbrachte er ausschließlich damit, sich New York anzusehen. Er mußte doch erst einigermaßen bekannt werden auf dem Boden, auf dem er künftig zu arbeiten hatte. Dann fing er an, seine englische Grammatik und seinen Sprachführer hervorzusuchen, um die auf dem Schiff so jäh unterbrochene Arbeit wieder aufzunehmen, aber er machte auch auf dem Lande, wo ihn keine Miß Sumner störte, nur geringe Fortschritte, um so mehr, als er in seinem Kosthause fast nur Deutsch zu hören bekam. Nach weiteren acht Tagen, während deren er fleißig den Boden kennengelernt und sehr interessante vergleichende Studien zwischen den einheimischen und den importierten Austern angestellt, sich auch eine ausreichende Kenntniß der verschiedensten Vergnügungslokale erworben hatte – nach einer weiteren Woche also machte er die Entdeckung, daß seine Geldmittel sehr bedenklich zusammengeschmolzen waren und daß er binnen kurzem vor dem Nichts stehen würde. Die Folge dieser Wahrnehmung war, daß er ernstlich mit sich zu Rathe ging und beschloß, so rasch wie möglich irgend einen Erwerb zu ergreifen.

Aber da war guter Rath theuer. Was anfangen? Die wissenschaftlichen Kenntnisse, die er sich im Kadettenhause angeeignet hatte, gingen auf ein sehr bescheidenes Maß zusammen; mechanische Fertigkeiten besaß er nicht. Sein erster Gedanke war natürlich, in die amerikanische Armee einzutreten. Doch als er hörte, daß das Officierscorps der Vereinigten Staaten sich ausschließlich aus einheimische Kadetten ergänze und daß er als Ausländer gar nicht darauf rechnen dürfe, vorzurücken, gab er diesen Plan schnell wieder auf.

Er überlegte von neuem hin und her und beschloß, es zunächst einmal mit einer Anzeige in den Blättern zu versuchen. Anfangs schrieb er ganz allgemein: „Ein ehemaliger deutscher Offizier sucht eine seinem Stande und seinen Fähigkeiten angemessene Stellung,“ Aber obgleich er die Anzeige dreimal hintereinander abdrucken ließ, meldete sich niemand, der ihm diese „angemessene“ Beschäftigung gewähren wollte. Er erklärte sich nun etwas bestimmter: „Ein gebildeter junger Deutscher sucht Stellung als Sekretär oder Reisebegleiter.“ Doch auch mit dieser neuen Ankündigung erzielte er nur das eine, daß seine Börse vollends zusammenschrumpfte.

Er gab also diesen undankbaren Versuch auf und begann, sich die Anzeigen derer, die jemand suchten, einmal genauer anzusehen. Doch das, was er da fand, war nur geeignet, seine Bangigkeit vor der Zukunft zu erhöhen. Da wurden Fleischer, Bäcker, Tischler, Kellner und so weiter verlangt, aber für ihn fand sich durchaus nichts. Er konnte sich doch um Gotteswillen nicht als Kellner verdingen!

Sein Gemüthszustand wurde von Tag zu Tag gedrückter und er fing an, sich eine immer größere Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit anzugewöhnen. [742] Vergnügungslokale und feine Restaurants zu besuchen, dazu war ihm, ganz abgesehen vom Zustand seiner Börse, die Lust vergangen.

Eines Tages war er am Ende seiner Barschaft angekommen und mußte beginnen, vom Versetzen seiner Habseligkeiten zu leben. Uhr, Kleider und Wäsche wanderten zum Pfandleiher, und der Zeitpunkt, an dem er nichts mehr besitzen würde als das, was er auf dem Leibe trug, war sehr genau abzusehen. Dann aber setzte ihn die Wirthin des elenden Kosthauses, in dem er jetzt wohnte, auf die Straße, und dann – was dann?

Er fand keine Hilfe und keinen Freund, der ihm wenigstens einen Rath gegeben hätte. Abgestoßen von den Manieren seiner Hausgenossen, die meistens Arbeiter waren, hatte er sich von Anfang an in jene kalte stolze Unnahbarkeit gehüllt, die ihm noch von früher her zu Gebote stand. Das rächte sich jetzt schwer, denn niemand mochte ihn leiden, niemand kümmerte sich um ihn. Am meisten ärgerte es ihn, daß er damals in seiner zornigen Aufwallung, die ihm jetzt sehr unzeitgemäß vorkam, sich selbst von der Hilfe seines amerikanischen Reisegefährten für immer ausgeschlossen hatte. Mister Hopkins wäre gewiß imstande gewesen, ihm zu einer lohnenden Thätigkeit zu verhelfen, hatte er ihm doch freiwillig seinen Beistand angeboten! „Wenn ich etwas für Sie thun kann, hier meine Adresse!“ – er erinnerte sich genau dieser Worte, die der Amerikaner beim Abschied zu ihm gesprochen hatte, leider aber gar nicht mehr der Adresse auf jener Karte, die er so achtlos ins Wasser geworfen hatte.

An einem trübseligen Vormittag kam Erwin am Deutschen Theater vorbei. Große Zettel verkündeten die bevorstehende Eröffnung der Spielzeit. Neben dieser Ankündigung, die einen breiten Raum einnahm und in einem pomphaften Stil gehalten war, befand sich eine kleine nüchterne Notiz: „Zu der Aufführung der ‚Jungfrau von Orleans‘ werden noch einige Statisten gegen hohe Entschädigung gesucht.“

Als Erwin diese Notiz las, gab es ihm ordentlich einen Ruck. Winkte ihm nicht hier die lange ersehnte Beschäftigung? Zum Statisten würde er sich doch so gut oder wohl besser eignen als die meisten anderen Bewerber! Und sein früheres Selbstgefühl hatte durch die Erfahrungen der letzten Tage schon einen so nachdrücklichen Stoß erlitten, daß auch nicht eine Sekunde lang der Gedanke in ihm aufstieg, es schicke sich für ihn am Ende doch nicht, sich um eine derartige Stellung zu bewerben. Nur um die Frage, auf welchen Betrag sich die in Aussicht gestellte „hohe Entschädigung“ belaufen möchte, drehte sich sein Interesse, Im übrigen bedachte er sich nicht lange, sondern sagte sich, daß er keine Minute Zeit zu verlieren habe.

Im Theaterbureau, das er mit leichter Mühe fand, hieß man ihn warten; der Herr Regisseur sei eben in der Probe beschäftigt. Und Erwin wartete, da ihm niemand einen Stuhl anbot, stehend unweit der Thür und fühlte sich nicht einmal beleidigt, daß man von seiner Anwesenheit so gar keine Notiz nahm. Er schätzte sich glücklich, daß er offenbar nicht zu spät kam, denn sonst hätte man ihn sicherlich von vornherein abgewiesen. Und in der That, als der Regisseur endlich nach einer Stunde erschien, die Erwin alle Qualen der Hoffnung und Ungewißheit hatte kosten lassen, da wurde er ohne weitere Förmlichkeiten und Fragen nach einem einzigen prüfenden Blick des Bühnenlenkers für das Theater angeworben.

Erwin empfand eine so jähe Freude über diesen Ausgang, daß er beinahe einen Freudenruf ausgestoßen hätte. Freilich, die Mittheilung des Registers; daß die angekündigte „hohe“ Entschädigung für den Tag fünfundzwanzig Cent betrage, dämpfte seinen Jubel nicht wenig. Immerhin verließ er das Theater innerlich froh. Der Anfang wenigstens war gemischt, mit der Zeit würde er schon weiterkommen. Wer wußte, ob es ihm nicht gelang, am Theater eine dauernde und bessere Stellung zu erringen!

Noch an demselben Nachmittag begann seine neue Thätigkeit. Der Regisseur hielt die erste Probe mit den frisch angeworbene Statisten ab, unter denen sich gestrandete Existenzen aller Art befanden. Erwin machte sich sofort dem scharfen Auge des Regisseurs durch seine angenehme Erscheinung und sein gewandtes Benehmen bemerklich und wurde daher zum Statistenführer ernannt. Damit war zugleich eine kleine Erhöhung seiner Einnahme verbunden, und Erwin pries sich überglücklich, daß er jetzt so viel verdiente, um zur Noth seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Sein Optimismus baute auf diesem bescheidenen Anfang schon allerlei glänzende Luftschlösser auf.

Acht Tage später fand die erste Hauptprobe statt. Das gesamte Personal des Theaters war auf der Bühne versammelt. Da hatte Erwin, der sich mit seinen Rittern, die erst gegen den Schluß des erste Aktes zu thun hatten, im Hintergrund aufhielt, eine Ueberraschung, die ihn mit heftigem Schrecken erfüllte. In der Darstellerin der Agnes Sorel erkannte er zu seiner Bestürzung die ehemalige „Naive“ des Stadttheaters seiner Garnison. Er erinnerte sich ihrer ganz genau. Sie war besonders beliebt gewesen, mehr als alle ihre Vorgängerinnen, und war auch von den Offizieren außerordentlich gefeiert worden. Ja, als sie schied, hatte ihr das Offizierscorps einen silbernen Lorbeerkranz gestiftet und Erwin hatte zu der Abordnung gehört, die der Künstlerin das Erinnerungszeichen in ihrer Wohnung überreichte. Wenn sie ihn nun erkannte! Wie beschämend, wie demüthigend für ihn!

Verflogen war mit einem Mal die Befriedigung, die ihn die ganze Woche über erfüllt hatte. Wie ungeheuer war der Wechsel zwischen Ernst und Jetzt! Die Scham erdrückte ihn fast und er war ängstlich darauf bedacht, sich in der Schar seiner Gefährten vor den Augen der Schauspielerin zu verbergen.

Doch nun kam die Scene, in der er auftreten mußte. Der Zug der Ritter und Rathsherren, das Gefolge der Jungfrau, stellte sich auf. Erwin aber rührte sich nicht, bis endlich der Register ungeduldig rief: „Der Statistenführer! Wo steckt denn der Mensch? Herr, in des Teufels Namen, beliebt’s Ihnen endlich, anzutreten?“

Erwin erbleichte bei diesen rohen Worten. Seine Genossen aber schoben ihn nicht eben sanft vorwärts; und so geschah gerade das, was er vermeiden wollte – von allen Seiten lenkte sich die Aufmerksamkeit auf ihn.

„Mensch,“ begann der Regisseur von neuem, „ich glaube gar, Sie haben das Lampenfieber!“

Allgemeines Gelächter folgte, Erwin aber biß die Zähne zusammen und senkte das Gesicht, das über und über erglühte.

Und nun begann der Marsch und Erwin näherte sich mit niedergeschlagenen Augen dem „König“ und der neben diesem stehenden Darstellerin der Agnes Sorel. Da, als er dicht vor den beiden angekommen war, trat die Schauspielerin plötzlich einen Schritt vor und rief, Rolle und Probe vergessend, lebhaft aus: „Ja, sind Sie’s denn wirklich, Herr von Buschenhagen? Grüß Gott, Herr Lieutenant! Was thun denn Sie in Amerika?“

Ein Stocken kam in den langen Zug, ein Tuscheln und Raunen entstand, aller Augen richteten sich auf den Angeredeten. Heiß und kalt durchschauerte es diesen, der wie angewurzelt stehen blieb. Dann ging ein sichtbarer Ruck durch seinen Körper. „Sie irren, mein Fräulein,“ sagte er mit einem abweisenden Blick, „mein Name ist Hagen. Ich, bin nie Offizier gewesen.“ Und ehe sich die Schauspielerin von ihrer Ueberraschung erholt hatte, war er an ihr vorüber.

Wenn der so wenig in die Handlung des Stückes passende Auftritt damit auch sein Eude erreicht hatte, so war er doch für den Hauptbetheiligten keineswegs erledigt. Erwins Genossen, die ohnehin wegen seines raschen Avancements neidisch und erbost auf ihn waren, bot der Vorfall einen willkommenen Anlaß zu allerlei Witzen über den „Herrn Lieutenant“, so daß Erwin wie erlöst war, als endlich der Schluß der Probe kam. Er eilte davon, als brenne der Boden unter seinen Füßen. Sein Entschluß war gefaßt, lieber zu hungern als sich noch einmal einer so demüthigenden Scene auszusetzen, und so bereitete er denn seiner kurzen schauspielerischen Laufbahn freiwillig ein Ende.

Aber wie einen anderen Broterwerb finden? Er machte die äußersten Anstrengungen, um einen Posten zu bekommen, der für seine Selbstachtung nicht ganz unleidlich war, allein er suchte vergebens. Seinen Ueberzieher, alle irgend entbehrliche Wäsche hatte er zum Pfandleiher getragen, das Elend in seiner bittersten Form war bei ihm eingezogen. Da endlich entschloß er sich, das letzte Aushilfsmittel zu ergreifen, das sich ihm bot – er machte sich auf den Weg, um in einem deutschen Bierlokal sich um die Stelle eines Kellners zu bemühen.

An der Bowery, der geräuschvollen großen Verkehrsstraße des deutschen Stadtviertels von New York, gab es neben unzähligen anderen kleineren Geschäften dieser Art ein Bier- und Vergnügungslokal von riesiger Ausdehnung, den „Atlantic Garden“, in dem allabendlich Tausende von Menschen, meist Deutsche, ihren Durst mit gutem Lagerbier zu löschen trachteten. Dort [743] gelang es Erwin, ein Unterkommen zu finden. Die Beschäftigung war einfach. Er hatte mit einer Anzahl gefüllter Gläser zwischen den endlosen Reihen der Gäste hin- und herzugehen mit dem Ruf: „Lagerbier! Lagerbier!“. Ein festes Gehalt gab es nicht, der Verdienst wurde nach dem Absatz berechnet.

Am ersten Abend war seine Einnahme nicht sonderlich hoch, denn er ging immer mit gesenktem Kopf umher und hatte das Gefühl, als bilde er für alle Anwesenden einen Gegenstand des Staunens und Spottes. Bei jedem Anruf fuhr er erschreckt zusammen, bei jedem Blick, der sich auf ihn heftete, erröthete er. Wenn ihn jemand erkannte!

Als ihm ein Gast – wahrscheinlich ein „Grüner“, ein Frischangekommener – das erste Trinkgeld bot, da fuhr er mit einem Ausruf des Zorns zurück und warf dem Menschen das Geldstück vor die Füße. Ein Trinkgeld – ihm!

Aber diese Stimmung, mit der er am ersten Tag seinen neuen Beruf versah, hielt nicht stand. Schon am zweiten Abend fühlte er sich freier, er tummelte sich nach Kräften und seine Einnahme stieg auf das Doppelte. Nach einer Woche hantierte er so flink und gewandt, als sei er von jeher Kellner gewesen.

Von den anderen Kellnern des „Atlantic Garden“ zog sich Erwin soviel als möglich zurück; überdies war in der Wirthschaft selbst keine Zeit, um Privatgespräche anzuknüpfen. Nur nachts auf dem Nachhausewege hatte sich ihm schon ein paarmal einer seiner neuen „Kollegen“ angeschlossen, ihr Gespräch hatte sich jedoch ausschließlich um ihren Verdienst und andere Dinge ihres Berufs gedreht. In seinem Aeußeren hatte William – so nannte man ihn, da im „Atlantic Garden“ die Kellner nur beim Vornamen gerufen wurden – nichts Außergewöhnliches. Er trug wie alle seine Genossen eine kurze dunkle Jacke und während der Arbeit zugleich einen kleinen Lederschurz um die Hüften. Daß er schon einige Jahre im Lande war, entnahm Erwin einigen gelegentlichen Aeußerungen sowie dem Umstand, daß er im Gespräch vielfach englische Wörter und Redewendungen unter sein Deutsch mischte.

Nach alledem war Erwin ungemein überrascht, als William einmal spät nachts, nachdem sie eine Weile schweigend durch die Straßen geschritten waren, plötzlich stehen blieb, ihm die Hand auf den Arm legte und beim Schein einer Gaslaterne ihn scharf ins Auge faßte. „Sagen Sie ’mal – nicht wahr, Sie waren drüben Offizier?“

„Ich?“ stotterte Erwin verwirrt, „warum – wieso?“

„Nun“ – der andere lächelte leicht – „man sieht’s Ihnen immer noch deutlich an, wenn man einen Blick dafür hat. Die Art, wie Sie Ihr Haar tragen, der Ton Ihrer Stimme – na“ – er unterbrach sich und klopfte dem peinlich berührten Genossen beschwichtigend auf die Schulter – „Sie brauchen sich nicht zu genieren, vor mir nicht! Ich habe die Ehre, mich Ihnen als Kameraden vorzustellen: von Oeller, ehemaliger Lieutenant bei den Gardegrenadieren.“

Er legte mit einer salutierenden Bewegung die Hand an die Kopfbedeckung und auch Erwin fuhr unwillkürlich mit seiner Rechten an den Hutrand. Dann streckte er in freudiger Aufwallung dem Kameraden die Hand hin und stellte sich selbst in aller Form vor. Sein Vergnügen war ungeheuchelt. Endlich einmal ein Mensch, mit dem er auf gleichem Fuße verkehren konnte!

Fünf Minuten später saßen die beiden in einer der kleinen Nachtkneipen der Bowery einander gegenüber, in allerlei heitere und ernste Erinnerungen aus der schönen seligen Lieutenantszeit vertieft. Erwin schloß sein Herz auf, war es doch ein Stück Heimath, das er in dem Kameraden erblickte. Die Vergangenheit mit all ihrer Pracht und Herrlichkeit zog an dem Geiste des lebhaft und angeregt Plaudernden vorüber. Noch nie, seit er Deutschland verlassen, hatte er sich so wohl gefühlt, noch nie eine so heitere schöne Stunde verlebt. Ja, ihm schwand minutenlang ganz das Bewußtsein seiner gegenwärtigen Lage, er fühlte sich wieder als Angehöriger des „privilegierten“ Standes und mehr als einmal tastete er unwillkürlich nach dem Monocle, das er mit den Abzeichen seiner Lieutenantswürde drüben in der Heimath gelassen hatte.

Auch Herr von Oeller gab seiner Genugthuung, in Erwin einen Kameraden entdeckt zu haben, lebhaften Ausdruck. „Waren Sie schon einmal in Peter Schwabs Biersalon in der zweiten Avenue?“ fragte er. Und als Erwin verneinte, fuhr er lebhaft fort: „Nicht? O, da müssen Sie einmal hin! Sie werden sich auf Ehre königlich amüsieren. Alle Sonnabende ist dort große Zusammenkunft von Kameraden. Wer weiß, ob Sie da nicht alte Bekannte treffen!“

Erwin fühlte sich wie elektrisiert. War es denn möglich – ein förmlicher Klub von Kameraden? Das war ja köstlich! Wieder einmal ganz unter sich zu sein, das war unbezahlbar!

Der Morgen dämmerte schon herauf, als die beiden noch immer plaudernd und trinkend beisammen saßen. Endlich erhob Herr von Oeller das ihm eben frisch eingeschenkte Glas und sagte: „Das letzte! Leeren wir es auf die Vergangenheit, auf die unvergeßliche unvergleichliche Lieutenantszeit. Sie lebe hoch!“

„Sie lebe hoch!“ stimmte Erwin begeistert ein. Als er sein Glas leer auf den Tisch zurückgestellt hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Er galt der goldenen Lieutenantszeit, der unwiederbringlich verlorenen.




7.

Am nächsten Sonnabend gegen zwölf Uhr nachts suchte Erwin in Begleitung des Herrn von Oeller Peter Schwabs Biersalon auf. Mit freudiger, fast fieberhafter Spannung betrat er das Lokal. Sein Begleiter stellte ihn den Herren, die an einem großen runden Tisch im Hintergrund des Saales saßen, in aller Form vor.

„Herr von Buschenhagen, Kamerad vom X. Infanterieregiment.“

Die Herren nannten nacheinander ihre Namen und begrüßten den Neuangekommenen mit liebenswürdiger Herzlichkeit. Erwartungsvoll sah sich Erwin im Kreise der Tischgenossen um, aber er bemerkte kein bekanntes Gesicht. Dennoch fühlte er sich bald heimisch unter den Kameraden. Ihre Art zu sprechen, die Lieblingsausdrücke im Gespräch, die immer wiederkehrten, ihre Formen und Gewohnheiten – alles das heimelte ihn an. Es war, wie wenn Freimaurer einander in der Fremde sich sogleich an ihren Bundeszeichen erkennen.

Die Unterhaltung drehte sich zum größten Theil um die Erlebnisse im neuen Vaterland. Und was Erwin staunend hier zu hören bekam, war ebenso interessant wie die Persönlichkeiten der Erzähler selbst. Der eine, ein Herr zu Anfang der Vierziger, von eindrucksvoller Persönlichkeit, über sechs Fuß hoch, breitschulterig, mit langem blonden Kotelettbart, war schon zehn Jahre im Lande. Er hatte sich in den verschiedenartigsten Lebenslagen befunden, hatte zeitweise im Ueberfluß geschwelgt, dann wieder wochenlang einen verzweifelten Kampf gegen den Hunger geführt. Im fernen Westen war er Farmarbeiter, dann Lehrer gewesen, darauf Kutscher und später Prediger einer Methodistengemeinde. Jetzt in New York hatte er die Stellung eines Reitlehrers an dem Institut eines Pferdeverleihers inne, wofür er fünfundzwanzig Dollar wöchentlich bezog.

Ein Zweiter, eine kleine zierliche Husarenfigur, ein Freiherr von Metzen, war erst ein Jahr in der Neuen Welt. Der Zufall hatte ihn mit einem deutschen Bäckermeister bekannt gemacht; jetzt arbeitete er bei diesem als „zweite Hand“. „Was wollen Sie,“ bemerkte er zu Erwin, der ein erstauntes Gesicht zu dieser Mittheilung machte, „man muß froh sein, wenn man sich durchschlägt. Wählerisch darf man hier zu Lande nicht sein. Hier heißt es: Friß, Vogel, oder stirb! Ich kann noch von Glück sagen. Die Tochter meines Prinzipals, sein einziges Kind, ist verschossen in mich bis über die Ohren. Der Alte ist ein wohlhabender Mann und – na, Sie verstehen mich, Herr Kamerad.“

Erwin schüttelte sich unwillkürlich. Der Schwiegersohn eines Bäckermeisters! Dafür würde er denn doch danken.

Dem Freiherrn gegenüber fast ein bildhübsches Herrchen mit frischen rothen Wangen, zierlichem wohlgepflegten Schnurrbart und zarten Frauenhändchen. Er hatte sich Erwin als ein Baron von Reussenstein vorgestellt. Seinem Aeußeren nach mußte er sich in guten Verhältnissen befinden, denn er war eleganter gekleidet als irgend ein anderer der Tafelrunde. Höchstens der Reitlehrer konnte sich in dieser Hinsicht mit ihm messen.

„Ein frisches Glas!“ rief er eben nach dem Schenktisch hinüber.

„Sagt ’mal, Reussenstein,“ nahm sein Nachbar, ein sehr würdig dreinblickender Herr mit gelichtetem Scheitel und ruhigen gravitätischen Bewegungen, das Wort, nachdem der Wirth das frisch gefüllte Glas auf den Tisch gestellt hatte, „Ihr seid für [744] mich ein lebendiges Räthsel. Ihr seid der erste Nähmaschinenagent, der bei seinem Geschäft auf einen grünen Zweig gekommen ist.“

Reussenstein lachte, während der Fragende, ein Graf Bürker, zur Zeit Oberkellner in einem deutschen Gasthaus in der Greenwich Street, sich würdevoll in seinen Stuhl zurücklehnte.

