Die Reichsversicherung (1914)

Textdaten
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Autor: Fritz Stier-Somlo
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Titel: Die Reichsversicherung
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band, Zweites Buch, S. 72 bis 98
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[208]
Die Reichsversicherung
Von Dr. Fritz Stier-Somlo, Professor an der Hochschule für kommunale und soziale Verwaltung in Köln a. Rh.


I.

Beweggründe einer sozialen Fürsorge.

Mit der bewußten Organisation der Arbeiterklasse in Deutschland, mit dem Entstehen der sozialen Frage modernster Prägung waren dem Staate große Aufgaben von besonderer Eigenart, insbesondere nach Aufrichtung des Deutschen Reiches, gestellt. Es galt nicht bloß, durch die vielverzweigten Maßnahmen einer nationalen Wirtschaftspolitik die in der Natur der Menschen und in den Lebensverhältnissen gegebenen Ungleichheiten nach Möglichkeit zugunsten der arbeitenden Schichten auszugleichen. Es war nicht nur notwendig, in Heer und Volksschule diejenige Disziplin und Aufklärung zu schaffen, die befähigen sollte, den Verlockungen törichter Zukunftstaats-Ideen in der Richtung eines Sozialismus marxistischer Färbung zu widerstehen, die unerschütterliche, zur Selbstopferung bereite Liebe zum Vaterland an die Spitze aller bürgerlichen Tugenden zu stellen. Es mußte vielmehr auch an eine Eingliederung der weniger bemittelten Volkskreise in die Organisationsformen des Staates gedacht, die zu gewährende Fürsorge in den Fällen der Krankheit, des Unfalls und der Invalidität, die die Gemeinschaft als solche bietet, ausgestaltet werden. Zwei heute vielfach herrschende Auffassungen stehen hiermit nicht in Widerspruch. Nach der einen wollte man bei der Einführung der neuen Zollpolitik seit der Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts den Massen, die stärker belastet wurden, in der Sozialgesetzgebung einen Ausgleich bieten. Die andere Meinung ging davon aus, daß der moderne Wirtschaftsbetrieb, insbesondere der Industrie, mit immer vollkommeneren, aber auch verwickelteren maschinellen Hilfsmitteln, besondere Gefahren, die man früher nicht kannte, für die Arbeiterschaft herbeiführte, und daß es deshalb notwendig sei, vorbeugende, heilende und Ersatz für Erwerbsminderung schaffende Maßnahmen zu treffen. Hinzu kam, daß die Erfahrung die Unfähigkeit der wirtschaftlich schwächeren Kreise lehrte, sich selbst, ohne Hilfe des Staates, der neuartigen Gefahren zu erwehren. Der Schutz der Schwachen und Bedürftigen ist von den Hohenzollern seit den Tagen des Großen Kurfürsten nie aus dem Auge gelassen worden. Es waren diese Gesichtspunkte ohne Zweifel von großer Bedeutung für die Entstehung der sozialen Versicherung. Ihre große Wichtigkeit liegt auch darin, daß sie den Rahmen der Armen- und Wohltätigkeitspolitik sprengt, nicht bloß Almosen, sondern [209] eine rechtliche Befugnis unter gesetzlich genau festgesetzten Bedingungen gewährt, und daß sie nicht nur ein Mittel darstellt, wirtschaftlichen Nöten abzuhelfen, sondern die Einzelnen an den Aufgaben des Staates, ja an seinem Bestehen unmittelbar zu interessieren. Je größer die Zahl der der sozialen Versicherung unterworfenen Personen ist, desto mehr sind diese mit ihren allerelementarsten Lebensbedingungen an den Staat gebunden; ihre Interessen sind mit ihm in der fühlbarsten Weise verflochten. Es ist einer ganz einfachen, die Zusammenhänge des wirtschaftlichen und staatlichen Lebens erkennenden Auffassung ganz offensichtlich, daß nur ein mächtiger und geordneter Staat die wirtschaftliche Existenz, den Frieden täglicher Berufsarbeit sichern kann. Aber die politisch vielfach verhetzten Massen haben für diese Selbstverständlichkeit leider oft genug keinen Blick. Anders aber, wenn sie in Krankheit geraten, unter dem Einfluß eines Unfalls stehen oder invalide werden. Hier zeigt es sich dann auf das allerklarste, daß ohne die mächtig schützende Organisation des Staates kein Heil zu erwarten, keine irgendwie geartete Fürsorge – von privater abgesehen – zu erwarten ist, zumal die Unterstützung durch Berufsorganisationen, insbesondere die Gewerkschaften, lediglich für die im engeren Sinne organisierten Arbeiter und auch für diese nur in unzureichender Weise in Frage kommt.

Entwicklung der Versicherungsgesetzgebung.

Dem bedeutsamen Anfang der Sozialversicherung in den Jahren 1883–1889, in denen das Krankenversicherungsgesetz, die Unfallversicherungsgesetze, das Alters- und Invaliditätsgesetz geschaffen worden sind, folgte schon früh eine Reihe von Novellen, die eine Ausdehnung der Wohltaten und eine Anpassung an neue Verhältnisse zum Zwecke hatten. Ein Erlaß Kaiser Wilhelms II. vom 4. Februar 1890 verlangte ausdrücklich den weiteren Ausbau der Arbeiterversicherungs-Gesetzgebung und bot den Anlaß zu den Novellen des Krankenversicherungsrechts der Jahre 1892, 1900 und 1903. Der Kreis der Versicherten wird erheblich erweitert, die Leistungen werden bedeutend erhöht. Im Jahre 1900 wird das Unfallversicherungsrecht durch fünf Gesetze neu geregelt, und im Jahre 1899 tritt das Invalidenversicherungsgesetz an die Stelle des Alters- und Invaliditätsgesetzes vom Jahre 1889. Eine unendlich reichhaltige Judikatur, eine vielverzweigte, zu zahlreichen Streitfragen führende Verwaltung, der es nicht immer leicht geworden ist, auf Grund des bestehenden Rechts allen Notwendigkeiten gerecht zu werden, hat sich im Laufe der Zeit angehäuft. Immer mehr Kreise drängten sich zur staatlichen Versicherung, wollten, trotz aller mehr oder minder berechtigten Kritik, teilhaben an dem, was das Reich durch seine Gesetze und seine Verwaltung zu bieten in der Lage war.

Reformbewegung. Auf Vereinheitlichung gerichtete Bestrebungen.

Es entstand eine sehr tiefgehende Reformbewegung, die zunächst auf eine Vereinheitlichung aller Zweige der Versicherung gerichtet war. Wiewohl nun gewisse Verwandtschaften zwischen den Anlässen des Versicherungsbedarfs nicht geleugnet werden können, da die mit oder ohne Unfall entstandene Krankheit für den tätigen Arbeiter von annähernd gleicher Wirkung sein [210] konnte, und obwohl auch die Invalidität als eine Folge der Krankheit nicht zu übersehen war, so mußte doch die innere Verschiedenheit der Versicherungszweige bei der endgültigen Regelung den Ausschlag geben. Die Krankenversicherung war bestimmt für leichtere und vorübergehende Fälle der Krankheit. Ihre Leistungen, an sich bedeutsam genug, hatten nur den Zweck, die Gesundheit wieder herzustellen und die Arbeitsfähigkeit zu bewirken. Die Krankenkassen als die Träger dieser Versicherung bedurften zwar zweifellos großer, aber im Einzelfalle nicht überschwenglicher Mittel, um hier dem Bedürfnisse gerecht zu werden. Hingegen hat die Unfallversicherung mit ganz anderen Faktoren zu rechnen. Wenn auch durch die Unfallverhütungsvorschriften vorbeugender und durch das Heilverfahren möglicherweise Gesundheit herstellender Natur, sind doch ihre hauptsächlichen Leistungen: die Renten für den Verletzten und seine Hinterbliebenen, an die Voraussetzung lebenslänglicher und nur verhältnismäßig selten kürzerer Gewährung gebunden; ihr kapitalisierter Wert ist außerordentlich hoch. Ähnliches läßt sich auch von der Invalidenversicherung sagen. Auch die Organisationsformen sind durchweg verschieden gewesen und konnten in eine Einheitsform nur nach gefährlicher Umwandlung gebracht werden. Bei der Krankenversicherung war es die Selbstverwaltung vor allem der Arbeiter, bei der Unfallversicherung ausschließlich die der Unternehmer, bei der Invalidenversicherung der spezifisch staatliche Charakter der Verwaltung, der das hervorstechende Kennzeichen bildete. Auch die Vermögensverhältnisse waren sehr verschieden. Den großen Kapitalansammlungen der Versicherungsanstalten, die diese zu wohltätigen und gemeinnützigen Zwecken als Anleihen verwandten, stand die häufige Vermögenslosigkeit der Kassen, von denen nur ein geringer Teil den gesetzlichen Reservefonds auffüllte, gegenüber. Eine Zersplitterung des Kassenwesens sondergleichen, das Bestehen von Zwergkassen, das Schwindelwesen bei vielen eingeschriebenen Hilfskassen, nicht zuletzt die Notwendigkeit, den immer größer werdenden sozialpolitischen Anforderungen in bezug auf die Leistungen zu genügen, trieben in die Segel des Reformschiffes günstige Winde, die denn auch schließlich zum Hafen führten.

Reichsversicherungsordnung.

In der Gestalt der Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 ist eine großzügige Kodifikation der gesamten Arbeiterversicherung im engeren Sinne entstanden. Nicht nur sind die bisherigen drei Zweige zusammengefaßt und durch einen neuen, der die Hinterbliebenenversicherung betrifft, ergänzt worden; vielmehr stand dieser äußeren Vereinheitlichung auch eine Fülle von neuen, fruchtbaren gesetzgeberischen Gestaltungen materieller Art zur Seite. Wohl ist so mancher Wunsch unerfüllt geblieben, den warmherzige, aber auch die praktische Durchführbarkeit wohl bedenkende Sachverständige geltend gemacht haben. Immerhin ist auch hier auf einer Mittellinie das zur Zeit denkbar Beste geleistet worden. Freilich bleibt Wissenschaft und Praxis noch eine Überfülle von Arbeit, dieses neue Recht in die Wirklichkeit überzuführen, an seiner Ausgestaltung zu arbeiten, seine Lücken auszufüllen, seine Mängel zu verbessern.

Angestelltenversicherung.

Schon seit mehreren Jahren jedoch war eine lebhafte Bewegung, die von Österreich ihren Ausgangspunkt [211] nahm, zu bemerkenswerter Bedeutung gelangt, die das Ziel verfolgte, den sogen. Privatbeamten eine Sicherung für ihren Lebensabend zu gewähren. Zwischen den in sich freilich außerordentlich abgestuften Arbeiterklassen und den führenden selbständigen Kräften der Unternehmer unserer Volkswirtschaft schob sich seit einiger Zeit ein Mittelstand ein, der besonders in Handel und Industrie zur Förderung dieser großen Erwerbszweige durch seine Intelligenz, Arbeitsfreudigkeit, vielfach seinen Erfindungsgeist beitrug und dessen bodenständige Gesinnung große Bedeutung hatte. Den Leistungen dieses Berufskreises standen aber nicht entsprechende finanzielle Vorteile gegenüber, da der Durchschnitt der sogen. Privatbeamten eine seiner Vorbildung und Bedeutung entsprechende Einnahmehöhe nur in Ausnahmefällen erreichte. Hinzu kam, daß die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft zu einer stetigen Herabminderung der selbständigen Existenzen führt, so daß die Sorge für den täglichen Lebensunterhalt sich mit derjenigen über die Zukunft der Familie und das eigene Alter verbindet. Es kann hier nicht im einzelnen verfolgt werden, welche Gründe für und wider sprachen, gerade für diese Schichten, die den rein geistig Arbeitenden näher als den eigentlichen Arbeitern standen, eine besondere Pensionsversicherung, die auch mit einem Heilverfahren im Falle der Krankheit verbunden ist, zu gewähren. Mancherlei parteipolitische Gesichtspunkte haben hier ihre Rolle gespielt. Aber der Gedanke, auch dieser Berufsschicht die Möglichkeit einer Fürsorge im Falle der Berufsunfähigkeit und des Alters zu geben, war gesund. Das Versicherungsgesetz für Angestellte vom 20. Dezember 1911 mag in vielen Punkten lückenhaft, in Ausdruck und Sinn verbesserungsbedürftig sein: man wird nicht in Abrede stellen können, daß es einen außerordentlich wertvollen Zweig der Sozialversicherung bildet.

