Textdaten
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Autor: Auguste von Roeßler-Lade
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Titel: Ein Dornröschen der Cultur
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 202-205
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Kulturgeschichte und Plädoyer zum Anbau von Nesseln. Siehe ergänzend Neue Erfahrungen bezüglich der Nesselcultur, Heft 30
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[202]
Ein Dornröschen der Cultur.
Von Auguste von Roeßler-Lade.

Viele Jahrhunderte hindurch wurde die Nessel nicht nur in Deutschland, sondern weit über seine Grenzen hinaus als eine Nutzen bringende Pflanze geachtet. Ihr Anbau trat zwar nur in einzelnen Erscheinungen zu Tage und wurde nur hier und da systematisch gepflegt. Einige Nesselarten werden noch bis heute in Amerika und Nordasien mit besonderer Aufmerksamkeit cultivirt, um aus ihrem Materiale allerlei Nutzen gewährende Gegenstände für’s bürgerliche Leben zu gewinnen.

Abgesehen davon, daß sich die Nessel als Gespinnstpflanze, als Futterpflanze in praktischer Hinsicht bewährt und die Vergangenheit als redendes Zeugniß zur Seite hat, ist sie auf medicinischem Boden schon längst existenzberechtigt und nimmt keineswegs, wie es auf den ersten Blick den Anschein gewinnen könnte, eine ausschließlich verachtete Stelle ein, wurde sie ja doch selbst für wunderthätig gehalten.

Mehr vielleicht, als jede andere Pflanze, war unsere Nessel dazu berufen, eine große Rolle in der Volkspoesie, Volksphantasie und dem Volksglauben zu spielen. Ich erinnere nur an die Sage von der Entdeckung der Nesselfasern. Ein böser Vormund wollte das Glück seiner Mündel nicht eher krönen, als bis sie aus einem am Wege stehenden Unkraute – er deutete dabei auf die Brennnessel – sich ihr Brautkleid selbst gesponnen und gewebt habe. Die Arme eilte mit schwerem Herzen in ihr Kämmerlein, warf sich vor dem Bilde der Mutter Gottes in die Kniee und bat innig um Hülfe. Ermattet schlief sie ein. Da öffnete sich ihr im Traume der Himmel, und zwei Engel schwebten zu der Schlafenden hernieder, nahmen sie bei der Hand und geleiteten sie zu dem verhängnißvollen Nesselstrauche. Hier unterwiesen sie die Maid, daß sie, so lange noch der Thau auf der Pflanze liege, dieselbe ungefährdet ernten könne, zeigten ihr, welche wunderbare Fasern der Stengel in sich birgt, lehrten sie diese Fasern spinnen, weben und bleichen und sich daraus ihr Brautkleid fertigen. Als das Mägdelein erwachte, dankte sie der heiligen Jungfrau aus tiefstem Herzensgrunde und ging sofort an das Werk. An dem Tage, an welchem sie ihre Arbeit vollendet, starb der böse Vormund eines jähen Todes, und die Liebenden wurden vereint. Das Geheimniß aber, welch feinen, im praktischen Leben zu verwerthenden Faden die Nessel in sich birgt, war entdeckt und wurde viele Jahrhunderte hindurch bei nothwendiger Pflege und zweckentsprechender Behandlung zu Nutz und Frommen der Menschheit getreulich gehandhabt.

Ebenso bekannt dürfte wohl das Märchen von den sieben Raben sein, nach welchem die stumme Königin sieben Hemden aus Nesseln spinnen mußte, um ihre Brüder zu entzaubern und ihre Sprache wieder zu gewinnen.