„Lieber Graf, die Sache ist sehr einfach,“ entgegnete Reussenstein, „man muß eben sein Geschäft verstehen. Reden muß man können, in allen Tonarten, zart und rauh, prahlend und klagend, lachend und weinend, wie es eben der einzelne Fall verlangt. Freilich, wenn man weiter nichts zu sagen hat als: ‚Brauchen Sie keine Nähmaschine? Nicht? Dann entschuldigen Sie, bitte!‘ so kann man getrost einpacken. Man muß den Leuten etwas vorschwatzen, bis ihnen der Kopf wirbelig wird und sie zu allem Ja sagen, bloß um einen loszuwerden.“ Der Sprechende lächelte wohlgefällig und strich sich den Schnurrbart. „Ich will doch die Frau sehen, die mir nicht einen Auftrag giebt, wenn ich schön bitte. Wenn nur nicht diese hartherzigen Ehemänner wären, die hinterher die Bestellungen wieder rückgängig machen!“

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 45, S. 757–761

[757] Mitten in ihrer lebhaften Unterhaltung erhielt die Gesellschaft in Schwabs Biersalon einen Zuwachs. Der Eintretende ging zuerst an den Schenktisch heran bestellte ein Glas und nahm ein paar Schnitten Brot und Wurst von dem auf dem Büffett zur allgemeinen Benutzung stehenden „freien Jmbiß“ dem „Free Lunch“. Als er sich dem Tisch der ehemaligen Offiziere näherte, wurde Erwin auf ihn aufmerksam. Der Ankömmling trug einen abgenutzten Ueberzieher und als Kopfbedeckung eine abgegriffene [758] Mütze, über deren Schirm ein Messingschild mit der Aufschrift „Conductur“ befestigt war. Die Erscheinung des Fremden überraschte Erwin. Wo hatte er nur dieses Gesicht mit der Schmarre quer über die linke Wange und mit den braunen gutmüthig blickenden Augen bereits gesehen? Ein Gedanke durchzuckte ihn – Schuckmann!

Aber im nächsten Augenblick lächelte er über diese Vermuthung. Unwillkürlich vergegenwärtigte er sich den flotten Dragoneroffizier, der seinerzeit der Löwe der Garnison gewesen war, der schneidigste hübscheste Lieutenant, den man sich denken konnte, der sich einen Viererzug hielt und drei kostbare Reitpferde und in jeder Hinsicht eine Verschwendung trieb, welche alles in Schatten stellte und das väterliche Erbtheil des Offiziers im Betrage von hunderttausend Thalern in zwei Jahren bis auf den letzten Pfennig aufzehrte. Und nun sollte dieser Mann da in der abgetragenen Kleidung, mit dem ungepflegten Vollbart und den braunen Händen der allezeit peinlich elegante Schuckmann sein? Lächerlich!

Erwin erhob sich, um dem Herantretenden seinen Namen zu nennen. Doch er hatte noch nicht den Mund geöffnet, als der Fremde ihm schon beide Hände entgegenstreckte und, während über sein Gesicht ein freudiges Aufleuchten huschte, mit heller Stimme rief: „Wie, Buschenhagen – Sie? Ja sind Sie’s denn wirklich?“

Es war also doch Schuckmann, Erwin erkannte ihn an der Stimme, vermochte aber vor Ueberraschung kein Wort hervorzubringen und konnte seiner Freude nur durch einen Händedruck Ausdruck geben.

„Sitzen!“ sagte Schuckmann herzlich, drückte Erwin auf seinen Stuhl nieder und setzte sich neben ihn. „Wie ich mich freue! Wie geht’s in der Heimath? Was macht Kramm und Werra und was der gute Radewils? Fünf Jahre sind es, daß ich außer aller Verbindung mit drüben bin. Erzählen Sie, Kamerad, erzählen Sie!“

Erwin ließ sich nicht lange nöthigen und kramte von seinen Erlebnissen während der letzten Jahre aus, soviel ihm gerade einfiel. Je mehr er sprach, desto fröhlicher wurde das Gesicht Schuckmanns, der mit voller Seele zuhörte.

„Ja. ja, es war eine tolle Zeit,“ meinte er, als Erwin eine Pause machte, um die trocken gewordene Zunge anzufeuchten, „der Leichtsinn feierte seine Feste. Und was mir die allertollsten Streiche eingab, das war die Bewunderung, die ich obendrein erntete, das respektvolle Staunen, die aufleuchtenden Blicke der Mädchen. Mochte eine Sache auch noch so unsinnig und übermüthig sein – da sie von unsereinem ausging, war sie einfach ‚schneidig‘. Eine verrückte Welt, in der ein Glanz und Nimbus ohnegleicheu von den Epauletten ausstrahlt, in der man den Offizier, ganz abgesehen davon, was er als Mensch werth ist, auf ein alles gewöhnliche Volk überragendes Piedestal stellt! Kein Wunder, daß einem das schließlich in die Krone steigt und man nicht weiß, was vor Uebermuth anstellen!“

„Recht habt Ihr, Schuckmann,“ mischte sich hier der gräfliche Oberkellner ins Gespräch. „Na, hier in Amerika lernt dann unsereiner sich bald bloß noch als Mensch fühlen. Die reine Korrektionsanstalt, dieses Amerika, hol’ mich der Teufel! Da wird man um- und umgekrempelt, und ehe man sich’s versieht, ist man ein anderer, ein neuer Mensch –“

„Ein besserer Mensch!“ rief Schuckmann energisch dazwischen. „Wenigstens ist das meine Meinung trotz alledem und alledem. Mag’s einen auch manchmal hart ankommen, mag mancher von uns kopfüber untertauchen in der Menge der strandenden Existenzen – wer’s aushält und sich durchringt, ist wenigstens ein Mann geworden, ein ganzer Mann, der dem Leben die Stirn bietet und ihm in allen Lagen gewachsen ist, was nicht weniger heißen will, als dem Tod ins Gesicht zu sehen. Darum sage ich“ – der Sprechende stand lebhaft auf und erhob sein Glas – „hoch Amerika! Hip, hip, Hurra!“

Alle sprangen auf, stießen mit Schuckmann an und leerten ihre Gläser, Erwin aber war starr vor Staunen. War das Schuckmann, der flotte, leichtsinnige, tolle Schuckmann, der so sprach? War es möglich, daß ein paar Jahre in einem Menschen eine so völlige Umwandlung vollbringen konnten?

Unterdessen drehte sich Schuckmann zur „Bar“ um und rief dem Wirth zu: „Jedem ein frisches Glas!“

Der Gerufene, eine wohlbeleibte schwerfällige Gestalt in Hemdsärmeln, die bis über die Ellbogen zurückgeschlagen waren, kam gemächlich heran, nahm die Gläser und füllte sie von neuem, „Schuckmann,“ sagte der Reitlehrer lächelnd und strich sich, in Erwartung des frischen Trunkes, behaglich die lang herabwallenden Bartkoteletts, „alle Achtung vor dem Speech, den Sie da losgelassen haben! Wenn Sie ’mal Ihren Posten als Pferdebahnschaffner verlieren, können Sie alle Tage als Pastor Ihr Glück machen. Es kommt Ihnen ein Achtungsschluck.“ Er ergriff sein Glas, das der Wirth eben vor ihn hinstellte, neigte es gegen Schuckmann und trank es bis zur Hälfte aus.

Schuckmann that ihm Bescheid und meinte dann: „Am Ende auch Pastor – warum nicht? In Amerika muß einer in allen Sätteln gerecht sein. Das ist das Schöne hier – wer in einem Beruf Schiffbruch leidet, kann im andern immer wieder obenauf kommen.“

Als die Gläser zum großen Theil von neuem geleert waren, ließ sie Schuckmann abermals füllen, was allgemeines Staunen erregte.

„Hört ’mal, Schuckmann,“ gab Graf Bürker dem allgemeinen Gefühl Ausdruck, „Ihr seid ja so freigebig, als wenn Ihr das große Los gewonnen hättet! Das ist doch sonst nicht Eure Art. Was ist Euch denn heute so Angenehmes begegnet?“

Der Gefragte lächelte vergnügt vor sich hin. „Die Annehmlichkeit ist schon drei Jahre alt,“ entgegnete er und sein Gesicht strahlte. „Heute ist der Geburtstag meines Stammhalters. Ihr kennt den Bengel, Graf, und werdet mir zugeben, daß mein Henry –“

„Der klügste und hübscheste kleine Kerl zwischen dem Stillen und Atlantischen Ocean ist,“ fiel Bürker ein. „Meine Herren“ – er erhob sich – „dies Glas Schuckmann dem Jüngeren, dem künftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten! Er lebe hoch!“

Als die Tischrunde jubelnd eingestimmt und mit dem glücklichen Vater angestoßen hatte, wandte sich Bürker an Erwin, der alles in stummer Berwunderung mit anhörte. „Sie müssen wissen – Kamerad Schuckmann ist der einzige unter uns, der sich den Luxus einer Familie gönnen kann, und wie Sie ihn hier sehen, ist er das Muster eines Gatten und Vaters, ein wahres Prachtstück von einem braven Staatsbürger, dessen höchste Tugend, dessen Leidenschaft das Sparen ist. Staunen Sie: Schuckmann ist Ka–pi–ta–list! Der Mensch hat Geld auf der Bank!“

Die letzten Worte, welche der Graf mit besonderer Betonung und mit komischer Würde ausgerufen hatte, erregten ein lautes Hallo. Der Gefeierte lächelte schmunzelnd vor sich hin.

„Meine Herren,“ begann er, „die Sparsamkeit ist eine Tugend, bei der nur der Anfang schwer ist. Es ist nicht zu sagen, wie viel Ausdauer und Ueberwindung dazu gehört, wieviel Mühe es macht, hundert Dollar zusammenzubringen. Ist aber erst dieses Hundert voll, so geht die Sache von selbst, und Sie glauben gar nicht, welch schönes Bewußtsein es ist, ein paar Dollar auf der Bank zu wissen für den Fall der Noth. Darum sparen, meine Herren, bei Zeiten sparen!“

„Nur keine Predigt, Schuckmann – das ist zu früh!“ rief hier der lustige Nähmaschinenagent. „Sparen ist mir in tiefster Seele zuwider. Ich habe nicht das Zeug dazu. Und zum Henker, ich will’s auch nicht lernen. Wenn man nur immer so viel hat, als man braucht, das genügt! Mister Peter, frische Gläser!“ ...

Es war schon in der dritten Morgenstunde als die Herren endlich aufbrachen. Vor der Thür verabschiedeten sie sich voneinander. Schuckmann aber schob seinen Arm unter den Erwins und fragte: „Wo wohnen Sie?“

„In der Delancy Street.“

„Da gehen wir ein Stück zusammen.“

Schuckmann schien sehr aufgeräumt. Er sprach in einem fort und Erwin hatte nichts zu thun als zuzuhören.

„Sie finden wohl, daß ich mich sehr verändert habe?“

„Allerdings.“

„Das kommt von selbst, wenn man verheirathet und glücklicher Vater ist; Sie glauben nicht, wie das den Menschen ummodelt, wie einem das so ein ganz sonderbares Gefühl der Verantwortlichkeit giebt. Wer Frau und Kind liebhat, dem vergeht die Lust zu Dummheiten und leichtsinnigen Streichen von selbst, ohne daß er nöthig hätte, erst besonders an sich zu arbeiten. Die Hand aufs Herz – es war doch eigentlich recht fades, kindisches Zeug, dem wir drüben gehuldigt haben. Und froh, so recht von Herzen froh ist man dabei auch nicht gewesen. Ich sage Ihnen, jetzt – das ist doch etwas ganz anders. Wenn ich abends zu Hause sitze, meine Frau neben mir – eine niedliche kleine Frau, nicht anspruchsvoll, keine sogenannte ‚höhere Tochter‘, kein Goldfisch, aber gut, herzensgut, einfach und bescheiden – wenn ich des Abends so mit meiner Frau zusammensitze und ihr etwas aus der Zeitung vorlese oder mit ihr plaudere über dies und jenes oder wenn ich meinen Jungen auf den Knien habe und ihn reiten lasse und der Bengel jauchzt und strampelt mit den kurzen drallen Beinchen – ich sage Ihnen, Buschenhagen, das giebt so ein [759] eigenes Gefühl, ein Gefühl der Sicherheit, der stillen Zufriedenheit, das unendlich mehr werth ist als all das Zeug von ehemals.“

Erwin wußte nichts darauf zu erwidern. Er konnte sich nur immer von neuem verwundern über den Schuckmann von heute, der einen so schroffen Gegensatz zu dem Schuckmann von einst bildete. Aber als jetzt der neben ihm Schreitende weiter erzählte von Frau und Kind, von seiner stillen Häuslichkeit, seinem Berufe, seinen Hoffnungen und Zukunftsträumen, da wurde auch ihm ganz warm ums Herz und eine ehrliche, tiefe Achtung stieg in ihm auf, grundverschieden von jener lauten Bewunderung, die er und die jüngeren Kameraden einst den Thaten des „tollen Schuckmann“ gezollt hatten.

Als sie einander „Gute Nacht“ sagten, fragte Schuckmann plötzlich: „Sind Sie morgen mittag frei?“

„Ja, bis fünf Uhr!“

„So bitte ich Sie, morgen zum Mittagessen mein Gast zu sein. Sie müssen meine Frau kennenlernen und meinen Jungen. Aber wenn ich bitten darf, keine zu großen Erwartungen, was unseren Tisch betrifft! Wir essen einfach: Suppe und Sonntagsbraten – morgen haben wir Kalbsbraten. Das ist etwas Rares in Amerika. Ich habe ihn selbst eingekauft, und daß er gut ist, dafür stehe ich Ihnen. Ich rechne also auf Sie. Gute Nacht, schlafen Sie wohl!“

Obgleich Erwin eigentlich recht müde war, als er endlich sein Kosthaus erreicht hatte, wälzte er sich doch noch eine ganze Weile schlaflos in seinem Bett umher. Seine Seele war zu sehr erfüllt von all den neuen Eindrücken, die ihm die letzten Stunden gebracht hatten. Das, was er an dem Stammtisch in Peter Schwabs Bierlokal gesehen und gehört hatte, war so seltsam, daß es ihm jetzt wie ein phantastischer Traum vorkam. Ein Freiherr als Bäckergeselle, ein Graf als Oberkellner, ein Baron als Stadtreisender und vor allem Schuckmann, der tolle Schuckmann, als Pferdebahnschaffner, als Gatte und Vater, als sparsames Familienhaupt, das den Markt aufsuchte und Fleisch einkaufte! Das alles war wie ein Stück aus einer verzauberten Welt.


Es war zwölf Uhr mittags, als Erwin der Einladung Schuckmanns folgte. Dieser wohnte in der vierzehnten Straße in einer Miethskaserne, die eine Unmenge kleiner Wohnungen enthielt.

Auf sein Klopfen an der Thür, die ihm sein ehemaliger Kamerad gestern noch genau bezeichnet hatte, öffnete eine schmächtige kleine Frau. Sie blickte den Gast einen Augenblick prüfend an, während dieser höflich seinen Hnt zog; dann lächelte sie ihm freundlich zu und sagte: „Sie sind gewiß Johnnys Freund. Nicht?“

Und als Erwin sich verneigte, forderte sie ihn auf, näherzutreten. Er folgte der Voranschreitenden, die ihn durch einen kleinen halbdunklen Raum geleitete, der nur durch eine schmale Oeffnung Licht erhielt und durch einen eisernen Kochofen sich als Küche auswies. Frischer Bratengeruch erfüllte den ganzen Verschlag, dessen Möbel nur aus einem Küchentisch, einem alten schmalen Geschirrschrank und einem Schemel bestanden. Durch eine Glasthür gelangten sie ins Wohnzimmer, dessen zwei Fenster nach dem Hof hinausgingen.

Erwin stand überrascht einen Augenblick an der Thür still. So einfach, ja ärmlich hatte er sich Schuckmanns Wohnung doch nicht vorgestellt. An der einen Wand ein Roßhaarsofa, davor ein runder braun angestrichener Tisch; an der andern ein großes und ein kleines Bett; sonst nur noch ein paar Holzstühle und ein Schaukelstuhl, daneben eine alte Kommode. Der einzige „Luxus“ war der Teppich, der über den ganzen Fußboben ausgespannt war.

„Bitte, legen Sie ab!“ Die junge Frau sagte es mit einer freundlichen Handbewegung; Erwin gehorchte mechanisch, sehr befangen, und ließ sich dann auf ihre Einladung hin auf dem Sofa nieder. Er war in wirklicher Verlegenheit, womit er die Unterhaltung beginnen sollte. Er, der zu Hause den Damen seiner Kreise gegenüber nie um einen Gesprächsstoff verlegen gewesen war, wußte nicht, was er zu dieser schlichten Frau sprechen sollte. „Mister Schuckmann?“ stotterte er endlich. Sie kam ihm zu Hilfe. „Mein Mann kommt gleich zurück. Er ist nur ’mal in das Restaurant nebenan gegangen.“

Sie hatte kanm ausgesprochen als man auch schon das Geräusch der geöffneten Flurthür hörte; eine Sekunde später trat Schuckmann ein. Erwin, der sich erhoben hatte, mußte wohl ein sehr verblüfftes Gesicht machen, denn der andere lachte laut auf. Es war aber auch ein drolliger Anblick, den der „tolle“ Schuckmann bot. Auf dem Kopfe saß ihm ein breitrandiger Schlapphut; einen Rock trug er nicht, sondern nur eine dicke gestrickte Weste über dem Hemd. Auf seinem linken Arm hockte ein kleiner, lustig dreinblickender Knabe und in der rechten Hand hielt er einen mit Bier gefüllten Krug.

Nachdem Schuckmann seine Hände frei gemacht hatte, begrüßte er den Gast herzlich.

„Liebe Libby,“ sagte er dann zu seiner Frau, „hier mein Freund Buschenhagen von dem ich Dir heute früh erzählt habe, ehemals preußischer Lieutenant, zur Zeit Kellner im ,Atlantic Garden‘.“

Erwin konnte ein Erröthen nicht unterdrücken. Schuckmann bemerkte es und klopfte ihm auf die Schulter. „Ich glaube gar –“ sagte er mit heiterem Vorwurf. „Das müssen Sie sich hier abgewöhnen! Kellner oder Minister, ganz gleich, wenn man nur sonst ein ehrenhafter Kerl ist. Meine Libby hat in dieser Hinsicht gar keine Vorurtheile. Als wir uns kennenlernten, ging ich mit Insektenpulver hausieren.“

Erwiu hatte erst jetzt Gelegenheit, die Frau seines Freundes genauer zu betrachten. Ihr Gesicht war unbedeutend, aber aus ihren blauen Augen strahlte so viel Herzensgüte, und als sie jetzt ermunternd zu ihm herüberblickte, lag ein so liebenswürdiges Lächeln auf ihren Zügen, daß mit einem Male seine Befangenheit wich und einem warmen sympathischen Gefühl für die kleine Frau Platz machte. Während sie nun in der Küche nebenan verschwand, um nach dem Braten zu sehen, nahm Schuckmann den Knaben, den er bei der Begrüßung des Freundes auf den Boden gestellt hatte, wieder auf den Arm und trat mit ihm zu Erwin hin. Der Kleine wandte sich etwas scheu von dem fremden Gesicht ab und umklammerte mit beiden Händchen den Hals des Vaters.

„Na, na – nicht fürchten, Henry,“ mahnte dieser und bemerkte dann, zu dem Freunde gewandt: „Er sieht so selten ein fremdes Gesicht, wir leben ganz für uns. Hallo, Henry, gieb dem Onkel eine Hand – na wird’s?“

Der Junge wandte sich zögernd herum und reichte vorsichtig, mit ängsttichem Blick Erwin die kleine dicke Rechte.

Schuckmann sah ihm dabei mit vergnügtem Schmunzeln zu, strich ihm über den Blondkopf und küßte ihn zärtlich auf den Mund.

„Ich sage Ihnen, Buschenhagen, so sich selbst verjüngt vor sich zu sehen, darüber geht nichts!“ Er hob den Kleinen der aufjauchzte und lustig strampelte, mit ausgestreckten Armen in die Höhe und betrachtete ihn mit stolzen Blicken. „Ein strammer Bengel, nicht?“ sagte er über die Schulter zu Erwin. „Und klug! Nein wirklich, es ist nicht bloß väterliche Eitelkeit, die aus mir spricht.“

Erwin wehrte lächend ab.

„Sie glauben es nicht? So passen Sie einmal auf, Buschenhagen!“ fuhr der glückliche Vater mit ehrlichem Eifer fort. „Henry, mein Junge, zeige dem Onkel ’mal, was Du gelernt hast! Zähle – zuerst deutsch!“

Der Knabe machte ein ernstes Gesicht und begann langsam, stockend: „Eins, zwei, drei vier, fünf –“

„Nun englisch!“ gebot Schuckmann, dessen Gesicht bei jeder neuen Zahl freudiger und stolzer aufleuchtete.

„One, two, three, four, five –“ zählte Henry mit wichtiger Miene.

„Sehen Sie, Buschenhagen,“ fing Schuckmann von neuem an, während sie sich niederließen – er mit dem Knaben auf dem Schaukelstuhl, sein Gast auf dem Sofa – „sehen Sie, für meine Person habe ich keinen Ehrgeiz mehr. Wenn ich nur das verdiene, was die Meinen brauchen, und allenfalls noch ein bißchen mehr, so bin ich zufrieden. Bloß was meinen Jungen betrifft – aus dem soll einmal etwas werden. Das ist meine Lebensaufgabe, aus Henry einen tüchtigen Menschen zu machen. Und der Junge kann alles werden – Minister, Präsident, was man will. Aber auf diese Zukunft müssen wir gleich ’mal anstoßen!“

Er erhob sich lebhaft, holte drei Gläser von der Kommode, füllte sie aus dem Krug, in dem er das Bier gebracht hatte, und rief nach der Küche hinaus: „Libby! Bitte, komm’ doch einen Augenblick!“ Und zu Erwin gewandt, fügte er erklärend hinzu: „‚Libby‘ – das ist eine Abkürzung von ‚Liberty‘: Freiheit. Sie ist nämlich am vierten Juli geboren, am Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten. Ein drolliger Name, was? Ja, in diesem Punkt leisten die Amerikaner Unglaubliches.“

Indes erschien die Gerufene und alle drei stießen lustig an auf das Wohl des kleinen Zukunftshelden.

Zehn Minuten später war der Tisch gedeckt. Der kleinen Frau ging alles so flink von der Hand, sie zeigte in jeder Bewegung eine so natürliche Anmuth, in ihrem ganzen Gebahren [760] ein so ungekünsteltes Wesen, daß Erwin sich schon in der ersten Stunde in der Familie heimisch fühlte. Er plauderte mit der Frau von allem Möglichen: von ihrer Vergangenheit, von ihrem Kinde, ihrer kleinen Wirthschaft, ja von sich und seinem jetzigen Berufe ohne jede Scheu, als wären sie längst die besten Freunde. Dabei war es ihm wahrhaft rührend, zu sehen, mit welcher Zärtlichkeit sie um ihren Gatten bemüht war, wie sie ihm die Wünsche, noch ehe er sie äußerte, von den Mienen absah, und mit welcher Zartheit auf der andern Seite ihr Gatte gegen sie verfuhr. Zwischen beiden der muntere, gut erzogene kleine Bursche – es war ein so anheimelndes Bild schlichten Familienglückes, wie Erwin es noch nie in seinem Leben gefunden hatte.

Um drei Uhr brach Schuckmann auf, denn er hatte noch Dienst. Erwin begleitete ihn ein Stück Weges. Bevor sie sich trennten, sagte Schuckmann, dem Freund zutraulich die Hand auf die Schulter legend: „Buschenhagen, Sie haben nun gesehen, wie es bei mir ausschaut. Wenn es Ihnen danach ums Herz ist, so kommen Sie wieder! Einer besonderen Einladung bedarf es nicht mehr, Sie sollen uns immer willkommen sein. Umstände freilich machen wir nicht, Sie müssen schon mit dem fürlieb nehmen, was Sie gerade antreffen.“

Und nachdem ihm Erwin herzlich gedankt hatte, fügte er mit listigem Augenzwinkern hinzu: „Buschenhagen, bin ich nicht ein armer bedauernswerther Kerl?“

Erwin wurde ganz roth vor Eifer. „Der Teufel soll mich holen, Schuckmann, wenn ich Sie nicht beneide. Sie sind ein glücklicher Mann!“

Und das kam aus ehrlichem Herzen, unter der Nachwirkung der eben verlebten friedlichen Stunden.