Es tritt nunmehr die Aufgabe an uns heran, den wesentlichen Kern dieser beiden großen Kodifikationen zu umreißen.

II.

Kreis der einbezogenen Personen. Pflicht und Recht zur Versicherung.

Bei allen Zweigen der Sozialversicherung kommt es in erster Reihe darauf an, wer von ihr zu seinem Wohle ergriffen wird und welche Leistungen geboten werden. Während das Krankenversicherungsgesetz vom Jahre 1883 eine Anzahl von Betrieben aufzählt, diese in den späteren Novellen vermehrt und lediglich die in solchen beschäftigten Personen der Versicherungspflicht unterwarf, hat die RVO. von einer solchen Beschränkung abgesehen. Vielmehr werden bestimmte Berufskreise, unabhängig davon, ob sie in einem genauer bezeichneten Betriebe beschäftigt sind, in die Versicherung einbezogen. Das ist eine Erweiterung von größter Bedeutung, die gleichzeitig die vielen heillosen Streitigkeiten über die Zugehörigkeit zur Krankenversicherung auf ein ganz geringes Maß herabzumindern berufen ist. Wenn man feststellt, daß für den Fall der Krankheit nunmehr versichert werden alle Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge, Dienstboten, Betriebsbeamte und Werkmeister, Hausgewerbetreibende, die Schiffsbesatzung deutscher Seefahrzeuge, so wird man kaum Berufskreise in den Grenzen der arbeitenden Klassen denken können, die nicht der Vorteile des Gesetzes teilhaftig werden. [212] Es ist aber die Grenze der eigentlichen Arbeiterschaft weit nach oben hin überschritten, indem auch „andere Angestellte in gehobener Stellung“ einbezogen worden sind; ebenso Handlungsgehilfen und Handlungslehrlinge, Gehilfen und Lehrlinge in Apotheken, sogar Lehrer und Erzieher, Bühnen- und Orchestermitglieder, ohne Rücksicht auf den Kunstwert der Leistungen. Mit diesem Versicherungskreis deckt sich derjenige der Invalidenversicherung. Bei der Unfallversicherung konnte wegen des Zusammenhangs der Gefahr mit einem bestimmten Betriebe nicht davon abgesehen werden, eine große Anzahl von solchen aufzuführen und lediglich die in ihnen Beschäftigten der Versicherungspflicht zu unterwerfen. Aber auch hier ist das zurzeit irgendwie Mögliche und Erreichbare geleistet; nicht nur auf dem Gebiete des Gewerbes im engeren Sinne, sondern auch auf dem der Landwirtschaft und des Seewesens. Sind doch in dem III. Buche der Reichsversicherungsordnung die Gewerbe-, landwirtschaftliche und See-Unfallversicherung miteinander verbunden. Naturgemäß hat das Versicherungsgesetz für Angestellte einen anderen Versichertenkreis ins Auge fassen müssen. An erster Stelle sind hier Angestellte in leitender Stellung, wenn diese ihren Hauptberuf bildet, zu nennen, sodann Betriebsbeamte, Werkmeister und andere Angestellte in einer ähnlich gehobenen oder höheren Stellung, ohne Rücksicht auf ihre Vorbildung; zum Teil gehören diese letzterwähnten Gruppen auch der Invalidenversicherung an, wenn eine Gehaltsgrenze von 2000 M. nicht überschritten ist. Es gehören wiederum unter dieser Voraussetzung beiden Versicherungen an die Handlungsgehilfen und Gehilfen in Apotheken, Bühnen- und Orchestermitglieder, Lehrer und Erzieher. Nur daß bei den Privatbeamten die Gehaltsgrenze 5000 M. beträgt und daß sie beim Eintritt in die Beschäftigung das 60. Lebensjahr nicht vollendet haben und nicht berufsunfähig sein dürfen. In allen Zweigen der Versicherung stehen der Versicherungspflicht Versicherungsberechtigungen für besondere Fälle zur Seite, wie andererseits auch Befreiungen gegeben sind, wo der sozialpolitische Zweck auf andere Weise erreicht werden kann.

Leistungen der Versicherungszweige.

Um den Wert der Versicherung zu ermessen, ist vom praktischen Standpunkt aus die Frage der Leistungen von grundlegender Bedeutung. In dieser Beziehung ist gerade auf dem Gebiete der Krankenversicherung durch die Reichsversicherungsordnung eine ganz außerordentliche Erweiterung eingetreten und durch die Hinterbliebenenversicherung eine neue, bisher unbekannte Fürsorge geschaffen worden; für die Unfallversicherung ist zwar ein weiteres an Gewährung gesetzlich nicht festgestellt worden, und es ist ja bekannt, daß gerade die Unfallrenten Gegenstand besonderen Begehrens sind und daher wohl auch als recht ansehnliche Zuwendungen angesehen werden dürfen. Die Angestelltenversicherung aber hat als neue Einrichtung zuerst für sich Vorteile einer noch nicht vorhandenen Art geboten. Nur das Allerwichtigste mag hier eines Überblicks gewürdigt werden.

a) Krankenversicherung.

Die Leistungen der Krankenversicherung sind nicht nur zahlenmäßig in den letzten 25 Jahren gewachsen, [213] sondern sie haben sich auch qualitativ verzweigt und sind zu einer früher kaum geahnten Bedeutung gelangt. So wird nach dem Gesetz zunächst Krankenhilfe gewährt. Sie umfaßt zweierlei: die Krankenhilfe und das Krankengeld. Jene beginnt mit der Krankheit, umfaßt unentgeltliche ärztliche Behandlung, Versorgung mit Arznei und kleineren Heilmitteln. Das Krankengeld wird im Falle der Arbeitsunfähigkeit gezahlt vom vierten Krankheitstage an – nicht sogleich, um etwaigen Simulationsabsichten vorzubeugen (Karenzzeit); es beträgt für jeden Arbeitstag die Höhe des halben Grundlohnes, der in der Regel das durchschnittliche Tagesentgelt des Versicherten ist. Die Krankenhilfe endet spätestens mit dem Ablauf der 26. Woche nach dem Beginn der Krankheit. Diese gesetzlichen Mindestleistungen werden aber durch freiwillige Mehrleistungen der Kassen erhöht. So kann die Dauer der Krankenhilfe satzungsmäßig bis auf ein Jahr erweitert, Fürsorge für Genesende durch Unterbringung in einem Genesungsheim bis zur Dauer eines Jahres nach Ablauf der Krankenhilfe gestattet werden; nicht nur sogen. kleine, sondern auch größere Heilmittel und auch solche können wegen Verunstaltung und Verkrüppelung nach beendigtem Heilverfahren geboten werden, die bestimmt sind, die Arbeitsfähigkeit herzustellen und zu erhalten. Das Krankengeld kann bis auf ¾ des Grundlohnes erhöht, auch für Sonn- und Feiertage, die ja nur ausnahmsweise, z. B. beim Gastwirtsgewerbe, Arbeitstage sind, allgemein zugesprochen werden. Die Karenzzeit kann wegfallen, d. h. Krankengeld gleich vom ersten Tage der Arbeitsunfähigkeit unter gewissen Bedingungen gezahlt, es kann auch besondere Krankenkost geboten werden.

An Stelle der Krankenpflege und des Krankengeldes kann die Kasse Kur und Verpflegung in einem Krankenhause gewähren. Die Bedeutung der Krankenhauspflege wächst ständig mit der besseren Einrichtung unserer Krankenhäuser, mit der Einsicht, in vielen Fällen nur durch sie, nicht durch häusliche Behandlung Heilung erzielen zu können. Während der Versicherte sich im Krankenhause befindet, sollen aber seine Angehörigen möglichst vor Entbehrungen geschützt werden; ihnen ist deshalb ein Hausgeld im Betrage des halben Krankengeldes zu zahlen. Es kann sogar bis zum Betrage des gesetzlichen Krankengeldes erhöht werden. Umgekehrt kann auch die Krankenhausbehandlung widerraten werden. Dann kann die Kasse im Hause mit Zustimmung des Versicherten Hilfe und Wartung durch Krankenpfleger, Krankenschwestern oder andere Pfleger gewähren. Dies namentlich dann, wenn die Aufnahme des Kranken in ein Krankenhaus geboten, aber nicht ausführbar ist oder ein wichtiger Grund vorliegt, den Kranken in seinem Haushalt oder in seiner Familie zu belassen.

Neben der Krankenhilfe ist aber auch noch Wochenhilfe vorgesehen. In Frage kommt einmal das Wochengeld an versicherungspflichtige Wöchnerinnen in der Regel für 8 Wochen. Fakultativ kann die Kasse aber auch Kur und Verpflegung in einem Wöchnerinnenheim, Hilfe und Wartung durch Hauspflegerinnen, Hebammendienste und ärztliche Geburtshilfe zubilligen, nicht minder Schwangerschaftsunterstützung und Stillgeld, lauter Maßnahmen, deren volkshygienische Bedeutung unverkennbar ist. Sodann können aber auch versicherungsfreie Ehefrauen von versicherten Männern Wochenhilfe erlangen. Endlich ist Sterbegeld beim Tode eines Versicherten in Höhe des zwanzigfachen [214] Grundlohnes vorgeschrieben; die Satzung kann es bis zum vierzigfachen Betrage erhöhen.

In diesem rechtlichen Rahmen, dessen Weite freilich zum Teil erst das Verdienst der Reichsversicherungsordnung ist, haben die Krankenkassen eine unabsehbar reiche und segensreiche Tätigkeit entfaltet. Soweit nicht die geringe Mitgliederzahl und die dadurch meist bedingte bescheidene finanzielle Lage Hindernisse boten, haben sie die größten Anstrengungen gemacht, die freiwilligen Leistungen zu erhöhen. Die amtlichen Zahlen vermögen hier am besten eine Vorstellung zu gewähren. So sind für Krankenfürsorge folgende Beträge ausgegeben worden:

1901 1911 1885–1911
Ärztliche Behandlung 37 554 000 M. 87 979 000 M. 1 013 797 600 M.
Arznei und Heilmittel 28 554 000 M. 56 632 400 M. 724 185 600 M.
Krankengeld an Mitglieder 81 293 800 M. 163 026 900 M. 2 045 366 600 M.
Krankengeld an Angehörige 1 724 000 M. 6 357 400 M. 51 590 800 M.
Unterstützung an Wöchnerinnen, seit 1904 auch an Schwangere 2 619 300 M. 6 806 400 M. 76 983 500 M.
Krankenhauspflege, Genesung 23 182 500 M. 59 178 000 M. 622 872 200 M.
Sterbegeld 5 530 900 M. 9 318 300 M. 1 396 186 000 M.
Sonstige Leistungen 2 715 900 M. 7 758 500 M. 74 406 900 M.

Summe der Entschädigungsleistungen 183 174 400 M. 397 056 900 M. 4 748 821 800 M.