Es ist wirklich unbegreiflich, daß eine Pflanze, welche Jahrhunderte lang solche Verehrung gefunden, wie die Nessel, in Vergessenheit, sagen wir, sogar in die tiefste Verachtung gerathen konnte, sodaß man ihrer nur als des schlimmsten Feindes gedachte und sich alle Mühe gab, sie auszurotten, wo sie nur ihr Haupt erhob. Es könnte dem aufmerksamen Beobachter fast der Gedanke kommen, als ob die Nessel die zerstörende Hand des Menschen ermüden und dadurch den letzteren auf den ihr innewohnenden Werth hinlenken wollte, weil sie so schwer und erst nach mühevoller Kriegsarbeit die Stätte räumt, auf welcher sie sich einmal ansässig gemacht hat. Man sollte glauben, daß sie des Fußes spotte, der sie niedertritt, weil sie jedesmal mit erneutem Muthe das gesenkte Haupt wieder erhebt, oder wenigstens durch neue Triebkraft in Seitenästen ihr kümmerliches Dasein zu fristen sucht. Man sollte wähnen, daß sie damit dem undankbaren Sterblichen ihre permanente Dankbarkeit zu zeigen trachte, daß sie keine besondere Pflege als als unerläßliche Bedingung ihrer Existenzfähigkeit kategorisch beanspruche, wie ihre zahllosen Schwestern, die dem Erzieher so manchen Schweißtropfen auspressen und doch hier und da die auf ihre Pflege verwendete Mühe kaum oder höchst spärlich lohnen.

Sie ist nicht lüstern nach guter Bodenbeschaffenheit und begnügt sich fern von der menschlichen Verkehrsstraße mit der Einsamkeit in feuchten Walddistricten oder unfruchtbaren Triften, aber mit der nicht anzutastenden Willenserklärung, hier, wo sie einmal festen Fuß gefaßt hat, auszuharren, und mit der gegen sie angriffsweise vorgehenden Menschenmacht einen Krieg auf Leben und Tod zu bestehen, bis sie schließlich, von der Uebermacht überwältigt, den Platz räumen muß.

In neuerer Zeit jedoch ist es anders geworden, denn die ganze Welt redet von Nesseln und Nesselzucht, und es scheint der Zeitpunkt nicht mehr fern, wo die bisher verachtete und in Wahrheit mit Füßen getretene Pflanze zu nie gesehener Ehre erhoben werden soll. Die Landwirthe wenden ihr die Aufmerksamkeit zu und erhoffen, wenn die Nesselcultur systematisch und mit Eifer betrieben wird, eine ergiebige und werthvolle Ernte. Die Industriellen hören schon in ihrem regen Geiste ihre Webstühle klappern, um Nesselgespinnst aller Art zu verfertigen, vom feinsten Kleiderstoff bis zum Segeltuch und Schiffstau herab. Auf allen landwirthschaftlichen Vereinen wird die Cultur der Nessel auf die Tagesordnung gebracht, und es werden Mittel und Wege berathen, um der gegenwärtig vielfach darnieder liegenden Industrie durch Beschaffung eines bisher unbeachteten Erwerbszweiges neuen Boden zu beschaffen und neue Bahnen für ihre weitverzweigte Thätigkeit zu eröffnen. Die gelehrte Herren vom Katheder preisen in ihren Hörsälen das neuerstandene Dornröschen, welches vor mehr denn hundert Jahre durch den Stich einer englischen Spindel in Schlaf verfallen.

Und sie haben Alle Recht, die Landwirthe, wenn sie im Blick auf die wieder aufgenommene Nesselcultur hoffnungsvoll in die Zukunft sehe, die Industriellen, wenn sie für’s praktische Leben der Natur abgewinnen, was bisher unbeachtet in der Ecke stand, und die Gelehrten, wenn sie mit Untersuchungen und Experimenten auf theoretischem Wege der Praxis zu Hülfe kommen. Sie Alle betonen, wenn auch aus verschiedenartigem Gesichtspunkte, wie aus einem Munde: „Das Geschlecht der Urticeen soll und muß auferstehend wieder zu Ehren kommen und seine Kronen segnend über die Menschheit ausbreiten.“

Welchen nicht auszudenkenden Vortheil für Palast und Hütte gewährt doch ein regelrecht betriebener Anbau von Flachs und Hanf! Man überlege die Mannigfaltigkeit ihrer Production von den gröberen Waaren des Seilers bis zu dem feinen Pechdraht des Schusters und dem so viel wirkenden Zwirn der Nähterin, von dem starken Packtuch des Kaufmanns bis zu dem feinsten Battist der Edelfrau!