„Nicht wahr?“ schmunzelte der andere. „Mit einem solchen Frauchen und einem so herzigen Burschen von Sohn!“

„Präsident in spe!“

Sie lachten beide laut auf, schüttelten einander die Hände und trennten sich,




8.

Buschenhagen lebte sich mehr und mehr in seinen neuen Beruf ein, dem er bald mit wirklichem Eifer nachging. Die Sucht, ein hübsches Stück Geld zu verdienen, die hier förmlich in der Luft lag, packte auch ihn und trieb ihn an, seine ganze Gewandtheit aufzubieten, um allabendlich so viele Gläser Bier als irgend möglich abzusetzen. Zuweilen erschien Schuckmann mit Frau und Kind in einer freien Abendstunde und Erwin legte dann einfach den Kellnerschurz ab, setzte sich zu ihnen und spielte auf eine Stunde den Gast.

Mehrere Monate bekleidete er schon seine Stelle im „Atlantic Garden“. Die kleinen Demüthigungen, welche sein Los mit sich brachte, empfand er kaum noch, dachte auch vorläufig gar nicht daran, seinen Posten aufzugeben, sondern wollte ihn so lange festhalten, bis er des Englischen mächtig geworden sein würde. Dann standen ihm alle möglichen Wege offen, aber ohne die Kenntniß der Landessprache – das hatte ihm Schuckmann eindringlich vorgehalten – war nichts Ordentliches anzufangen. Ohne Englisch war man immer dem Zufall, der Noth preisgegeben.

Da hatte er eines Tages eine Begegnung, die alle seine Pläne über den Haufen warf und mit einem Schlage sein mühsam errungenes Gleichgewicht wieder vernichtete. Eines Abends, er kam eben mit dem gewohnten Ruf: „Lagerbier! Lagerbier!“ den Mittelgang des Riesenlokals herauf, sah er plötzlich kaum zwanzig Schritt entfernt an einem Tisch zwei Personen sitzen, deren unvermutheter Anblick ihn so heftig zusammenfahren ließ, daß er alle Kraft zusammennehmen mußte, um nicht die Gläser, die er trug, zu Boden fallen zu lassen. Auf den ersten Blick erkannte er ihn, seinen Todfeind, den Deserteur, der also glücklich nach Amerika entkommen war, und neben ihm seine Schwester Klara. Er stand einen Augenblick wie angewurzelt, wie gelähmt vor Schrecken und achtete nicht darauf, daß ein paar Gäste am nächsten Tisch ihm schrieen und winkten und dann ärgerlich eine Verwünschung zuriefen, als er ihrem Begehren nicht nachkam. [761] Die Augen starr auf Klara und ihren Bruder gerichtet, bei dem Gedanken, daß sie ihn bemerken könnten, erschauernd und doch wie gebannt von ihrer Gegenwart, vergaß er alles, was sonst um ihn vorging. Und nun, nun schienen auch sie ihn zu erkennen, ihm schien es, als ob ein Ausdruck höhnischer Verachtung sich in den Mienen der beiden male. Mit hastigem Ruck drehte er sich um und eilte stürmischen Schrittes dem Ausgang zu.

Am Schenktisch setzte er die gefüllten Gläser so heftig nieder, daß sie fast in Scherben gegangen wären, und ohne auf den verwunderten Ausruf des Aufwärters zu hören, riß er Hut und Ueberzieher vom Nagel und stürmte davon. Schweißtriefend langte er in seinem Zimmerchen an, wo er sich erschöpft aufs Bett warf. Und so sehr er sich auch wehrte, so sehr er sich selbst unmännlich, kindisch schalt, er konnte es nicht hindern, daß ihm die Thränen über die Wangen liefen und ein heftiges Schluchzen ihn überfiel. Trotz aller Erfahrungen, trotz aller guten Lehren Schuckmanns fühlte er sich so beschämt, gedemüthigt, daß er sich am liebsten vor sich selber versteckt hätte. Er – er war jetzt der Besiegte, der Unterliegende, und jener, den er einst mit Hohn und Schimpf von sich gewiesen, über den er sich so hoch erhaben gedünkt hatte, stand über ihm und blickte seinerseits auf ihn und seinen Beruf mit Geringschätzung herab. Im Kampf ums Dasein besaß jener ja die stärkeren Waffen.

Erst allmählich, als er sich sagte, daß in der Riesenstadt eine zweite Begegnung leicht zu vermeiden sei, verlor seine Empfindung etwas von ihrem bitteren Stachel. Aber nie mehr, das stand unerschütterlich bei ihm fest, nie mehr würde er in den „Atlantic Garden“ zurückkehren, zu diesem Beruf, in dem er keinen Augenblick vor den demüthigendsten Begegnungen sicher war. Eher wollte er alles andere versuchen und die schwerste Arbeit auf sich nehmen, ja lieber Noth und Hunger leiden.

So fing denn das sauere Suchen nach Arbeit wieder für ihn an. Es war an einem der nächsten Tage, als er auf einem solchen Gange in das Zeitungsviertel New Yorks am Südende der Stadt kam. Neugierig und bewundernd schauten seine Augen an den thurmhohen Palästen hinauf, in denen die großen Zeitungen der nordamerikanischen Presse ihr Heim hatten. Da traf beim Weiterschlendern sein Blick auf ein bescheidenes Schild, das über dem Eingang zu einem kleinen Geschäftsraum befestigt war und die Inschrift trug: „New Yorker Volksblatt, Organ für die Interessen des arbeitenden Volkes.“ Er erinnerte sich, im „Atlantic Garden“ einmal von diesem jungen Zeitungsunternehmen gehört zu haben, das Arbeiter begründet und zum leitenden Organ der deutsch-amerikanischen Sozialdemokratie gemacht hatten. Neben dem Schild war eine Tafel angebracht, auf der zu lesen stand: „Fleißige und geschickte Abonnentensammler werden sogleich verlangt. Näheres in der Druckerei.“

Es gab ihm einen ordentlichen Ruck. Abonnentensammler für eine deutsche Zeitung – da würde ihm seine Unkenntniß der Landessprache nicht im Wege sein, da hatte er es ja selbstverständlich nur mit Landsleuten zu thun. Und doch – Leser werben für ein sozialdemokratisches Blatt? Unmöglich! Aber wenn er nun wirklich der sozialdemokratischen Partei ein paar neue Anhänger zuführte, würde die Welt darüber zusammenbrechen? Lächerlich! Wenn er’s nicht that, so fanden sich andere genug dazu. Und wenn er sich nun zu dem – zu dem entschloß, was seiner ganzen Vergangenheit schroff ins Gesicht schlug, wenn er sich dazu herbeiließ, er, der ehemalige Offizier, von der Sozialdemokratie Brot zu nehmen, that er es etwa zum Besten der Partei? Unsinn! Er that es für sich, um nicht zu verhungern, weil er keine andere Wahl hatte. Wenn er nicht zugriff und nahm, was sich hier bot, so blieb ihm wahrhaftig nichts übrig, als sich an einer Ecke aufzustellen und vor jedem Vorübergehenden bittend den Hut zu ziehen. Besser aber als betteln war diese Arbeit immer noch!

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 46, S. 773–776

[773] In finsterer Entschlossenheit biß Erwin die Zähne zusammen und öffnete mit energischem Griff die Thür zu der sozialdemokratischen Druckerei. Als er sein Verlangen, eine Stelle als Abonnentensammler zu bekommen, stammelnd vorgebracht hatte, fragte ihn der Geschäftsführer, was er „drüben“ gewesen sei.

„Schreiber,“ log Erwin, ohne zu zaudern, im Bann des Selbsterhaltungstriebes.

„Gehören Sie zur Partei?“

Erwin blickte empört auf. „Zur –“

Unter dem forschenden Blick des andern kehrte ihm jedoch schnell die Besinnung zurück und sein „ja“ kam so entschieden, so heftig heraus, daß der Mann von weiteren Fragen abstand. Auf die Anweisungen, die der Geschäftsführer ihm gab, hörte Erwin nur mit halbem Ohr hin, dann wurde ihm ein Pack Probenummern ausgehändigt und zuletzt theilte man ihm die Bedingungen mit: täglich fünfundzwanzig Cent und außerdem von jedem Abonnenten, den er dem Blatt gewann, während der ersten drei Wochen die ganze Gebühr, vorausgesetzt, daß der Neugeworbene so lange aushielt, denn die Leser des „Volksblattes“ abonnierten zum großen Theil nur je auf eine Woche.

Am andern Morgen begann Erwin seine neue Thätigkeit. Er hatte sich am Abend vorher aus der Lektüre der ihm mitgegebenen Zeitungen ein paar Redensarten angeeignet über das „darbende Proletariat“, über „die Tyrannei des ausbeutenden Kapitals“ und über die „Nothwendigkeit des einmüthigen Zusammengehens aller produktiv Arbeitenden“ und gab sie nun bei den von ihm besuchten deutschen Arbeiterfamilien zum besten. Aber er sagte sein Sprüchlein so lau, so rein äußerlich her, sein ganzes Auftreten war so zaghaft und gleichgültig, daß er während der ersten drei Tage auch nicht einen einzigen Abonnenten bekam. Am vierten Tage aber machte ihn der Hunger, die eigene Noth, die Ungewißheit seiner verzweifelten Lage beredt und gab seinen Worten etwas Eindringliches, Packendes, so daß er am Abend glücklich drei neue Leser geworben hatte.

Nun, da erst einmal das Eis gebrochen war, machte er flotte Fortschritte in der Kunst, auf Herz und Geldbeutel der Leute zu wirken und sie seinen Wünschen geneigt zu machen. Er merkte sich, welche Reden die größte Wirkung übten, und gewann mit der Zeit eine förmliche Fertigkeit darin, mit seinem Publikum in dessen derber Sprache zu verkehren. Bald brachte er es im Durchschnitt täglich auf zehn Abonnenten, und wenn auch fast die Hälfte davon nach der ersten Woche wieder absprang, sein Gewinn belief sich doch auf ungefähr acht Dollar die Woche.

Zu diesem äußeren Vortheil gesellte sich noch ein anderes Ergebniß seiner neuen Beschäftigung. Er lernte das Volk kennen bei seiner Arbeit und in seinem Familienleben. Er sah viel Schmutz, viel Widerwärtigkeit, viel Verkommenheit, aber er sah auch Fleiß und Tüchtigkeit, ehrliches ausdauerndes Streben und tapferes Ankämpfen gegen Mißgunst und Härte des Schicksals. Meist waren die Leute, bei denen er vorsprach, freundlich und gesprächig; nur [774] selten wies man ihn gleich von vornherein von der Schwelle. Oft lud man ihn ein, sich zu setzen, und Erwin folgte der Aufforderung gern, denn das fortwährende Umherlaufen, das Treppauf- Treppabsteigen war ermüdend. So saß er manchmal eine Mittags- oder Abendstunde bei irgend einer Arbeiterfamilie, sprach mit den Männern über Politik und schwatzte mit den Frauen von ihren kleinen Sorgen, von der Noth und Mühseligkeit des Lebens. Und wenn er sich dann später solche Stunden in der Erinnerung wieder vergegenwärtigte, so mußte er im stillen über sich selbst lächeln. War er es denn wirklich, Erwin von Buschenhagen, der sich mit den Aermsten des Volkes auf gleichen Fuß stellte, sich in ihre Gewohnheiten und Anschauungen hineinfand und ihnen in ehrlicher Theilnahme die Hände schüttelte?

Wenn Erwin jetzt des Morgens seinen Rundgang antrat, hatte er nicht mehr jenes lähmende Grauen, jenes Unbehagen und Frösteln zu bekämpfen, das ihm früher, eine Art Kanonenfieber, die erste Stunde jedes neuen Tages zu einer Marter machte. Er hatte sich ausgesöhnt mit der Beschäftigung, die ihm durch Gewohnheit und Erfolg fast lieb geworden war. Um so schmerzlicher überraschte ihn daher eines Tages die Mittheilung des Geschäftsführers des „Volksblattes“, daß die Zeitnug ferner auf seine Dienste verzichte. Mit Unwillen vernahm er den Grund der Entlassung, den ihm der Mann offenherzig angab, Eine Anzahl von „Genossen“ hatte sich erboten, Sonntags in ihrer arbeitsfreien Zeit New York von Haus zu Haus zu durchwandern, um Gesinnungsgenossen und Leser zu gewinnen.

Erwin konnte ein bitteres Auflachen nicht unterdrücken. Am Abend vorher hatte er aus Neugier eine sozialdemokratische Versammlung besucht. Der „Normalarbeitstag“ hatte den Gegenstand der Erörterung gebildet, und der Hauptredner hatte mit besonderer Schärfe das Arbeiten in den sogenannten „Ueberstunden“ gebrandmarkt. „Je kürzer der Arbeitstag, desto geringer die Zahl der Arbeitslosen. Jede Ueberstunde ist ein Verbrechen an unsern hungernden und darbenden Genossen“ – das war das Leitmotiv gewesen, das sich durch alle Ausführungen des Redners hindurchgezogen hatte. Und nun – was thaten jene Genossen, die ihre freien Sonntage zur Agitation verwandten, anderes als „Ueberstunden machen“? Schnitten sie nicht den Aermeren, ihm und anderen, mitleidlos den Erwerb ab? Rissen sie ihm nicht sein bißchen Brot aus den Zähnen? Das Unrecht, das man ihnen zufügte, sahen sie wohl, aber für das Unrecht, das sie selbst gegen andere verübten, waren sie blind!

Mit dieser nicht eben tröstlichen Betrachtung schloß Erwin diese Phase seines Lebens und seine Beziehungen zur Sozialdemokratie ab. Er bemühte sich zunöchst aufs neue, als Kellner irgendwo Aufnahme zu finden, wobei er die größeren Lokale, welche die Versammlungsorte für das ganze Deutschthum des östlichen New York bildeten, ängstlich mied. Aber in den kleinen Bierschenken brauchte man keinen Kellner.

Die wenigen Dollar, die er während des letzten Monats erübrigt hatte, reichten nicht lange aus, und als ihm endlich in seiner Verzweiflung und Rathlosigkeit der Gedanke kam, es einmal mit dem Hausieren zu versuchen, da besaß er nicht mehr Mittel genug zum Einkauf von Waren.

Seine Noth begann drohender und druckender zu werden denn je, Obdachlosigkeit und Hunger standen vor der Thür. Verzweifelt durchstreifte er die Stadt kreuz und quer, überall aufmerksam spähend, ab und zu in ein Lokal eintretend, um nach Arbeit zu fragen – immer vergebens.

Da kam ihm, als er eines Tages stundenlang den Broadway auf und ab gewandert war, eine hagere, steif heranstelzende Gestalt entgegen, in der er mit ungestümer Freude seinen amerikanischen Reisegefährten erkannte. Mister Hopkins! Gerettet! jubelte es in ihm. Er stellte sich ihm in den Weg llud grüßte schon von weitem. „Wie geht es Ihnen, Mister Hopkins?“

Der Amerikaner blickte erstaunt auf, grüßte und blieb stehen. „Sehr erfreut, Sie zu sehen, Mister – Mister –?“

„Hagen,“ fiel Erwin ein. „Wir lernten uns auf dem Dampfer kennen –“

„Ganz recht – ja, erinnere mich. Well, wie gefällt’s Ihnen bei uns, Mister Hagen?“

Erwin seufzte. „Ein heißer Boden, dieses Amerika,“ stammelte er, während Hopkins ihn schnell von oben bis unten musterte.

„Hm, hm,“ machte der Amerikaner und schwieg. Erwin aber, von der Angst erfüllt, daß jener seinen Weg fortsetzen und ihn hilflos zurücklassen könnte, stieß mit dem Eifer der Verzweiflung hervor. „Es ist so schwer, lohnende Beschäftigung zu finden, wenn man fremd ist und – und keinerlei Anhalt hat –“

Der Amerikaner betrachtete ihn wieder und sagte dann langsam: „Wenn ich Sie recht verstehe, suchen Sie Arbeit, Mister Hage.“

„Ja, die suche ich,“ entgegnete Erwin schnell, und ohne sich darum zu kümmern, ob sein Benehmen vielleicht zudringlich sein könnte, fügte er mit bittender Stimme hinzu. „Wenn Sie mir mit Ihrem Rath beistehen könnten –“

Der Amerikaner räusperte sich, zögerte einen Augenblick und sagte dann in seinem kalten, gleichmäßigen Ton. „Well, kommen Sie morgen gegen Mittag auf mein Bureau, Hoe und Kompagnie, 124 Grand Street. Will sehen, was ich für Sie thun kann.“

Er sprach das mit einer so ruhigen, unempfindlichen Miene, daß man zweifelhaft sein konnte, ob er es nur sagte, um den Bittenden loszuwerden, oder in dem wirklichen Verlangen, zu helfen. In Erwin aber stieg ein so heißes Dankgefühl empor, daß er mit feuchten Augen und in überschwänglichen Worten seinem gepreßten Herzen Luft zu machen begann. Mister Hopkins jedoch winkte abwehrend mit der Hand. „Good morning, Sir!“ Und eilig setzte er seinen Weg fort.

Am andern Morgen unterzog Erwin, bevor er sich zu Hopkins auf den Weg machte, seinen Anzug, den einzigen, den er noch besaß, einer eingehenden Besichtigung. Während der letzten Wochen war ihm allmählich Sinn und Gefühl für die Pflege seines Aeußeren abhanden gekommen, Jetzt aber erschrak er, als er wahrnehmen mußte, daß die Nähte seines Rockes schon recht abgescheuert und die Knopflöcher ausgerissen waren. Den letzteren Schaden besserte er, so gut er konnte, mit Nadel und Zwirn aus. Seine Stiefel bürstete er mit besonderer Sorgfalt, und wo das Leder gebrochen war und die hellen Strümpfe durchschimmern ließ, half er mit Tinte nach. Die Hutkrempe, die schon sehr abgegriffen war, frischte er, kurz bevor er das Haus verließ, mit Wasser auf.

Im Bureau von Hoe und Kompagnie nahm Mister Hopkins ohne weiteres ein kleines Examen mit Erwin vor.

„Wie steht es mit dem Englischen, Mister Hagen?“ fragte er, nachdem er mit dem Eintretenden nach amerikanischer Sitte einen Händedruck getauscht hatte.

„Ein wenig spreche ich es, aber nicht geläufig,“ entgegnete Erwin.

„Und mit Buchführung und Korrespondenz – wie ist’s damit?“

Erwin ließ muthlos den Kopf sinken, während er kleinlaut antwortete: „Davon verstehe ich wenig.“

„So! Hm! – Na, nur nicht gleich verzweifeln, Sir! Vielleicht findet sich etwas anderes, vorausgesetzt, daß Sie nicht wählerisch sind und sich vor – well, vor gewöhnlicher Handarbeit nicht fürchten.“

„O ich verschmähe nichts, mir ist jede ehrliche Arbeit recht, wenn ich dabei nur mein Leben fristen kann,“ stieß Erwin eifrig hervor. Neue Hoffnung röthete seine Wangen und richtete die zusammengesunkene Gestalt wieder straff empor.

„Gut, so will ich sehen, ob Mister Wegner, unser Vormann, Sie einstellen kann.“ Er sprach ein paar Worte in das Sprachrohr, welches das Comptoir mit der Werkstätte der Fabrik verband. Ein paar Minuten später trat ein Mann ins Zimmer, den Erwin, der mit dem Rücken gegen die Thür stand, nicht sehen konnte.

„Hier ist ein junger Landsmann von Ihnen, Mister Wegner,“ nahm der Amerikaner das Wort, „der um Arbeit anfragt. Es wäre mir lieb, wenn Sie etwas für ihn hätten.“

„Arbeit, Mister Hopkins, genug für zwei und auch für drei –“

Beim Klange dieser Stimme drehte sich Erwin so heftig um, daß der Sprechende unwillkürlich innehielt. Und nun starrten die beiden Männer einander an, der eine wie zum Sprunge bereit, mit Augen, aus denen Haß und Grimm sprühte – der andere mit fahlem, erbleichendem Gesicht.

Verwundert blickte der Amerikaner von einem zum andern. „Nun?“ rief er, zu Franz Wagner gewandt, dessen Namen er englisch „Wegner“ auszusprechen pflegte.

„Für diesen Mann da, Mister Hopkins,“ erklärte der Gefragte rauh und schroff, indem er den Arm mit heftiger Gebärde gegen Erwin ausstreckte, „für diesen Mann da habe ich keine Arbeit.“

Hopkins fühlte sich durch diese unhöfliche Weigerung Wagners verletzt. „Wenn ich Ihnen erkläre,“ sagte er scharf, „daß ich die Einstellung dieses Herrn wünsche –“

Der junge Mann aber ließ ihn nicht ausreden, „Ich kann [775] Sie nicht hindern, Mister Hopkins,“ rief er bebend, in mühsam beherrschter Erregung, „dem – dem da Arbeit zu geben. Für uns beide aber ist in einer und derselben Werkstatt nicht Raum. Bleibt er, so gehe ich.“

Der Amerikaner überlegte nur einen Augenblick. „Und das ist Ihr letztes Wort?“

„Mein letztes, Mister Hopkins.“

Der Amerikaner war sich sofort klar, was er im Interesse des Geschäfts zu thun habe. „All right, geheu Sie an Ihre Arbeit, Mister Wegner! Die Sache ist erledigt.“

Und sich, nachdem Wagner das Zimmer verlassen hatte, in gleichmüthigem Tone an Erwin wendend, sagte er mit einem flüchtigen Achselzucken: „Mister Hagen, es thut mir leid, aber ich kann nichts für Sie thun. Mister Wegner ist geradezu unentbehrlich für die Fabrik.“

Erwin erwiderte nichts; mit gesenktem Haupte, ganz daniedergebeugt von dem, was ihm widerfahren war, verließ er den Ort, den er mit so frohen Hoffnungen betreten hatte. Was waren alle Bitterkeiten, die ihm die letzten Monate gebracht hatten, im Vergleich zu dem vernichtenden Eindruck dieser wenigen Minuten! Knirschend fluchte er dieser Vergangenheit, deren Schatten ein tückischer Zufall wie einen Dämon an seine Fersen heftete.


9.

Am nächsten Tage stand Erwill auf der Straße, obdachlos, seinen letzten Dollar in der Tasche; plan- und ziellos durchirrte er die Straßen der Stadt. Gegen Mittag trat er in ein Bierlokal, trank ein Glas Bier für fünf Cent und nahm ein paar Brötchen von dem „Free Lunch“. Am Abend suchte er eines der billigen Logierhäuser am unteren Ende der Bowery auf. So trieb er es ein paar Tage, bis der letzte Cent ausgegeben war. Und nun gähnten ihn alle Schrecken des Elends an.

Ein kalter Wintertag war angebrochen; der Schnee lag fußhoch in den Straßen und ein eisiger Nordwind schnitt den hastig vorübereilenden Fußgängern wie mit Messern ins Gesicht.

Erwin war in seinem dünnen Rock durchfroren bis auf die Knochen und todmüde; kaum daß er sich noch aufrecht halten konnte. Seit vierundzwanzig Stunden hatte er keinen Bissen mehr zu sich genommen. Endlos, endlos dehnten sich die Stunden, während er bald in einem abgelegenen Winkel Schutz vor dem Wind und einige Minuten Ruhe suchte, bald wieder durch die Straßen rannte, um die erstarrten Glieder zu erwärmen.

Die Dämmerung brach herein. Er schauderte bei dem Gedanken an das, was ihm bevorstand. Irgendwo, an einem einsamen Ort, würde er zusammenbrechen und die Schneedecke, die dicht den Boden verhüllte, wurde sein Sterbelager. Sterben! Das Wort hatte zwar für ihn viel von seinem Grauenhaften verloren, dennoch lehnte sich die Lebenslust seiner fünfundzwanzig Jahre gegen eine dumpfe Resignation auf. Mehr als einmal war ihm der Gedanke an Schuckmann durch den Kopf gefahren, aber immer wieder hatte die Scham ihn abgehalten, den einstigen Kameraden aufzusuchen und seine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Daß Schuckmann keine Arbeit für ihn hatte, wußte er. Sollte er dem Freunde zur Last fallen, sich Almosen von ihm geben lassen? Sollte er seine Gastfreundschaft dadurch vergelten, daß er sich an den bescheidenen Tisch der Familie setzte und ihr die kärglichen Bissen schmälerte?