Im engsten Zusammenhang mit diesen Leistungen steht das nicht zu umgehende Problem der Ärztefrage. Zwar ist es auch auf dem Gebiete der Unfall-, Invaliden-, Hinterbliebenen- und Angestelltenversicherung von größter Bedeutung; am meisten brennend ist es aber in der Krankenversicherung geworden und geblieben. Es kämpfen im wesentlichen zwei grundverschiedene Meinungen miteinander und wirken sich in praktischen Kämpfen aus. Die eine, im wesentlichen von den Krankenkassen vertreten, wünscht die Ärzte in einer vertraglichen, individuellen Abhängigkeit von der Kasse. Die Durchführung der Krankenversicherung ist ohne die ärztliche Mitwirkung schlechterdings undenkbar, während andererseits die Kassen gesetzlich zu bestimmten Leistungen verpflichtet sind, die Ärzte aber nach der Gewerbeordnung zu einer Ausübung ihres Berufes nicht gezwungen werden können. So stehen die Träger der Krankenversicherung in der Hauptsache auf dem Standpunkte, daß dieser innere Widerspruch durch spezielle vertragliche Bindung der Ärzte gelöst werden müsse. Andererseits behaupten die nunmehr in dem Leipziger Verband zur Vertretung ihrer wirtschaftlichen Interessen verbundenen Ärzte, daß die Abhängigkeit bei dem Kassenarztsystem vielfach unwürdige Formen annehme, die Standesehre verletzt werde und die Honorare vielfach einen Tiefstand erreichten, der zu einem Kampfe gegen die Krankenkassen verpflichtet. Das Ziel ist die Durchführung der sogen. beschränkt freien Arztwahl und der Abschluß der Verträge lediglich durch die Gesamtorganisation der Ärzte, nicht durch den einzelnen, in seiner wirtschaftlichen Isolierung schwächeren Arzt. Demgegenüber befürchten die [215] Kassen, ganz in die Macht der Ärztegewerkschaft zu gelangen, die Bedingungen diktiert zu erhalten und die starke Steigerung der Ärztehonorare zuungunsten der Kassenfinanzen mit in Kauf nehmen zu müssen. Sie sind im großen ganzen mehr für das Kassenarztsystem, bestreiten auch eine standesunwürdige Abhängigkeit der Ärzte und die Statistiken weisen zum Teil hohe Jahreseinnahmen der Ärzte nach.

Die Reichsversicherungsordnung hat weder das System der freien Arztwahl noch das Kassenarztsystem zu dem alleinherrschenden erhoben. Sie läßt den Kassen vielmehr freie Wahl. Freilich ist diese nur in beschränktem Maße vorhanden, weil in dem Kampfe mit der Ärzteorganisation mit gegebenen Bedingungen allgemeiner und lokaler Art gerechnet werden muß. Ein Urteil zugunsten des einen oder anderen Systems als eines ausschließlichen abzugeben, liegt kein Anlaß vor. Je nach den besonderen örtlichen, finanziellen Verhältnissen wird der Abschluß von Kassenarztverträgen oder die Einführung der beschränkt freien Arztwahl angebracht erscheinen. Auf jeden Fall ist es erforderlich, daß die Aufsichtsbehörden eine standesunwürdige Behandlung der Ärzte, sei es in persönlicher, sei es in wirtschaftlicher Beziehung, zu verhindern suchen; an den gesetzlichen Mitteln hierzu wird es nicht fehlen. Im ganzen ist der Streit tief bedauerlich, wird aber, freilich nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten, mit der Zeit in positivem Sinne gelöst werden müssen, wenn die Arbeiterversicherung überhaupt funktionieren soll. Immerhin ist schon in dem jetzigen Rechte der Begriff der ärztlichen Behandlung festgelegt und dafür nach Möglichkeit Vorsorge getroffen, daß weder auf seiten der Kasse die ärztliche Versorgung vernachlässigt, noch auf seiten der Ärzte durch grundsätzliche Verweigerung ihrer Tätigkeit die sozialpolitische Arbeit verhindert werde. Wenn nämlich bei einer Krankenkasse die ärztliche Versorgung dadurch ernstlich gefährdet wird, daß diese Kasse keinen Vertrag zu angemessenen Bedingungen mit einer ausreichenden Zahl von Ärzten schließen kann, oder daß die Ärzte den Vertrag nicht einhalten, so ermächtigt das Oberversicherungsamt die Kasse, auf ihren Antrag widerruflich statt der Krankenpflege oder sonst erforderlichen ärztlichen Behandlung eine bare Leistung bis zu zwei Dritteln des Durchschnittsbetrages ihres gesetzlichen Krankengeldes zu gewähren. Das Oberversicherungsamt kann zugleich bestimmen, wie der Zustand dessen, der die Leistungen erhalten soll, anders als durch ärztliche Bescheinigungen nachgewiesen werden darf; daß die Kasse ihre Leistungen so lange einstellen oder zurückbehalten darf, bis ein ausreichender Nachweis erbracht ist; daß die Leistungspflicht der Kasse erlischt, wenn binnen einem Jahre nach Fälligkeit des Anspruchs kein ausreichender Nachweis erbracht ist. Genügt andererseits bei einer Krankenkasse die ärztliche Behandlung oder Krankenhauspflege nicht den berechtigten Anforderungen der Erkrankten, so kann das Oberversicherungsamt nach Anhörung der Kasse jederzeit anordnen, daß diese Leistungen noch durch andere Ärzte oder Krankenhäuser zu gewähren sind. Diese Anordnung soll nur auf so lange getroffen werden, wie es ihr Zweck erfordert und bedarf, wenn sie über ein Jahr gelten soll, der Genehmigung der Ministerialinstanz. Wird die Anordnung nicht in der gesetzlichen Frist befolgt, so kann das Oberversicherungsamt selbst das Erforderliche auf Kosten der Kasse veranlassen. Einer der vielen Beschwerdepunkte der Ärzte war, daß bei dem Kassenarztsystem eine Begrenzung der Versicherten in der Auswahl [216] der Ärzte stattfindet, jene daher nicht in der Lage sind, den „Arzt ihres Vertrauens“ zu Rate zu ziehen. Die Reichsversicherungsordnung trägt diesem Gedanken mit der Bestimmung Rechnung, es soll die Kasse, soweit es sie nicht erheblich mehr belastet, ihren Mitgliedern die Auswahl zwischen mindestens zwei Ärzten frei lassen. Tatsächlich ist aber auch beim Kassenarztsystem ein weiter Spielraum gegeben; in kleineren und mittleren Ortschaften ist die Auswahl unter den Ärzten ohnedies objektiv beschränkt durch die Zahl der vorhandenen Ärzte; in größeren und großen Städten aber geht die Zahl der Kassenärzte meist schon in die Hunderte.

b) Unfallversicherung.

Auf dem Gebiete der Unfallversicherung sind die Leistungen bestimmt, den Schaden zu ersetzen, der durch Tötung oder Körperverletzung entsteht. Sie bestehen daher teils in Krankenbehandlung, teils in einer Rente für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit. In der Krankenbehandlung sind einbegriffen ärztliche Tätigkeit und Versorgung mit Arznei und anderen Heilmitteln, aber auch Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um den Erfolg des Heilverfahrens zu sichern und die Folgen der Verletzung zu erleichtern. Daß je nach dem Maße der Erwerbsunfähigkeit die Rente abgestuft werden muß, erscheint unvermeidlich; doch ergeben sich große Schwierigkeiten zwar nicht bei einer Vollrente, die bei völliger Erwerbsunfähigkeit in Höhe von zwei Drittel des Jahresarbeitsverdienstes gewährt wird, sondern bei Teilrenten, die dem Maße der Einbuße an Erwerbsfähigkeit entsprechen sollen. Die Verwaltung und Rechtsprechung gelangt hierbei des öfteren zu einer mehr schematischen Abgrenzung, da es in der Tat nicht ganz leicht ist, etwa bei Verlust eines Körperteiles mit aller Sicherheit das Maß der Erwerbsunfähigkeit in Prozenten festzustellen. Aber auch die Gefahr von Gewährung allzu kleiner Renten ist nicht vermieden worden, obwohl diese zu einer wirksamen Unterstützung des Lebensunterhaltes nicht beitragen, andererseits den Anreiz zu Simulationsversuchen in sich schließen. Der Rentenbezieher fürchtet den Verlust seiner Bezüge und will nicht gesund werden. Die Reichsversicherungsordnung hat hier dadurch helfen wollen, daß sie die Kapitalabfindung des Verletzten bei Renten von 20% und weniger gestattet.

Besondere Umstände finden die Möglichkeit einer Erhöhung der Rente vor. Ist der Verletzte derartig hilflos, daß er ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen kann, so kann ihm mehr als die Vollrente zugesprochen werden, jedoch höchstens in dem Betrage bis zum vollen Jahresarbeitsverdienst; bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit kann die Teilrente auf Zeit bis zur Vollrente erhöht werden. Bei Tötung des Versicherten empfangen die Hinterbliebenen eine, freilich nicht übermäßig hohe Rente und auch Sterbegeld im Betrage des 16. Teiles des Jahresarbeitsverdienstes, jedoch mindestens 50 M. Ausländer können unter Umständen mit einem Kapital abgefunden werden.

Es ist eine Aufgabe von hohem Wert, auch bei den großen Massen der Bevölkerung die die Kreise der Verwaltung längst beherrschende Überzeugung zu verbreiten und zu festigen, daß das Hauptziel der Unfallversicherung nicht sein kann die Züchtung eines Staatspensionärwesens, sondern die Vorbeugung und die Heilung von körperlichen Verletzungen, natürlich neben einer Entschädigung der Hinterbliebenen im Falle der [217] Tötung. Den wichtigen Maßnahmen auf dem Gebiete der Unfallverhütung ist immer mehr Aufmerksamkeit zugewendet worden. Die Verpflichtung zum Erlasse von Unfallverhütungsvorschriften, die Überwachung ihrer Durchführung, das Zusammenwirken von einzelstaatlicher Polizei und von Instanzen der Reichsversicherung zur Verwirklichung der Absichten des Gesetzes und die Strafbefugnisse bei Zuwiderhandlungen stellen ebenso viele Kapitel sozialer Fürsorgetätigkeit dar, für die Verständnis in die beteiligten Kreise zu bringen nicht immer leicht war und ist. Doch läßt sich wohl behaupten, daß die Verhältnisse eine merkliche Besserung gegen früher erfahren haben. Von nicht minderer Tragweite ist die gesetzlich gebotene Möglichkeit einer Heilanstaltspflege, die der in der Krankenversicherung nachgebildet ist, die mehrfach wiederholt und unter Umständen durch Krankenhauspflege ersetzt werden kann. Statt der Rente kann auch eine Aufnahme in ein Invalidenhaus, Waisenhaus oder eine ähnliche Anstalt erfolgen. Auch hier bietet die Statistik ein eindrucksvolles Bild:

1901 1911 1885–1911
Mk. Mk. Mk.
Kranken-
fürsorge
Heilverfahren 2 302 500 3 632 900 52 040 100
Fürsorge in der gesetzlichen Wartezeit (§ 76c des Krankenversicherungsgesetzes) 745 300 1 240 200 12 930 000
Heilanstaltbehandlung 3 730 600 5 169 100 77 416 700
Angehörigenrente 987 200 1 477 400 21 216 900
Verletztenrente 71 225 600 118 007 500 1 540 173 800
Verletztenabfindung (Inländer) 1 596 000 2 407 300 16 724 900
Sterbegeld 581 300 727 700 11 815 300
Hinterbliebenenrente (Witwen-, Waisen- usw.) 17 262 600 32 648 600 388 253 700
Witwenabfindung 666 300 1 014 400 14 247 200
Ausländerabfindung 203 700 285 800 4 481 700

Summe der Entschädigungsleistungen 99 301 100 166 610 900 2 139 345 300

c) Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung.