Eine gleiche Beachtung verdient die Nessel, welche sich in den Dienst der verbrauchenden Menschheit stellt und an ihrem Theile beitrage möchte, Arbeit und Verdienst für viele that- und rathlose Hände der Gegenwart zu schaffen. Welch ein weites Feld von Arbeit und Verdienst öffnet sich vor unserem Blicke, wenn das wieder erwachte Werk der Nesselzucht gedeiht und überzeugende Erfolge liefert!

Die Nessel gewährt, bis sie zu brauchbaren Gegenständen verwendet wird, gar manchem Verdienstlosen Verdienst und manchem Industriellen neue Quellen für zu erwerbenden neuen Wohlstand. Im Frühling baut sie der Landmann an; der Sommer bleicht sie mit Hülfe der Wasserstrahlen unter der Sonne, nachdem sie gebrecht, gehechelt und gesponnen worden – wer kann die Momente, wer die Geschäfte, wer die Hände alle nennen, welche wesentlichen Nutzen und Gewinn aus einem rationellen Betriebe der Nesselpflanze zu ziehen berufen sind!

Ihre nicht wegzuleugnende Nützlichkeit und das gewaltige allgemeine Interesse, welches dieser in Rede stehenden Cultur [203] neuerdings zugewendet wird, veranlaßt mich, in diesem so viel gelesenen Blatte mit wenigen Worten ihrer zu gedenken und ihre Vergangenheit und Zukunft etwas näher zu beleuchten.

Nestorius erzählt schon im 9. Jahrhundert von den prächtigen Gewändern aus Nesseltuch und rühmt ihren Glanz und ihre Feinheit. Dann spricht er von der Haltbarkeit und Zähigkeit der Schiffstaue und Schiffssegel, die alle mehr oder minder nach damaligen Gebrauche aus Nesselfasern verfertigt zu werden pflegten. Noch in späteren Jahrhunderten wurde die Nesselcultur betrieben und war nach vorliegenden Berichten weit verbreitet. [204] Ich glaube kaum, daß es damals eine deutsche Hausfrau gegeben, welche nicht den Stoffen aus Nesseln huldigte. Wir sehen daraus, daß die Nessel nicht immer das unnütze Ding gewesen, das seiner Häßlichkeit wegen in Ecken und Winkel verbannt und mit Füßen getreten wurde, wie heute. Die Nessel war damals ebenso geachtet wie Flachs und Hanf; sie war eine gesuchte Pflanze, welche man ihres vielseitigen Nutzens wegen allüberall gern pflanzte und pflegte.

Vor mir liegt ein altes Medicinbuch aus dem 15. Jahrhundert, worin viele Seiten lang über die Brauchbarkeit und Wirksamkeit der Nessel in der Arzeneikunde zu lesen steht. Es ist da hauptsächlich unsere gemeine hochgehende Nessel, die urtica divica, gerühmt, aus deren Blättern man Thee gegen allerlei Uebel und aus deren Stengel man Tränke aller Art bereitete. Ein altes Verschen allda lautet:

Wenn sie Nesselsaft trunken im März
Bei helllichtem Mondenschein,
So ginge noch manche Maid
Spazieren am Ufer des Rhein.

Selbst die Eitelkeit damaliger Zeit stellte die Nessel in ihren Dienst, indem Nesselsamen, in destillirtem Wasser gekocht, als vielfach begehrtes und umworbenes Schönheitsmittel in gewissen Kreisen verkauft wurde. Es sollte dieses Säftchen, auf die Haut gestrichen und auf derselben von selbst trocknend, der Haut eine Weiße wie Alabaster und eine Zartheit gleich dem Sammet verleihen. Quacksalber und Zauberer priesen die Liebestränke aus Nesseln. Wer an Liebe krank, den ließen sie Nesselsamen in Wasser kochen und unter Gemurmel folgenden Sprüchleins das Gebräu umrühren:

Wie Jesus jeden Mensch geliebt,
Auch selber den, der ihn betrübt,
So sei auch Du in Liebe mein,
So brennend, als die Nesseln sein!