Als aber der Abend mehr und mehr fortschritt, als Hunger und Erschöpfung seine letzte Kraft zu verzehren drohten, lenkte er seine Schritte wie unter einem unwiderstehlichen Zwange nach dem Punkte der Stadt, wo ihm allein noch Hilfe winkte. Jetzt bog er mit dem äußersten Aufgebot seiner fast versagenden Kräfte in die Straße ein, in der Schuckmann wohnte. Die große runde Uhr im Schaufenster des Uhrmachers an der Straßenecke zeigte die zehnte Stunde. Ein Zittern wahnsinniger Furcht befiel den Vorüberwankenden. Wenn er zu dpät kam, wenn das Haus geschlossen und alle Hoffnung auf Rettung ihm abgeschnitten war! Das Verlangen nach Wärme, nach Nahrung verdrängte jede andere Regung und jedes Bedenken in ihm, und die letzten Schritte bis zur Wohnung des Freundes legte er laufend zurück. Nun stand er, tief aufathmend, im Hausflur, im Gefühl der Sicherheit, der nahen Rettung. Mühsam schleppte er sich die Treppe hinauf; vor der wohlbekannten Thüre blieb er ein paar Minuten stehen, keuchend, noch einmal zaudernd im Widerstreit seiner Empfindungen. Dann klopfte er.

Die Frau seines Freundes öffnete und blickte in den schlecht erleuchteten Flur hinaus. „Wer ist da?“ Aber schon erkannte sie den wortlos vor ihr Stehenden. „Sie, Mister Buschenhagen? Bitte, treten Sie ein! Wir haben Sie schon lange erwartet,“ Sie führte ihn durch die Küche in das Wohnzimmer.

Erwin stand wie betäubt und tastete unwillkürlich nach der Lehne des nächsten Stuhles. Der plötzliche Wechsel zwischen Dunkelheit und Kälte, zwischen Licht und Wärme machte ihn schwindlig; er fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die kleine Frau beobachtete ihn erstaunt, und jetzt erst sein Zittern und die Blässe seines Gesichtes gewahrend, rief sie erschreckt: „Was ist Ihnen? Sind Sie nicht wohl? Rasch setzen Sie sich!“

Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Dann nahm er sich mit aller Kraft zusammen und beruhigte die besorgte Frau, die jetzt an die Kommode trat und mit einem Brief in der Hand zu ihrem Gaste zurückkehrte.

„Das ist für Sie gekommen. Wir waren schon recht unruhig Ihretwegen, weil Sie gar nicht kamen. Haben Sie denn die Postkarte, die mein Mann an Sie schrieb, nicht erhalten?“ Erwin verneinte und betrachtete mit dumpfer Verwunderung die Aufschrift des Briefes, den ihm Frau Schuckmann einhändigte und der neben der Adresse Schuckmanns seine eigene trug. Was sollte das bedeuten? Doch er hatte keine Zeit, über diese Frage nachzudenken, denn die Gattin seines Freundes wandte sich von neuem an ihn. „Ja, wohnen Sie denn nicht mehr in Ihrem früheren Boardinghaus, Mister Buschenhagen?“

Der Gefragte senkte den Kopf unb stammelte ein leises: „Nein.“

„Nicht? Aber wo denn jetzt, Mister Buschenhagen?“

Keine Antwort. Einen Augenblick herrschte eine so völlige Stille in dem Zimmer, daß man die Athemzüge des kleinen Henry, der schlafend in seinem Bettchen lag, deutlich hörte.

Frau Schuckmann trat noch einen Schritt näher und heftete ihre Blicke forschend auf den schweigend Dasitzenden, der die Augen vor ihr niederschlug. Nun erst fiel ihr auf, daß der späte Gast bloß im Rocke, ohne Ueberzieher, gekommen war, nun erst gewahrte sie sein vernachlässigtes Aeußere, die tief eingesunkenen Augen, die scharfen Linien um den Mund, welche Hunger und Noth eingezeichnet hatten. Und die wahre Lage des Unglücklichen ahnend, rief sie erschüttert: „Sie haben Ihre Stellung verloren, Mister Buschenhagen – Sie haben Johnnys Karte gar nicht erhalten können, weil Sie –“ sie hielt bestürzt inne, denn sie empfand, wie demüthigend das alles für ihn sein mußte. Ohne ein Wort weiter zu verlieren, schlüpfte sie in die Küche und brachte Brot, Butter und kaltes Fleisch herbei. Dann holte sie einen Topf mit dampfendem Thee, der auf dem Kochherd für ihren Mann bereit gestanden hatte, und goß davon in ein sorglich vorher gewärmtes Wasserglas. „Schnell, langen Sie zu, Mister Buschenhagen,“ sagte sie herzlich. „Es ist kalt draußen, ein Glas Thee wird Ihnen gut thun.“

Und Erwin, von den Entbehrungen und Kämpfen der letzten Tage aller Widerstandskraft beraubt, ergriffen von dem zarten, stillen Walten der kleinen Frau, konnte es nicht hindern, daß ihm die hellen Thränen über die bleichen, eingefallenen Wangen rannen. Er war auch nicht imstande, was ihm das Herz bewegte, in hörbaren Lauten wiederzugeben, er sah nur mit einem stummen, unbeschreiblichen Blick zu der blonden Frau hinüber, die ihm mit dem Kranz goldenen Haares auf dem Scheitel wie ein Engel der Barmherzigkeit erschien, Dann aber machte er sich, ohne eine zweite Einladung abzuwarten, über Speise und Getränk her und der wilde Hunger forderte sein Recht.

Indessen hielt sich die junge Frau still im Hintergrund und machte sich am Bett ihres Knaben zu schaffen; nur ab und zu warf sie einen verstohlenen Blick auf den Essenden, und je tapferer sie ihn einhauen sah, desto befriedigter leuchtete ihr freundliches Gesicht.

Endlich hielt er inne und lehnte sich in dem wohligen Gefühl der Wärme und der Sättigung einen Augenblick wie selbstvergessen behaglich in seinen Stuhl zurück. Dann aber richtete er sich erschrocken wieder auf und schickte sich an, mit unsicheren Worten seinen Dank auszusprechen.

Sie aber fiel ihm sofort in die Rede. „Wollen Sie jetzt nicht Ihren Brief lesen, Mister Buschenhagen? Sie müssen wissen,“ setzte sie erläuternd hinzu, während er neugierig nach dem Schreiben griff, das er vorhin unerbrochen beiseite gelegt hatte, „vor ein paar Tagen las Johnny eine Anzeige in der ,Staatszeitung‘, und da er meinte, das sei etwas für Sie und weil keine Zeit zu verlieren [776] war, so setzte er sich hin unb schrieb in Ihrem Namen. Und da ist nun diese Antwort gekommen, schon vor drei Tagen.“

Erwin entfaltete hastig den Brief und las die wenigen Zeilen.

„Werther Herr! Herr Schuckmann hat mich auf Sie aufmerksam gemacht, und wenn Ihre Persönlichkeit mir bei näherer Bekanntschaft zusagt und Sie sich auch sonst für den offenen Posten eignen, so möchte ich es wohl mit Ihnen versuchen. Es handelt sich um eine Anstellung als Lehrer des Deutschen an meiner Sprachschule, deren Adresse Sie am Kopfe dieses Briefes finden. Ich erwarte Sie an einem der nächsten Vormittage zwischen 11 und 12 Uhr. Achtungsvoll M. D. Beelitz.“ 

Und am oberen Rande des Briefes stand: „Sprachschule von Beelitz. Madison Squaare New York.“

Enttäuscht ließ Erwin den Kopf sinken. Eine trügerische Hoffnung! Wie konnte er mit seinen oberflächlichen Kenntnissen des Englischen daran denken, sich um diese Stelle zu bewerben! Doch als er jetzt diesem Bedenken Ausdruck gab, da schüttelte die kleine Frau das Haupt und entgegnete eifrig: „Wegen des Englischen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Mister Buschenhagen. Englisch wird nicht verlangt, das stand ausdrücklich in der Anzeige.“ Und als er dazu eine ungläubige verwunderte Miene machte, fing sie an, das Zeitungsblatt zu suchen, in dem die Ankündigung gestanden hatte, um ihm das Unglaubliche schwarz auf weiß zu beweisen. Als sie noch damit beschäftigt war, klopfte es an die Flurthür.

„Johnny!“ sagte sie, zu Erwin gewandt, und eilte hinaus. In der nächsten Minute stand Schuckmann dem Freunde gegenüber; sie schüttelten einander herzlich die Hände.

„Endlich! endlich!“ rief Schuckmann, ohne scheinbar Erwins Befangenheit zu bemerken. „Warum sind Sie denn nicht längst gekommen?“

Ein Wink seiner Frau und ein Blick auf die Erscheinung Buschenhagens machten ihn verstummen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er dann, den Brief vom Tisch nehmend, fort: „Darf ich? Ich bin doch neugierig, um was es sich eigentlich handelt.“ Und nachdem er das Schreiben überflogen hatte: „Eine Lehrerstellung an einer Sprachschule! Merkwürdig!“

Rasch trat er zur Kommode, suchte einen Augenblick und kehrte mit einem Zeitungsblatt zurück. Eilig durchmusterte er die langen Reihen der Anzeigen. „Da,“ sagte er, mit dem Finger auf eine der Ankündigungen deutend, „lesen Sie selbst!“

Erwin las: „An einen gebildeten jungen Deutschen, der seine Muttersprache dialektfrei spricht und mit der Grammatik derselben vertraut ist, habe ich eine angenehme und dauernde Stellung zu vergeben. Kenntniß des Englischen nicht erforderlich und nicht erwünscht. Meldungen mit genauer Angabe des Bildungsstandes und des früheren Berufes richte man mit der Aufschrift ‚Sprachlehrer‘ an das Bureau der ‚New Yorker Staatszeitung‘.“

Fragend blickte Erwin den Freund an. Dieser zuckte die Achseln. „Wir stehen da einfach vor einem Räthsel, lieber Buschenhagen, und ich schlage vor, daß wir uns gar nicht erst den Kopf zerbrechen, sondern einfach bis morgen warten. Hoffentlich kommen Sie nicht zu spät!“

Libby tischte ihrem in seinem schweren Dienst tüchtig durchfrorenen und ausgehungerten Gatten das Abendbrot auf und verschwand dann in der Küche. Erwin aber schickte sich mit feuchten Augen an, dem Freunde für seine liebevolle Fürsorge zu danken. Doch Schuckmann unterbrach ihn schon bei den ersten Worten.

„Aber, lieber Buschenhagen, was ich da gethan habe, ist doch selbstverständlich. Man freut sich, wenn man einem alten Kameraden zu einer guten Stellung verhelfen kann. Wenn Sie sie nur erst hätten! Im übrigen habe ich noch ein Hühnchen mit Ihnen zu pflücken, Buschenhagen. Ja, ja! Sie haben Ihre Stellung im ‚Atlantic Garden‘ verloren, und anstatt zu uns zu kommen und einfach zu sagen: ‚Schuckmann, so und so geht mir’s!‘ hungern Sie lieber und frieren und ... na, Sie brauchen nicht gleich eine solche Armesündermiene aufzustecken, alter Freund, so oder ähnlich ist’s hier uns allen einmal gegangen. Und weil wir gerade bei diesem Gegenstand sind, so lassen Sie sich’s ein für allemal gesagt sein: wenn Sie je wieder in Noth gerathen und wissen nicht, wovon Sonnabends Ihr Kostgeld zahlen, so warten Sie nicht erst, bis Ihnen das Messer an der Kehle sitzt, sondern reden bei Zeiten ein offenes Wort! Nur keine falsche Scham! Die ist nicht angebracht unter so alten Kameraden! Abgemacht?“

Er reichte Erwin die Hand, die dieser mit beiden Händen hastig umschloß und heftig drückte und immer wieder drückte, während ihm die Augen übergingen. Voll Rührung sah Schuckmann in das schmale, vor innerster Erregung zuckende Gesicht des Freundes, dann machte er sich los und trat rasch an das Bett seines Knaben. Behutsam beugte er sich über ihn und küßte ihn auf die Stirne.

In diesem Augenblick trat Frau Libby wieder ins Zimmer und stellte einen Leuchter auf den Tisch. Ihr Gatte zündete die Kerze an und sagte: „Kommen Sie, Buschenhagen, es ist Zeit! Morgen ist auch noch ein Tag.“ Und als Erwin ein erstauntes Gesicht machte, setzte er hinzu: „Sie schlafen bei uns, natürlich! Freilich, ein Prunkgemach ist’s nicht, das wir Ihnen zur Verfügung stellen können, aber ein schlechter Kerl, der mehr giebt, als er hat!“

Er ging voran, während Erwin, der jede Einrede unterließ, die ja doch nicht ernst gemeint gewesen wäre, der Gattin seines Freundes mit herzlichem Dank die Hand reichte. Sie durchschritten die Küche; von dieser führte eine schmale niedere Thür in eine kleine Kammer, die nur gegen den Flur ein winziges Fenster besaß. Hier hatte Libby in aller Eile mit Hilfe eines überzähligen Strohsackes und einiger Decken und Kissen ein Lager zurechtgemacht. Schuckmann stellte das Licht auf den Holzstuhl, der das ganze Mobiliar des Raumes ausmachte, und sagte: „Gute Nacht, Buschenhagen! Ein Paradebett ist’s nicht, aber ein alter Soldat wie Sie kann schon darauf kampieren. Gute Nacht!“

Noch ein Händedruck und Schuckmann ging. Erwin stand eine Weile da, starr auf die Thür blickend, durch die der Freund verschwunden war, und unwillkürlich beide Hände aufs Herz pressend. Dann fing er an, sich zu entkleiden. Noch war er damit nicht ganz zu Ende gekommen, als ihm schon die Augen zufielen. Todmüde sank er in die Kissen.

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 47, S. 799–803

[799] Am anderen Tage machte sich Erwin in freudig banger Erwartung zeitig auf den Weg nach dem Madison Square. Schuckmann hatte ihm ein paar Dollar aufgedrängt – als „Vorschuß auf das Zukunftsgehalt“ – damit er sich unterwegs mit neuen Stiefeln und einem andern Hut ausstaffieren konnte.

Als er die Treppe des großen eleganten Gebäudes hinaufstieg, an dessen Vorderseite ein Riesenschild mit den weithin leuchtenden Worten: „Sprachschule von M. D. Beelitz“ befestigt war, da klopfte ihm das Herz gewaltig. Seine ganze Seele war nur von dem einen Wunsch erfüllt, nicht zu spät, nicht vergebens gekommen zu sein.

Die Thür zu der Schule öffnete ihm ein brünett aussehender Herr, der auf Erwins Frage nach Mister Beelitz mit südlicher Lebhaftigkeit auf französisch entgegnete: „Herr Beelitz? Ja, der ist hier!“ und dann schwerfällig in schauderhaftem Englisch hinzufügte: „Bitte, kommen Sie!“ Der Franzose führte Erwin zu einer der in den Flur mündenden Thüren, klopfte, öffnete und ließ ihn eintreten. Erwin befand sich in einem kleinen einfach ausgestatteten Zimmer. An einem Schreibtisch in der Nähe des Fensters saß ein Herr, der jetzt von seiner Arbeit aufblickte und sich erhob. Seine hellen blaugrauen Augen mit listig forschendem Ausdruck auf den Besucher heftend, näherte er sich ihm und fragte nach seinen Wünschen. Erwin nannte seinen Namen. Er sei gekommen, um sich Herrn Beelitz auf dessen brieflichen Wunsch vorzustellen.

Der andere erwiderte kurz: „Mein Name ist Beelitz,“ deutete auf einen Stuhl und setzte sich seinem Besucher gegenüber.

Erwin sah befangen und peinlich berührt vor sich nieder. Er fühltw, wie die Augen des andern sich von neuem forschend auf ihn richteten und gleichsam jeden Zoll an ihm einer eingehenden Prüfung unterwarfen. Nach einer Weile unterbrach Herr Beelitz das Schweigen. „Haben Sie schon unterrichtet?“

„Nein!“ Erwin ärgerte sich, daß er noch immer nicht lügen gelernt hatte. Wie oft hatte ihm Schuckmann gepredigt: „In Amerika muß einer alles verstehen!“

„Wie lange sind Sie im Lande?“

„Sechs Monate.“

„Sprechen Sie englisch?“

„Nur wenig.“ Erwin brachte es stotternd heraus. Sein Herz klopfte fast hörbar; in qualvoller Spannung hing sein Blick an des andern Lippen. Jetzt kam sein Verdammungsurtheil!

„Das ist mir lieb,“ hörte er da Herrn Beelitz sagen, und die gleichmüthige ausdruckslose Stimme klang ihm wie Engelsmusik, „es ist mir im Interesse des Unterrichts lieb, wenn meine Lehrer die Muttersprache ihrer Schüler nicht sprechen.“

Erwin blickte fragend verwirrt zu Beelitz hinüber. Er wußte nicht, ob er recht gehört habe. Wie konnte sich denn ein Lehrer seinen Schülern verständlich machen, wenn er nicht imstande war, in ihrer Sprache zu ihnen zu reden? Doch Herr Beelitz ließ ihm nicht Zeit, über diese unlösbare Frage nachzudenken, sondern examinierte weiter: „Haben Sie schon von meiner Unterrichtsmethode gehört?“

Erwin überlegte, doch nur eine Sekunde; zu lügen wäre in diesem Falle unklug gewesen. „Leider nein,“ entgegnete er kleinlaut. Nicht ein Muskel bewegte sich in seines Gegenübers hartem, knochigem Gesicht, dessen Hauptzierde ein starker Schnurrbart war, röthlich blond wie das kurze krause Haar, und dessen charakteristische Züge auf eine eiserne Willenskraft und einen scharfen, kühl abwägenden Verstand schließen ließen. Ruhig stand Herr Beelitz auf, ohne eine Spur von Verdruß oder Empfindlichkeit zu zeigen.

„Kommen Sie!“ sagte er und ging mit Erwin auf den Flur hinaus. Vor einer Thür auf der andern Seite des Ganges stand er still, öffnete leise und trat behutsam auf den Zehenspitzen ein. Sein Besucher folgte ihm in höchster Verwunderung.

In dem großen Zimmer saß auf drehbaren Stühlen im Halbkreise etwa ein Dutzend Personen beiderlei Geschlechts in den verschiedensten Altersstufen zwischen dem sechzehnten und sechzigsten Lebensjahre. Vor der Tafel, die sich auf einem Holzgestell neben der Thür befand, stand schreibend ein junger Mann.

Herr Beelitz machte nach seinem Eintritt mit sehr verbindlichem Gesichtsausdrnck und mit ersichtlicher Sorgfalt ein paar Verbeugungen, die offenbar höflich und elegant sein sollten, aber der gesellschaftlichen Schulung des Direktors kein allzu günstiges Zeugniß ausstellten. Dann winkte er dem Lehrer, fortzufahren, [800] setzte sich mit Erwin an eine der Seitenwände und raunte ihm zu: „Passen Sie gut auf! Sie werden sehen, wie man unterrichtet, ohne mit dem Schüler in seiner Muttersprache zu verkehren.“

Und Erwin hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu, anfangs ein wenig mißtrauisch, nach und nach in ungeheucheltem Interesse für die merkwürdige Methode, zuletzt in rückhaltloser Bewunderung.

Der Lehrer schrieb eine Anzahl von Wörtern an die Tafel, Bezeichnungen von Dingen im Zimmer, wie: „Der Tisch, der Stuhl, das Fenster, das Buch“. Dann fragte er, auf einen der Gegenstände deutend: „Was ist das?“ und beantwortete sich die Frage zuerst selbst: „Das ist der Stuhl,“ indem er zugleich auf das entsprechende Wort an der Tafel wies. So lehrte er in ähnlicher Weise, wie ein Kind von der Natur zum Sprechen gebracht wird; er fragte und fragte und holte aus den mit Verständniß und Befriedigung zuhörenden Schülern die Antworten heraus, ohne auch nur ein einziges Mal zu einer Uebersetzung seine Zuflucht zu nehmen.

Nach dem Schluß der Unterrichtsstunde begab sich Herr Beelitz mit Erwin in das Empfangszimmer zurück und entwickelte nun in großen Zügen seine Lehrmethode, die er in jahrelanger mühevoller Arbeit, bei Tage für den Erwerb thätig, des Nachts seinem Studium nachhängend, unablässig verbessert und vereinfacht hatte. Der Eifer, die Gluth des Erfinders kam über den Sprecher, färbte die blassen knochigen Wangen und blitzte aus den aufleuchtenden grauen Augen. Erwin lauschte in athemloser Aufmerksamkeit, ganz im Bann des seltsamen Mannes, den er anfangs fast für einen Schwindler zu halten geneigt gewesen.

Plötzlich brach Herr Beelitz mitten in seinen Ausführungen ab und ebenso schnell nahmen seine Züge ihre gewohnte Ruhe und Unbeweglichkeit wieder an; seine Augen richteten sich wieder mit dem alten spähenden Ausdruck auf Erwin und bohrten sich förmlich in sein Gesicht ein, auf dessen erhitzten Wangen noch deutlich der Abglanz der Spannung lag, mit der ihn die Worte des Schuldirektors erfüllt hatten. „Nun,“ meinte Beelitz nach einer Pause stummer Beobachtung, „was halten Sie von meiner Methode?“

„Ich?“ Erwin sprang in seinem Eifer unwillkürlich von seinem Sitz auf. „Ich meine, daß das die beste und natürlichste Weise ist, wie man eine fremde Sprache wirklich sprechen lernen kann, und ich wünsche nichts sehnlicher, als nach Ihrer Art Englisch studieren zu können.“

Für eine flüchtige Sekunde erschien ein Ausdruck der Genugthuung in den starren Zügen des Sprachlehrers, dann sagte er in seinem ruhigen gleichmäßigen Ton: „Ich habe eine Klasse von Deutschen und Franzosen, die bei mir Englisch lernen. Sie können da am Unterricht theilnehmen. Aber glauben Sie imstande zu sein, in dieser Weise selbst deutschen Unterricht zu ertheilen?“

Erwin bedachte sich nicht einen Augenblick. „O – wenn Sie – wenn Sie es mit mir versuchen wollten,“ stammelte er, „ich würde es an Fleiß und Lust nicht fehlen lassen.“

Beelitz nickte kurz und entgegnete: „Gut – ich stelle Sie hiermit als Lehrer des Deutschen an. Sie verpflichten sich, nach meiner Methode, genau und ausschließlich nach meiner Methode, zu unterrichten, ohne je während der Stunden ein englisches Wort zu sprechen. Sie verpflichten sich, so viele Stunden zu übernehmen, als ich Ihnen zuweisen werde, bis – bis achtundvierzig wöchentlich. Ihr Gehalt beträgt während des ersten Jahres zwölf Dollar die Woche. Sind Sie damit einverstanden?“

Erwin überlegte nicht, daß achtundvierzig Stunden die Woche – acht Stunden tägtich – eine unerhörte rücksichtslose Ausnutzung der geistigen Kraft bedeute. Zwölf Dollar die Woche! Das war mehr als er je zu hoffen gewagt hatte.

„Mit tausend Freuden nehme ich an,“ stieß er hastig hervor, „und ich verspreche Ihnen, Herr Beelitz, daß ich alles aufbieten werde, um mir Ihre Zufriedenheit zu erwerben.“

Und mit diesem Versprechen war es ihm ernst. Er legte im stillen das Gelübde ab, sich dieser Stellung mit aller Kraft zu widmen, sie sich um jeden Preis zu erhalten, sich förmlich an sie zu klammern, um nicht wieder dem Elend der Beschäftigungslosigkeit zu verfallen und dann am Ende darin zu Grunde zu gehen.