In der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung ist noch weniger als in der Unfallversicherung die Rentengewährung objektiv als Hauptziel des staatlichen Einschreitens anzusehen. Vielmehr ist auch in diesem Zweige der Fürsorge die vorbeugende Tätigkeit mittels Einleitung eines Heilverfahrens das sachlich Wünschenswerteste, um die infolge einer Erkrankung drohende Invalidität abzuwenden; auch sind allgemeine Maßnahmen vorgesehen zur Verhütung des Eintritts vorzeitiger Invalidität unter den Versicherten oder zur Hebung der gesundheitlichen Verhältnisse der versicherungspflichtigen Bevölkerung. Einer volkstümlichen Vorstellungsweise entspricht aber mehr, an die Gewährung von Renten zu denken, deren Gesamthöhe in der Tat sehr beträchtlich ist, während sie für den einzelnen Versicherten meist eine recht unzulängliche Beihilfe bietet und ihn vor Armenunterstützung nicht unbedingt schützt. Invaliden- und Altersrente treten uns als bekannte Größen entgegen. Daß es nicht möglich ist, die letztere vor dem vollendeten 70. Lebensjahre zu [218] erwerben, ist sehr bedauerlich. Eine Herabsetzung der Altersgrenze auf das 65. Lebensjahr ist dringend erforderlich. Schon im bisherigen Rechte fand sich die sogen. Krankenrente vor; das ist die Rente des Versicherten, der nicht dauernd invalide ist, aber während 26 Wochen ununterbrochen invalide gewesen oder nach Wegfall des Krankengeldes invalide geblieben ist. Recht dankenswert ist die neu eingeführte Kinderzuschußrente, die dem Empfänger der Invalidenrente gewährt wird, wenn er Kinder unter 15 Jahren hat. Neu sind durch die Reichsversicherungsordnung die Witwen-, Waisen- und Witwerrenten hinzugekommen, ferner die einmaligen Leistungen des Witwengeldes und der Waisenaussteuer – als Anfänge einer zu höheren Gewährungen fortschreitenden Gesetzgebung aller Achtung wert. Die Unterbringung des Rentenempfängers in ein Invaliden- oder Waisenhaus, der Ersatz von Sachleistungen statt Renten soll besonderen Verhältnissen Rechnung tragen.

Die nachfolgende Statistik erstreckt sich, da das letzte mitumfaßte Jahr 1911 vor der Geltung der Reichsversicherungsordnung liegt, noch nicht auf die Hinterbliebenenversicherung. Andererseits sind die Beitragserstattungen, nach bisherigem Rechte zulässig, seit dem 1. Januar 1912 allgemein ausgeschlossen.

1901 1911 1891–1911
Mk. Mk. Mk.
Kranken-
fürsorge
Heilverfahren 7 130 600 22 079 300 174 651 100
Erhöhte Angehörigenunterstützung und sonstige außerordentliche Leistungen 193 500 1 656 000 9 305 100
Invalidenhauspflege 45 100 910 800 4 579 200
Invalidenrente 65 021 700 151 330 100 1 482 926 200
Krankenrente 1 299 600 3 175 300 32 423 900
Altersrente 24 655 700 14 468 300 452 997 200
Beitrags-
erstattung
bei Heirat 5 163 500 6 225 100 78 974 500
bei Unfall 18 900 45 600 532 200
bei Tod 1 742 800 3 975 800 35 909 000

Summe der Entschädigungsleistungen 105 271 400 203 866 300 2 272 298 400

Die Gesamtleistungen der Arbeiterversicherung stellen sich (nach Hitze, Zur Würdigung der deutschen Arbeiter-Sozialpolitik, 1913) wie folgt:

1911 1885–1911
Mill. Mk. Mill. Mk.
Krankenversicherung 397 4749
Unfallversicherung 167 2139
Invalidenversicherung 204 2272

Insgesamt betrugen sie 768 9160

Dazu kommen die für die Zukunft unserer Arbeiter eingelegten Reservefonds nebst sonstigem Vermögen; diese betrugen Ende 1911 für die

Krankenversicherung 335 Mill. M.
Unfallversicherung 565 Mill. M.
Invalidenversicherung 1759 Mill. M.

Zusammen: 2660 Mill. M.

[219] Dem deutschen Arbeiterstande waren also bis 1911 zugute gekommen und für die Sicherung seiner Zukunft hinterlegt zusammen beinahe zwölf Milliarden Mark.

Beitragsleistung.

Übersieht man jene vom Recht gewährten Möglichkeiten und die zahlenmäßige Höhe der Wohltaten, so drängen sich besonders zwei Fragen auf: wer die Kosten aufgebracht und aufzubringen hat und welchen Fortschritt die Sozialversicherung gegenüber der Zeit vor ihrer Einführung darstellt.

a) Kranken- und Unfallversicherung.

Die Beiträge der Krankenversicherung zahlen die Versicherten zu zwei Drittel, die Arbeitgeber zu ein Drittel. 1911 betrugen die Beiträge der Arbeitgeber 139 Mill. Mark, die der Versicherten 288 Mill. Mark; die entsprechenden Zahlen sind für die Zeit von 1885 bis 1911 2885 und 3555 Mill. Mark. Die Kosten der Unfallversicherung zahlen lediglich die Arbeitgeber. Sie betrugen 1911 197 Millionen, in der Zeit von 1885 bis 1911 2592 Mill. Mark. Es ist freilich nicht zu übersehen, daß die Krankenversicherung auch für die ersten 13 Wochen bei einer durch Unfall herbeigeführten Krankheit eintritt, daher auch die Beiträge der Versicherten die Last insofern mittragen.

b) Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung.

Die Kosten der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung fallen, von dem Reichszuschuß abgesehen, den Arbeitgebern und Arbeitern je zur Hälfte zur Last. Es kamen auf das Reich 1911 53 Mill. Mark, auf die Arbeiter 105 Mill. Mark, auf die Arbeitgeber ebensoviel Millionen Mark, zusammen 263 Mill. Mark. Die entsprechenden Zahlen für die Zeit von 1885 bis 1911 sind 693, 1475, 1475, insgesamt 3643 Mill. Mark.

Die Kosten der Arbeiterversicherung haben demnach getragen im Jahre 1911 die Arbeitgeber mit 442, die Versicherten mit 393 und das Reich mit 53 Mill. Mark. Für die Jahre 1885 bis 1911 ergeben sich die Zahlen 5688, 5030 und 693 Mill. Mark. Bis 1911 haben die deutschen Arbeiter rund 5 Milliarden an Beiträgen aufgebracht, bezogen haben sie weit mehr als 9 Milliarden Mark, für sie reserviert sind beinahe 2,7 Milliarden Mark.

c) Bedeutung der Leistungen der Sozialversicherung.

Was den Unterschied zwischen der Zeit vor der Sozialversicherung und nachher angeht, so entbehrten die Arbeiter die Krankenversicherung sehr. Nur ein ganz kleiner Bruchteil sorgte im Wege der Freiwilligkeit für sich im Falle der Krankheit. Die Unfallfürsorge war vollkommen unzureichend. Insbesondere das Haftpflichtgesetz, so wertvoll es im übrigen ist, entsprach nicht im entferntesten den berechtigten Ansprüchen des sozialpolitischen Gedankens. Schadenersatz wurde nur gewährt, wenn die Unfälle sich bei einem Betriebe ereignet hatten; die Arbeiter mußten ihre Ansprüche im ordentlichen Rechtswege gegen wichtige Gegner durchsetzen; sie mußten sich den Einwand der höheren Gewalt und des eigenen Verschuldens entgegenhalten [220] lassen, mußten den Kausalzusammenhang zwischen Schadenersatz und Verschuldung des Unternehmers oder seiner Beauftragten nachweisen. Bei Zufall oder unabwendbaren Naturereignissen, bei Verschulden eines anderen Arbeiters oder einer vom Unternehmer angestellten Person war daher überhaupt kein Schutz vorhanden. Das Haftpflichtgesetz galt auch nicht für alle Arbeiter. Ausgeschlossen waren die im Baugewerbe, im Handwerksbetriebe, in der Regel auch die in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigten Personen. Für die Invalidenversicherung war überhaupt kein entsprechender Fürsorgeansatz in der bisherigen deutschen Gesetzgebung vorhanden.

d) Leistungen der Angestelltenversicherung.

Dasselbe gilt von der Angestelltenversicherung, deren Vorteile noch anzudeuten sind. Zunächst ist auch hier dem vorbeugenden Heilverfahren eine große Rolle zur Verhütung drohender und Beseitigung schon vorhandener Berufsunfähigkeit, auch der Wiederherstellung verlorener Berufsfähigkeit zugedacht, wobei Unterbringung in ein Krankenhaus oder Genesungsheim möglich ist; dann aber stehen in erster Reihe Ruhegeld und Hinterbliebenenrente. Jenes ist gebunden an die Erfüllung einer Wartezeit, Aufrechterhaltung der Anwartschaft und Vollendung des 65. Lebensjahres, sowie an den Eintritt der Berufsunfähigkeit. Diese letztere ist nach dem Gesetz anzunehmen, wenn die Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Die Höhe des Ruhegeldes kann recht ansehnlich werden. Es beträgt nach Ablauf von 120 Beitragsmonaten ein Viertel der in dieser Zeit entrichteten Beiträge und ein Achtel der übrigen Beiträge. Auch die Hinterbliebenen – Witwen, Waisen, möglicherweise der Witwer – sollen eine Rente erhalten. Im Gegensatz zur Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung wird man hier die durchschnittliche Höhe der Renten als besonders erfreulich ansehen dürfen. Ziffermäßige Nachweise zu geben ist, da das Gesetz erst am 1. Januar 1912 in Wirksamkeit getreten ist, nicht möglich. Die Beiträge bringen Arbeitgeber und Versicherte auf, immerhin in der Höhe von etwa 8% des versicherten Einkommens; ein Reichszuschuß ist nicht vorgesehen.

Belastung des Unternehmertums. Konkurrenzfähigkeit.

Es entsteht eine schicksalsschwere Frage, ob die Lasten der Sozialversicherung nicht für das Unternehmertum in Handel, Industrie und Landwirtschaft zu schwer und bei der internationalen Konkurrenz gefährlich sind oder werden können. Die Kosten der Unfallversicherung trägt (mit einer bezeichneten geringen Ausnahme) die Arbeitgeberschaft allein, an der Krankenversicherung ist sie mit ein Drittel, an der Invaliden-, Hinterbliebenen- und Angestelltenversicherung je mit der Hälfte beteiligt. Hinzu kommt noch, daß in manchen Gewerbszweigen, teils infolge der Lohnverhältnisse und des geringen Angebots von qualifizierten Arbeitern, teils freiwillig bei einzelnen Berufen, wie im häuslichen Dienst, vielfach auch die Arbeiterbeiträge von dem Unternehmer übernommen werden. In [221] bezug auf die Wirkung der Lasten muß man den nationalen und den internationalen Wirtschaftsmarkt auseinanderhalten. Soweit jener in Frage kommt, kann die Belastung durch die Sozialversicherung zu einer Konkurrenzunfähigkeit nicht führen, weil ja alle Wirtschaften im großen Ganzen gleichmäßig mit diesen Unkosten zu rechnen haben. Sicherlich spielen sie bei dem einen oder anderen Gewerbe oder Berufe, je nach dem augenblicklichen Stand und nach individuellen Momenten eine jeweils verschiedene Rolle. Immerhin ist hier der Beurteilung nur die Gesamtheit der in der Volkswirtschaft vorhandenen Betriebe zugrunde zu legen; da wird man sagen dürfen, daß, gewisser Schwierigkeiten unerachtet, die hauptsächlich die Landwirtschaft und der Mittelstand durch die Arbeiterversicherung hat, eine unerträgliche Belastung nicht angenommen werden kann. Nun wird aber betont, die deutsche Volkswirtschaft sei mit der Weltwirtschaft so innig verbunden, daß es auf die internationalen Wirkungen ankommt. Es wird gewiß nicht verkannt werden dürfen, daß, rein äußerlich betrachtet, diejenigen ausländischen Industrien, Handelsunternehmungen usw. zunächst billiger als die deutschen arbeiten, die nicht auch die Lasten der Sozialversicherung oder nur in geringem Maße tragen. Nun gehen aber immer mehr außerdeutsche Staaten zur Nachahmung unserer Einrichtungen in der Sozialversicherung über, so daß die internationale Konkurrenz sich infolge der mit der Zeit annähernd gleichen Belastung durch die Kosten der Sozialversicherung nicht zu ungunsten Deutschlands gestalten kann. Jedoch auch bis dahin bleibt zu beachten, daß nach gewissenhafter Schätzung der Last selbst der Großindustrie diese hinsichtlich der Unfallversicherung nur auf 3 bis 4 vom Hundert des Lohnes kommt. Mit Recht dringt ferner immer mehr die Überzeugung durch, daß beim Fehlen einer Fürsorge im Falle der Krankheit und des Alters, des Unfalls usw. die Arbeiter ihre Lohnforderungen erhöhen müßten, um sich selbst auf solche Fälle einzurichten. Zu beachten bleibt auch, daß die Haftpflichtersatzansprüche, die den Unternehmern von der Unfallversicherung abgenommen werden, bei sozialer Handhabung im Interesse der Arbeiter noch viel belastender sein würden, als die jetzige Versicherung. Das Wichtigste aber ist, daß diese starke Inanspruchnahme des Unternehmertums die außerordentliche Blüte der Industrie und des Handels keineswegs gehindert hat. Ja, es läßt sich mit Leichtigkeit übersehen, daß die Ausgestaltung der sozialen Versicherung und der Aufschwung des wirtschaftlichen Lebens zeitlich zusammenfallen; es kann also die sozialpolitische Belastung bisher nicht zu einem hemmenden Ballast geworden sein. Ohne weiteres ist allerdings zuzugeben, daß diese Erwägungen nur mit einem Aufstieg unseres wirtschaftlichen Lebens rechnen, nicht aber mit großen und dauernden Rückschlägen. Aber auch unter Einschaltung dieses Gesichtspunktes bleibt bestehen, daß es die volkshygienische Wirkung der sozialen Versicherung, über die nicht gestritten werden kann, ist, daß vielleicht in keinem Lande der Welt ein im ganzen so gesunder Arbeiterstamm besteht wie in Deutschland, der außerdem, durch Schule und Heer erzogen, intelligent und bildungshungrig, seine zweifellose Höherentwicklung mit der Fürsorge der Sozialversicherung verdankt. An der erfreulichen Erscheinung der Abnahme der Sterblichkeit sind die versicherten Arbeiter schon wegen ihrer Masse wesentlich beteiligt. Auf 1000 Einwohner kamen im Durchschnitt [222] 1851 bis 1860 in Deutschland 27,81 Gestorbene, 1910 dagegen nur 17,1. Erhöhung der Lebensdauer und der Lebenskraft müssen aber auch als Faktoren eingesetzt werden, die die deutsche Volkswirtschaft und ihre Unternehmer als positive Werte anerkennen müssen. Allerdings lassen sich hier die Wirkungen der Arbeiterversicherung von denen des Arbeiterschutzes nicht trennen. Doch kann hier nicht weiter verfolgt werden, wie auch dieser zur Hebung des körperlichen, wirtschaftlichen, sittlichen und allgemein kulturellen Niveaus beigetragen hat.

