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Autor: Franz Woas
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Titel: Die Gotthardbahn
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 19-20, S. 324-327, 336-337, 347-349, 353
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[324]
Die Gotthardbahn.

In wenigen Tagen wird die Gotthardbahn, jenes Riesenunternehmen, an welchem nahezu ein volles Jahrzehnt gearbeitet worden, dem Verkehr übergeben werden. Im Norden wie im Süden der Alpen ist schon Alles gerüstet, um den bisher durch natürliche Schranken gehemmten directen Verkehr sofort in diese Bahnlinie einzulenken, welche wie kaum irgend eine andere die Bezeichnung einer internationalen verdient. Ostfrankreich und Westdeutschland, Luxemburg, Belgien, Holland und auch England warten nur auf den Augenblick, wo die ersten Güterzüge von Luzern aus unter dem Schnee der Alpen hinweg nach der sonnigen Po-Ebene dampfen werden, um ihre Handelsartikel, ihre Kohlen, ihr Eisen, ihre Industrieproducte zu versenden; denn durch den St. Gotthard hindurch führt die directeste Straße nach Italien, dem Mittelmeer und der Levante. In das viele Hunderttausende von Meilen umfassende Schienennetz der Erde ist somit ein neues wichtiges Glied eingefügt, dessen Mangel bisher schwer genug empfunden worden; was aus der Thatkraft der Unternehmer, dem Schweiße und Blute der Arbeiter in jahrzehntelanger mühsamer Arbeit geschaffen, wird zum Gewinn für ganz Europa.

Vor etwa zehn Jahren war es, als das Unternehmen in Angriff genommen wurde. Langwierige Verhandlungen unter den dabei interessirten Staaten waren vorhergegangen; bereits 1841 war in der Schweiz der Gedanke an eine Ueberschienung der Alpen aufgetaucht, aber Sonderinteressen ließen die Cantone zu einem einmüthigen Vorgehen nicht kommen, und so mußten sie es mit ansehen, wie die Eisenbahn über den Brennerpaß ausgebaut und später auch eine solche über den Mont Cenis in Angriff genommen wurde. Dadurch wurden die ihrer Mehrzahl nach nördlich der Alpen liegenden schweizerischen Cantone immer mehr und mehr geschädigt; denn wenn auch hier eine große Zahl fahrbarer und gut unterhaltener Straßen über die Alpenkämme führten, so wurde der internationale Verkehr doch immer mehr und mehr nach rechts und links hin abgelenkt.

Die Transporte durchgehender Güter hatten bereits mit dem Jahre 1867, wo die Brennerbahn fertig geworden war, erheblich abgenommen und mußten noch weiter zurückgehen, sobald die Mont-Cenisbahn dem Verkehr übergeben war, was mit dem Jahre 1872 zu erwarten stand. Aber auch über noch weiter abgelegene Bahnen fand der durchgehende Verkehr bereits seinen Weg; die alten Alpenstraßen wurden verlassen, und einzelne Cantone, welche bisher mitten inne im Verkehr gelegen, lagen nun abseits und verloren von Jahr zu Jahr an Bedeutung.

Unter dem Drucke dieser Verhältnisse machte sich deshalb in der Schweiz eine Stimmung fühlbar, welche jede Alpenüberschienung willkommen hieß, wenn nur deren Ausführung in nahe Aussicht gestellt werden konnte. Unzählige Projecte waren inzwischen im Laufe der Jahrzehnte für die Ueberschreitung der Alpen mittelst eines Schienenwegs ausgearbeitet worden. Außer dem Gotthardpaß

[325]

Ansichten von der Gotthardbahn: Uebersetzung des Rohrbachs bei Wattingen.
Originalzeichnung von J. Nieriker.