„So folgen Sie mir, unterzeichnen Sie den Vertrag und geben Sie dem Fräulein im Bureau Ihre Adresse![“]

Herr Beelitz schritt seinem neuen Sprachlehrer voraus in das Geschäftszimmer nebenan. Bei ihrem Eintritt erhob sich eine jugendliche Frauengestalt vom Schreibpult und wandte sich ihnen zu. Erwin warf einen neugierigen Blick auf die schlanke Erscheinung im schlichten schwarzen Kleide, aber in derselben Sekunde fuhr er auch schon erblassend zurück. Aeffte ihn ein grausamer Spuk oder war es wirklich Klara, die da vor ihm stand und ihn mit starren finsteren Augen betrachtete? Kein Zweifel! Das waren die Züge, die er einst geliebt hatte!

Es blieb ihm kaum Zeit, sich nothdürftig zu fassen, denn Herr Beelitz hatte rasch auf einem Formular die leergelassenen Stellen ausgefüllt und reichte jetzt den Vertrag Erwin zur Unterschrift. Mit zitternder Hand und ohne zu lesen setzte dieser seinen Namen unter das Schriftstück. Dann nannte er auf das Geheiß seines nunmehrigen Prinzipals seine Adresse – die Wohnung Schuckmanns – die Klara in eines der Geschäftsbücher eintrug, und verabschiedete sich von Herrn Beelitz mit einem Händedruck, von Klara mit niedergeschlagenen Augen durch eine förmliche Verbeugung.

Und nun, während er auf der Straße dahinschritt wie ein Trunkener, hastend und strauchelnd, nun bemühte er sich vergebens, in dem Widerstreit der auf ihn einstürmenden Empfindungen zu klarer Ueberlegung zu kommen. Welch eine Tücke des Zufalls! Jetzt, da er endlich, endlich errungen hatte, wonach er so lange vergebens gesucht, jetzt dies neue Zusammentreffen, vor dem alle schönen Hoffnungen wieder in nichts zu zerrinnen drohten! Oder durfte er es nicht mehr Zufall nennen, daß ihm in dieser ungeheuren Stadt auf allen Wegen, die er einschlug, um sich zu retten, immer wieder jene beiden begegneten? War es das Walten einer höheren Macht, die ihn immer wieder zurückstoßen wollte in das alte Elend? Konnte er denn seine Stellung antreten auf die Gefahr, tagtäglich mit Klara in Berührung zu kommen, mit ihr verkehren zu müssen? Gebot ihm nicht der Gedanke an das, was er einst an ihr verschuldet hatte, jedes weitere Zusammentreffen zu vermeiden, der Betrogenen die peinlichen Demüthigungen zu ersparen, die sein Anblick in ihr erwecken mußte? Hatte sie nicht geradezu ein Recht, sein Fernbleiben zu verlangen, nach allem was geschehen war? Machte er sonst nicht ihr das Bleiben unmöglich? Sein ganzes Gefühl bäumte sich gegen die Vorstellung auf, daß er zu der alten schweren Verschuldung eine neue fügen könnte. Und doch – sollte er sich selbst zum Elend, ja vielleicht zum Untergang verurtheilen eines leichtsinnigen Jugendstreiches wegen, den Hunderte seiner Kameraden, den die meisten seiner Altersgenossen ohne jedes Bedenken vergessen hätten? Was wurde aus ihm, wenn er auf diesen Posten Verzicht leistete? Nicht zum zweiten Male würde sich ihm eine so günstige Gelegenheit bieten, aus schimpflichen Verhältnissen herauszukommen in eine Laufbahn, die lohnend und anständig war. Er dachte an Eltern und Schwestern. Sie bangten und grämten sich wohl um seinetwillen, denn seit seiner Abreise von Berlin hatte er noch keine Zeile an sie gelangen lassen, weil er sich schämte, zu verrathen, wie schlecht es ihm ging. Und nun hätte er mit Genugthuung, mit der Gewißheit, ihnen eine Freude zu bereiten, von dieser günstigen Wendung seines Schicksals berichten, hätte ihnen zeigen können, daß er trotz seines früheren Leichtsinns die ehrliche Kraft nicht verloren habe, selbst sein Leben zu gestalten.

In dieser Seelenqual, diesem folternden Zwiespalt seiner Gedanken stöhnte Erwin laut auf. Die Stirn glühte ihm wie im Fieber, sein Herz klopfte stürmisch, seine Pulse flogen. Was thun? Er rang und rang und konnte zu keinem Entschluß kommen.


10.

Noch an demselben Abend hatte Erwin mit Schuckmann eine lange Unterredung. Er legte ihm ein rückhaltloses Bekenntniß ab, erzählte von seinen früheren Beziehungen zu Klara, von seiner Begegnung mit ihr erst im „Attantic Garden“ und dann in der Sprachschule des Herrn Beelitz und ließ den Freund einen vollen Blick in seine seelischen Kämpfe thun.

Schuckmann überlegte nicht lange. „Lieber Freund,“ meinte er, „wären Sie noch drüben, würde Ihnen dort diese Sache begegnet sein, so wäre die Situation eine andere; hier aber entschlagen Sie sich nur getrost so zarten Bedenken! Sie befinden sich in einer Zwangslage, Licht und Schatten sind zwischen Ihnen und jener jungen Dame nicht gleich vertheilt. Sie lebt bei ihrem Bruder, der, wie Sie vermuthen, eine gute Stelle hat. Wenn also die junge Dame eine Berührung mit Ihnen zu peinlich findet, so ist sie durch nichts gehindert, ihre Beschäftigung bei Beelitz [802] aufzugeben und den ihr unerträglichen Anblick zu fliehen – wenn er ihr wirklich gar so unerträglich ist, was ich, nebenbei gesagt, trotz alledem und alledem nicht recht glaube. Daß aber Sie das Rettungsseil, das Sie kaum erfaßt haben, ohne weiteres wieder fahren lassen, kann kein Mensch, kann auch die junge Dame nicht von Ihnen erwarten. Für Sie handelt es sich einfach um Sein oder Nichtsein. Ritterlichkeit ist eine schöne Sache, aber in Ihrer Lage ist sie Luxus, ja ein Verbrechen, das Sie gegen sich selbst verüben würden – der reine Selbstmord. Darum müssen Sie bleiben, Sie können ja so viel wie irgend möglich der Dame aus den Augen gehen.“

Nach einigem Hin- und Herreden fügte sich Erwin den Gründen des Freundes.

Während der ersten Tage war die Thätigkeit, die Erwin von seinem neuen Prinzipal angewiesen erhielt, lediglich eine passive; sie bestand hauptsächlich darin, den Stunden der Deutsch lernenden Schüler auf den verschiedenen Stufen als stiller Zuhörer beizuwohnen, um sich so eine umfassendere Kenntniß der Methode anzueignen. Dann nahm ihn Herr Beelitz zu sich in sein Zimmer und Erwin mußte, während der Direktor die Rolle eines Schülers übernahm, seine ersten praktischen Versuche im Unterrichten machen.

Nach acht Tagen war er so weit, daß ihm einige Anfängerklassen zugewiesen werden konnten. Mit allem Eifer, mit wirklicher innerer Befriedigung gab er sich seinem neuen Berufe hin. Seine Bewunderung der Lehrmethode des Herrn Beelitz steigerte sich, je gründlicher er sie kennenlernte, ja sie wuchs zu förmlicher Begeisterung. Wie geschickt, wie wohldurchdacht der Lehrgang aufgebaut war, wie staunenswerth der Erfolg, den der Lehrer damit erzielte!

Und diesem wissenschaftlichen Ergebniß entsprach der äußere Ertrag des Unternehmens in vollkommener Weise. Mehr als fünfhundert Schüler, aus allen Altersklassen, aus allen Schichten der Bevölkerung, besuchten die Schule, um hier Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch zu erlernen. Erwin wußte nicht, sollte er mehr den scharfen durchdringenden Verstand und die umfassenden Sprachkenntnisse oder die organisatorische Tüchtigkeit des kleinen, körperlich unscheinbaren Direktors bewundern. Es war etwas Widerspruchsvolles, Räthselhaftes im Wesen dieses Mannes, der so kühl erwog, so schlau berechnete, so kaltherzig und rücksichtslos seinen Vortheil wahrte und der doch, wenn auf seine Methode die Rede kam, mit dem echten Feuer der Begeisterung sprach, das auch den Gleichgültigen entzündete, der sich an seinen eigenen Ausführungen förmlich berauschte und zum Schwärmer wurde.

Dnrch diese wechselnden Eindrücke, die er von seinem Prinzipal empfing, und durch die Anforderungen, die seine neue Thätigkeit an ihn stellte, wurde Erwin so ganz und gar in Anspruch genommen, daß er das Peinliche seiner gelegentlichen Berührungen mit Klara nicht so empfand, wie er vorher befürchtet hatte. Klara hatte ausschließlich mit den geschäftlichen Dingen im Bureau zu thun und kam daher außer Sonnabends, wo sie den Lehrern die Anweisungen für ihren wöchentlichen Gehalt überreichte, mit Erwin fast nie in Verkehr. Wenn es aber geschah, so war ihr ganzes Wesen frostig, unnahbar ihre Stimme, ihr Gesicht hart und abweisend. Niemals richtete sich ihr Blick auf sein Gesicht, auch nicht, wenn sie mit ihm persönlich zu thun hatte; sie sah kühl an ihm vorbei und Erwin sagte sich mit schmerzlichem Bedauern, daß sie nichts vergessen habe, daß sie ihn hasse, aus voller Seele hasse.

Eines Tages ertheilte ihm der Schuldirektor einen Auftrag, der alle Empfindungen Erwins in neuen Aufruhr brachte. Herr Beelitz übertrug ihm die Ausbildung der Buchhalterin, die sich unter seiner Leitung im Unterrichten üben sollte, damit sie nöthigenfalls einige Kinderklassen zu übernehmen imstande wäre. Erwin wußte nicht, sollte er diese Anordnung des Direktors als eine willkommene Gelegenheit begrüßen, Klara zu versöhnen, oder sich der ganzen Angelegenheit entziehen. Er kam zu keinem Entschluß und ließ am Ende der Sache ihren Lauf. Die erste Stunde wurde festgesetzt. Von Herrn Beelitz begleitet, trat Klara in das Schulzimmer, und Erwin, mit Mühe seine Erregung bemeisternd, mußte mit dem Unterricht beginnen. Glücklicherweise half die Gegenwart des Direktors, welcher der Lektion beiwohnen zu wollen schien, beiden über die ersten Minuten hinweg und zwang sie zur Ruhe und Sammlung. Kaum aber hatten sie sich mühsam gefaßt, so erhob sich Herr Beelitz und verließ das Zimmer. Erwin kam ins Stammeln und Stottern und brach plötzlich mitten im Satze ab. Eine Pause schwülen Unbehagens, folternder Beklommenheit entstand, wöhrend beide, die Augen zu Boden gesenkt, sich vergebens bemühten, einen Ausweg aus dieser Pein zu finden. Endlich raffte sich Erwin auf. Lieber offen sprechen als dies Schweigen über das, was doch quälend zwischen ihnen lag und zum Austrag kommen mußte. Mit fester Stimme, die Augen entschlossen auf Klara heftend, begann er: „Fräulein Klara – Fräulein Wagner; ich bedaure, daß ich Ihnen eine Begegnung nicht ersparen konnte, die, wie ich sehr wohl begreife, Ihnen unerwünscht, peinlich sein muß. Ich hatte, als ich Sie hier das erste Mal sah, die Empfindung, daß es meine Pflicht sei, Sie mit meinem Anblick zu verschonen und die Stelle auszuschlagen. Aber der Zwang der Verhältnisse ist stärker als unser Wille – das ist meine einzige Entschuldigung.“

Ihre Blicke hafteten noch immer am Boden, doch die Gluth, die mit einem Mal ihr Gesicht bedeckte, das stürmische Ringen ihrer Brust verriethen ihre Erregung.

Erwin holte tief Athem und fuhr fort: „Fräulein Klara, vielleicht hilft die Zeit dazu, daß wir ein anderes besseres Verhältniß zu einander gewinnen, vielleicht gelingt es mir, Sie zu überzeugen. daß ich das Unrecht, das ich mir einst Ihnen gegenüber zu Schulden kommen ließ –“

Eine heftige Bewegung Klaras schnitt ihm das Wort im Munde ab. Sie war aufgesprungen, ihre Augen blickten düster und drohend, ihre Mienen zuckten.

„Sparen Sie Ihre Redensarten, Herr – Herr Hagen,“ stieß sie mit bebender Stimme hervor. „Wir beide haben Persönliches einander nicht mitzutheilen. Wir sind im Dienst des Herrn Beelitz und haben uns seinen Anordnungen zu fügen. Das ist das einzige Verhältniß, in dem wir zueinander stehen.“

Sie setzte sich, nahm ihren Bleistift und ihr Buch zur Hand und bedeutete ihn so, in seinem Unterricht fortzufahren.

Erwin biß sich erbleichend auf die Lippen. Ohne ein Wort weiter zu entgegnen, nahm er die Lektion wieder auf, aber seine Stimme klang rauh und schroff.

Auch während der folgenden Stunden verschwand bei Erwin die erbitterte Stimmung nicht. Die Kälte, die Klara ihm gegenüber fortgesetzt zur Schau trug, erinnerte ihn immer von neuem an jene verletzende Abweisung. Schwer lastete auf beiden die Erfüllung ihrer Pflicht, die Minuten schlichen mit unerträglicher Langsamkeit dahin, und wie von einem erdrückenden Alb befreit, athmeten sie auf, so oft Herr Beelitz im Schulzimmer erschien, um Erwin abzulösen und sich von den Fortschritten der Schülerin persönlich zu überzeugen. Mit gewissenhafter Genauigkeit hielt sich Erwin an den angegebenen Lehrgang; nie sprach er ein Wort, das durch diesen nicht vorgeschrieben war. Endlich, endlich – nach qualvollen Wochen erklärte der Direktor Klaras Ausbildung für beendigt.

Es war wenige Tage nach diesem von allen Theilen freudig begrüßten Ereigniß, Erwin hatte eben das Bureau betreten, um dort einen Auftrag des Herrn Beelitz auszuführen, als er plötzlich eine Stimme hörte, die ihm das Blut in die Wangen trieb. Im nächsten Augenblick stand er Miß Carry Sumner gegenüber, die sich in die Liste der Schüler eintragen ließ. Die junge Amerikanerin erkannte ihn sofort und streckte 1hm freudig überrascht die Hand entgegen „Ach, Mister Hagen – Sie! Sehr erfreut, Sie zu sehen.“

Erwin verbeugte sich mit mehr Artigkeit und erwiderte die Begrüßung mit mehr Liebenswürdigkeit, als er sie für die kaltherzige Amerikanerin übrig gehabt hätte, wenn Klara Wagner nicht Zeugin des Vorgangs gewesen wäre. So aber empfand er es als eine Genugthuung, mit der hübschen elegant gekleideten jungen Dame eine lebhafte Unterhaltung beginnen zu können. Miß Carry that sich keinen Zwang an; so kokett wie jemals blitzten ihre Augen den einstigen Verehrer an und mehr als einmal kam von ihren frischen Lippen ein lautes Lachen, als Erwin sich in allerlei launigen Erinnerungen an die gemeinschaftliche Oceanfahrt erging.

„Miß Carry, wissen Sie noch – unsere erste Begegnung auf dem Schiff?“

„Lassen Sie sehen! Ganz rechtt, es war am drltten Tage der Fahrt und ich hätte eben den ersten Besuch dieses teuflischen Quälgeistes, der Seekrankheit, erhalten – o, Mister Hagen, wie furchtbar! Wenn ich daran denke – brr, mich schaudert noch jetzt.“

„O Miß Carry, wie können Sie denken, ich hätte eine so unangenehme Erinnerung in Ihnen wachrufen wollen! Nein, mir schwebte jener Abend vor, der folgte. Die frische Luft auf Deck [803] that Ihnen außerordentlich wohl. Ueber uns der klare Himmel mit unzähligen funkelnden Sternen, unter uns leuchtend in Phosphorglanz die See –“

„Gewiß, gewiß, Mister Hagen – es war eine unvergleichliche Nacht.“ Sie lächelte kokett, ohne sich durch Klaras Anwesenheit irgelld welchen Zwang auferlegen zu lassen, und fuhr dann neugierig fort: „Aber was thun Sie denn hier, Mister Hagen? Vermuthlich auch Schüler der Beelitz-Schule?“

Erwin erröthete leicht. „Nicht Schüler, sondern Lehrer.“

„Lehrer!“ Sie lachte laut auf und schlug die Hände zusammen. „Ach das – wie drollig das ist! Da werde ich am Ende gar das Vergnügen haben –?“

„Wenn Sie Schülerin des Deutschen sind –“

„Allerdings – um in der Uebung zu bleiben und nicht alles, was ich drüben mühsam gelernt habe, hier wieder zu vergessen.“

„Dann wird auf meiner Seite das Vergnügen sein, Sie unterrichten zu dürfen. Ich bemerke Ihnen aber im voraus, Miß Carry, daß ich ein sehr sehr strenger Lehrer bin.“

„O, Mister Hagen, ich zittere schon jetzt vor Ehrfurcht und Angst und –“ Ihr Blick streifte zufällig das Gesicht der Buchhalterin, aus deren Augen ihr so viel Mißbilligung und Verachtung entgegensprühte, daß sie unwillkürlich mitten im Satz abbrach, sich ärgerlich auf die Lippen biß und mit geringschätziger Miene die Achseln zuckte. Erwin war der Richtung ihres Blickes gefolgt; mit einem Gefühl der Befriedigung gewahrte er, daß jetzt eine glühende Röthe in Klaras Gesicht aufstieg, während sie verwirrt den Kopf senkte. Die schöne Amerikanerin aber verließ das Bureau, nachdem sie Erwin mit einem vertraulichen: „Auf Wiedersehen, Mister Hagen“ die Hand gereicht hatte.

Schon am nächsten Tage trat Miß Sumner in die Klasse von Erwins besten Schülern ein, deren Stunden hauptsächlich mit dem Lesen klassischer Schauspiele oder mit freier Unterhaltung ausgefüllt wurden. Die Beweglichkeit, das übermüthige, herausfordernde Wesen der Amerikanerin wirkte förmlich elektrisierend auf die übrigen Glieder des Kreises und nie war in dem Schulzimmer soviel gescherzt und gelacht worden als seit dem Eintritt von Miß Carry. Auf Erwin wachte ihre launige, graziöse Art nicht weniger Eindruck wie ehemals und bald genug befand er sich wieder ganz in ihrem Bann. Und je bitterer er es empfand, daß ihm Klara seit jener Scene im Bureau mit einer noch absichtlicheren Mißachtung auswich, desto empfänglicher wurde er für Miß Carrys Liebenswürdigkeit.

An Gelegenheit, sich derselben zu erfreuen und sie zu erwidern, fehlte es nicht. Die Eigenart der Methode Beelitz brachte es mit sich, daß Lehrer und Schülerin in allerlei Situationen sich nahekamen. Wenn Erwin die Zeitwörter „geben“ und „nehmen“ einübte und zu diesem Zwecke der Miß ein Buch mit den Worten reichte: „Ich gebe Ihnen das Buch. Nehmen Sie das Buch!“ so geschah das selten, ohne daß sich ihre Fingerspitzen unter dem Buche berührten, und wenn Erwin zur Uebung „Ladenbesuche“ machen ließ, wobei er selbst die Rolle des Verkäufers übernahm, so fand sich auch da hinreichend Gelegenheit, mit Miß Carry vielsagende Blicke zu tauschen, die durchaus nicht zur Methode des Herrn Beelitz gehörten.

Eines Nachmittags nach Beendigung seiner Stunden machte Erwin, der inzwischen dank seinem ausreichenden Gehalt seine Garderobe wieder auf einen anständigen Fuß gebracht hatte, mit besonderer Sorgfalt Toilette. Befriedigt musterte er sich im Spiegel. Sein Gesicht war wieder blühend und frisch wie in seinen besten Tagen. Wangen und Kinn, sauber rasiert, zeigten einen leisen, kaum sichtbaren Flaum duftenden Puders, die Spitzen des Schnurrbarts waren keck emporgewirbelt. Der dunkle Anzug war funkelnagelneu und saß tadellos. Von den Händen hatte er jede Spur seiner früheren. Thätigkeit zu entfernen gewußt; sie waren wieder zart und weiß. Mit freudiger Genugthuung, mit eitlem Lächeln nickte er seinem Spiegelbild zu. Er fühlte sich wieder als Angehöriger einer bevorzugten Menschenklasse; vergessen waren alle Leiden, ausgelöscht alles Elend. Sorglos, glänzend, verklärt von dem Sonnenstrahl des Reichthums lag die Zukunft wieder vor ihm. Kein Zweifel, Miß Carry liebte ihn, und auf diese Liebe baute er seine Hoffnungen.

War es nicht ein Zeichen ihrer Zuneigung, daß sie neulich, nachdem die übrigen Schüler das Schulzimmer schon verlassen hatten, in ihrer gewinnenden Weise ihm gesagt hatte, sie würde sich sehr freuen, ihn einmal bei sich zu sehen? Zugleich hatte sie die Adresse ihrer elterlichen Wohnung genannt und hinzugefügt, daß sie vor der Essensstunde, zwischen fünf und sechs Uhr, stets zu Hause sei. Es lag auf der Hand, sie wünschte ihn mit ihren Eltern bekannt zu machen und ihren Beziehungen einen gesellschaftlich würdigeren Hintergrund zu geben.

Und nun schickte sich Erwin zu diesem Besuch in Carrys Elternhaus an; seine lebhafte Phantasie schaute rosige Zeiten und kürzte ihm so den weiten Weg bis zur Lexington Avenue, wo Mister Sumner seine Privatwohnung hatte. Der Dienerin, die ihm die Hausthür öffnete, nannte er seinen Namen mit der Bitte, ihn bei Herr und Frau des Hauses zu melden. Die Familie Sumner saß im Wohnzimmer, als die Dienerin mit der Nachricht eintrat, ein Herr Hagen wünsche Mister Sumner zu sprechen. Dieser zuckte verdrießlich mit den Achseln. „Hagen? Kenne ich nicht!“ erkärte er mit mißtrauischer Miene.

Carry aber erhob sich lebhaft. „Mister Hagen, sagen Sie? Der Besuch gilt mir, Papa! Führen Sie den Herrn ins Empfangszimmer!“ Und während die Dienerin ging, um den erhaltenen Befehl auszuführen, fügte sie, zu ihren Eltern gewandt beiläufig hinzu: „Mein Lehrer aus der Beelitz-Schule.“

Mister und Missis Sumner vertieften sich nach dieser Erklärung beruhigt wieder in ihre Zeitungen, wahrend ihre Tochter rasch an den Spiegel trat, mit prüfenden Blicken ihren Anzug musterte und die Stirnlocken ordnete.