Mit diesem Safte begoß man die Thürschwelle des Liebsten. Natürlich entbrannte derselbe sofort in unwandelbarer Liebe zu der holden Zauberin.

Noch jetzt findet sich der Aberglaube, der Blitz fürchte sich vor der Nessel, weshalb sie in vielen Gegenden Donnernessel genannt wird. Der Blitz - so glaubt man - schlüge nie in einen Nesselstrauch. In Tirol legt man deshalb bei starkem Gewitter einen Nesselstrauß auf den Herd, damit der Blitz das Haus verschone, und in den Kellern legen sie Nesseln auf die Bierfässer, damit das Bier bei dem Gewitter nicht sauer werde.

Die Indier sagen: ich werde meine Rachegedanken in die Nesseln werfen, was so viel heißen soll, als: ich werde sie nie wieder aufnehmen. Kurz, man fand in ihr alle möglichen guten Eigenschaften und verehrte unsere wildwachsende urtica divica, wie vielleicht keine andere Pflanze.

Da kam vor etwas mehr denn hundert Jahren, von den Engländern eingeführt, die Baumwolle, King cotton, aus Osten, welche unserer armen divica eine sehr gefährliche Rivalin werden sollte und es auch ward.

War es der Reiz der Neuheit, welcher uns Deutsche ja stets so mächtig angezogen, oder war es die große Billigkeit, mit welcher sie ausgeboten wurde, kurz, die junge Engländerin trat gegen unsere bescheidene Landsmännin in offenem Kampfe auf und nach einigen Jahren war die arme Deutsche ohne Schutz und Schirm von jener aus den Schranken geschlagen. Von der stolzen Feindin verdrängt, mußte sie sogar erleben, daß Alle, welche sie früher verehrt, nun ihrer bittersten Feindin huldigten. Sie war eben alt und die Baumwolle - sagen wir neu. Arme divica!

Lange, lange Jahre schlief unsere nun nicht mehr geehrte und gepriesene divica den Schlaf der Vergessenheit, und als wollte sie im Schmollwinkel, in den sie sich zurückgezogen, über die Undankbarkeit des Menschen nachdenken, so verkroch sie sich an die Hecken, die Felsenrisse, überhaupt an von dem Fuße der Sterblichen wenig betretene Orte, um von ihrem entschwundenen Ruhme zu träumen. Aber die Seele ihres Lebens bewahrte sie ängstlich für die kommenden Generationen, und die ihr innewohnende Kraft wollte sie nicht preisgeben oder verleugnen, gerade als ob die Ahnung sie aufrecht erhielte, daß sie, nachdem das Geschlecht der Undankbaren ausgestorben, dereinst wieder zu vollen Ehren aufgenommen würde. Und so sollte es kommen. Ihr Mißcredit, in den sie ohne Schuld gerathen war, ging über an wohlverdienten Credit, welchen Sachverständige ihr erwiesen. Und wunderbarer Weise war das Ausland, welches die Nessel aus der von ihr innegehabten Stellung verdrängt hatte, dazu berufen, sie wieder an das Licht zu ziehen.

Als nach der Weltausstellung zu Philadelphia Professor Reuleaux[WS 1] in Berlin der deutschen Industrie das bekannte niederbeugende, aber durchaus wahre und nicht übertriebene Zeugniß ausstellte, daß sie, wenn anders sie eine gebietende Machtstellung unter den industriellen Producten für die Zukunft einnehmen wolle, andere, gewissenhaftere Wege einschlagen müsse, als der genannte Vertreter der deutschen Industrie dieser letzteren in wohlverstandenem und wohlgemeintem Interesse den Rath ertheilte, die fachliche und persönliche Aufmerksamkeit wieder mehr inländischen Erwerbserzeugnissen zuzuwenden, um sich so allmählich unabhängiger von dem Auslande zu machen, da wurde auch die Brennnessel wieder in das Gedächtniß ihrer Verächter zurückgerufen. Man erinnerte sich mit einem Male aller der guten Eigenschaften des verkannten Unkrautes.