[326] waren dazu namentlich der Splügen, der Septimer, der Simplon und der Lukmanier in Aussicht genommen worden, aber alle diese Pässe lagen nicht günstig genug, um auch in vollem Maße das internationale Interesse zu befriedigen. Für dieses kam es darauf an, einen Paß zu wählen, welcher namentlich die noch mangelnde directe Verbindung der westlichen Theile Deutschlands mit Italien ermöglichte, der also etwa in der Luftlinie zwischen dem Rheinthale und Mailand lag. Dazu konnte sich schlechterdings keine andere Linie als diejenige über den St. Gotthard eignen. Eine damals zusammenberufene italienische Sachverständigencommission hatte sich einhellig für den St. Gotthard entschieden, und dies wurde auch für Deutschland oder vielmehr für den Norddeutschen Bund, Baden und Württemberg (denn diese Verhandlungen stammen noch aus den Jahren vor 1871) entscheidend. Eine von diesen Staaten unter gleichzeitiger Betheiligung von Italien und der Schweiz im Juli 1869 zu Luzern abgehaltene Conferenz ging über alle anderen vorgelegten Projecte hinweg und wählte das Eisenbahnnetz, welches die Gotthardlinie zur Stammlinie hatte, setzte auch sogleich die Kosten für den Ausbau desselben auf 187 Millionen Franken fest, normirte die Subventionen und entwarf die Statuten für die zu gründende Gotthardbahngesellschaft. Um die Integrität der Schweiz zu wahren, hielt man es nämlich für ausgeschlossen, eine internationale Bauverwaltung einzusetzen, sondern beschloß, die Subventionen der betheiligten Staaten, die insgesammt auf 85 Millionen Franken bemessen wurden, einer Actiengesellschaft zu überlassen, welche unter die Aufsicht des schweizerischen Bundesrathes gestellt würde.

Diese Stammlinie des Gotthardbahnnetzes ist 175 Kilometer lang; sie beginnt in Immensee am Zugersee, geht von hier aus am Fuße des Rigi entlang nach Goldau, alsdann über Seewen am Lowerzersee nach Brunnen, weiter dicht am Ufer des Vierwaldstättersees entlang nach Flüelen, wo sie in das Thal der Reuß einmündet, verfolgt dieses nunmehr beharrlich bis Göschenen und durchbohrt hier den St. Gotthard, um im Süden desselben, bei Airolo, im Thale des Tessin zu münden, welches sie bis Bellinzona nicht verläßt. Hier schließen sich an die Stammlinie zwei Linien an: die Monte-Cenere-Linie, welche, den transalpinen Canton Tessin in dessen größter Längenausdehnung durchschneidend, über Lugano nach der Grenzstation Chiasso geht und sich hier mit der von Como nach Mailand führenden Bahn vereinigt, und ferner die Linie über Magadino nach den italienischen Grenzbahnen hin, welche Anschluß mit Genua haben. Im Norden mündet bei Immensee eine Zweiglinie, die von Luzern, bei Goldau eine solche, die von Zug kommt.

Dies sind die Eisenbahnlinien, welche man unter dem Namen „Gotthardbahnnetz“ zusammenzufassen pflegt. Die eigentliche internationale Linie ist die Strecke Luzern-Mailand, durch welche die großen Industriegebiete des nordwestlichen Deutschlands auf dem kürzesten Wege mit der Po-Ebene verbunden werden. In dieser Strecke liegt auch der große Tunnel. Zieht man eine gerade Linie zwischen Luzern und Mailand, so geht dieselbe genau über den St. Gotthard; von dieser Luftlinie weicht die Eisenbahnstrecke allerdings bedeutend ab; denn während erstere hundertneunzig Kilometer lang ist, beträgt die Länge der letzteren zweihundertsiebenzig Kilometer.

Von großem Einfluß auf die Wahl des St. Gotthard war neben der geographischen Lage zu den betheiligten Ländern auch die natürliche Beschaffenheit des Alpenpasses; von allen Pässen ist er der einfachste und großartigste natürlichste Durchschnitt der Alpen, gleichsam eine von Brunnen aus ununterbrochene, tiefe Furche, die eine große Anzahl von Längsketten kräftig durchschneidet, sich fast in gerader Linie vorwärts zieht und das Alpengebirge in zwei unverbundene Hälften theilt. Strahlenförmig gehen von ihm mächtige Thäler aus, die dicht bis an seinen Stock herantreten.

Wie bereits erwähnt, sind es die Thäler der Reuß und des Tessin, welchen die Bahnlinie folgt. Dieselbe wechselt nur in der Wahl des Ufers; bald befindet sie sich rechts, bald links vom Flusse, hier über ihm, dort unter ihm; bald tritt sie in die Thalränder ein und klimmt in kunstvollen Aufwickelungen hinan, sodaß an manchen Stellen die einzelnen Bahnstrecken in drei verschiedenen Höhen über einander liegen.

