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Autor: Walther Kabel
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Titel: Doppelhändigkeit
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aus: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 9. Bd., S. 167–170
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart
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[167] Doppelhändigkeit.

Unter Doppelhändigkeit versteht man die Befähigung beider Hände, die vollständig gleichen Arbeitsleistungen zu vollbringen. Schon der alte Homer kannte die Doppelhändigkeit und erwähnt sie als etwas Besonderes. Er schildert in der Ilias (Buch 21), wie Achilleus in den Kampf eilt, um für Patroklos Rache zu nehmen. Achilleus erlegt Lykaon, der vergebens um sein Leben bittet. „Auch Patroklos ist gestorben. Und war mehr als du“, lauten Achills Worte in der Wiedergabe durch Schillers Fiesko. Dann wirft Achill die Leiche in den Skamander und stürzt sich auf Asteropaios, den Sohn des Stromgottes Axios. Er fragt nach seiner Herkunft; jener nennt seinen Vater und sagt, daß er die Paionier nach Troja geführt habe.

„Da erhob der edle Achilleus Pelions ragende Esche; jedoch zwei Lanzen zugleich warf Asteropaios der Held, der rechts mit jeglicher Hand war.“

Auch die alten Römer hatten dafür schon einen besonderen Ausdruck: ambidexter, doppelrechts.

Fraglos würde eine gleiche Befähigung beider Hände, also sozusagen der Besitz von zwei „rechten“ Händen, für den Menschen von großem Vorteil sein, so könnten besonders die Arbeitsleistungen bedeutend vergrößert werden. – Wie stellt sich nun der Körper des Menschen selbst zu dieser Frage? Schon die niederen Tiere zeigen in ihren Bewegungen einen gewissen Grad von vorwiegender Ausbildung nach einer Seite hin. Bei den höheren Tieren und vollends beim Menschen scheint die Gestaltung des Gehirns die gleiche Gebrauchsfertigkeit beider Körperseiten zu hindern. Der Mensch ist kein symmetrisches Wesen, das in beiden Körperhälften völlig gleich beschaffen wäre; [168] seine inneren Organe sind je nach Bedarf ungleichmäßig verteilt, die beiden Hälften des Gehirns werden nicht in gleichem Maße vom Blut versorgt, und auch die Lage der Gehirnteile, in denen das Sprachvermögen seinen Sitz hat, ist eine ungleichmäßige. Das Herz und die von ihm ausgehenden großen Hauptschlagadern liegen auf der linken Seite. Man hat durch Experimente nachgewiesen, daß die linke Halsschlagader dreimal soviel Flüssigkeit aufzunehmen vermag als die rechte. Die linke Gehirnhälfte wird daher in höherem Maße mit Blut versorgt, d. h. besser ernährt, und, da sie den Funktionen der entgegengesetzten Körperhälfte vorsteht, so wird sich diese, also die rechte, stärker entwickeln als die linke. Tatsächlich ist denn auch die rechte Körperhälfte nicht nur bezüglich ihres Umfangs und Gesamtgewichts, sondern auch hinsichtlich des Gewichts der Organe, Muskeln und Nerven, die bevorzugte. Dies alles deutet darauf hin, daß die Natur dem Menschen mit seiner rechten Hand das wertvollere Arbeitsinstrument hat geben wollen.

Daß die Bevorzugung der rechten Hand, die durch den anatomischen Bau des menschlichen Körpers bedingt ist, sich durch Erziehung und Übung in Doppelhändigkeit unschwer umgestalten ließe, beweist die Tatsache des häufigen Vorkommens der sog. Linkshändigkeit, bei der die Linke an Stelle der rechten Hand die Führung der Arbeitswerkzeuge und andere krafterfordernde Handgriffe und -bewegungen übernimmt. Jedes Kind ist zunächst ambidexter, doppelhändig. Der Säugling greift mit beiden Händen nach der Klapper, wie man leicht beobachten kann. Erst mit der weiteren Ausbildung des Sprachenzentrums, das in der linken Gehirnhälfte untergebracht ist, wird nachgewiesenermaßen dieser Gehirnhälfte mehr Blut zugeführt, und damit beginnt dann die naturgemäße Hirnneigung zum stärkeren Gebrauche der rechten Hand. Hierbei muß das Kind durch die Erziehung, d. h. durch Gewährung an die hauptsächliche Benutzung der Rechten, unterstützt werden. Wo dies vernachlässigt wird, entwickelt sich besonders bei schwächlichen Kindern unter gewissen anderen Bedingungen dann die Linkshändigkeit. [169] Diese ist jedenfalls, da sie für die betreffende Person keinerlei wesentliche Nachteile hat, nicht als ein Gebrechen aufzufassen. Unter den Linkshändern gibt es sehr berühmte Künstler, wie Leonardo da Vinci und Adolf Menzel. Auffallend ist, daß nach den Feststellungen Lombrosos Verbrecher in höherem Grade linkshändig sind als unbestrafte Personen. Lombroso zieht daraus den Schluß, daß die Linkshändigkeit mit auf einen normalen Bau des Gehirns zurückzuführen ist, wie er nach seiner Theorie den meisten Verbrechern eigen ist. Auch unter Naturvölkern ist die Linkshändigkeit verbreiteter als bei den Kulturvölkern.

Hieraus ersieht man, daß die Linke sehr wohl befähigt ist, die rechte Hand zu vertreten, und das die Doppelhändigkeit, deren Wert recht bedeutend sein würde, sich in frühen Jahren leicht anerziehen läßt. Aber auch im späteren Alter kann man sie sich aneignen, wie dies der Dichter Wilhelm Jordan getan hat. Er erzählt in seiner Skizze „Doppelrechts“, daß ihn selbst einst schwere Krankheit zwang, sein Epos „Hildebrants Heimkehr“ mit der linken Hand zu schreiben; und siehe da, es ging nach einiger Mühe vortrefflich! Ja, Jordan behauptet sogar, durch die mittels der Linken herbeigeführte vermehrte Zufuhr des Blutes nach der rechten Gehirnhälfte sich noch in bereits vorgerückten Jahren gewissermaßen eine neue „Geistes-Kammer“ erschlossen zu haben. Fortan vermochte er nach seiner Wiederherstellung beide Hände gleichmäßig nicht nur zum Schreiben, sondern auch zu anderen Verrichtungen zu benutzen.

Von Pädagogen ist die Wichtigkeit der Ambidextrie schon seit Jahren erkannt worden. Hauptsächlich in Amerika hat man seit 1884 in vielen Schulen zweihändiges Zeichnen, Modellieren und Holzschnitzen als Unterrichtszweig eingeführt. Neuerdings wendet man dieser Frage nun auch in Deutschland mehr Interesse zu. In den Volksschulen in Königsberg i. Pr. ließ man die Kinder zunächst versuchsweise mit der Linken Handarbeiten, Schnitzereien usw. anfertigen und vereinigte diese Arbeiten dann zu einer kleinen Ausstellung. Die Resultate waren überraschend gute. Hiernach dürfte bald allgemein eine Bewegung [170] eingeleitet werden, um dem Menschen mit der Beschaffung von „zwei rechten“ Händen den heute besonders harten Daseinskampf zu erleichtern.

W.K.