Lähmt die Sozialversicherung die wirtschaftliche Initiative?

Eine andere, hier eingreifende Grundfrage ist die, ob durch die staatliche Fürsorge die Tatkraft der vielen Millionen von Personen, die der Sozialversicherung unterliegen, gelähmt, ob ihre Tendenz zur Selbsthilfe geschwächt wird. Würde dies in der Tat der Fall sein, so müßte man von außerordentlich großen und beseitigungswerten Schäden der sozialen Versicherung reden.

Dieser vielfach gehörte Einwand geht jedoch fehl. Man muß daran denken, daß die mit der liberalen Ära unserer Politik unzertrennbare Manchesterlehre in dem freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte das ganze Heil sah und jeden einzelnen auf seine eigene Kraft, sein eigenes Wollen und Können stellte. Die Erfahrung hat jedoch gelehrt, daß tatsächlich in diesem freien Wettbewerb diejenigen unterliegen mußten, die ohne Kapital oder sonstige wirtschaftlich sichere Einlagen den Kampf ums Dasein aufzunehmen gezwungen und nur im Besitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte waren, deren Abnützung und Verfall leicht vorauszuberechnen ist. So schuf denn jene liberale Wirtschaftsordnung tatsächlich nicht gleiche Bedingungen für die Wirksamkeit der einzelnen volkswirtschaftlich unentbehrlichen Kräfte, sondern die Möglichkeit einer Ausbeutung des ökonomisch Schwächeren durch den Stärkeren. Es bleibt ein Ruhmestitel der neueren deutschen Wirtschaftspolitik, erkannt zu haben, daß die Kräfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer keineswegs gleich, sondern ungleich sind, und ferner, daß der Arbeiter nur bei Gewährung staatlichen Schutzes in der Lage ist, menschenwürdig zu leben und sich höher zu entwickeln. Bei der naturgemäß großen Bedeutung, die für den Staat die Gesundheit und allgemein kulturelle Höhe des Arbeiterstandes hat, ist die grundsätzliche Anerkennung von der Notwendigkeit eines staatlichen Schutzes ein nicht mehr zu vermissendes Element deutscher staatlich-politischer Kulturanschauung. Auf dem Boden dieser aber muß man die von der Sozialversicherung gewährten Leistungen als solche anerkennen, die bestimmt sind, mit Hilfe des Reiches dem einzelnen Arbeitstätigen dasjenige zu gewähren, was er aus eigener Kraft sich zu beschaffen nicht in der Lage wäre, dessen er aber bedarf, um ein nützliches Glied des Gemeinwesens zu sein.

Aber auch von einem anderen Gesichtspunkte geht das Bedenken einer Ausschaltung der Selbsthilfe zu weit. Die Gewährungen in der Invaliden-, Hinterbliebenenversicherung sind, soweit eine Rente in Betracht kommt, nicht derart, daß man wirklich von einer namhaften, für den Lebensunterhalt auch nur zur Not ausreichenden Beihilfe reden könnte. Aber auch von den Renten der Unfall- und Angestelltenversicherung wird wohl kaum je ein Arbeiter oder Angestellter vollständig leben können. Für die Anspannung [223] seiner eigenen Tatkraft bleibt also immer ein recht weiter Spielraum. Soweit in sämtlichen Zweigen der Versicherung eine vorbeugende und heilende Tätigkeit in Frage steht, wird man ernstlich nicht von einer Lähmung des selbständigen Willens zum Erwerbe sprechen können, ganz abgesehen davon, daß die Wiederherstellung verloren gegangener Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit und die Vorbeugung der Invalidität Maßnahmen sind, die in der Allgemeinheit dem Arbeitgebertum und der Volkswirtschaft mindestens in eben demselben Maße zugute kommen wie dem einzelnen Arbeiter und seiner Familie selbst. Aber auch ein weiteres Moment läßt jene Befürchtung unbegründet erscheinen. Im weitesten Umfange haben die Versicherungsgesetze die Möglichkeit der freiwilligen Versicherung gegeben, die meist die Arbeitnehmer allein belasten. Besonders auf dem Gebiete der Krankenversicherung wird aber von der Versicherungsberechtigung ein sehr erheblicher Gebrauch gemacht, woraus sich klar ergibt, daß die Versicherten über ihre Pflicht hinaus Opfer bringen, weil sie das ihnen sonst gesetzlich Gewährte nicht als genügende Fürsorge betrachten. Gerade in der Krankenversicherung, bei deren Verwaltung der überwiegende Einfluß der Arbeitnehmer wirksam zu werden pflegt, haben die Kassen von der fakultativen Erweiterung ihrer Leistungen einen vielfach Bewunderung erregenden Gebrauch gemacht, ein unwiderleglicher Beweis dafür, daß sie sich selbst zu Leistungen anspornen und das gesetzliche Minimum ihnen nur den Anlaß zu weiterer Anstrengung bietet. Soweit aber schließlich in großen Kreisen der Arbeiterschaft der Irrtum sich festgesetzt hat, es müsse eigentlich von Staats wegen bei Krankheit, Unfall oder Invalidität in einer Weise gesorgt werden, die ihnen den Ertrag einer vollständigen Erwerbsfähigkeit ersetzen würde, muß eine Aufklärungsarbeit einsetzen. Es muß immer deutlicher gemacht werden, daß in der Vorbeugung und Heilung und nicht in der Zuführung von Millionen Menschen an die etwa ihren ganzen Lebensunterhalt auf sich nehmende Staatskrippe das Ziel der Sozialversicherung liegt. Eng zusammen hängt hiermit die viel beklagte Erscheinung der Simulation und die der Rentenhysterie, auf die in diesem Zusammenhang hingewiesen werden mußte.

III.

Zu Einsichten, die einen Zusammenhang mit der sozialen und allgemeinen Politik erkennen lassen, führen die Regelungen über die Träger der Versicherung, über die Versicherungsbehörden und das Organisationsproblem.

Versicherungsträger.

Was zunächst die Träger der Reichsversicherung angeht, so hat die Reichsversicherungsordnung am bisherigen Rechte hieran wenig geändert. An sich bleiben die Krankenkassen für die Kranken-, die Berufsgenossenschaften für die Unfall- und die Versicherungsanstalten für die Invalidenversicherung, diese auch für die neu hinzugekommene Hinterbliebenenversicherung, in Wirksamkeit. Von besonderem Interesse ist aber, in welcher Weise die einzelnen Träger spezialisiert sind, insbesondere, welche Kassenarten vorkommen. Überdies sind das Reich, der Bundesstaat, die Gemeinde, ein Gemeindeverband oder eine andere öffentliche Körperschaft in besonderem Falle Versicherungsträger, ebenso die sogen. Sonderanstalten [224] der Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung und endlich die Sonderanstalt der Seeberufsgenossenschaft. Von erheblichem Interesse ist es, daß gewisse allgemeine Rechtsgrundlagen für sämtliche Träger in der Reichsversicherungsordnung nunmehr einheitlich geregelt sind. Vor allem ist an die Rechtsfähigkeit zu denken. Sie schließt die Fähigkeit in sich, auf dem Gebiete des bürgerlichen und öffentlichen Rechts Träger von Rechten und Verbindlichkeiten zu sein. Eine Grenze findet sie in der Selbstverwaltung, d. h. es werden durch positivrechtliche Bestimmungen gewisse Handlungen überhaupt verwehrt oder ihre Vornahme nur unter Mitwirkung oder Zustimmung der staatlichen Aufsichtsbehörden vorgenommen. Wie zahlreich auch diese Fälle in dem Gesetzbuche sind, so spielen sie doch gegenüber der im allgemeinen freien Rechtsfähigkeit nur eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle und weisen auf das zu beachtende Verhältnis zwischen Selbstverwaltung und Staatsaufsicht hin. Wie bedeutsam die Verleihung der Rechtsfähigkeit ist, vermag man zu erkennen, wenn man deren Fehlen bei den sogen. Berufsvereinen bedenkt, die deshalb in ihrer Ausgestaltung und Wirksamkeit wesentlich behindert sind. Die Versicherungsträger können Darlehen aufnehmen, Grundbesitz erwerben und veräußern, hypothekarisch oder sonstwie belasten, ein Krankenhaus errichten oder ein eigenes Geschäftshaus bauen und verwalten. Nicht erforderlich ist zu alledem die Genehmigung der Aufsichtsbehörde für die Krankenkassen, wenn auch die ganze Finanzgebahrung eng mit den Rechten der Aufsichtsbehörden, die gesetz- und satzungsmäßige Verwaltung zu überwachen, zusammenhängt. Erst durch ihre Rechtsfähigkeit und die darin liegenden Befugnisse im einzelnen haben die Versicherungsträger jene großartige Ausgestaltung ihrer Einrichtungen, die Erweiterung ihrer Leistungen ermöglicht, die ihnen das besondere Kennzeichen aufdrücken.

Organisation der Versicherungsträger. Ehrenämter.