Drei Stellen sind es namentlich, welche in dieser Beziehung das höchste Interesse jedes Reisenden erregen müssen; sie liegen bei Wasen, einer Ortschaft nördlich des Tunnels, sowie bei Prato und Giornico südlich desselben. An diesen drei Punkten ist das Gefälle der Thäler ein allzu starkes, als daß ihm die Bahnlinie mit dem ihrigen auf bisher gebräuchliche Arten folgen könnte. Sonst suchte der Erbauer von Gebirgsbahnen sich in ähnlichem Terrain dadurch zu helfen, daß er die Linie ein Seitenthal einschlagen, hier allmählich in die Höhe steigen und erst alsdann wieder in das Hauptthal zurückkehren ließ. Aber derartige Seitenthäler sind hier nicht vorhanden; senkrecht steht hier der Fels an den Flußufern und die hier einmündenden Bäche stürzen als Wasserfälle in die Thäler der Reuß und des Tessin hinab. Da kam man auf den genialen Ausweg, in diese Wände selbst hineinzudringen und mittelst kreisrund angelegter Tunnels sich in die Höhe zu winden. Somit tritt die Bahnlinie fast an demselben Punkte des Thales wieder aus dem Bergesinnern heraus, wo sie hineingetreten ist, nur hoch über der alten Höhenlage. Drei solche „Kehrtunnel“, wie derartige Anlagen genannt werden, vermitteln den Aufstieg in der Thalstufe der Reuß bei Wasen; am Pfaffensprung, kurz nach Verlassen des hier liegenden Bahnhofes, bohrt sich die Linie mittelst eines Tunnels rechts in die Thalwand ein, beschreibt einen Kreis, indem sie zugleich stark ansteigt, und tritt über dem Mundloche des Tunnels wieder an’s Licht. Jetzt verfolgt sie eine kurze Strecke das linke Ufer des Flusses, überschreitet denselben im Dorfe Wasen selbst und bohrt sich wieder in die Felswände des rechten Ufers ein, einen zweiten Kehrtunnel passirend. Am Austritte liegt der Bahnhof Wasen, eine kurze horizontale Strecke, ein Ruhepunkt für neues Steigen! Denn nachdem die Linie mittelst einer Brücke wiederum das linke Ufer des Flusses gewonnen, läuft sie hier immer der jenseitigen Strecke parallel in dem Thale weit zurück, hierbei fortwährend stark ansteigend, und tritt endlich in einen dritten Kehrtunnel ein.

Nachdem sie diesen verlassen, verfolgt sie noch einmal die schon zweimal eingeschlagene Thalrichtung, sodaß hier, wenige hundert Meter von einander entfernt, drei scheinbar von einander unabhängige Bahnstrecken neben einander herlaufen. Auf diese Weise gelang es jedoch den Erbauern der Bahn, auf einer Strecke von nur etwa drei Kilometer hundertzwanzig Meter zu steigen, wozu sie sonst bei dem durchschnittlichen Gefälle der Hochgebirgstheile der Gotthardbahn von 1:40 eine Thalentwickelung von nahezu der doppelten Länge gebraucht haben würden.

Aehnlich liegt die Sache bei den beiden Kehrtunnelanlagen südlich des Gotthard. Auch der Tessin zeigt als Unterbrechungen seines im Allgemeinen gleichmäßigen Gefälles zwei Thalstufen, das heißt Stellen, wo das Gefälle ein außerordentlich großes ist und der Fluß sich in eine Folge von Wasserfällen auflöst. Auch diese Thalstufen, welche, wie bereits erwähnt, bei Prato und Giornico liegen, sind mit Hülfe von Kehrtunnels durch die hier in starkem Gefälle abwärts eilende Bahnstrecke überwunden worden; hier sind jedoch in beiden Fällen nur je zwei Kehrtunnels vorhanden, und zwar liegen dieselben bei Prato verhältnißmäßig weit von einander ab, bei Giornico dagegen folgen sie einander auf dem Fuße, sodaß man vier Tunnelmundlöcher auf einem und demselben, nämlich dem linken, Ufer des Tessin über und dicht neben einander erblicken kann, wenn man den Weg auf der alten Poststraße nimmt.