„Erfreut, Sie zu sehen, Mister Hagen!“ Mit diesen etwas steifen Worten begrüßte sie zwei Minuten nachher ihren Gast, um, nachdem sie sich in einen Schaukelstuhl geworfen und Erwin zum Sitzen veranlaßt hatte, sogleich die lebhafte Frage folgen zu lassen: „Sagen Sie, wie kommen Sie auf den Einfall, sich meinen Eltern melden zu lassen?“

Erwin blickte überrascht, verständnislos auf und mußte sich ihre Frage noch einmal wiederholen lassen. „Ja aber, Miß Carry,“ entgegnete er dann, noch immer erstaunt, .„das ist doch selbstverständlich. Man kann doch nicht eine junge Dame zu sprechen wünschen!“

„Warum nicht?“

„Nun weil – weil das nicht schicklich wäre.“

„Nicht schicklich?“ Sie lachte. „Bei Ihnen drüben in Deutschland, Mister Hagen – mag sein. Bei uns aber behandelt man die erwachsenen Mädchen nicht wie Kinder, die man am Gängelbande führen muß.“

Erwin konnte ein Befremden nicht ganz unterdrücken. „Ich hielt es für unhöflich,“ versetzte er ernst, in steifer Haltung, „Ihre Eltern einfach zu übergehen.“

„Zu übergehen? Aber Mister Hagen, seien Sie doch nicht so unausstehlich pedantisch! Ihr Besuch gilt mir, Sie wollen ein wenig mit mir plaudern, nicht?“

„In erster Linie, freilich.“

„Nun sehen Sie! Lassen Sie also Mister und Missis Sumner bei ihren Zeitungen, die ihnen viel interessanter sind als unser Schnickschnack.“ Sie blickte, während sie ihren Schaukelstuhl in Bewegung setzte, schelmisch zu ihm hinüber. „Es thut mir leid, Mister Hagen, aber Sie müssen schon zusehen, wie Sie sich mit mir behelfen.“

Carry zeigte sich verführerischer als je in ihrer anmuthigen Koketterie; Erwin war entzückt, bezaubert und vergaß sehr schnell den peinlichen Eindruck, den er bei seinem Eintritt empfangen hatte. Sie plauderte von ihrem häuslichen Leben, von ihren Gewohnheiten und daß ihr Tagewerk darin bestehe, zu lesen, Musik und – Toilette zu machen. Jede Beschäftigung in der Hauswirthschaft sei ihr zuwider; sie begreife die deutschen Frauen nicht, die es nicht verschmähten, selbst in der Küche Hand anzulegen und ihre Töchter an den Kochherd zu stellen. In muthwilligster Laune sprudelte sie über von witzig boshaften Einfällen, so daß Erwin nicht aus dem Lachen herauskam. Im Fluge verging ihm die Zeit und fast erschrocken fuhr er empor, als die zierliche Stutzuhr auf dem Kaminsims die sechste Stunde verkündete. Miß Carry entließ ihn mit der bestrickendsten Liebenswürdigkeit. Wie im Rausche gelangte Erwin auf die Straße; erst die frische Luft ernüchterte ihn ein wenig und gab ihm die Fähigkeit zurück, über die Erlebnisse der letzten Stunde einigermaßen ruhig nachzudenken. Gdankenvoll schüttelte er den Kopf. Wunderliches Land dieses Amerika, sonderbare Sitten! Berückendes, seltsam widerspruchsvolles Geschöpf – diese Miß Carry!

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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 48, S. 812–818
[812]
11.

Dem ersten Besuch Erwins im Hause von Miß Sumner folgte bald ein zweiter und dritter, bei denen ebensowenig sonst jemand zugegen war, wie beim ersten. Erwin fing an, die amerikanische Sitte, die den jungen Damen erlaubte, Herren ihrer Bekanntschaft allein zu empfangen, gar nicht so übel zu finden. Sicher hätte er sich mit Miß Carry nicht halb so gut unterhalten, wenn die Anwesenheit ihrer Eltern seiner Bewunderung, die sich in immer glühenderen Blicken und immer feurigeren Worten äußerte, Zügel angelegt hätte.

Es waren köstliche Stunden, die er in Miß Carrys Empfangszimmer verlebte. Hatten sie sich satt geplaudert, so setzte sich Carry ans Klavier, spielte und sang, und er stand hinter ihr, um die Notenblätter umzuwenden, und wenn er sich vorbeugte, streiften ihre Locken seine Stirn. Dann mußte er sich Gewalt anthun, um diese entzückende Gestalt nicht in seine Arme zu schließen und in leidenschaftlichen Worten seine Liebe zu gestehen.

Aber eine gewisse Unsicherheit, ein leiser Zweifel, den er immer noch nicht ganz überwinden konnte, hielten ihn ab, schon jetzt die Entscheidung herbeizurufen. Besser abwarten und langsam vorgehen, als leichtsinnig und zu früh alles auf eine Karte setzen! Und so fuhr er fort, sich mit allem Eifer um Miß Carry zu bemühen, ohne doch das letzte Wort zu sprechen.

Das Verhältniß, das sich zwischen den beiden bildete, war nicht viel anders als das auf dem Schiffe. Miß Carry gewöhnte sich wieder daran, Erwin als ihren „dienenden Ritter“ zu betrachten, dessen Pflicht es war, immerdar ihres Winkes gewärtig zu sein. Sie verfügte über seine freie Zeit, wie wenn es für den jungen Deutschen nichts Köstlicheres geben könnte, als alle ihre Launen blindlings zu erfüllen. Erwin aber ergab sich mit der glücklichsten Miene in sein Schicksal.

Es kam ziemlich häufig vor, das Carry nach Beendigung einer Lehrstunde an Erwin herantrat. „Mister Hagen, ich hätte Lust, heute nachmittag einen Gang nach dem Centralpark zu machen. Nicht wahr, Sie begleiten mich? Um drei Uhr!“ Und er stellte sich, wenn es seine Zeit irgend erlaubte, folgsam zu der angegebenen Stunde in der Lexington Avenue ein, um seine schöne Gebieterin abzuholen. Oder Carry bemerkte in ihrer entschiedenen Weise, die keinen Widerspruch zuließ: „Mister Hagen, ich habe Karten fürs Theater. Seien Sie pünktlich!“ Und Erwin war pünktlich und fand sich des Abends rechtzeitig ein, um mit ins Schauspielhaus zu gehen.

Eigenthümlich war die Veränderung, die inzwischen in Klaras Verhalten gegen Erwin vor sich gegangen war. Während sie früher ängstlich jede Begegnung vermieden hatte, konnte es jetzt manchmal vorkommen, daß sie plötzlich auf dem Flur erschien, wenn Erwin plaudernd mit der Amerikanerin an ihrer Zimmerthür vorüberschritt. Bei dem Anblick der beiden fuhr sie dann wie überrascht zurück, jedoch nicht, ohne vorher ihren Blick für eine Sekunde mit einem deutlichen Ausdruck schmerzlichen Befremdens auf Erwin gerichtet zu haben. So oft dieser mit ihr im Bureau zusammentraf, kam eine sichtliche Unruhe, eine nervöse Erregtheit über sie, an Stelle der eisigen Kälte, mit der sie sich früher ihm gegenüber gewappnet hatte. Mehr als einmal schien es Erwin bei solchen Gelegenheiten, als ringe sie nach Worten, als habe sie irgend eine Mittheilung auf dem Herzen, für die sie nicht den rechten Ausdruck zu finden vermöge. Aber er war zu sehr in die Netze der Amerikanerin verstrickt, als daß solche [813] Wahrnehmungen einen tieferen Eindruck in ihm hinterlassen hätten. Mit täglich wachsendem Selbstvertrauen malte er sich seine Zukunft aus, in der Miß Sumner die Zauberin war, welche Glück und Reichthum spendete. Mister Sumner war, soviel hatte Erwin in Erfahrung gebracht, auch nach amerikanischen Begriffen ein reicher Mann und Carry war sein einziges Kind. Wenn er ihre Hand gewann, dann war es eine Wonne, heimzukehren mit einer ebenso schönen wie eleganten jungen Frau, die auch in einem deutschen Salon als blendende Erscheinung gelten würde. Allen seinen Verbindlichkeiten konnte er mit Leichtigkeit gerecht werden, vielleicht ließ es sich sogar erreichen, daß er wieder in sein Regiment eintreten durfte. Freund Schuckmann war eine gute ehrliche Haut, ein treuer Kamerad, aber doch schon allzu sehr von amerikanischen Anschauungen durchdrungen, zu sehr vom harten mitleidlosen Kampf ums Dasein zerrieben, um noch ein Verständniß zu haben für das Ideal irdischen Glückes, für die schöne stolze Lieutenantszeit!

So sehr spann sich Erwin in diese lockenden Träume und Hoffnungen ein, daß die Begeisterung, die er anfangs für Herrn Beelitz und seine Lehrmethode empfunden hatte, sich erheblich abzukühlen begann, daß der Eifer, mit dem er seinen Berufspflichten nachkam, merklich nachließ. Es war nichts Seltenes mehr, daß Erwin seinen Kollegen gegenüber über die Geldgier des Direktors klagte, der keine Rücksicht kenne als die auf seinen Gewinn, der seine Angestellten mit Arbeit überbürde und sie in schonungsloser Weise ausbeute. Zugleich legte er einzelnen Aufträgen seines Prinzipals gegenüber so viel Gleichgültigkeit an den Tag, daß dieser zu Zurechtweisungen griff, die, je kürzer und knapper, um so verletzender waren. Dann knirschte Erwin wüthend in sich hinein und empfand, daß es eine Lust für ihn wäre, diesem hölzernen Schulmeister, der aus so untergeordneten „plebejischen“ Verhältnissen kam und nicht einmal eine „anständige“ Verbeugung zustande brachte, seine Verachtung ins Gesicht zu schleudern und ihm den ganzen Kram vor die Füße zu werfen. Diese Rückfälle in die Stimmungen seines früheren Lebens stellten sich bei Erwin um so häufiger ein, je liebenswürdiger Miß Carry sich gegen ihn erwies und je näher damit die Verwirklichung seiner Hoffnungen gerückt schien.

Eines Abends befand sich Erwin wieder im Empfangszimmer der Sumnerschen Wohnung in Gesellschaft Miß Carrys. Das häßliche Regenwetter, das schon den ganzen Tag über herrschte, bannte sie an das Haus. Die Amerikanerin ruhte nach ihrer Gewohnheit im Schaukelstuhl, den sie ab und zu mit einer Bewegung des zierlichen Fußes in sanfte Schwingung versetzte. Sie machte ein verdrießliches Gesicht und zeigte sich launisch und ungeduldig. Wie ein eigenwilliges Kind sprang sie in ihrer Unterhaltung ohne Uebergang von einem Gegenstand zum andern über. Jetzt erhob sie sich mit jähem Ruck, setzte sich ans Klavier und begann die getragene schwermüthige Weise des Chopinschen Trauermarsches. Doch auch hier brach sie plötzlich mit grellem Mißklang ab und wandte sich zu Erwin herum.

„Welch ein verwünschter, langweiliger Regen!“ sprudelte sie nervös hervor. „Sie glauben gar nicht, wie schwermüthig mich dieses einförmige Plätschern macht. Geht es Ihnen nicht auch so?“

„Schwermüthig?“ Crwins blendend weiße Zähne leuchteten zwischen den frischen rothen Lippen hervor. „In Ihrer Gesellschaft schwermüthig zu sein Miß Carry, das ist für mich rein ein Ding der Unmöglichkeit.“

Sie zuckte mit den Achseln und blickte eine Weile schweigend und träumerisch vor sich hin. „Sie waren Lieutenant in Ihrer Heimath, nicht?“ fragte sie dann unvermuthet.

„Ja. Ich glaube, es Ihnen schon erzählt zu haben.“

Sie blickte ihm eine Weile voll ins Gesicht. „Sie muß Ihnen ausgezeichnet gestanden haben, die hübsche deutsche Offiziersuniform.“

Erwin verbeugte sich artig und versetzte lächelnd: „Ich wage nicht, Ihnen zu widersprechen, Miß Carry, obgleich meine Bescheidenheit mich dazu drängt, denn ich weiß, Sie können Widerspruch nicht ertragen, am wenigsten, wenn Sie ‚schwermüthig‘ sind.“

Sie drohte ihm schelmisch mit dem Finger, versank aber gleich wieder in ein träumerisches Brüten, aus dem sie ebeuso plötzlich wieder mit der Frage auffuhr: „Ihr Beruf sagte Ihnen nicht zu, Mister Hagen?“

„Sie meinen, der Beruf als Offizier?“

Sie nickte.

„Wie können Sie das glauben, Miß Carry!“ rief er lebhaft. „Mit Leib und Seele hing ich an meinem Beruf, dem glänzendsten, schönsten, ehrenvollsten der Welt!“

„Dann begreife ich nicht, Mister Hagen, warum Sie das alles im Stich lassen konnten, um in dieses barbarische Land zu kommen, in dem man der Uniform noch keine Bewunderung entgegenbringt.“

Er blickte verblüfft in ihr muthwilliges Gesicht, dann senkte er verlegen die Augen, und zu seinem Aerger fühlte er, daß er erröthete wie ein Schuljunge. Da fuhr ihm ein erlösender Gedanke durch den Sinn. Rasch erhob er den Kopf und sagte, anfangs mit leicht ironischem Klang in seiner Stimme, dann in aufwallender Empfindung: „Das will ich Ihnen erklären, Miß Carry – weil es mein Schicksal war, mit Ihnen zusammenzutreffen, weil es mir vorherbestimmt war, vor zwei amerikanischen Augen mein Sedan zu finden, weil es in den Sternen geschrieben steht, Miß Carry, daß ich –“ er holte tief Athem, die Entscheidung nahte.

Mit einem eigenthümlich flimmernden Blick in den Augen hatte Carry sich erhoben und trat nun mit zwei, drei schnellen Schritten vor ihn hin, so dicht, daß er ihren Athem auf seinem Gesicht spürte. In Erwin schlug eine lodernde Flamme auf und jedes Bedenken, jedes kleinmüthige Zagen trat vor dem ungestümen Verlangen zurück, sie an seine Brust zu reißen. Schon streckte er die Hände nach ihr aus, da fühlte er plötzlich ihre Arme um seinen Hals, ihre Lippen auf den seinen, gluthvoll, bebend, wieder und wieder. Ein paar Sekunden seligsten Selbstvergessens verstrichen

Plötzlich riß sie sich jäh von ihm los und eilte von ihm weg, dem Fenster zu. „Gehen Sie, Mister Hagen, gehen Sie!“ rief sie heftig, die Hand abwehrend gegen ihn ausstreckend, das Gesicht von ihm abgekehrt.

Er aber stand wie angewurzelt, noch halb im Taumel, bestürzt über die Schroffheit ihrer Stimme und Gebärde. „Carry, süße Carry!“

Sie aber unterbrach ihn mit nervöser Hast. „Noch einmal, Mister Hagen, gehen Sie! Und ich erwarte von Ihnen als Gentleman, daß Sie zu niemand sprechen von dem, was hier – – Und wenn ich Ihnen künftig nicht mehr in der Beelitz-Schule begegnete, so würden Sie mir eine peinliche Erinnerung ersparen, [814] wenn ich auch bedauern werde, daß unser Verkehr ein so plötzliches Ende finden muß.“

Erwin stand sprachlos vor diesem Räthsel. Konnte die Reue, die Beschämung Carrys, sich ihrem Gefühl widerstandslos hingegeben zu haben, sie so gänzlich daniederdrücken, daß sie ihm nun nie mehr ins Auge sehen wollte, daß sie ihn, den sie doch liebte, für immer verbannte? Was hinderte sie denn, ihrem Gefühl zu folgen?

Gewaltsam riß er sich aus seiner Erstarrung und trat ihr ein paar Schritte näher. „Carry,“ begann er in weichem, von wirklicher Gemüthsbewegung durchzittertem Tone, „ich gehe, denn ich sehe und kann Ihnen nachempfinden, daß Sie jetzt allein zu sein wünschen. Morgen aber, Carry, morgen sollen auch die anderen erfahren wie glücklich ich geworden. Morgen kehre ich zu Dir zurück, meine süße Braut, um Hand in Hand mit Dir –“

Sie wandte sich so heftig zu ihm um, daß er bestürzt innehielt. Die Arme auf der Brust verschränkt, schaute sie ihn kalt und abweisend an, in ihren Zügen war keine Spur mehr von der leidenschaftlichen Bewegung, die sie eine Minute vorher an seine Brust getrieben hatte.

„Wenn ich Sie recht verstehe, Mister Hagen,“ erwiderte sie kühl, „so beabsichtigen Sie, morgen Ihre Werbung bei meinen Eltern anzubringen.“

„Das erscheint mir selbstverständlich, Miß Carry,“ stammelte er, nach Fassung ringend.

„Selbstverständlich!“ Ein spöttisches Zucken um die Mundwinkel begleitete diesen Ausruf. „Bitte, Mister Hagen, wollen Sie mir sagen, welche Stellung Sie mir an Ihrer Seite bieten können? Ich bemerke Ihnen, daß ich ein wenig verwöhnt bin und daß ich, wenn ich mich einmal verheirathe, meine Ansprüche an Behaglichkeit und Genuß natürlich nicht herabstimmen werde, Im Gegentheil! Sonst wäre es eine lächerliche Thorheit, meine Eltern, die mir jeden Wunsch erfüllen, zu verlassen.“

Erwin war bei diesen Worten ganz blaß geworden. Also er war für dieses herz- und gemüthlose Geschöpf nichts anderes gewesen als ein Spielzeug, das man achtlos wegwirft, wenn man es satt bekommt, und was er vorhin für ein elementares Aufwallen ihrer Leidenschaft gehalten hatte, war nur eine frivole Laune! Seine Liebe hatte sie sich gefallen lassen, aber ihm die Hand zu reichen, das dünkte sie „eine lächerliche Thorheit“! Empört fuhr er auf. „Die Frage, Miß Sumner, die Sie soeben an mich gestellt haben, würde in meiner Heimath niemals eine junge Dame an einen Mann richten. Ein deutsches Mädchen würde, bevor sie einem Manne in monatelangem Verkehr ihre Neigung kundgiebt, im klaren darüber sein, daß ihr Pflicht und Liebe gebieten, an seiner Seite jedes Los auf sich zu nehmen.“

Sie lachte schrill auf und entgegnete dann in beißendem Spott: „Ich weiß es, Mister Hagen, ich weiß es. Leider bin ich aber kein blondes deutsches Gretchen, und wenn Sie das vergessen haben, so ist es nicht meine Schuld. Ich weiß, daß man bei Ihnen andere Anschauungen hat als bei uns, wo es für selbstverständlich gilt, daß der Mann die Sorge für seine Frau auf seine eigenen Schultern nimmt, wo man eine Frau um ihrer selbst willen begehrt und nicht – des Geldes ihres Vaters wegen.“

Erwin zuckte zusammen, doch ehe er etwas erwidern konnte, fuhr die Amerikanerin mit überlegener Ruhe fort: „Und nun, Mister Hagen, lassen Sie uns eine Unterredung beenden, die für beide Theile peinlich und zwecklos ist.“ Sie kehrte sich ab und schritt wieder dem Fenster zu.

Erwin drehte sich mit heftigem Ruck herum und ging zur Thür. Dort aber machte er noch einmal Halt, der Sturm, der in ihm tobte, drohte, ihn zu ersticken, wenn er ihm nicht Worte lieh. „Ich gehe, Miß Sumner, und mit Freuden, denn jetzt kenne ich Sie ganz. Und wenn ich auch die Lehre, die Sie mir soeben ertheilt haben, verdiene, zum Theil wenigstens verdiene, so ist doch Ihr Verhalten, meine stolze Lady, noch viel weniger einwandfrei, und nur der Umstand, daß Sie ein Weib sind, verhindert mich, ihm den rechten Namen zu geben.“

Er machte eine kurze Verbeugung und hatte im nächsten Augenblick das Zimmer verlassen. Ihm nach schallte ihr zorniges Lachen.

Als Erwin seine Wohnung erreicht hatte, warf er sich in stumpfem Brüten auf einen Stuhl, und während er dieser neuen Demüthigung nachsann, trat in seinem Geiste neben das Bild der koketten Amerikanerin die schlichte Erscheinung Klaras, wie er sie einst in glücklichen Tagen gekannt hatte. Nie war ihm ihr bescheidenes, selbstloses Wesen so überzeugend zum Bewußtsein gekommen wie in diesem Augenblick. Und im Ueberschwang seines Gefühls warf er sich auf die Knie nieder, und die Hände in flehender Gebärde ausstreckend, bat er dem armen, betrogenen Mädchen reumüthig alle Unbill, alles Leid ab, das er ihr zugefügt.

*  *  *

Als Erwin am anderen Vormittag in das Zimmer trat, in dem die oberste Klasse seiner Schüler versammelt war. bemerkte er, wie sich Miß Sumner bei seinem Erscheinen in zorniger Enttäuschung auf die Lippen biß. Er aber zuckte kaum merklich mit den Achseln und begann scheinbar gleichmüthig den Unterricht, während Miß Carry zerstreut zu Boden blickte und offenbar mit sich zu Rathe ging.

Nach Beendigung der Stunde sah Erwin, wie die Amerikanerin, die ihn keines Blickes, keines Abschiedsgrußes würdigte, in das Privatzimmer des Direktors eintrat, und eine Regung der Genugthuung durchzuckte ihn. Nun ging sie, weil er ihr nicht das Feld geräumt hatte, und kündigte Herrn Beelitz die Stunden auf. Mochte sie gehen! Ein Thor wäre er gewesen, wenn er ihretwegen seine Stellung aufgegeben hätte. Einer Miß Sumner schuldete er keine zarte Rücksicht.

Am Nachmittag, als er mit seinem Tagewerk zu Ende war, rief ihn Herr Beelitz in sein Zimmer. Ahnungslos, irgendwelche Anordnung wegen des Unterrichts erwartend, folgte Erwin.

„Herr Hagen,“ nahm der Direktor das Wort und maß den vor ihm Stehenden mit einem kalten, stechenden Blick, „ich habe während der letzten Wochen wiederholt die Bemerkung machen müssen, daß Sie sich nicht mehr mit dem nöthigen Eifer dem Unterricht widmen, und da mir überdies von seiten der Schüler Klagen über Sie zu Ohren kommen –“

„Miß Sumner?“

„Allerdings, Miß Sumner,“ bestätigte Herr Beelitz. „Sie beklagt sich, daß Sie im Verkehr mit ihr nicht den richtigen Ton beobachtet hätten, nicht jene Artigkeit und Zurückhaltung, die ich unter allen Umständen im Hinblick auf den guten Ruf meiner Anstalt von meinen Lehrern fordern muß. Und da ich außerdem weiß, daß Sie Ihrerseits mit den Forderungen, die ich an Ihre Leistungen stelle, unzufrieden sind, so halte ich es für das Beste, wir trennen uns, Fräulein Wagner wird Ihnen Ihren vollen Wochengehalt auszahlen.“

Damit setzte sich Herr Beelitz nach einer förmlichen Verbeugung an sein Pult. Erwin wußte nicht, wie ihm geschah. Dieser Schlag war so unerwartet auf ihn herabgefahren, daß er nicht imstande war, seine ganze Schwere zu ermessen. Langsam ging er hinaus, dem Bureau zu. Jeder Versuch, den Direktor umzustimmen, wäre vergebens gewesen. Miß Sumner, das sah er nun klar, war seine erbitterte Feindin geworden und hatte es sich zur Anfgabe gemacht, ihn aus der Stellung, in der er ihr unbequem war, zu verdrängen, und er wußte, daß es einer der Geschäftsgrundsätze des Herrn Beelitz war, lieber zwei Lehrer fortzuschicken als einen Schüler zu missen.

Unsicheren Schrittes betrat Erwin das Bureau. Die Bankanweisung lag ausgefüllt für ihn bereit; er nahm sie schweigend an sich, ängstlich darauf bedacht, dem Blick Klaras, den er fürchtete, nicht zu begegnen. Und so konnte er nicht sehen, daß diese zitternd vor ihm stand, daß sie mit sich rang und kämpfte, daß sie ansetzte, um zu sprechen, und doch kein Wort über die blassen Lippen brachte. So ganz versunken war er in sein Mißgeschick, so ganz verwirrt und betäubt von dem, was ihm widerfahren war, daß er auch nicht wahrnahm, wie ihm ihre Augen voll schmerzlicher Theilnahme folgten und wie sie, während er die Thür öffnete, ihm hastig einen Schritt nachging. Und da er die Thür mit lautem Schlag achtlos hinter sich ins Schloß fallen ließ, so konnte er auch den kurzen, erstickten Schrei nicht hören, der jetzt sich Klaras Brust entrang,


12.

Erwin besaß, als er aus seiner Stellung in der Beelitz-Schule schied, nichts als seinen letzten Wochengehalt. Sein Verkehr mit Miß Sumner hatte so viele Ausgaben mit sich gebracht, daß er auch nicht einen Cent zurücklegen konnte. Skrupel hatte er sich deswegen nicht gemacht, denn abgesehen davon, daß es nicht seine [815] Art war, Geld zurückzulegen, hatte die Zukunft heiter, sorgenfrei vor ihm gelegen. Und nun mit einem Male wieder Nacht, dunkle Nacht um ihn!