Verschiedene Autoritäten auf dem Gebiete der Industrie, namentlich der aus seinem Berufsfeld so tüchtige und bewährte Garteninspector Bouché in Berlin beschäftigte sich in Gemeinschaft mit dem Reichstagsabgeordneten Dr. Grothe damit, die in Vergessenheit gerathene Nesselcultur wieder an das Tageslicht zu ziehen. Bouché scheute weder Mühe noch Aufopferung ihr aufzuhelfen. Die Herren richteten jedoch vielfach ihr Augenmerk auf fremde Nesselarten, von denen bereits günstige Ergebnisse vorliegen. Da ist vor allen Dingen eine chinesische Nesselart zu nennen, die urtica nivea (schneeweiße Nessel), welche bei der Berührung nicht brennt, wie unsere einheimische. Sie liefert einen Faserstoff, welcher einzigartig ist und an gediegener Schönheit, seidenartigem Glanze und haltbarer Feinheit von keinem andern übertroffen wird. Natürlich erhebt sie bei solchen Resultate auch ganz andere Ansprüche als unsere ausdauernde und bewährte divica. Sie verlangt ein besonderes Klima und eine eigens präparirte Bodenbeschaffenheit, um eine einigermaßen dankbare Ernte zu liefern, während unsere deutsche Brennnessel gar keine Umstände macht und allüberall zu Hause ist, wo man sie hinstellt.

Die Chinesin ist zart, gleich der Theerose, verlangt im Winter ein warmes Bett und einen warmen Mantel und gedeiht nur schwer im südlichen Europa.

Professor Reuleaux hatte die Güte, mir Fasern dieser urtica nivea zukommen zu lassen, welche der feinsten Seide, ja ich kann behaupten, dem gesponnenen Glase im Aussehen gleich kamen. Von diesen Fasern wird der wunderbare Stoff verfertigt, welchen wir unter dem Namen Chinagras oder Grasleinen kennen. Ob es gelingen wird, diesen Fremdling in unserer Gegend zu acclimatisiren, darüber schon jetzt ein endgültiges Urtheil zu füllen dürfte nach den wenigen Versuchen, welche man bisher mit seiner Verpflanzung auf deutschen Boden augestellt hat, verfrüht sein. Jedenfalls kann erst die Zukunft lehren, ob die urtica nivea durch ihre Acclimatisirung auf fremden Boden nicht von ihrer Schönheit und Güte einbüßen würde.

Noch andere fremde Nesselsorten kommen in Betracht, die urtica cannabina in Sibirien, die urtica canadensis aus Canada und die laportea pustulata vom Alleghanygebirge. Diese eben angeführten Nesselsorten könnten aller Wahrscheinlichkeit nach leichter eine Verpflanzung in deutsches Gebiet vertragen, da sie, wie die Erfahrung in überzeugender Weise lehrt, dem Einflusse der kälteren Jahreszeit gegenüber keines besonderen Schutzes bedürfen. Bis jetzt fehlt es aber noch an Vorrath von Wurzelstöcken um größere Anpflanzungen damit zu machen.

Vor der Hand müssen wir uns begnügen mit dem, was in unserm Klima und auf unserm Boden wächst, mit unserer alten Bekannten, der urtica divica.

Von dem kleinen frechen Vetter derselben, urtica urens, der von allen seinen europäischen Verwandten am meisten brennt, der sich auf allen Schutthaufen und in ungepflegten Gärten wohl fühlt und breit macht, wollen wir gar nicht reden. Seine Fasern sind zwar fein, aber sehr kurz, sodaß sie zum Gespinnst sich weniger eignen. Aber auch von der divica giebt es zwei verschiedene Zwillingsschwestern: die eine mit grünem Stiele, die andere mit röthlichem. Ich würde der grünen den Vorzug geben, [205] weil ihre Fasern weicher und feiner sind als die ihrer röthlichen Schwester.