Auch in bezug auf die innere Organisation ist eine Vereinheitlichung geschaffen worden. Jeder Versicherungsträger hat einen Vorstand, der ihn gerichtlich und außergerichtlich vertritt. Die großen Befugnisse machen aber auch erforderlich, daß bei Verstoß gegen Gesetz oder Satzung eine Beanstandung erfolgt, die durch Beschwerde angefochten werden kann. Außer dem Vorstand sind Organe der Versicherungsträger der Ausschuß bei den Krankenkassen und Versicherungsanstalten, die Genossenschaftsversammlung bei den Berufsgenossenschaften. Die Ämter der Versicherungsträger sind grundsätzlich ehrenamtliche. Auch die Voraussetzungen der Wählbarkeit, Wahlzeit, Ablehnung der Wahl, Strafe bei Pflichtverletzung, Amtsenthebung sind einheitlich gestaltet. Das immer mehr vordringende System der Verhältniswahl hat grundsätzliche Annahme gefunden, um auch den Minderheiten einen entsprechenden Einfluß auf die Verwaltung zu sichern. Freilich ist mit Rücksicht auf die soziale Stellung der ehrenamtlich tätigen Personen die Notwendigkeit erkannt, neben der grundsätzlichen Unentgeltlichkeit für ihre Leistungen die Erstattung nicht nur der baren Auslagen, sondern auch den Ersatz für entgangenen Arbeitsverdienst oder statt dessen einen Pauschbetrag in Aussicht zu nehmen. Allerdings dürfen die ehrenamtlichen Stellen nicht Sinekuren werden, da sie sonst dem Wesen des Ehrenamts widersprächen, und sie dürfen auch keine [225] Belohnungen für parteipolitische Dienste darstellen. Der hohe ethische Wert, der in der Stellung der Mitglieder der Organe der Versicherungsträger liegt, äußert sich auch in der Haftung für getreue Geschäftsverwaltung nach dem Muster der Vormünder. Strenge Vorschriften sichern hier eine einwandfreie Verwaltung. Es soll aber auch vorgebeugt werden, daß die Arbeiter im Ehrenamt von diesem ferngehalten werden. Deshalb haben die Vertreter der Versicherten ihrem Arbeitgeber jede Einberufung zu den Organen anzuzeigen. Tun sie es rechtzeitig, so gibt das Fernbleiben von der Arbeit dem Arbeitgeber keinen wichtigen Grund, das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu lösen. Allerdings ist kein Arbeitgeber gehindert, die Beteiligung des Versicherten am Ehrenamt zum Anlaß der gesetzlich 14tägigen oder event. vertraglich noch kürzeren Kündigungsfrist zu nehmen.

Träger der Angestelltenversicherung ist die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte, die ihren Sitz in Berlin hat, eine öffentliche Behörde und rechtsfähig ist. Als Organe sind gesetzlich bestellt das Direktorium, der Verwaltungsrat, die Rentenausschüsse und die Vertrauensmänner. Die Abgrenzung ihrer Funktionen muß hier dahingestellt bleiben. Daß in den Rentenausschüssen die Beisitzer teils aus den Arbeitgebern, teils den Angestellten entnommen werden, weist ebenso auf die Selbstverwaltung hin, wie daß die Vertrauensmänner je zur Hälfte aus diesen beiden Kategorien gewählt werden müssen. Man mag mit Fug bezweifeln, ob es notwendig war, die Verwaltung auf Grund des Angestelltenversicherungsgesetzes einer besonderen Behörde zu übertragen, ob nicht am besten das Reichsversicherungsamt sich auch zur Übernahme der Funktionen um so mehr geeignet hätte, als es doch eine fast auf ein Menschenalter zurückreichende Erfahrung angesammelt hat. Es ist aber nun einmal die verschiedenartige Organisation Gesetz geworden. Daß sie besonders einfach gestaltet ist, kann man nicht sagen; hoffentlich wird es der Hemmungen nicht allzu viele geben.

Gemeinsame Grundlagen der Versicherungszweige.

Der Grundgedanke der Vereinheitlichung hat, wie dargelegt, nicht dazu führen können, einen einzigen Versicherungstypus zu schaffen, der nicht nach den Voraussetzungen der Fürsorgebedürftigkeit, also nicht nach Krankheit, Unfall, Invalidität usw. differenziert ist. Aber er ist doch in einer großen Anzahl von Beziehungen, infolge Annäherung der Rechtsgedanken und Einrichtungen, die in den verschiedenen Zweigen der Versicherung zerstreut lagen, durch die Reichsversicherungsordnung zur Geltung gekommen. Abgesehen von der Übereinstimmung in den wichtigsten Grundbegriffen, wie Ortslohn, Beschäftigungsort und Entgelt, Landwirtschaft, Hausgewerbetreibende usw. gehört insbesondere der Aufbau der Versicherungsbehörden, in dem sich eine Vereinfachung und eine für sämtliche Versicherungszweige maßgebende sachliche Grundlage darbietet, unter diesen Gesichtspunkt. In architektonisch klarer und sicherer Weise sind in dreifacher Steigerung Versicherungsämter, Oberversicherungsämter und das Reichsversicherungsamt übereinandergesetzt. Neu sind freilich die beiden letzteren nicht, da das Reichsversicherungsamt schon lange bestand und die Oberversicherungsämter nur eine verbesserte Form der Schiedsgerichte der Arbeiterversicherung darstellen. Dagegen ist [226]

Das Versicherungsamt insbesondere.

ohne Vorbild das Versicherungsamt, das als eine untere Verwaltungsstelle eine Fülle von Aufgaben zu übernehmen berufen worden ist. Es hat für die einzelnen Zweige der Reichsversicherung die Aufgaben einer unteren Spruch-, Beschluß- und Aufsichtsbehörde. Das Versicherungsamt wird der Mittel- und Brennpunkt der ganzen versicherungsrechtlichen Verwaltung in der unteren Instanz, wenn nicht überhaupt aller Instanzen, werden. Grundsätzlich wird jetzt bei jeder unteren Verwaltungsbehörde auch eine Abteilung für Arbeiterversicherung errichtet. Nur ganz ausnahmsweise soll es selbständige Versicherungsämter geben, die sich nicht an die schon gegebene einzelstaatliche Verwaltungsorganisation anlehnen. Den mannigfachen Aufgaben der Versicherungsämter soll aber nicht in organisatorischer Beziehung eine rein bureaukratische Handhabung gerecht zu werden versuchen. Vielmehr ist auch hier eine Heranziehung des Laienelements vorgesehen, und zwar sowohl in den Spruch- wie in den Beschlußausschüssen. In jenen ist der Vorsitzende des Versicherungsamtes und je ein Versicherungsvertreter der Arbeitgeber und der Versicherten obligatorisch; im Beschlußausschuß müssen außer dem Vorsitzenden des Versicherungsamts zwei Versichertenvertreter vorhanden sein, von denen die Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten je einen wählen, nebst mindestens je einem Stellvertreter aus ihrer Mitte. Unbeschadet dieser Mitwirkung ist aber die überragende Stellung des Vorsitzenden des Versicherungsamts nicht zu verkennen, nur daß das Gesetz Rücksicht darauf hat nehmen müssen, daß der Leiter der unteren Verwaltungsbehörde seinem Berufe als Vorsitzender des Versicherungsamts nicht würde nachgehen können, ohne seine Verwaltungstätigkeit zu vernachlässigen. Für den Landrat, Bezirksamtmann, Oberamtmann, Amtshauptmann, Kreisrat, Kreisdirektor, Oberbürgermeister können natürlich die Aufgaben des Versicherungsamts nur nebensächliche, sie dürfen keine ihn von seiner eigentlichen Berufsarbeit abziehende sein. Die Reichsversicherungsordnung hat deshalb von vornherein die Bestellung eines ständigen Stellvertreters des Vorsitzenden (oder auch mehrerer Stellvertreter) vorgesehen. Dieser Persönlichkeit war nun ursprünglich der Titel eines Versicherungsamtmannes zugedacht. Wenn auch die Reichsversicherungsordnung hiervon nichts weiß, so hat sich doch dieser Name bereits eingebürgert, ohne amtlich zulässig zu sein. Es läßt sich nicht verkennen, daß bei den großen, den Versicherungsämtern überwiesenen Aufgaben die Rolle des Versicherungsamtmanns sich immer erweitern und seine Arbeitskraft in vollem Umfang in Anspruch nehmen wird. Wenn die Reichsversicherungsordnung denjenigen als befähigt bezeichnet, der durch Vorbildung und Erfahrung auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung geeignet ist, so ist der Rahmen hier mit Recht weit gespannt. Es ist jedoch höchst bedauerlich, wenn, wie dies in großem Umfange geschieht, die Besetzung der Stelle des „Versicherungsamtmanns“ mit Subalternen erfolgt, insbesondere in Landkreisen, und wenn auch in den Städten hierzu sozialrechtlich nicht besonders vorgebildete Persönlichkeiten herangezogen werden.

Behörden bei der Angestelltenversicherung.

In der Angestelltenversicherung ist der Behördenorganismus abweichend von dem der Reichsversicherung gestaltet. Die bereits in [227] anderem Zusammenhang gedachte Reichsversicherungsanstalt bildet kein besonderes selbstständiges Reichsamt, sondern ist dem Reichsamt des Innern untergeordnet. Insofern steht sie rechtlich genau so da wie das Reichsversicherungsamt und das Aufsichtsamt für Privatversicherung. Sie ist eine öffentliche Behörde und rechtsfähig. Rechtsprechende Behörden in höherer Instanz sind die Schiedsgerichte, die den Oberversicherungsämtern in der Reichsversicherungsordnung entsprechen, und das Oberschiedsgericht, das etwa mit dem Reichsversicherungsamt verglichen werden kann. Zur Wahrung der Einheitlichkeit in der Rechtsprechung zwischen dem Oberschiedsgericht und dem Reichsversicherungsamt dient die Zuziehung zweier ständiger Mitglieder des letzteren zu den Sitzungen des Oberschiedsgerichts. Aber auch in dem Schiedsgericht ist das Laienelement vertreten. Außer dem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter besteht es aus Beisitzern, die je zur Hälfte aus den Versicherten und aus den Arbeitgebern gewählt werden. Freilich sind nur Männer wählbar; bei richterlichen Entscheidungen dürfen nur Männer mitwirken. Aber das aktive Wahlrecht der weiblichen Personen wird durch diese Bestimmung nicht berührt. Das Schiedsgericht ist aber keineswegs nur Spruch-, sondern auch Beschlußbehörde, insofern übereinstimmend mit der Struktur des Oberschiedsgerichts. In diesem müssen ebenfalls Beisitzer vorhanden sein, so daß auch hier die Mitwirkung von unmittelbaren Interessenten der Angestelltenversicherung in der obersten Spruch- und Beschlußbehörde offensichtlich ist. Dem Versicherungsamt kann man im wesentlichen den Rentenausschuß in der untersten Instanz vergleichen. Er ist Organ der Reichsversicherungsanstalt, öffentliche Behörde und hat eine Reihe von Obliegenheiten, die im Gesetz zerstreut geregelt sind. Insbesondere liegt ihm aber ob, Ruhegeld, Rente und Abfindung festzustellen und anzuweisen, Ruhegeld und Rente zu entziehen und einzustellen, Anträge auf Einleitung eines Heilverfahrens entgegenzunehmen, den Sachverhalt in diesen Fällen klarzustellen, in Angelegenheiten der Angestelltenversicherung Auskunft zu erteilen. Diese letztere Aufgabe ist höchst bedenklich, da sie einer späteren Entscheidung entweder vorgreift, oder aber so nichtssagend und bedeutungslos, weil mit allem Vorbehalt abgegeben, ist, daß sie für die Anfragenden praktisch kaum Wert haben kann. Wie weit sich der Behördenorganismus der Angestelltenversicherung praktisch bewähren wird, muß abgewartet werden. Zweifellos sprachen schwere Bedenken gegen die Durchführung dieser Versicherung mit Hilfe der Träger der Invalidenversicherung. Zu rechnen war auch mit den Forderungen der Angestellten, die ihren Beruf und ihre Stellung abgehoben wissen wollten von Beruf und Stand der Arbeiter im engeren Sinne, und die auch eine entscheidende Stimme in den Angelegenheiten der Versicherung mit Recht begehrt haben.

Äußere und innere Organisation insbesonders der Krankenkassen.