Diesmal wartete er nicht, bis er den letzten Dollar ausgegeben hatte, sondern erinnerte sich beizeiten seines Freundes Schuckmann. Während der ersten Zeit seines neuen Berufes hatte er den Freund regelmäßig zwei- bis dreimal in der Woche zu einem Plauderstündchen aufgesucht; es waren gemüthliche, schöne Abende gewesen, die er da mit Frau Libby und ihrem Gatten verlebt hatte. In den letzten Wochen aber waren diese Besuche seltener und seltener geworden, und nun waren es volle vierzehn Tage, daß er seinen Fuß nicht in jene Gegend gesetzt hatte. Wie würde ihn Schuckmann empfangen? Doch er kannte den treuen Kameraden – der wußte von keiner Empfindlichkeit, keinem Uebelnehmen. Und frohen Muths machte er sich auf den Weg.

Auf sein lautes Klopfen an Schuckmanns Thür hörte er jemand eilig durch die Küche huschen. Es wurde geöffnet und Frau Libby stand vor ihm, bleich, mit vergrämtem Gesicht, die Augenlider geschwollen und geröthet von Weinen und Nachtwachen. „Sie, Mister Buschenhagen? Bitte, nur recht leise! Ach Gott, Mister Buschenhagen!“

Die kleine Frau sagte das mit einer so trostlosen, verzweifelten Miene, daß Erwin an der Schwelle stehen blieb. „Was ist geschehen, Missis Libby?“ fragte er hastig. „Doch kein Unglück? John –“

„Johnny ist gesund. Aber treten Sie nur ein, Mister Buschenhagen, er wird sich freuen, Sie zu sehen!“

Sie schritten durch die Küche. Libby ging auf den Zehenspitzen, und sich zu Erwin umdrehend, der ihr folgte, bat sie ihn noch einmal mit leiser Stimme, recht behutsam zu sein.

„Unser Henry, unser süßer, lieber Henry ist –“ Schluchzen erstickte ihre Stimme. Sie traten in die Wohnstube. Vor dem Bettchen seines kleinen Sohnes stand Schuckmann; beim Eintritt Erwins wandte er sich langsam um. Dieser starrte den Freund erschüttert an – was hatten die letzten Wochen aus dem blühenden, glücklichen Mann gemacht! Seine Wangen waren bleich und eingefallen, tiefe Linien umzogen Mund und Augen. Unwillkürlich glitt Erwins Blick zu Henrys Bettchen hinab. Mit röchelndem Athem lag der Kleine da, die Augen eingesunken, Fieberröthe auf den abgezehrten Wangen.

Stumm drückte Erwin die Hand des Freundes, der mit den Thänen kämpfte.

„Diphtheritis!“ sagte Schuckmann mit schleppender, müder Stimme. „Der Arzt meint, wir müßten auf alles, auf – das Schlimmste gefaßt sein.“

Er wandte sich ab und drückte die Hand gegen die Augen, während Libby sich über das Bett beugte und ängstlich den unregelmäßigen Athemstößen des Kindes lauschte. Die bange Stille, die beklemmende Luft des Krankenzimmers lastete drückend auf Erwin; er hätte für sein Leben gern etwas gethan, um diesen Menschen, die sich in Angst um ihr einziges Kind verzehrten, einen Theil ihrer Bürde abzunehmen. Aber rathlos stand er da, von einem zum andern blickend.

Da ertönten plötzlich wimmermde Laute vom Krankenbett her. Schuckmann fuhr erschreckt zusammen und eilte an das Lager seines Kindes. „Was ist Dir, Liebling – Henry, mein Junge?“

„So weh, Papa,“ stieß der Kleine heiser hervor „so weh – hier!“ Und er deutete mit seinem schwachen zitternden Händchen an seinen Hals.

Schuckmann redete dem Kinde sanft zu und zwang sich, ein lächelndes Gesicht zu zeigen. Erwin, der zur Seite stand, fühlte sich aufs tiefste erschüttert; Mitleid und Bewunderung zugleich weiteten ihm das Herz.

Der Kranke war wieder in seinen unruhigen Schlaf gesunken. Schuckmann richtete sich mit verzerrter Miene auf. „Buschenhagen,“ sagte er und seine Stimme zitterte, „wer nie am Bett seines kranken Kindes gestanden hat, der weiß nicht, was das Leben an Elend birgt. Das Herz möchte man sich aus der Brust reißen, wenn damit geholfen wär’. Aber mit ansehen, wie so ein hilfloses Wesen sich quält, wie es langsam dahinsiecht und elend zu Grunde geht, und nichts, nichts thun können, rein gar nichts, das ist nicht zu ertragen!“ Stöhnend sank er auf einen Stuhl und stierte finster vor sich nieder.

Erwin, der nicht wußte, was er thun sollte, legte dem Verzweifelten die Hand auf die Schulter und stotterte: „Schuckmann, lieber Freund, wenn ich nur wüßte – – wenn ich etwas für Sie thun könnte – – Schuckmann, es wird ja wieder besser werden – – fassen Sie sich, lieber Freund, seien Sie ein Mann!“

„Ein Mann!“ Schuckmann erhob sein Gesicht, über das ein bitteres Lächeln zuckte. „Als Mann habe ich alles getragen, was bis jetzt über mich kam, aber das – das wäre zu viel. Ich habe nichts als mein Weib und mein Kind – mein einziges Kind!“ In fassungslosem Schmerze sprang er auf, und ganz aufgelöst von den Leiden der letzten Tage und Nächte, brach der starke, im Kampf des Lebens abgehärtete Mann in heftiges Weinen aus.

Da trat Libby an ihren Gatten heran. Mit leiser thränenumflorter Stimme sagte sie: „Lieber Johnny, es ist Zeit für Henry zum Einnehmen.“

Tief aufathmend wandte sich Schuckmann zum Tisch, nahm Löffel und Medizinflasche in die Hand und folgte seiner Frau damit an das Krankenbett. „Komm, mein Liebling, einnehmen!“ sagte Schuckmann, dem Kinde sanft zuredend. „Du weißt, der Onkel Doktor will es. Siehst Du, wenn Du brav und tapfer bist, dann wirst Du bald gesund und dann gehst Du mit Mama und Papa spazieren – in dem neuen rothen Kleidchen, weißt Du, mit den schönen blanken Knöpfen!“

Libby beugte indessen dem Kranken sachte den Kopf nach vorn, der Kleine aber bog sich hintenüber. „Nein, nein – es ist so bitter!“

Nur mit vieler Mühe vermochte man, ihm die Arznei einzuflößen. Als es endlich gelungen war, trat Schuckmann leise an den Freund heran. „Seit acht Tagen ringen wir um das Leben unseres Kindes. Die ganze Zeit über sind wir nicht aus den Kleidern gekommen, nur ab und zu legt sich eines ein Stündchen aufs Sofa. Ich sage Ihnen, Buschenhagen, wenn mir der Junge –“ er schauerte sichtbar zusammen – „wenn mir der Junge stirbt, dann ist’s auch mit mir aus, dann strecke ich die Waffen.“

Erwin faßte seine Hand und drückte sie herzlich. Dann um wenigstens etwas zu sagen und ihn von seinem Schmerz abzulenken, fragte er: „Und Ihr Dienst, Schuckmann?“

„Mein Dienst?“ Schuckmann zuckte die Achseln. „Der Dienst kümmert mich blutwenig. Wenn nur erst mein Kind wieder gesund ist, das übrige macht mir keine Sorgen.“

Erwin schlug unwillkürlich die Augen nieder, die Erinnerung an seine eigene bedenkliche Lage und an das, was ihn hergeführt und was er vor diesem Jammer ganz vergessen hatte, kehrte plötzlich zurück.

„Und Sie, Buschenhagen? Wie steht’s mit Ihnen?“

Erwin zwaug sich zu einem sorglosen Lächeln. Um keinen Preis hätte er es fertig bekommen, dem Freunde auch noch mit seinen Sorgen beschwerlich zu fallen. „Ich – ich danke,“ stammelte er.

Und Schuckmann, der mit raschem Blick die elegante Erscheinung des Freundes überflog, hielt jede weitere Frage für überflüssig. Von Frau Libby mit leiser Stimme gerufen, trat er wieder an das Krankenbett und lauschte aufmerksam den Athemzügen des Kindes. Plötzlich richtete er sich auf und winkte den Freund eifrig heran. „Meinen Sie nicht, Buschenhagen, daß er jetzt leichter und ruhiger athmet als vorher?“ fragte er mit zitternder Stimme. Und als Erwin nach einer kurzen Pause diese Beobachtung bestätigte, umfaßte er seine kleine Frau und drückte sie in überströmendem Glück an sich. „Ach Libby, Libby, wenn es besser würde, wenn –!“

Eine Viertelstunde später verabschiedete sich Erwin. Unablässig war Schuckmann in dieser Zeit zwischen Tisch und Bett hin und her gewandert, alle zwei Minuten den Kranken beobachtend und die Freudenbotschaft verkündend: „Er athmet viel ruhiger, wahrhaftig!“

*  *  *

Am Ende der Woche war Erwin mit seinem Gelde fertig, da er nirgends Arbeit gefunden hatte, und von neuem begann für ihn ein schnelles Hinabgleiten in das obdachlose Vagabundenthum. Glücklicherweise hatte sich inzwischen die warme Jahreszeit eingestellt und so war der unstet Umherirrende wenigstens vor dem Erfrieren geschützt.

Eines Morgens wanderte Erwin vom Centralpark, wo er schon zweimal unter freiem Himmel übernachtet hatte, der Stadt zu. Unablässig beschäftigte ihn der eine Gedanke, wie er seinen Hunger stillen könnte, den wahnsinnigen Hunger, der ihn folterte bis zur Unerträglichkeit. Seine Phantasie malte ihm die Seligkeit [818] einer Mahlzeit in den verlockendsten Farben, und eine wahre Wuth, zu essen, kam über ihn.

Da kreuzte ein Wagen, über und über mit frischen, großen Broten beladen, seinen Weg. Die Augen gierig auf das langsam vorwärts rollende Gefährt geheftet, folgte Erwin, und so oft der Fuhrmann vor einem Hause anhielt, um seine Kunden zu befriedigen, blieb auch er stehen. Mit dem Rest seines Ehrgefühls kämpfte er einen verzweifelten Kampf; ein grimmiges Lächeln irrte um seine bleichen Lippen. Befand er sich nicht im Kriege mit der Gesellschaft, die ihn achtlos den Hungertod sterben ließ, und war es im Kriege nicht erlaubst zu – zu „requirieren“?

Wieder verschwand der Führer des Wagens, mit Broten bepackt, diesmal im Laden eines Spezereihändlers, und Erwin, von wahnsinnigem Verlangen getrieben, schlich näher und näher an das Gefährt heran. Jetzt stand er dicht davor – nur schnell noch einen Blick ringsum! Es war noch frühe Morgenstunde, die Straße menschenleer. Aber dort – er zuckte zusammen und machte hastig ein paar Schritte vorwärts – dort vorn stand breitspurig, mit einem großen Schlapphut auf dem Kopf, einer kurzen dampfenden Pfeife im Munde, ein junger Bursche mit dicken rothen Backen in dem gutmüthigen Gesicht. „Jänicke – wahrhaftig er ist’s!“ murmelte Erwin vor sich hin. Aber im nächsten Augenblick blieb er wieder stehen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Es war ja unmöglich! Ein neuer hastiger Blick. Nein, es war doch so: mitten auf der Straße stand in süßem Nichtsthun sein früherer Bursche.

Ungestüm eilte er jetzt vorwärts, an dem Fuhrmann vorbei, der eben aus dem Laden trat. Und nun stand er ihm gegenüber seinem guten treuen Jänicke, der die Augen aufriß und dessen weit geöffnetem Mund die qualmende Pfeife entfiel.

„Jänicke,“ rief Erwin, „ja bist Du’s – sind Sie’s denn wirklich?“

Ein Ruck fuhr dem Burschen durch den Körper straff richtete er sich auf und in strammer Haltung wie einst im bunten Rocke stieß er stotternd hervor: „Herr Lieutenant, Herr Lieutenant . . .“ und immer wieder nichts weiter als: „Herr Lieutenant!“ Erst als Erwin ihm die Rechte entgegenstreckte, wich die Erstarrung, die sich des Ueberraschten bemächtigt hatte, und mit festem Griff erfaßte er die Hand seines ehemaligen Herrn und schüttelte sie, daß die Gelenke krachten. Dabei traten dicke Tropfen in seine treuherzigen blauen Augen.

Als der erste ungestüme Ausbruch der beiderseitigen Freude vorüber war, fragte Erwin: „Aber sagen Sie mal, Jänicke, wie kommen denn Sie nach Amerika?“

Jänicke grinste vergnügt. „Sehr einfach, Herr Lieutenant,“ antwortete er. „Als ich meine Zeit bei’n Kommiß ’rum hatte, kriegte ich einen Brief von meinem Onkel, meines Vaters Bruder. Der schrieb so viel Schönes über Amerika und daß hier einer, der keine Arbeit nicht scheut, viel besser dran wäre wie bei uns zu Hause in Pommern. Und das Reisegeld schickte er auch gleich mit, und daß er Kaufmann sei und daß es ihm gut gehe, und wenn ich wollte, könnte ich das Geschäft bei ihm lernen. Und da bin ich denn herüber und drei Monate bin ich nu all hier, in dem Laden da! – Aber Sie, Herr Lieutenant?“

Er ließ seine Blicke prüfend über das Aeußere seines ehemaligen Vorgesetzten schweifen, der verlegen die Augen senkte, und jetzt erst gewahrte er, in welch trauriger Verfassung sich dieser befand.

„Ja, wie sehen Sie denn aus, Herr Lieutenant!“ entfuhr es ihm unwillkürlich. „Geht es Ihnen denn nicht gut? Sie sehen ja aus, als ob – als wenn –“

„Mir geht es schlecht, Jänicke,“ gestand Erwin leise. „Meine Stellung habe ich verloren und seit drei Tagen bin ich – bin ich obdachlos und gegessen habe ich –“

Weiter kam er nicht. „Herrgott!“ rief Jänicke, packte ohne weitere Worte den vor ihm Stehenden bei den Schultern und zog ihn mit sich in das Hinterzimmer des Spezereiladens, wo die Familie seines Onkels eben beim Frühstück saß. Mit ein paar kurzen Worten hatte er den erstaunt Aufblickenden den Sachverhalt erklärt; dann drückte er Erwin auf einen Stuhl nieder und trug ihm selbst auf, was gerade zur Hand war: Brot, Butter, Eier, Schinken, Wurst und Käse. Erwin ließ sich nicht erst nöthigen und griff wacker zu, und je tiefere Breschen er in die vor ihm aufgestapelten Eßvorräthe legte, zu desto freundlicherem Grinsen verzog sich Jänickes breiter Mund, desto länger wurden die Gesichter des Krämers und seiner Frau, die ihren unerwarteten Gast scheel von der Seite ansahen.

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1893, Heft 49, S. 828–832

[828] Erwin war fürs erste geborgen. Jänicke war sehr stolz und glücklich, daß er sich in der Lage befand, etwas für „seinen“ Lieutenant zu thun. Und wenn auch sein Onkel ihm unter vier Augen vorstellte, daß sie ja eigentlich im Geschäft niemand weiter nöthig hätten – er bestand darauf, mit seinem ehemaligen Herrn, der ihm die harten Militärjahre so sehr erleichtert habe, Brot und Obdach zu theilen.

Erwin fand sich schwer in die neue Lage der Dinge. Er war jedoch von den Entbehrungen der letzten Tage so niedergedrückt, daß er froh war, wenigstens unter Dach und Fach zu sein. Nur des Abends, wenn er nach vollbrachtem Tagewerk mit Jänicke in die kleine Bodenkammer hinaufstieg und in dem großen amerikanischen Bett neben seinem früheren Burschen sein Lager einnahm, kam ihm der Gegendatz zwischen Einst und Jetzt überwältigend zum Bewußtsein, vollends wenn dann Jänicke allerlei Erlebnisse aus dem Soldatenleben auszukramen begann. Derselbe war unerschöpflich in diesem Punkt und gerieth dabei nicht selten so in Hitze, daß er im Ueberschwang seiner Gefühle mit seiner rauhen Stimme das eine oder andere der alten Soldatenlieder anstimmte. Und es machte sich wunderlich genug, wenn es hier auf amerikanischem Boden begeistert durch die Stille der Nacht klang:

„Drum, Brüder, stoßt die Gläser an:
Hoch lebe der Reservemann!“

Auch über Erwin kam dann die Erinnerung mit doppelter Macht und legte sich ihm schwer aufs Herz; und wenn Jänicke von Müdigkeit überwältigt, plötzlich abbrach und in tiefen Schlaf fiel, so drückte Erwin sein Gesicht in die Kissen und wälzte sich noch lange schlaflos in bitteren Gedanken an die Vergangenheit.

Die Arbeit, die er im Geschäft des Kaufmanns zum Entgelt für die ihm gewährte Unterkunft verrichtete, bestand darin, mit [829] Jänicke auf den Markt zu gehen und Einkäufe zu machen oder den Kunden die von ihnen bestellten Waren ins Haus zu tragen. Da diese Thätigkeit seine Zeit nicht ganz in Anspruch nahm, so blieben ihm fast täglich einige Stunden übrig, in denen er sich mit allem Eifer nach einer anderen Beschäftigung umsah, denn er merkte wohl, daß ihn die Familie des Krämers mit mißgünstigen Augen betrachtete und nur ihres Neffen wegen duldete.

Auch zu Schuckmann war Erwin gegangen, um sich nach dem Befinden des kleinen Henry zu erkundigen und den Freund um Rath und Hilfe zu bitten. Aber er traf es ungünstig; Schuckmann war gar nicht zu Hause, Frau Libby aber so ausschließlich von ihrem kleinen Kranken in Anspruch genommen, der, immer noch nicht außer aller Gefahr, bleich und hinfällig in seinem Bettchen lag, daß Erwin sich kaum fünf Minuten aufhielt. Schließlich schied er mit der Empfindung, daß seine Freunde genug mit ihren eigenen Sorgen zu thun hätten.

So waren fast zwei Monate verflossen, als er eines Morgens, nachdem er sich eben in der Bodenkammer zu einew Ausgang umgekleidet hatte, zum Laden hinabstieg. Als er sich der Ladenthür näherte, schallte ihm ein heftiges Stimmengewirr entgegen und jetzt vernahm er deutlich seinen Namen. Unwillkürlich blieb er stehen und horchte. Jänicke führte mit seinem Onkel in der heimathlichen Mundart einen lebhaften Streit, dessen Gegenstand niemand anders war als Erwin selbst.

„,Min Leitnant‘ und nix as ,min Leitnant‘!“ hörte der Lauschende den Krämer mit höhnischer Stimme ausrufen. „Du bist ’n rechten Dämelklas mit Din ,Leitnant‘. Wat geiht uns de Snurrer an? Mag sülben sehen, wo hei blivt! Uns schenkt ok keiner ’n Cent!“

„Ik segg Di, Unkel, bat Du so von min Leitnant redst, dat – dat lid ik nich. Un wenn Du so ’n Geizhammel bist, dat Du em den Happen Eten nich günnst, denn – na, denn kannst mi man ok glik de Dör wisen.“

„Den Happen Eten? Gott sall mi bewahr’n, min Jung! Din Herr Leitnant haut in as ’n Döscher[1]. Wenn hei bi de [830] Arbeit blot halv so fix wir! Ja, dat geiht jo nich, hei künn sik dorbi die finen Fingerkens swart maken!“

Ein lauter Schlag ertönte, der offenbar davon herrührte, daß Jänicke wuthentbrannt mit der Faust auf den Ladentisch schlug. „Denx Dunner, Unkel, nu hörst äwer up! Sünst, wahrhaftigen Gott, sünst pack’ ik min Siebensachen und verlat mit min Leitnant Din Hus. Kein Minsch sall mi hinnern, för min Leitnant to arbeiden, wenn’t nödig deit, un den letzten Happen mit em to deelen!“

„Meinswegen gah, wenn Du abslut so ’n Esel bist, dat Du Di schinnst för einen, de Di schimpt un schuriegelt hett, Du weitst doch, bi'n Kommiß!“

„Bi’n Kommiß? Wat weitst Du von Kommiß? Bi’n Kommiß gehürt sik dat so, un dat is de Subordnatschon. Freilich, Du hest jo den bunten Rock nie nich dragen. Un wenn mi uns’ Herr Leitnant ok männigmal anschnauzt hett, dat mir Hürn un Sehn vergahn is, god was hei dorum doch un för min Leitnant gah ik dörch’t Füer.“

„Denn gah! Awwer in min Hus bin ik Herr, un ik bruk kein afgedankten Leitnant in min Geschäft. Un eh' ik so ’n Lüderjahn und Dagdeev noch länger föden[2] do -“

Mehr hörte Erwin nicht. „Lüderjahn! Tagedieb!“ Der rohe Schimpf traf ihn wie ein Peitschenhieb und trieb ihn in wilde Flucht. Keuchend eilte er auf der Straße vorwärts, unablässig gellten ihm die höhnischen Worte des Krämers in die Ohren. Endlich mäßigte er schweißtriefend seine Schritte. Unwillkürlich sah er sich ängstlich um. Gott sei Dank, es folgte ihm niemand, er war ihnen glücklich entkommen, dem einen mit seiner treuen, opferbereiten Liebe, die er nicht länger mißbrauchen durfte, dem andern mit seinem brutalen Haß. Doch wohin nun? Er wußte es nicht. Aber nur immer vorwärts! Nur fort von denen, die ihn kannten und die ihn verachten mußten!

Erschöpft, nach Athem ringend, hielt er endlich in seinem ungestümen Laufe an. Der „East River“ lag vor ihm, das breite Gewässer, das New York von der Schwesterstadt Brooklyn trennt. Beim Anblick des Wassers durchzuckte es ihn jäh wie eine Erleuchtung. Wer dort unten ruhte, der konnte vergessen, der hatte Ruhe für immer. Eine bessere Zuflucht gab es nicht. Dort unten war er für alle Zeit von Elend und Schmach erlöst. Eine unüberwindliche Müdigkeit erfüllte ihn, ein Ekel vor den Erniedrigungen neuer Kämpfe und Entbehrungen. Scheu blickte er um sich. Lebhaftes Treiben herrschte in der Straße am Wasser. Die Pferdebahn, Geschäfts- und Lastwagen aller Art rollten vorüber, unaufhörlich drängte die Fluth der Fußgänger an ihm vorbei. Unmöglich, ungehindert zu thun, was er thun mußte!

Da fiel sein Auge auf ein niedriges, braun angestrichenes Holzgebäude, das sich, ungefähr zwanzig Schritte von ihm entfernt, dicht am Ufer erhob. Eine dichte Menschenmenge, Fuhrwerke aller Art strebten unablässig den Thoren des Hauses zu. Es war offenbar eine Anlegestelle der großen Dampf-Fähren, die den Verkehr zwischen New York und Brooklyn vermitteln. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, eilte er dem Landungsplatze zu. In seiner Tasche fanden sich noch ein paar Kupfermünzen, die ihm Zutritt in die Halle verschafften. Hastig eilte er auf das Deck des Dampfbootes, das sich eben zur Abfahrt bereit machte.

Und nun stand er am Bugspriet des Fahrzeuges, das pustend und keuchend der Mitte des Flusses zusteuerte. Seinen Hut hatte er in die Hand genommen, um die erhitzte Stirn in dem frischen Luftzug, der vom Meer her wehte, zu kühlen. Vor seinem fieberisch erregten Geiste zogen die Erlebnisse der letzten Monate noch einmal vorüber. Wie feig und thöricht, seine Zukunft auf die Laune eines Geschöpfes wie Miß Sumner aufbauen zu wollen! Wie plump, wie schmachvoll, sich in den Netzen dieser Kokette zu verstricken! Und das unter den Augen Klaras, der einzigen, die ihn je aufrichtig, um seiner selbst willen geliebt hatte! Ein heißes Weh durchzuckte ihn. War er nicht an seinem Glück vorübergegangen, hatte er es nicht durch eigene Schuld für immer verscherzt? Warum hatte er nicht mit Ausdauer und Geduld, mit der Kraft reuiger Liebe gestrebt, die Zürnende zu versöhnen? Bewies nicht ihr Verhalten gegen ihn deutlich, daß ihr Herz noch immer für ihn schlug? Warum war er dem Beispiel Schuckmanns nicht gefolgt, der das Mädchen seiner Neigung heimgeführt hatte, ohne einer anderen Stimme als der seines Herzens Gehör zu geben, und der nun ein glücklicher Mann war? Wie anders stünde es jetzt um ihn! Er aber, ein kurzsichtiger Thor, noch immer im Bann der alten Vorurtheile, hatte einem äffenden Trugbild von Glück und Ehre nachgejagt und war in sein Verderben gerannt. Nun kam die Reue, die nagende brennende Reue und – das Ende.