Fast möchte man überhaupt allen Reisenden, welche die Gotthardbahn als Sehenswürdigkeit in Augenschein nehmen wollen, rathen, dieselbe nicht zu benutzen, sondern die alte Poststraße einzuschlagen. Im Allgemeinen verfolgen beide denselben Weg; stets hat man von dem Wagen aus die Bahnstrecke neben sich, manchmal in schwindelnder Höhe über sich, manchmal wieder in kaum erreichbarer Tiefe unter sich. Nicht von dem Eisenbahnwagen, sondern erst von der Landstraße aus tritt dem Reisenden in unzerstücktem Bilde die ganze Kühnheit der Erbauer vor Augen. Anscheinend dünne und zerbrechliche Pfeiler steht man aus schäumendem Gebirgswasser sich erheben; zierliches Eisenwerk überspannt weite Thalöffnungen; wie Spielzeug erscheint dies Alles in dieser Welt des Riesenhaften, aber unbeirrt sieht man zugleich die Strecke ihren Weg immer höher und höher hinauf verfolgen, dort eine Schlucht überspringend, hier einem trotzig vorspringenden Felsen sich biegsam um den Nacken schmiegend, plötzlich in dunkler Bergestiefe verschwindend, oder irgendwo anders, darüber oder darunter, siegreich wieder heraustretend. Gewiß, so reizvoll das Bild jener beiden Thäler bisher war – durch die Gotthardbahn ist es nur noch reizvoller geworden.

Unsere diesen Artikel begleitenden Abbildungen, welche die Uebersetzung des Rohrbachs bei Wattingen (unweit der erwähnten Kehrtunnelentwickelung bei Station Wasen), die Eisenbahnbrücke über [327] die Göschener Reuß und die Uebersetzung der Bahn über den Ticino darstellen, geben eine Ahnung von dem Reiz, welchen die schöpferische Hand der Erbauer der Gotthardbahn den Thälern der Reuß und des Tessin hinzugefügt hat.

Einen weiteren Anziehungspunkt der Strecke bildet der St. Gotthardtunnel selbst, der „große Tunnel“, wie er während der langen Bauzeit immer genannt wurde. Er bildet die Krönung dieses Meisterwerkes einer Bahnstrecke. Die ganze, geradezu raffinirt geschickte Entwickelung der letzteren, die geistreichen Vorkehrungen gegen Ueberschwemmungen, Verschneeungen und Lawinenstürze, wie sie aller Orten getroffen wurden – all dies mag meisterhaft erdacht und ausgeführt sein, wirklich einzig aber steht bis jetzt die erfolgreiche, fast durchweg programmmäßig vollzogene Bohrung des Gotthardtunnels da.

(Schluß folgt.)
[336]

Ansichten von der Gotthardbahn: Uebersetzung des Ficino bei Stalvedro.
Originalzeichnung von J. Nieriker.

[337]

Ansichten von der Gotthardbahn: Eisenbahnbrücke über die Göschener Reuß.
Originalzeichnung von J. Nieriker.

[347] Im Juli 1872 war es, wo die ersten Transporte von Maschinen, Werkzeugen und Baumaterialien die steile Straße nach Göschenen auf der nördlichen und nach Airolo auf der südlichen Seite der Alpen hinanstiegen, wo die beiden Mundlöcher für den Gotthardtunnel zu liegen kamen. Armselige, kaum genannte Orte waren dies damals; heute sind sie in aller Munde und durch die weitläufigen Anlagen der Tunnelbauverwaltung ansehnlich gewachsen. Denn auf viele Jahre mußte hier Unterkommen für Tausende von Arbeitern und Beamten geschaffen werden; es mußten Werkstätten, Magazine, Ställe, Spitäler, Wirths- und Logirhäuser errichtet werden. In den Höhen, von denen der schweizerische Arzt, Philosoph und Dichter Albrecht von Haller singt:

„Der Wandrer sieht erstaunt im Himmel Ströme fließen,
Die aus den Wolken fliehn und sich in Wolken gießen“ –

da rauchen jetzt ohne Unterbrechung Schlote und pochen betriebsame Hämmer, und wer jetzt seinen Weg über den St. Gotthardpaß nach Italien nimmt, der erblickt schon von der Poststation Göschenen aus das „internationale Loch“, wie ein enthusiastischer Reisender die nördliche Tunnelmündung einst genannt hat. Unsere Abbildung (S. 348) führt dem Leser die Stadt Göschenen mit der sogenannten „alten Brücke“ vor, die, vom geschichtlichen Standpunkte aus betrachtet, nicht uninteressant ist. Sind doch über dieselbe in den 1790er Jahren, während des großen Gebirgskrieges, zahlreiche Armeen gezogen, und haben doch um ihren Besitz Franzosen, Russen und Oesterreicher gekämpft. Vergleichen wir nur flüchtig diese alte Brücke mit ihren jüngeren, eisernen Schwestern, welche die schnaubenden Dampfzüge über Abgründe von Berg zu Berg so sicher geleiten! Nichts dürfte den gewaltigen Fortschritt unserer die Schranken der Zeit und des Raumes niederwerfenden Industrie besser illustriren, als eben dieser Vergleich.

Bis jetzt ist kein Tunnel von so großer Länge in Europa ausgeführt worden wie der Gotthardtunnel; derjenige durch den Col de Fréjus, allgemeiner der Mont Cenistunnel genannt, hat allerdings die beträchtliche Länge von deutschen Meilen, steht aber doch noch etwas gegen den Gotthardtunnel zurück, welcher fast genau 2 Meilen lang ist. An sich war, da die bei dem Bau des Mont Cenistunnels gesammelten Erfahrungen reichlich vorlagen, das Unternehmen nach der glücklichen Vollendung des ersteren kein ausnahmsweise kühnes, was aber die Erwartungen nach Inangriffnahme des Werkes auf’s Höchste steigern mußte, war die Kürze der Bauzeit, welche dafür angesetzt worden. Der Mont Cenistunnel hatte eine während 13½ Jahren ununterbrochene Arbeit erfordert, für den noch etwas längeren Gotthardtunnel dagegen waren nur 8 Jahre in Aussicht genommen.

Die Erwartungen sind zwar nicht ganz erfüllt worden, da nach dem Vertrage, welchen die früher erwähnte Gotthardbahngesellschaft im Jahre 1872 mit dem Bauunternehmer abgeschlossen hatte, der Tunnel bereits am 1. Januar 1880 hätte durchschlägig geworden sein müssen, während er es thatsächlich erst 2 Monate später wurde, aber immerhin sind die Leistungen staunenswerth im Vergleich mit denen beim Bau des Mont Cenistunnels.

Nur darf man auf solche Erfolge der modernen Zeit nicht gar zu stolz sein; denn in Wirklichkeit sind selbst diese Erfolge im Verhältniß zu denjenigen, welche das Alterthum mit höchst bescheidenen Hülfsmitteln erreichte, nicht viel großartiger. Mit Maschinen und Dynamit geht die Arbeit leicht von statten, sodaß nur eine kurze Spanne Zeit zwischen dem Entschluß zur Ausführung und dem fertigen Werke liegt. Was wir aber, gegenüber den heutigen Leistungen, bei den Bauten des Alterthums bewundern müssen, das ist die zähe Ausdauer, welche unter Anwendung der primitivsten Werkzeuge auch dem sprödesten Stoffe gegenüber viele Jahrzehnte lang nicht erlahmte.

Tunnel finden wir schon als unterirdische Grabstätten in Aegypten zur Zeit Ramses des Zweiten (1500 v. Chr.), sowie in Nubien. Assyrier und Meder durchgruben bereits die Felsen zur Anlage von Wasserleitungen, und auch die römischen Bauten weisen großartige Beispiele dieser Art auf. Der Entwässerungstunnel, welcher den See Fucinus mit dem Flusse Liris verbinden sollte, wurde im Jahre 52 v. Chr. vollendet; er ist 3 Meter breit, 6 Meter hoch und deutsche Meilen lang, und 11 Jahre lang haben 30,000 Menschen zu seiner Fertigstellung gearbeitet.