Das mehrfach gestreifte Organisationsproblem bedarf aber, zumal bei seiner großen politischen Bedeutung, näheren Eingehens. Eine Scheidung nach den verschiedenen Versicherungszweigen ist hier unbedingtes Erfordernis. In der Krankenversicherung fällt sogleich die Vielgestaltigkeit der Träger auf. Neben den Orts- gibt es noch die Land-, Betriebs-, Innungs-, Knappschafts-, Ersatzkassen. Der Versuch, einen einzigen Typus unter vorwiegender Verwendung der Formen [228] der Ortskrankenkasse zu schaffen, ist nicht geglückt. Man wird dies auch nicht allzusehr bedauern dürfen. Denn die verschiedenen Kassenformen entsprechen inneren Bedürfnissen, sie haben geschichtliche Ursachen; auch die historische Kontinuität zu wahren, erschien als eine nicht geringe Aufgabe. Überdies waren die besonderen gewerblichen, industriellen, handwerksmäßigen Produktionsformen auf eine ihrer Eigenart entsprechende Kassenform angewiesen. Dies ist am klarsten zu ersehen bei den Betriebskrankenkassen.

Die Betriebskrankenkassen, ihre Vor- und Nachteile.

Die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland am meisten charakteristische Form des Fabrikbetriebs verlangte auch hinsichtlich der sozialpolitischen Fürsorge eine ihr gemäße Gestaltung. Wenn in einem geschlossenen Betriebe Arbeiter zu einer Tätigkeit zusammengefaßt werden, bei der das Ganze und die Teile in einem Verhältnis des Aufeinanderangewiesenseins stehen, so wich diese Erscheinung sehr wesentlich ab von allen anderen gewerblichen Tätigkeiten, die der örtlichen und sachlichen Geschlossenheit entbehren. Die in einer Fabrik tätigen Personen stehen in einem engeren Zusammenhang miteinander als die freien Arbeiter außerhalb eines solchen Betriebs; sie können sich gegenseitig besser überwachen, die Simulation verhüten oder auf ein Mindestmaß einschränken. Die Krankheitsgefahr ist mehr oder minder eine gleichmäßige, so daß hier die zu machenden Aufwendungen der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer von vornherein auf einer bestimmten, sachlich vorausgesetzten Höhe stehen, ohne die Schwankungen, die notwendig sind in einer Kasse, in der Personen mit allerverschiedenster Krankheitsgefahr aufgenommen werden. Die großen Vorteile der Betriebskrankenkassen zeigten sich schon vor dem Krankenversicherungsgesetz, speziell in Elsaß-Lothringen, und auch später: außerordentlich hohe Leistungen, verhältnismäßig geringe Beiträge. Die Schattenseiten der Betriebskrankenkassen sind allerdings in keiner Weise zu verdecken. Dem Arbeitgeber, der freilich ein großes finanzielles Risiko trägt, ist in der Verwaltung der Kasse ein großer Einfluß eingeräumt. Klagen über die Beschränkung der Selbstverwaltung durch die Arbeiter kommen immerhin vor. Solche Versicherten, die sich etwa dem Vorstande mißliebig machen, sind stets der Gefahr ausgesetzt, von dem Fabrikherrn entlassen zu werden, wenn auch unter Wahrung der rechtlichen Formen. Jedoch ist zu bedenken, daß die sozialpolitisch rückständige Auffassung, der Fabrikherr wolle auch in bezug auf die Versicherung „Herr im eigenen Hause“ bleiben, sich heute nur noch ganz vereinzelt findet. Die meisten Arbeitgeber wissen genau, welchen Gefahren sie sich bei der Beschränkung der Selbstverwaltung aussetzen, daß insbesondere die hinter den organisierten Arbeitern stehenden Gewerkschaften in der Lage sind, in solchen Fällen recht unangenehme Folgen herbeizuführen. Sodann wird gegen die Betriebskrankenkassen eingewendet, daß sie nur kräftige und gesunde Arbeiter einstellen, die älteren, etwa über 40 Jahre alten, die kranken und hinfälligen abzustoßen pflegen, indem der Arbeitgeber ihnen in dieser seiner Eigenschaft kündigt. Gewiß kommen auch mancherlei Unzuträglichkeiten vor, doch muß beachtet werden, daß der Fabrikbetrieb in den allermeisten Fällen große Ansprüche an die Gesundheit und unversehrte Kraft der in Frage kommenden Angestellten stellt, und daß es deshalb gar nicht möglich wäre, mit einem anderen als jüngeren und kräftigeren Arbeitermaterial auszukommen. Es mögen dies sachliche Notwendigkeiten sein, die mitunter auch etwas [229] willkürlich herbeigeführt werden: die Sachlage selbst wird kaum geändert werden können. Daß hohe Leistungen gewählt werden, wird von anderer Seite gerade auf diese sorgfältige Auswahl der Arbeitskräfte, auf das Abstoßen der Schwächeren zurückgeführt. Auch darin liegt zweifellos etwas Wahres. Trotz alledem sprechen auch hier Zahlen eine deutliche Sprache. Während die Ortskrankenkassen im Jahre 1911 bei einem Mitgliederstande von 7 217 908 Personen an Krankheitskosten aufgebracht haben 188 815 740 M., haben die Betriebskrankenkassen bei einem Mitgliederstande von 3 396 000 aufgebracht in demselben Jahre 113 255 766 M., obwohl nach ihrer Mitgliederzahl nur eine Leistung von ungefähr 90 Mill. Mark zu erwarten gewesen wäre. Die Reichsversicherungsordnung hat deshalb den vielfachen Bestrebungen auf Aufhebung der Betriebskrankenkassen keine Folge gegeben, immerhin jedoch durch ihre gesetzlichen Bestimmungen dafür Sorge getragen, daß berechtigte Ansprüche der Sozialversicherung erfüllt werden. So werden bestehende Betriebskrankenkassen nur dann aufrechterhalten, wenn sie mindestens 100, bei Krankenkassen für landwirtschaftliche oder Binnenschiffahrtsbetriebe mindestens 50 Mitglieder haben, ihre satzungsmäßigen Leistungen jenen der maßgebenden Ortskrankenkasse mindestens gleichwertig sind oder binnen 6 Monaten gemacht werden und ihre Leistungsfähigkeit für die Dauer sicher ist. Neu errichtet werden darf eine Betriebskrankenkasse nur, wenn sie den Bestand oder die Leistungsfähigkeit vorhandener Ortskrankenkassen und Landkrankenkassen nicht gefährdet; dabei gilt eine Kasse nicht als gefährdet, wenn sie nach Errichtung einer Betriebskrankenkasse mehr als 1000 Mitglieder behält. Wie bei der Zulassung einer bestehenden, ist auch bei der Neuerrichtung einer noch nicht vorhandenen Betriebskrankenkasse weiter vorausgesetzt, daß die satzungsmäßigen Leistungen denen der maßgebenden Krankenkasse mindestens gleichwertig sind und ihre Leistungsfähigkeit für die Dauer gesichert ist. Soweit man zurzeit die Entwicklung übersehen kann, wird die Form der Betriebskrankenkasse keineswegs auf den Aussterbeetat gesetzt sein. Die verhältnismäßig geringe Mitgliederzahl, die als Voraussetzung bestimmt ist, wird eher den Neugründungen förderlich als nachteilig erscheinen. Andererseits konnte man auch schon deshalb nicht eine allzuhohe Mitgliederziffer als Bedingung stellen, weil sonst nur den ganz großen Fabrikbetrieben, etwa in der Schwerindustrie und der chemischen Industrie, der Vorzug eingeräumt worden wäre; man hätte damit gerade den mittleren Fabrikantenstand hart getroffen und die volkswirtschaftliche Tendenz auf eine Zentralisation aller Betriebe auch von diesem sozialpolitischen Gesichtspunkte aus ungewollt beschleunigt.

Innungskrankenkassen und Handwerk.

Darüber, ob auch das Handwerk im engeren Sinne den Anspruch stellen kann, besondere Krankenkassen zu errichten, war man bei der Entstehung der Reichsversicherungsordnung vielfach verschiedener Meinung. Das Gesetz hat die Beibehaltung der Innungskrankenkassen ausgesprochen, aber gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen. Vielfach ist nämlich der Verdacht ausgesprochen worden, der nicht ohne weiteres als unbegründet bezeichnet werden kann, daß die Innungskrankenkassen zuweilen nur deshalb errichtet würden, um die höhere Beitragsleistung an die sonst zuständige Ortskrankenkasse [230] zu ersparen. Indem die Reichsversicherungsordnung als Voraussetzung der Errichtung u. a. bestimmt, daß die satzungsmäßigen Leistungen denen der maßgebenden Ortskrankenkasse mindestens gleichwertig sein müssen, hat sie den etwaigen Bestrebungen, durch die Innungskrankenkassen geringere Leistungen zu bieten, einen Riegel vorgeschoben. Es wird sich nunmehr herausstellen, ob die Innungen, die auch weiterhin zuständig sind für die Errichtung der Innungskrankenkassen, diese aus besonderem Bedürfnis des betreffenden Handwerks oder aus anderen minder berechtigten Gründen ins Leben rufen wollen. Die Innungskrankenkassen hatten im Jahre 1911 noch einen Mitgliederbestand von 327 000 Personen, die Krankheitskosten betrugen 7 927 519 M. Unbedeutend kann man diese Leistungen gewiß nicht nennen.

Landkrankenkassen. Kritik.

Einen neuen Typus der Kassen schuf die Gesetzgebung in den sogen. Landkrankenkassen. Es hängt dies damit zusammen, daß der Kreis der versicherten Personen in erheblichem Maße ausgedehnt worden ist. Langjährigen Forderungen entsprechend sind neu einbezogen in die Versicherungspflicht die Dienstboten, landwirtschaftlichen Arbeiter, die unständig und im Wandergewerbe Tätigen, endlich die Hausgewerbetreibenden. Während die in der Landwirtschaft Beschäftigten teilweise schon fakultativ unter gewissen Umständen versicherungsberechtigt werden konnten, ist hiervon doch ein verhältnismäßig geringer Gebrauch gemacht worden. Dasselbe gilt bezüglich der Dienstboten, deren Verpflegung im Krankheitsfalle lediglich nach den Vorschriften der Gesindeordnungen zu bemessen war, die nicht nur untereinander sehr stark abwichen, sondern auch im allgemeinen unzulänglich erschienen, besonders mit Rücksicht auf die Dauer der Krankenpflege. Die Ersatzmittel, die in privaten Verträgen mit Krankenhäusern usw. durch die Dienstherrschaften getroffen worden waren, hatten mancherlei Mängel aufzuweisen. Die neue Regelung wird zweifellos für die Bediensteten und ihre Arbeitgeber sozial und hygienisch besser sein. Noch viel bedeutsamer aber ist die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf die landwirtschaftlichen Arbeiter. Mag auch das patriarchalische Verhältnis auf dem Lande zum Segen der Beteiligten hier und da noch Platz greifen, so hat die unerbittliche wirtschaftliche Entwicklung in der Mehrzahl aller Fälle doch von einem solchen Verhältnis sich abgewendet und die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeiter denen sehr angenähert, die auch im Gewerbe, in der Industrie, im Handel usw. zu finden sind. Über die Unzulänglichkeit der Krankenfürsorge der ländlichen Arbeiter ist sich alle Welt einig. Einsichtsvolle Landwirte erachten es selbst in ihrem eigenen Interesse für besser, die Sorge um ihre kranken Arbeiter einer öffentlichen Einrichtung übertragen zu können. Die neu geschaffenen Landkrankenkassen sollen nun alle die eben bezeichneten neu in die Versicherung einbezogenen Personen mit aufnehmen. Wie groß die Zahl im ganzen sein wird, läßt sich nicht mit Sicherheit voraussagen. Die Schätzungen bewegen sich zum Teil bis zu insgesamt 10 Millionen, wobei dann allerdings auch die der Familienhilfe teilhaftig werden Personen mitberücksichtigt sein dürften. Im ganzen betrug die Zahl der Mitglieder der bisherigen Krankenkassen im Jahre 1911 rund 14,5 Mill. Personen. Man wird annehmen können, daß infolge der Erweiterung des Kreises der Versicherten [231] binnen kurzem ein Drittel bis die Hälfte aller Einwohner des Deutschen Reiches von der Sozialversicherung erfaßt sein wird. Die organisatorische Form der Landkrankenkasse freilich unterliegt erheblichen Bedenken. Die Selbstverwaltung ist auf ein geringes Maß eingeschränkt, die Leistungen in manchen Punkten absichtlich hinter diejenigen der gewerblichen Arbeiter in andern Kassen zurückgeschraubt. Bestehen auch Besonderheiten, soll man auch ländlichen Verhältnissen immerhin Rechnung tragen, so war es doch nicht richtig, gerade in diesen beiden Punkten eine Differenzierung vorzunehmen. Die Landkrankenkassen sollen nämlich keineswegs nur auf dem Lande errichtet werden, sondern auch in den Städten, soweit ihre Errichtung nicht aus besonderen Gründen, die das Gesetz anerkennt, unterbleiben darf. Es muß aber besonders auf die in den städtischen (!) Landkrankenkassen befindlichen Versicherten geradezu politisch aufreizend wirken, wenn die Selbstverwaltung und die Leistungen auf einem ganz anderen Stand gehalten werden, wie die der gewerblichen Arbeiter derselben Ortschaft in anderen Kassen. Schon infolge dieser räumlichen Gemeinschaft vieler Versicherten, die teils in der Orts-, teils in der Landkrankenkasse sich befinden, ist die geltend gemachte Erwägung unrichtig, daß die letzteren noch nicht die sozialpolitische Reife besitzen und deshalb mit einer geringeren Selbstverwaltung vorliebnehmen müßten. Gerade die Zulassung zu selbständiger Betätigung führt zu sozialem Verständnis, zur Eingliederung in den staatlichen Organismus und hindert jene radikalen, umstürzlerischen Gedanken, die denselben Boden, auf dem sie stehen und der ihnen Nahrung gibt, unheilvoll aufwühlen wollen. Das unerfreuliche Vorbild für die Landkrankenkassen gab die Gemeindekrankenversicherung, die eine Einrichtung der Gemeinde und nicht eine selbständige Kassenform war und mit dem 1. Januar 1914 aufgehoben wird. Hier fehlte es nicht nur an der Selbstverwaltung, es waren auch die Leistungen höchst bescheiden und die Gemeinden selbst vielfach gezwungen, Zuschüsse beizusteuern. Immerhin betrug die Zahl der Mitglieder der Gemeindekrankenversicherung im Jahre 1911 1 700 696 Personen; an Krankheitskosten sind in demselben Jahr aufgebracht worden 24,6 Mill. Mark.