Verstört blickte er sich um und fuhr zusammen. Das Boot war schon weit über die Mitte hinaus und näherte sich dem jenseitigen Ufer. Es war die höchste Zeit. Noch ein Blick nach oben und zu den hinter ihm Stehenden, ein kräftiger Schwung über die Brüstung – hinab in die Fluth! Die Wellen schlugen über ihm zusammen, die Besinnung verließ ihn . . .


Erwin schlug die Augen auf, um sie sogleich wieder voll Schreck zu schließen. Neben einem bärtigen bebrillten Gesicht, das ihm fremd war, schaute voll Spannung ein Paar Augen auf ihn nieder, deren Blick er nicht ertragen konnte, ein Antlitz, das er mehr scheute als irgend ein anderes in der Welt. Welch ein garstiger Traum! – Aber träumte er denn wirklich? Wo war er denn? Er fühlte eine seltsame Schwere in seinen Gliedern. War er krank gewesen? Und was war mit ihm geschehen?

Das alles zuckte blitzschnell durch sein Gehirn. Und jetzt raffte er sich zu einem Entschluß auf. Er öffnete von neuem die Augen und richtete sich mühsam empor. Erstaunt schaute er von einem Gegenstand, von einem Möbelstück zum anderen. Er befand sich in einem hübsch eingerichteten Zimmer, das er nie in seinem Leben gesehen hatte. Die beiden Männer aber, die er vorher erblickt oder zu erblicken gemeint hatte, waren verschwunden. Verwirrt faßte er sich an die Stirn und rathlos, bestürzt bemühte er sich, einenn Zusammenhang zwischen seiner früheren Lage und seinem jetzigen Zustand zu finden. Doch ehe ihm das gelang, öffnete sich eine Thür in der Seitenwand, und als er sich hastig umwandte, da durchloderte ihn ein ungestümes Entzücken.

„Klara!“ kam es jubelnd von seinen Lippen, und in übermächtigem Verlangen streckte er die Arme nach der Eintretenden aus.

Und – o Wunder – aller Groll war aus ihrem Gesicht verschwunden, aus dem die lauterste Freude, der sieghafte Strahl der Liebe glänzte. Nun stand sie neben ihm und drückte ihn mit sanfter Bewegung in die Kissen nieder. „Ruhe! Bitte, bitte! Der Doktor will es!“ flüsterte sie mit so innigem Tone, daß er sich gehorsam fügte und die Augen schloß. Und so lag er ruhig, nur ab und zu durch du halbgeöffneten Lider spähend, um sich zu vergewissern, daß das alles Wirklichkeit sei und nicht etwa ein neckendes Traumbild. Eine unbeschreiblich wohlige, selige Empfindung überkam ihn, ein beglückendes Gefühl der Ruhe und Sicherheit. Dann gewann die Müdigkeit die Oberhand und sanft entschlummerte er.

Als er gestärkt und frisch wieder erwachte, befand er sich abermals allein. Eifrig damit beschäftigt, sich die Ereignisse der letzten Vergangenheit in die Erinnerung zurückzurufen und Klarheit über seine Lage zu gewinnen, kleidete er sich langsam an. Kaum war er damit zu Ende, als es an der Thür klopfte. Erregt blickte er auf. „Herein!“

Wagner war es, der über die Schwelle trat und dessen Blick Erwin suchte, jedoch nicht zürnend und drohend wie ehedem, sondern ruhig, mit ernster Freundlichkeit. „Herr von Buschenhagen,“ redete er den gänzlich Fassungslosen, in peinlichster Verwirrung Dastehenden an, indem er sich ihm lebhaft näherte, „ich bitte Sie, mir die Hand zu geben zum Zeichen daß die Vergangenheit vergeben und vergessen sein soll.“

Erwin faßte wortlos die ihm dargebotene Hand, bemüht, der auf ihn einstürmenden Gefühle Herr zu werden. „Gerne – o wie gerne!“ stammelte er. „Ich allein muß ja um Verzeihung bitten –“

„Nein, Herr von Buschenhagen, auch ich habe ein Unrecht gutzumachen. Ich bin damals bei Herrn Hopkins grausam gegen Sie gewesen, ich mißbrauchte mein zufalliges Uebergewicht und das – das war brutal von mir. Sie waren in Noth, da durfte ich nicht den Feind in Ihnen erblicken, sondern nur den Hilfsbedürftigen.“ Er athmete tief auf und fuhr dann, ohne die abwehrende Gebärde Erwins zu beachten, eifrig fort: „Als es gelungen war, von dem Fährboot aus, das ich heute morgen zufällig bei der Rückkehr von einem Geschäftsgang benutzte und das dem Ihrigen entgegenkam, Sie aufzufischen, als Sie nun bleich, regungslos, anscheinend ohne Leben vor mir auf dem Verdeck lagen, da schrie etwas in mir auf und rief mir zu: ‚Mörder! Mörder! Du bist die Ursache seines Todes!‘ Verzweifelt mühte ich mich mit einem Arzte, der glücklicherweise zur Stelle war, Sie [831] ins Bewußtsein zurückzurufen, und nach einigen bangen Minuten gaben Sie ein schwaches Lebenszeichen von sich. Da der Landungsplatz des Dampfers nicht weit von meiner Wohnung entfernt war, so ließ ich Sie hierher schaffen und zugleich gelobte ich mir: wenn es gelänge, Sie zu retten, so wollte ich wieder gutmachen, was ich an Ihnen verschuldete.“

Das alles wurde mit so gewinnendem Freimuth, mit so aufrichtiger, schlichter Empfindung gesprochen, daß es Erwin aufs tiefste bewegte; aber noch betäubt von dem jähen Wechsel seiner Lage, vermochte er nicht sogleich Worte des Dankes zu finden. Stumm ergriff er beide Hände des neugewonnenen Freundes, Wagner aber zog seinen Gast aufs Sofa, und sich an seiner Seite niederlassend, begann er von neuem: „Es wäre ein Leichtes, Ihnen in der Fabrik meines Prinzipals eine Anstellung zu verschaffen, aber damit wäre Ihnen wenig und auch nur für die nächsten Wochen geholfen. Eine solche Thätigkeit ist nichts für Sie. Was Ihnen noth thut, ist eine sichere, feste Lebensstellung, eine Beschäftigung, die Ihnen zusagt. Da ist mir nun vorhin ein Gedanke gekommen, der – der –“

Der Sprechende kam plötzlich ins Stocken, und als er jetzt Erwins fragenden Blick auf sich gerichtet sah, sagte er ablenkend: „Ich ermüde Sie, Sie fühlen sich gewiß noch angegriffen und –“

Doch Erwin verneinte, und inzwischen hatte auch Wagner seine Verlegenheit überwunden. In seiner frischen, entschiedenen Weise fuhr er fort: „Was ich Ihnen vorschlagen möchte, ist eine Art Kompagniegeschäft. Meine Stellung ist ziemlich einträglich und so habe ich schon ein nettes Sümmchen beiseite gelegt. Dazu besitze ich ein kleines Vermögen von meinen Eltern her, das Klara, nachdem der Tod unsere arme Mutter von ihrem langjährigen Leiden erlöst hatte, mit herüberbrachte. Es liegt mir daran, das Geld, wenigstens zum Theil, zu besseren Zinsen als bisher anzulegen. Zugleich möchte ich für meine Schwester, die ihre Stellung bei Beelitz aufgegeben hat und die sich wieder nach Thätigkeit sehnt, eine möglichst selbständige Beschäftigung finden. Wie wäre es, Herr von Buschenhagen, wenn Sie nach dem Muster der Beelitz-Schule drüben in Brooklyn eine Sprachschule errichteten? Sie ertheilen den Unterricht, Klara, die gut englisch spricht, versieht das Geschäftliche und ich – ich strecke Ihnen das nöthige Geld vor. Fünfhundert Dollar werden vorderhand reichen. Natürlich“ – Wagner sprach das Folgende mit einer gewissen Hast und bemühte sich, eine kalte, geschäftliche Miene anzunehmen – „natürlich verzinsen Sie mir das Geld, zu sechs Prozent. Billiger kann ich es Ihnen nicht geben.“

Erwin war ganz roth geworden. Eine Minute lang kämpfte er einen schweren Kampf mit sich, dann entgegnete er fest: „Herr Wagner, Ihr Anerbieten und die Art und Weise, wie Sie es mir machen, zeugt von einer so vornehmen Gesinnung und einem so guten Herzen, daß mir das, was ich Ihnen einst zugefügt habe, doppelt schwer auf die Seele fällt. Ich bitte Sie für das alles nochmals aufrichtig um Verzeihung. Für Ihr edles Anerbieten aber muß ich Ihnen herzlich danken – ich kann es nicht annehmen.“

„Nicht?“ Wagner schaute ihn ganz bestürzt an. „Aber warum denn nicht, warum?“

Erwin blieb einen Augenblick still, dann sagte er langsam: „Ich kann es von Ihnen nicht annehmen, weil – weil Sie Klaras Bruder sind.“

Wagner suchte Erwin zu unterbrechen, aber dieser fuhr fort: „Sie wissen, daß ich einst gewissenlos gegen Klara gehandelt habe. Ich lebte und handelte im Bann ererbter Anschauungen, von denen ich mich – ich gestehe es zu meiner Schande – auch noch hier lange Zeit nicht frei machen konnte. Jetzt freilich habe ich erkannt, und Sie, Herr Wagner, haben nicht wenig zu dieser Erkenntniß beigetragen, daß der Werth eines Menschen sich nicht nach seinen äußeren Verhältnissen richtet, sondern nach dem, was in ihm steckt, nach seinem Charakter, seinem Herzen. Nach diesem Maßstab gemessen, steht Ihre Schwester weit über mir und ich, der ich nichts sehnlicher wünsche, als ihre Achtung, ihre Liebe, die ich so leichtsinnig verscherzte, wiederzugewinnen – ich muß dermaleinst mit gutem Gewissen, frei von jeder Nebenabsicht vor sie hintreten können, damit ihr nichts den Glauben an meine Aufrichtigkeit zu stören vermag. Und darum, Herr Wagner, darum kann ich Ihr Anerbieten, so gut es gemeint ist und so dankbar ich Ihre Güte empfinde, nicht annehmen.“

Franz hatte den Worten seines Gastes in athemloser Spannung gelauscht. Nun, da Erwin schwieg, leuchteten seine Augen, während sein Gesicht sich langsam bis zur Stirn mit dunkler Röthe färbte. Und dann kam es in überquellender Freude aus seinem Munde: „Daß Sie, Herr von Buschenhagen, so sprechen und so handeln, das – das freut mich von Herzen, denn es beweist mir, daß Klara doch die rechte Wahl getroffen hat. Und nun kann ich es Ihnen ja auch verrathen, daß sie nie aufgehört hat, Sie zu lieben, so bitter sie auch gegen Sie gewesen ist. Ich kann es Ihnen nicht sagen, wie glücklich mich Ihre Worte machen und nun – nun ist es erst recht schade, daß Sie meine Hilfe nicht annehmen wollen. Aber ich verstehe Sie und vermag Ihnen nachzufühlen.“

Nach einer Weile, während der die beiden Männer schweigend dasaßen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, fügte Franz mit hoffnungsloser Miene hinzu: „Haben Sie denn gar keinen Freund, keinen Bekannten, der Ihnen das bißchen Geld vorstrecken könnte?“

Erwin wollte schon verneinen, da durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke: Schuckmann! Der hatte ihm ja als treuer Kamerad das Versprechen abgenommen, sich seiner Hilfe zu erinnern, wenn er sich sonst keinen Rath wisse! Und Schuckmann hatte Geld. Wieviel freilich, das wußte er nicht. Aber im Nothfall ließ sich auch mit wenig etwas anfangen; jedenfalls bot sich hier eine Aussicht.

Das drängte sich Erwin mit der Schnelligkeit einer Sekunde durch den Sinn, und ganz erfüllt von dieser Möglichkeit, erzählte er dem aufmerksam Zuhörenden von den Schicksalen seines Freundes, von dessen treuer Kameradschaft. Und Wagner pflichtete seinem Plane bei, Schuckmann für die Gründung einer Sprachschule zu gewinnen.

Noch am Abend desselben Tages machte sich Erwin auf den Weg zu Schuckmann. Die Hoffnung auf eine neue schönere Zukunft hatte ihm mit einem Schlag seine Kraft wiedergegeben. Er fühlte sich voll Lust, zu leben, voll frohen Vertrauens in das Gelingen seines Planes. Als ihm Frau Libby die Flurthüre geöffnet hatte, schallte ihm das helle Jauchzen einer Kinderstimme entgegen und vom Gesicht der kleinen Frau leuchtete ein freudiges Willkommen. Im Wohnzimmer bot sich ihm ein wunderlicher Anblick. Schuckmann lag auf Händen und Füßen um Fußboden und auf dem Rücken saß ihm der kleine Henry, vergnügt mit den Beinchen strampelnd und luftig ein über das andere Mal ein helles: „Hühl Hüh!“ ausrufend.

Erwin nahm den Kleinen in seine Arme und küßte ihn auf die Wangen, die wieder in der alten gesunden Frische prangten. Schuckmann erhob sich und reichte dem Freunde herzlich die Hand.

„Na, Buschenhagen,“ redete er ihn an und seine Augen blitzten, „lassen Sie sich endlich wieder einmal sehen? Wir glaubten wahrhaftig schon, Sie wandelten nicht mehr unter den Lebenden.“

Erwin lächelte ernst. „Hätte um ein Haar so kommen können, Schuckmann,“ antwortete er. Und nachdem sie alle Platz genommen hatten, legte er eine vollständige Beichte über seine Erlebnisse der letzten Wochen ab. Mit ernstem Gesicht hörten die beiden seine Schicksale an. Als er zu dem Anerbieten Wagners gekommen war, ihm in der Fabrik von Hoe und Kompagnie eine Stelle zu verschaffen sprang Schuckmann lebhaft auf. „Ein prächtiger Mensch, dieser Wagner, mit dem müssen Sie mich bekannt machen, Buschenhagen! Und was wollen Sie thun? Wollen Sie die Stelle annehmen?“

Erwin zögerte mit der Antwort, dann entgegnete er stockend: „Wagner meinte, eigentlich wäre das doch keine Arbeit für mich, es sei auch nicht von Dauer. Darum machte er mir einen anderen Vorschlag.“ Er hielt inne und wußte nicht recht, wie er sein Anliegen am besten vorbringen sollte.

„Und dieser Vorschlag ist?“

Erwin besann sich nicht länger. „Sagen Sie ’mal, Schuckmann,“ fragte er rasch, „wollen Sie ewig Pferdebahnschaffner bleiben?“

„Bin ich längst nicht mehr! Die Stelle war natürlich besetzt, als ich mich wieder zum Dienst meldete. Etwas mir Zusagendes habe ich noch nicht gefunden. Inzwischen habe ich mich mit allerlei Handlangerarbeiten so durchgeschlagen, um nicht vom Baren zu leben.“

„Kamerad“ – Erwin raffte seinen ganzen Muth zusammen – „ich will Ihnen einen Vorschlag machen, wie uns beiden zu helfen ist.“

Schuckmann blickte den Sprechenden erstaunt an.

„Sie wissen,“ fuhr Erwin fort, „Beelitz ist auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden. Seine Schule hier in New York steht im Flor, ebenso die Zweiganstalten in Philadelphia und Chicago. Na, was Beelitz kann, sollten wir beide zusammen auch fertigbringen. Was meinen Sie, wenn wir drüben in Brooklyn eine Sprachschule gründeten, nach ähnlichem Muster?“

Schuckmaun starrte den Freund an, als entdeckte er plötzlich [832] an ihm etwas Wunderbares, noch nie Gesehenes. Dann aber kam Leben in ihn und stürmisch trat er auf Erwin zu. „Buschenhagen, das – das hat Ihnen ein guter Geist eingegeben! Das ist ein Gedanke, der Goldes werth ist. Ja, das ist das Wahre, da kommt man endlich einmal in andere Verhältnisse! Und – passen Sie auf, Buschenhagen, wir machen Geld, Geld wie Heu. Und dann ist für meinen Henry“ – er hob seinen Knaben empor und drückte sein Gesicht zärtlich an die blühende Kinderwange – „für meinen Henry ist dann auch gesorgt.“

Erwin machte zu der Begeisterung seines Freundes ein bedenkliches Gesicht. „Aber Geld gehört dazu, Schuckmann, schweres Geld. Und ich, Sie wissen –“ er zuckte die Achseln.

„Geld?“ Schuckmann lachte. „Ist vorhanden! Sechshundert Dollar! Reicht’s?“

„Ich denke.“

„Also! Ich setze alles dran! Entweder – oder! Uebrigens, Gefahr ist kaum dabei. In einer Stadt von dieser Größe! Konkurrenz ist keine da?“

„Ich denke, nicht!“

„Und die Methode?“

„Was die Methode betrifft,“ fiel Erwin begeistert ein, „die ist großartig und schließt jeden Mißerfolg aus!“

„Also!“ Schuckmann streckte dem Freunde die Hand entgegen. „Schlagen Sie ein, Buschenhagen, die Sache ist abgemacht! Wir gründen die Schule!“

Erwin schüttelte dem Freunde freudestrahlend die Hand. So leicht hatte er es sich nicht vorgestellt. Schuckmann aber war ganz aus dem Häuschen. Er umfaßte Libby und tanzte mit ihr durchs Zimmer, bis die kleine Frau ganz außer Athem war. – –

Als Erwin eine Stunde später in Wagners Wohnung zurückkehrte, um ihm über das glückliche Ergebniß seiner Bemühungen Bericht zu erstatten, fand er nur Klara im Wohnzimmer. Unwillkürlich that er einen Schritt zurück, denn all das, was zwischen ihnen lag, drängte stürmisch auf ihn ein. Als er dann aber in ihr Gesicht blickte, das von milder, verzeihender Liebe strahlte, als sie wortlos vor tiefer Bewegung ihm die Hand entgegenstreckte, da stürzte er mit einem Jubelruf vorwärts und warf sich, von Glück und Dankbarkeit überwältigt, vor ihr auf die Knie, sein zuckendes Antlitz in ihren Händen verbergend.

Da klang es leise innig von ihren Lippen: „Erwin!“

Der Laut berührte ihn mit magischer Gewalt. Ungestüm sprang er auf, die Arme nach ihr ausbreitend, und hingebend wie einst sank sie ihm an die Brust. Er aber neigte sein Haupt und küßte sie auf die Stirn voll ehrfürchtiger Liebe. Worte für die Seligkeit, die ihre Herzen erfüllte, fanden sie nicht. Sie wußten ja doch, daß sie sich gefunden hatten, um sich nie wieder zu verlieren. – –

Schon am andern Tage begannen die beiden Freunde mit der Verwirklichung ihres Planes. In einer günstigen Lage von Brooklyn mietheten sie drei Zimmer, von denen sie zwei als Schulzimmer, das dritte als Bureau verwendeten. Dann wurden überallhin in die Stadt Ankündigungen versandt und Anzeigen in einigen der gelesensten Tageblätter aufgegeben.

Der Anfang war hart, es dauerte geraume Zeit, bis das erste Dutzend Schüler voll war. Dann aber hatte man leichtes Spiel. Erwin sowohl wie Schuckmann boten all ihre Kraft auf, um ihre Schüler vorwärts zu bringen, und der Erfolg, den sie erzielten, war die beste Empfehlung für die neue „internationale Sprachschule“, wie die Freunde ihr Unternehmen genannt hatten.

Mit Herrn Beelitz hatten sie einen Vertrag abgeschlossen, durch den sie sich verpflichteten, ihm drei Prozent des Reingewinns abzugeben. Dafür erlaubte er ihnen, sich seiner Methode zu bedienen, und ging ihnen auch im übrigen mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen an die Hand. Erwin unterrichtete im Deutschen, während Schuckmann, der in seinem Elternhaus schon als kleines Kind das Französische wie seine Muttersprache sprechen gelernt hatte, die französischen Stunden übernahm. Klara aber empfing die sich anmeldenden Schüler, besorgte das Geschäftliche und gab auch selbst in einigen Kinderklassen Unterricht. Mit Beginn des zweiten Vierteljahres waren es schon sechzig Schüler für die beiden Sprachen und der Fortbestand der Schule war gesichert.

Damit hatten auch Erwin und Klara endlich das Ziel ihrer Wünsche erreicht. Die Hochzeit fand in Wagners Wohnung statt und wurde fröhlich, aber in schlichter Weise gefeiert. An dem Essen, das nach der Trauung die Gäste vereinigte, nahm auch der gute Jänicke theil, der sich durch die Einladung sehr geehrt fühlte, anfangs jedoch mit einigen Beklemmungen zu kämpfen hatte. Erst nach dem vierten Glas kam auch über ihn eine behagliche Feststimmung, und als die ihm gegenübersitzende, von Glück und Schönheit strahlende junge Frau ihm freundlich zunickte, da faßte er sich ein Herz und erhob sein Glas. „Auf eine lange, glückliche Ehe, Frau Leitnant!“

Am nächsten Tage kam ein Brief aus der Heimath an, der die Freude der Neuvermählten vollendete. Erwins Eltern, denen er seine Schicksale mitgetheilt hatte, mit der Bitte, ihm zu verzeihen und ihren Segen zu seiner bevorstehenden Hochzeit zu geben, sandten ihre herzlichsten Glückwünsche. Eine Stelle in dem Schreiben des alten Majors war es besonders, die Erwins Herz höher schlagen machte.

„Aus Deinen Mittheilungen sehe ich, mein lieber Junge,“ so schrieb sein Vater, „daß Du auf dem Wege bist, ein ganzer, ein rechter Mann zu werden. So wollen wir denn die alten Wunden nicht mehr aufreißen und das Vergangene begraben sein lassen. Die harte Lehrzeit, die Du drüben durchgemacht hast und die nun wohl zum Abschluß gelangt ist, wird, so hoffe ich, gute Früchte für Dein ganzes zukünftiges Leben reifen. Du wirst einsehen gelernt haben, daß das Glück des Lebens nicht in äußeren Genüssen zu suchen ist, sondern in strenger, treuer Pflichterfüllung, in dem Bewußtsein, das Rechte zu thun. Dein neuer Beruf ist gewiß ein schöner, denn Du hilfst, dem Deutschthum im fremden Lande neue Freunde gewinnen. Im übrigen weißt Du, daß ich bei aller Liebe für den Soldatenstand nie zu denen gehört habe, die auf alle andere Arbeit mit Hochmuth herabsehen. In meinen Augen ist jeder, der seinen Beruf ehrlich ausfüllt, ein achtungswerther Mann. Zu Deiner Wahl aber sende ich Dir aus vollem Herzen meinen Segen. Was Du uns über Deine Braut mittheilst, hat uns allen ein warmes Interesse für sie eingeflößt. Daß sie das Herz auf dem rechten Fleck hat, geht schon aus dem Brief hervor, den sie Deinen Zeilen beifügte. Sie wird Dir eine gute Frau sein, und so heiße ich, heißen Deine Mutter und Deine Schwestern sie als Mitglied unserer Familie aufrichtig willkommen. Wir alle werden sie, wenn Deine Verhältnisse es Dir einmal erlauben, sie uns persönlich zuzuführen, mit offenen Armen aufnehmen.“

„Bist Du zufrieden, Geliebte?“ fragte Erwin, nachdem er diese Worte vorgelesen hatte.

Da warf sich Klara in seine Arme, und während sich ihre Augen mit Thränen der Freude füllten, sprach sie leise: „O Erwin, ich bin die stolzeste, die glücklichste Frau der Welt.“


  1. Drescher.
  2. füttern.