Schon vor fünf Jahren machte ich den freilich verunglückten Versuch, diese divica als Gespinnstpflanze zu behandeln. Die Landleute konnten damals ihren Spott nicht zurückhalten als ihnen zugemuthet wurde, die abgeschnittenen Stengel der Brennnessel gerade wie ihren Hanf zu behandeln. Der ganze Versuch ist an dieser Kleingläubigkeit gescheitert, welche die Leute verhinderte, die Sache mit dem nöthigen Ernst zu betreiben. Fällt es doch dem Landmann entsetzlich schwer, trotz allem Reden den Vortheil einer Neuerung einzusehen, zu begreifen. Als darauf Professor Reuleaux öffentlich für die Brennnessel in die Schranken trat, erbat ich mir von diesem und vom Garteninspector Bonché in Berlin weitere Belehrung und Auskunft über die Anpflanzung und Behandlung der Nessel. Mit Muth und Eifer ging ich an einen neuen Versuch. In einem Gebirgsdorfe des Taunus, in einer armen, felsigen Gegend, wo nur eine dünne Humusschicht den steinigen Boden bedeckt, veranlaßte ich nach den freundlich gegebenen Vorschriften eine Nesselcultur, welche vollständig gelang und allen Wünschen entsprach.

Aus der im vergangenen Herbst bei uns abgehaltenen landwirthschaftlichen Festversammlung zeigte sich zum ersten Mal bei der Ausstellung der Bodenerzeugnisse neben Aepfeln, Birnen, Trauben, Kartoffeln und allerlei Gemüsesorten in Prachtexemplaren ein einfacher Kasten, welcher Nesselfasern in den verschiedenen Stadien der Verarbeitung bis zum gesponnenen Garne enthielt.

Da waren gebrechte und gehechelte Nesselstränge; da war ein großer Wust von Nesselwerg, zarter, schöner und seidenartiger als Werg von Hanf und Flachs; da prangte zum ersten Mal das gesponnene Garn aus Nesseln, zu seinem Ehrentage mit bunten Schleifen festlich geziert. Heute war unsere divica nicht mehr das verhaßte, das verachtete Bettelkind; heute stand sie im festlichen Schmucke, am meisten angestaunt und beachtet von der schaulustigen Menge. Ihre Ahnung war mit einem Male in Erfüllung gegangen. Die Ungläubigen, welche früher die Nasen gerümpft, wurden bekehrt, und viele Hunderte faßten den Entschluß, denn gegebenen Beispiele zu folgen und auch Nesseln zu pflanzen. Der landwirthschaftliche Verein gab Ehrendiplome; in allen Zeitungen wurde die Nesselcultur gepriesen; Minister und Oberpräsident zollten ihren Beifall, und bald entstand in ganz Deutschland und weiter gewaltiges Aufsehen über die gelungene, bescheidene Nesselpflanzung. Viele Vereine und viele Grundbesitzer erbaten sich nähere Auskunft über Anbau und Art der Vearbeitung der Nessel, und in diesem Frühjahre werden überall in Deutschland, in der Schweiz, Belgien, Ungarn, Polen, Schweden und Oesterreich, sogar in Nordamerika, wohin Proben der hier gezogenen Nesseln abgegeben wurden, Nesselpflanzungen aus der Erde wachsen.