Man bedenke, daß alle diese Arbeiten lediglich mit Meißel, Keil und Schlägel ausgeführt werden mußten! Allerdings kannte man wohl auch seit Urzeiten her ein primitives Sprengen der Felsen, nämlich das sogenannte „Feuersetzen“, welches auch in der Bibel erwähnt wird, Jeremia, 23. Cap., 29. Vers, wo es heißt: „Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?“ Das Verfahren bestand darin, daß man vor die zu öffnende Felswand mächtige Feuer legte, wodurch das Gestein mürbe wurde und Risse erhielt, welche der Arbeit des Meißels zu Hülfe kamen. Auf Jahrhunderte hinaus blieb dies das einzige Hülfsmittel des Bergmannes bei dessen mühevollen unterirdischen Arbeiten. So lange konnte aber auch von einem wirklich erfolgreichen Bergbau nicht die Rede sein, und die ergiebigsten Stollen mußten verlassen werden, wenn der Felsen einigermaßen hart wurde. Selbst mit der Erfindung des Pulvers war noch nichts für den Bergbau und die Felsensprengung gewonnen; denn seltsamer Weise dauerte es noch drei volle Jahrhunderte, ehe man lernte, die für die Kriegskunst längst ausgebeutete Kraft des Pulvers auch für die Industrie nutzbar zu machen. Feldminen kannte man bereits vor der Erfindung des Pulvers dabei wurden jedoch die angegriffenen und untergrabenen Objecte nur dadurch zum Einstürzen gebracht, daß die das Erdreich künstlich stützenden Balkenwerke angebrannt wurden. Aber nach Erfindung des Pulvers behielt man diese unsichere Methode noch länger, als ein ganzes Jahrhundert bei, und erst gegen 1500 kam in Italien die Sprengung von Pulverminen auf. Nach Mitteleuropa gelangte diese militärische Erfindung erst im Laufe des sechszehnten Jahrhunderts; im dreißigjährigen Kriege war sie bereits allgemeiner bekannt und hat da ihre Schuldigkeit nicht nur an den Wällen der Festungen, sondern auch bei mancher der durch die Gegenreformation dem Untergange geweihten protestantischen Kirchen gethan.

Zu diesen Arbeiten wurden ausschließlich deutsche zünftige Bergleute gewählt, die damals von den Kriegsheeren in aller Herren Länder mitgeführt wurden, und diesem Umstande ist wohl der endliche Uebergang der Kunst des Minensprengens auf den Bergbau zu verdanken; Bergleute, die bisher als „Pixenmeister“ im Solde gestanden hatten, werden es wohl gewesen sein, welche bei ihrer Rückkehr in den alten verlassenen Stollen das neue Hülfsmittel hier zur Anwendung brachten.

Ein deutscher Bergmann, der sächsische Oberbergmeister Martin Weigel, gilt als der Vater der Erfindung, da er nachweislich im Jahre 1613 davon Gebrauch machte. Die weitere Verbreitung des Verfahrens wurde durch den dreißigjährigen Krieg zwar etwas verhindert, aber 1643 wurde sie doch bereits im Freiberger Bergrevier allgemein angewendet.

[348] Mancher Verbesserung bedurfte es noch, ehe die Kunst des Grubenschießens zur heutigen Vollendung gelangte, aber in dieser Gestalt trat sie alsdann mit all ihrer Macht in den Dienst der Cultur. Die anfangs in den Ebenen und auf bequemem Terrain sich entwickelnden Eisenbahnen erweiterten ihre Netze von Jahr zu Jahr, stiegen allmählich höher die Thallehnen hinan und standen endlich vor den verschlossenen Bergen. Da kroch der Pixenmeister wieder aus seinem Stollen und trat in den Sold des Eisenbahningenieurs, wie er vor Jahrhunderten in dem der Kriegsherren gestanden hatte. Da hallten die Berge wieder von Tausenden von Schüssen; himmelhohe Felswände fielen, und tiefe Einschnitte drangen in den Boden. Aber auch damit war es nicht genug. Die Canaltunnel des Alterthums wurden der Eisenbahn zum Modelle; die Zahl der großen Eisenbahntunnel mehrte sich erstaunlich, und bald war kein Berg zu hoch, um nicht durchbohrt zu werden. Die Kräfte wuchsen mit den Zielen, und auch als die Unternehmungslust unserer Tage vor dem mit ewigem Schnee bedeckten St. Gotthard stand, blieb sie ihrer Sache sicher, baute auf die Fortschritte der Kunst und erhoffte zuversichtlich ein glückliches Gelingen. – Louis Favre[WS 1] hieß der kühne Mann, der es unternehmen wollte, das große Werk in acht Jahren, um ein volles Jahr rascher, als alle seine Concurrenten, und noch dazu um fünfzehn Millionen Franken billiger auszuführen – eines Zimmermannes Sohn und selbst ein bloßer Zimmermann. Er war in der Genfer Gegend geboren worden, hatte sein Handwerk tüchtig erlernt, und war dann im Jahre 1853, siebenundzwanzig Jahre alt, nach Frankreich gegangen, wo er anfänglich größere Zimmerwerke, Dachconstructionen u. dergl. ausführte, später aber auch ganze Bahnstrecken zur Ausführung übernahm. Hierbei lernte er den Tunnelbau kennen, und bereits 1855 führte er für französische Eisenbahnen Tunnelbauten aus; auch um die Ausführung des Mont Cenistunnels bewarb er sich, wenn auch vergeblich.