Die Ortskrankenkassen.

Den Haupttypus der Krankenkassen stellte bisher dar und wird auch in Zukunft darstellen die Ortskrankenkasse. Die Zahl der in dieser Form versicherten Mitglieder betrug 1911 7 217 908; die Krankheitskosten erreichten den Betrag von 185,8 Mill. Mark. Auf dem Boden dieser Organisationsform hat sich die Krankenversicherung am meisten entwickelt. Hier, wo der Selbstverwaltung nur ganz geringe Schranken auferlegt sind, wo das natürliche Übergewicht der Versicherten auch mitbestimmend wirkt auf die Art und den Umfang der Verwaltung, auf die Erweiterung der Leistungen, spielte sich aber auch ein erheblicher politischer Kampf, seltener an die Öffentlichkeit gelangend, aber nach innen doch um so bemerkenswerter, ab. Es ist nicht zu leugnen, daß es der politisch organisierten Sozialdemokratie vielfach gelungen ist, in die Kassenvorstände und das Kassenbeamtentum ihre eigenen Parteigenossen hineinzubringen. Hier setzt der Vorwurf eines parteipolitischen Mißbrauchs der versicherungsrechtlichen Einrichtungen ein. Wie weit er berechtigt ist, läßt sich sehr schwer sagen. Nach meiner Überzeugung handelt es sich um [232] vereinzelte Vorkommnisse schroffer Art, während man für die Regel sagen muß, daß die parteipolitische Zugehörigkeit der in den Kassen vielfach herrschenden sozialdemokratischen Genossen eine sachliche, auf möglichste Erweiterung der Leistungen abzielende Verwaltung keineswegs gehindert hat. Man muß auch bedenken, daß die Gesetzgebung grundsätzlich die Selbstverwaltung einräumt und damit von vornherein den Arbeitern ein großes Maß von Selbständigkeit gewährt hat, das sie nur sehr schwer unter Spaltung ihrer Persönlichkeit in eine politische und nicht politische durchführen können. Es ist aber in der Reichsversicherungsordnung auch dafür gesorgt, daß eine einseitige Parteiherrschaft der Sozialdemokratie unterbunden wird, so durch die Einführung der Verhältniswahl, die auch den Minoritäten einen Einfluß sichert, durch die Bestimmungen über die Aufsicht der Staatsbehörden. Man darf auch nicht vergessen, daß der den anglo-amerikanischen Völkern so äußerst unsympathische Zwang auch bei uns in Deutschland hinsichtlich der Sozialversicherung nur dann erträglich und durchführbar ist, wenn ein weitgehendes Selbstverwaltungsrecht die äußere, aber auch innere Teilnahme der Versicherten garantiert. Bei dieser Notwendigkeit sind eben eine Reihe von Nachteilen mit in Kauf zu nehmen. Nichts kann dem Ansehen, der Kraft und Wirkung der deutschen Sozialversicherung im In- und Auslande schädlicher sein, als wenn sich der schon vielfach gehörte Vorwurf einer Bureaukratisierung im ganzen und im einzelnen bewahrheitete.

Die Knappschaftskassen.

Nur mit einem Wort mag der Knappschaftskassen gedacht werden, die einzelstaatlicher Regelung in den Berggesetzen unterliegen. Sie müssen nach der Reichsversicherungsordnung ihren Mitgliedern durch die Satzung mindestens die Regelleistungen der Ortskrankenkassen zubilligen. Selbstverständlich sind dann die Knappen nicht verpflichtet, einer anderen Kasse, insbesondere der Ortskrankenkasse, anzugehören.

Zuschuß- und Ersatzkassen.

An Stelle der eingeschriebenen Hilfskassen sind zwei neue Organisationsformen getreten, von denen die eine, die Zuschußkasse, aus jeder Beziehung mit der Reichsversicherung ausscheidet. Dagegen ist die Ersatzkasse, die in der Form eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit auftritt, insofern privilegiert, als sie unter gewissen Voraussetzungen zugelassen wird und für Versicherungspflichtige, die Mitglieder einer Ersatzkasse sind, auf ihren Antrag die eigenen Rechte und Pflichten als Mitglieder der Krankenkasse, in die sie gehören, ruhen. Die Arbeitgeber hatten früher sich jedoch vielfach der Beitragsleistung aus der Sozialversicherung entzogen, indem sie die einzustellenden Arbeiter verpflichteten, einer eingeschriebenen Hilfskasse anzugehören, deren Beiträge die Versicherten allein vollständig aufzubringen hatten. Die Reichsversicherungsordnung baut hier vor. Die Arbeitgeber haben nur den eigenen Beitragsanteil an die Krankenkassen einzuzahlen; der Anteil der Versicherten fällt weg. Welche Bedeutung die eingeschriebenen Hilfskassen reichs- und landesrechtlicher Art hatten, ergibt sich daraus, daß die Mitgliederzahl der ersteren 1911 betrug 6,8 Millionen, die der landesrechtlichen [233] 206 000; die entsprechenden Krankheitskosten betrugen 21,8 Millionen bezw. 669 279 Mark. Wie sich in Zukunft gerade die Zuschußkassen gestalten werden, steht noch dahin.

Selbstverwaltung bei der Unfall- und Invalidenversicherung.

Ebenso wie auf dem Gebiete der Kranken ist auch auf dem der Unfallversicherung die Selbstverwaltung, und zwar hier die der Unternehmer gesetzlich festgelegt. An der Organisation der Berufsgenossenschaften ist im Grundsatze nicht geändert worden, trotz des darauf gerichteten Kampfes einzelner Kreise.

Die Invalidenversicherungsanstalten endlich haben am wenigsten von Selbstverwaltung; ihr Vorstand hat die Eigenschaft einer öffentlichen Behörde. Seine Geschäfte führen ein oder mehrere Beamte des Gemeindeverbandes oder Bundesstaates, für den die Versicherungsanstalt errichtet ist. Aber schon der Ausschuß besteht je zur Hälfte aus Vertretern der beteiligten Arbeitgeber und Versicherten und zählt mindestens 10 Mitglieder. Bei den die Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung betreffenden Verwaltungsaufgaben des Versicherungsamts in der untersten Instanz kommt mittelbar auch bei diesem Zweige der Versicherung die Selbstverwaltung zum Ausdruck, da das Versicherungsamt seinerseits wieder Beisitzer hat.

IV.

Ausländische Sozialversicherung.

Zum Schlusse darf noch auf die internationalrechtlich sowie internationalwirtschaftlich bedeutsame Erscheinung hingewiesen werden, daß sich der europäisch-amerikanische, neuerdings auch australische Kulturkreis dem deutschen Vorbilde nicht hat entziehen können. Im Jahre 1912 zählte man schon 18 europäische Staaten, die in ihren besonderen Verhältnissen jeweils entsprechenden Formen eine Versicherungsgesetzgebung eingeleitet, zum Teil schon wieder verbessert haben. In Amerika sind Unfallentschädigungsgesetze ergangen für 16 der „Vereinigten Staaten“; in Kanada und einigen südamerikanischen Staaten werden sie vorbereitet, in Australien und Neu-Seeland energisch propagiert. Allein in den letzten drei Jahren haben Frankreich (1910), England, Luxemburg (1911) und Rumänien (1912) eine Invaliditäts- und Altersversicherung eingeführt. In Schweden, Norwegen, Belgien, Holland und Österreich kommen Regierungsentwürfe dieser Art in Betracht (Zacher). Die Krankenversicherung und Unfallversicherung wurde erst 1913 in Österreich, 1912 in Frankreich verbessert; in dem letzteren Jahre sind Regierungsentwürfe, die in die Kranken- und Unfallversicherung einschlagen, vorgelegt in den Niederlanden und in Portugal. Die inneren Schwierigkeiten sind besonders in den Vereinigten Staaten von Nordamerika erheblich, weil dort nicht nur auf weiten Gebieten der individualistisch manchesterliche Gesichtspunkt herrscht, sondern auch die Nachprüfung von Gesetzen durch das oberste Gericht zulässig, die Verfassungsmäßigkeit von Zwangsgesetzen vielfach verneint worden ist. Es muß hier dahingestellt bleiben, in welcher Weise man diese Schwierigkeiten zu umgehen versucht. Tatsächlich ist schon im Jahre 1908 ein Bundesgesetz in den Vereinigten Staaten über die Unfallentschädigung [234] ergangen und im Jahre 1912 ergänzt worden. Einen unerschöpflichen Born von politischen Erfahrungen und rechtlichen Gesichtspunkten bieten Jahr für Jahr die vom Auslande her zu uns zurückströmenden versicherungsrechtlichen Gesetze. Es gilt aber für uns, nicht nur auf dem stolzen Bewußtsein der Priorität in bezug auf die Sozialversicherung zu verharren, sondern durch rechtsvergleichende ununterbrochene Studien die Entwicklung zu verfolgen, das Gute und Bessere, woher es auch kommen mag, uns anzueignen und für eine spätere Gesetzgebung zu verwerten. Einige Zeit schien es sogar, daß das Ausland, besonders Österreich, auf den Schultern unserer eigenen gesetzgeberischen Werte etwas über unsere eigene Leistung Hinausgehendes schaffen könnte. Durch die Reichsversicherungsordnung sind aber eine große Anzahl von Bedenken, die durch die alles überholende Zeit entstanden waren, ausgeräumt worden. Einen Stillstand gibt es aber auch auf diesem Gebiete nicht. Freuen wir uns des Errungenen, seien wir jedoch stets auf der Wacht. Gilt es doch das Wohl und Wehe vieler Millionen Deutscher und damit unzertrennbar das Wohl und Wehe der ganzen Nation.