Ueber die Art der Behandlung der Pflanze bei rationellem Anbau, die Bearbeitung derselben nach der Ernte etc., habe ich meine geringen Erfahrungen in einem Druckschriftchen: „Die Nessel als Gespinnstpflanze“ im Verlage von H. Johannssen’s landwirthschaftlicher Verlagsbuchhandlung (G. Hoefler) in Leipzig, Thalstraße 32, niedergelegt. Den Inhalt dieser Schrift hier auch nur kurz zu wiederholen, würde zu weit führen. Im Allgemeinen aber bemerke ich nur noch, daß die Nessel gerade wie der Hanf behandelt wird, und über die oft erwähnte Frage, ob es vortheilhafter sei, Nesseln oder Hanf zu ziehen, erlaube ich mir nur noch Folgendes zu bemerken: die Nessel wird nur alle zehn bis fünfzehn Jahre einmal angepflanzt; die Arbeit des Anbaues ist nur gering; es giebt bei der Nessel kein Mißjahr; jedes Jahr, jede Witterung, jeder Boden sagt ihr zu; sie gedeiht bei Sonne und Regen, bei Sturm und ruhigem Wetter, bei Hagel und Gewitterschauer; sie kommt auf Felsen mit nur drei bis vier Zoll Erde noch gut fort; überall ist sie zu Hause; überall wuchert sie.

Ob man dies auch von Flachs und Hanf sagen kann, bezweifle ich sehr.

Obgleich Alles, was als Novität auf den Schauplatz der Erscheinung tritt, angestaunt zu werden pflegt, hält es, zumal bei dem deutschen Charakter, schwer, Experimentir-Versuche selber anzustellen und den anfänglichen Spott der Unberufenen auf sich zu nehmen. Dadurch ist es, wie die Geschichte in vielen Beispielen zeigt, schon zum öfteren geschehen, daß unser Deutschland um die Ehre mancher Erfindung kam, deren erster Gedanke in dem Kopfe eines seiner fleißigen Söhne aufgetaucht war, weil diesem späterhin der Muth fehlte, seiner ersten Idee nachzugehen und aus ihr praktische Consequenzen zu ziehen.

Aehnliches könnte auch der wieder erwachten Nesselcultur begegnen, wenn ihr nicht kräftiger Beistand gewährt und namentlich das Vorurtheil entfernt wird, welches sich klettenartig an jedes neue Unternehmen hängt, das auf den Markt der Oeffentlichkeit zu treten sich anschickt.

Der deutsche Kleinbauer, conservativ von Haus aus, wenn auch nicht immer in seiner Gesinnung, so doch jedenfalls auf dem praktischen Gebiete des landwirthschaftlichen Lebens, entschließt sich bekanntlich sehr schwer, einer Neuerung offenes Ohr zu gönnen und thatkräftige Handreichung zu leisten, während er alten Vorurtheilen höchst zugänglich ist. So kann er es im Hinblick auf den beregten Gegenstand kaum über sein Herz bringen, der Nesselcultur ein geneigtes Ohr zu leihen, ja es geht ihm geradezu wider die Natur, das so lang verachtete und von Groß- und Voreltern verhaßte Unkraut nur mit wohlwollend freundlichem Blicke anzuschauen.

Wir möchten ihm mit dem altdeutschen Liedchen aufmunternd zurufen:

„O Bäuerlein, Bäuerlein, habe Muth
Und baue Du auf Deinem Gut,
Ist’s nur ein Plätzchen winzig klein,
Die Nessel - sie wird dankbar sein.“

Und nun lasse mich dir zurufen: Wache auf, urtica divica, wache auf! Erhebe stolz dein Haupt! Du sollst jetzt aus deinem hundertjährigen Schlafe aufgeweckt werden. Sollst wieder zu deinen alten Rechten erhoben sein, sollst wieder deine Kräfte im vielfach verschlungenen Tauwerk für Staats- und Volkswohl erproben und sollst als feinstes Kleidungsstück, dem Armen zum Verdienst, dem Reichen zum Schmucke prangen. Strenge dich an, divica, soviel es in deiner Macht liegt! Denn der Sieg ist des Kampfes werth. Strenge dich an, auf daß die Hoffnung derer nicht getäuscht werde, welche, von Muth beseelt, in vollem Vertrauen dir nahen, dich aus dem hundertjährigen Meere der Vergessenheit hervorzuziehen, und bereit sind, dich wieder zu Ehren zu bringen!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vgl. Franz Reuleaux: Briefe aus Philadelphia