Ansichten von der Gotthardbahn: Göschenen mit der alten Brücke.
Originalzeichnung von J. Nieriker.

Bei heutigen großen Bau-Unternehmungen ist es zumeist nicht der Unternehmer, dessen nach der glücklichen Vollendung dankbar gedacht wird, sondern vielmehr der Erdenker derselben; nicht den Maurer- oder Steinmetzmeister feiert man, sondern den Architekten, der das Werk ersann. Nur bei Tunnelbauten ist es anders – und mit Recht; denn wenn es auch wohl seine Schwierigkeiten hat, eine Tunnellinie so zu projectiren, daß sie allen Anforderungen genügt, so ist das doch noch immer verhältnißmäßig kinderleicht im Vergleich mit der Aufgabe, das Loch zu bohren; denn jede Gebirgsart erfordert hierbei eine andere Behandlungsweise; die Beschaffung der nöthigen Maschinenkraft in diesen schwer zugänglichen Höhen macht die größten Schwierigkeiten, und selbst die Heranziehung und Zusammenhaltung des nöthigen Arbeiterpersonals ist keine leichte Aufgabe, ganz abgesehen von den Erschwernissen, unter denen für ein derartiges, dem Ausgange nach so zweifelhaftes Unternehmen das nöthige Capital aufzufinden und stets flüssig zu erhalten ist – wahrlich eine Reihe von Schwierigkeiten, denen nur ungewöhnliche Naturen gewachsen sein[WS 2] können. Louis Favre war eine solche ungewöhnliche Natur. Er hatte das Temperament der Genfer: er war Euthusiast, aber zugleich voll zäher, unbesiegbarer Ausdauer dem einmal begonnenen Werke gegenüber.

Die Schwierigkeiten blieben nicht aus; sie kamen sogar in nicht geahnter Fülle: der Stollen am Südende des Tunnels hatte sehr unter starkem Wassereindrange zu leiden, und am nördlichen Stollen zeigte sich eine an hundert Schritte lange Strecke, wo der Fels trotz steter Ausbesserungen in fortwährender Bewegung blieb, wo er die Zimmerung und selbst das Gerölle zerdrückte. Krankheiten zeigten sich bei den Arbeitern, und man glaubte bei einer großen Zahl derselben einen Eingeweidewurm gefunden zu haben, welcher die Leute blutleer, melancholisch und unlustig zur Arbeit machte; Unruhen brachen aus; Militär mußte einschreiten. Große Unfälle ereigneten sich. Dynamitlager explodirten, und Hunderte von Arbeitern kamen bei unzeitig erfolgten Minenentzündungen um oder wurden im Dunkel des Tunnels von den Förderwagen überfahren oder von losbröckelnden Felsstücken erschlagen.

Auch finanzielle Verwickelungen blieben nicht aus; ja die Gotthardbahngesellschaft selbst kam in Geldverlegenheiten, welche ungünstig auf die Unternehmung wirken mußten; endlich gab es [349] zwischen der Tunnelbau-Unternehmung und deren Bauherrn, der Gotthardbahngesellschaft, Streitigkeiten, welche zu langwierigen Processen und sogar zur theilweisen Einstellung der Tunnelarbeiten führten. Aber trotzdem schritt das Werk rüstig fort. Ende Februar 1880 hörten die Bergleute einander bereits in den beiden Stollen, die nördlich und südlich des Gotthard vorgetrieben worden waren, und am 25. desselben Monats stieß eine Sondirungsstange, die an dem einen Stollen eingesetzt worden, auf den anderen und kam hier zum Vorschein; Sonntag den 29. Februar endlich, Mittags 11 Uhr 20 Minuten, fiel unter Glockenläuten, Hurrahrufen und Böllerschüssen die letzte Wand.

Nur ein Schmerz trübte das Fest, das sich an den Stollendurchbruch knüpfte: Louis Favre hatte es nicht mehr erleben sollen. Er war am 19. Juli des vorangegangenen Jahres, also kurz vor der Vollendung des Stollens, im Tunnel selbst, mitten in der Arbeit, gleich einem Soldaten, der in der Schlacht fällt, gestorben. Zu Fuß hatte er noch am Morgen desselben Tages den fast eine Meile weiten, bei der hier herrschenden großen Hitze außerordentlich beschwerlichen Weg gemacht; auf dem Rückwege ergriff ihn ein Unwohlsein; er bat um ein Glas Wasser, und wenige Minuten darauf war er verschieden – vom Schlage getroffen.

Louis Favre, der Erbauer des Gotthardtunnels.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

Schwer wurde er von den Seinen, seinen Ingenieuren und Arbeitern vermißt; mit Thränen gedachte man seiner im Jubel des Stollenfestes, welches Alle, die bis dahin an dem Werke mitgearbeitet hatten, im Frühjahr 1880 vereinigte, aber die Arbeit ging jetzt nicht minder schnell vorwärts. Nur um zwei Monate später, als das Bauprogramm es verlangte, war der Durchschlag der beiden Stollen geschehen, und im Herbst 1881 war auch die Erweiterung des Tunnels überall durchgeführt, die Auswölbung hergestellt und das Geleise gelegt. Im November fuhren die ersten Züge durch den Tunnel, und am 2. Januar dieses Jahres wurde die Strecke zwischen Göschenen und Airolo dem öffentlichen Verkehr übergeben.

Damit war das Hauptwerk der Gotthardbahn, an dessen glücklicher Durchführung auch in den Kreisen hervorragendster Sachverständiger fast bis zuletzt gezweifelt worden, vollendet; die Fertigstellung der beiderseitigen Anschlußstrecken ließ, nachdem auch hier die zahlreichen und ihrer Construction wegen schwierigen Tunnels (die in ihrer Construction verwickeltste Partie der Gotthardbahn, die Entwickelung derselben an der Biaschina, stellt unsere heutige Abbildung, S. 353, dar), ausgeführt worden, nicht lange auf sich warten. Heute ist die gesammte Strecke der Gotthardbahn fertig; festgegründet, bewehrt gegen tückische Wetterlaunen, Hochwasser, Schnee und Lawinen, ist sie bereit, mit all ihren Waffen in den vielseitigen Kampf einzutreten, den Industrie und Verkehr zu kämpfen hat. – Möge man bei der Eröffnung der Gotthardbahn all Derer gedenken, welche ihre Kräfte je nach Begabung vereinigt haben, um das Werk zu zeitigen! Möge man der Staatsmänner gedenken, welche mit weit voraus schauenden Blicken die Bedeutung des Unternehmens erkannt und gefördert, der Ingenieure, welche es entworfen, des Unternehmers, welcher es in die That übersetzt – aber auch der Bergleute und sonstigen Arbeiter, welche mit schwieliger Faust den Meißel geführt und die Steine gefügt haben, um das Unternehmen zu vollenden! Der gesammten Menschheit, dem ganzen Jahrhundert gereicht es zur Ehre; Jahrhunderte werden es nicht vernichten können. Möge das vollendete Werk deshalb auch auf Jahrhunderte hinaus der Menschheit einen neuen Anstoß zum internationalen Wettstreit der Künste des Friedens geben!
Franz Woas.     



[353]

Ansichten von der Gotthardbahn: Entwickelung der Bahn an der Biaschina.
Originalzeichnung von J. Nieriker.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Louis Favre, Bauunternehmer und autodidaktischer Ingenieur
  2. Vorlage: kein