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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1895
Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[117]

Nr. 8.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Echt.

Erzählung von R. Artaria.


Der Zug hielt noch im Salzburger Bahnhof. Nicht der große Wien-Pariser Eilzug mit seinen Sammetcoupés und deren dichtgedrängtem Inhalt von karrierten Ueberziehern und schleierumgebenen Filzhütchen unter Bergen von Handgepäck – nein, der bescheidene Bummelzug, die Reisegelegenheit der kleinen Leute, dessen Wagen leere Gepäcknetze und außerdem Fensterplätze genug zum Auslugen rechts und links bieten. Er hat es niemals eilig, dieser Zug, er hatte es auch nicht an dem scharfkalten Februarmorgen, da unsere Geschichte beginnt. Seine Thüren standen alle noch sperrweit offen, mit Ausnahme derjenigen des Damencoupés, welche eine vorsichtige Hand kurz nach dem Oeffnen wieder beigelegt hatte in der stillen Hoffnung auf Weitergenuß der bisherigen Ungestörtheit.

Sie gehörte zu den erfahrenen Reisenden, die große ältliche Dame mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, das ergab sich aus der Art, wie sie die beste Aussichtsecke in Beschlag genommen und sich mit Handgepäck und Reisedecke wohnlich darin eingerichtet hatte. Auf den shawlumwickelten, emporgezogenen Knien hielt sie ein Schreibmäppchen und benutzte, nur hier und da einen Blick aus dem Fenster werfend, die noch übrige Wartezeit zum hastigen Zeilenfüllen.

„Nur noch zwei Stunden Alleinsein,“ seufzte sie aufblickend, als jetzt beim ersten Glockenzeichen sich einiges Leben auf dem Perron zu regen begann, „und mein Feuilleton wäre beendet. ‚Zu Fuß über den Königssee‘ macht sich nicht schlecht, ich werde bei dem Titel bleiben. Heute abend in München die Reinschrift, morgen gleich expediert – dann käme es noch gerade recht für die Sonntagsnummer. O, nur nicht im letzten Augenblick noch eine Mutter mit Vieren, die durchaus hier herein muß. Die anderen Mitschwestern steigen ja doch alle mit Vorliebe ins Nichtrauchcoupé!“

Aber auch erfahrene Leute irren sich manchmal. Während die scharfen Augen der Reisenden noch den ganzen Perron nach den gefürchteten Vieren abspähten, öffnete sich vor ihren Knien sanft aber unaufhaltsam die Coupéthüre und ein ältliches Mannsgesicht mit friedfertigen Augen und einem harmlosen grauen Schnurrbärtchen lugte herein.

„Hier ist Damencoupé!“ herrschte sie ihm entgegen.

„Weiß wohl!“ erwiderte der kleine Herr. „Eben darum – habe die Ehre, Gnädigste! Tonerl,“ wandte er sich rückwärts nach einer schlanken Brünette, die ihm mit dem gepäcktragenden Mädchen folgte, „da komm’ her, da ist der schönste Platz für Dich, steig’ nur gleich ein!“

Und beflissen hob er zuerst die leichte Gestalt des Töchterleins und dann ihr vielfaches Handgepäck, verschnürte Pappschachteln und einen altersgrauen Reisesack, hinein. Die Dame warf einen Blick der Mißbilligung auf seine bauchige Fülle und die Balancierbewegungen des kleinen Mannes, der seine Kraft zusammennehmen mußte, um ihn glücklich ins Netz zu heben.

Endlich war alles untergebracht und der männliche Eindringling trat aus dem Heiligtum zurück. Fräulein Toni ließ sich auf den Sitz nieder, schlug die Füße übereinander, wippte ein wenig hin und her und lächelte mit ermunterndem Kopfnicken den


Ludwig Fulda.
Nach dem Gemälde von W. Auberlen.

[118] Papa draußen an, der in ungewisser Haltung immer von einem Fuß auf den andern trat.

Die Reisegefährtin ließ den prüfungsgewohnten Blick über das Persönchen ihr gegenüber streifen, aus dessen lebhaften braunen Augen die ganze Reiseerwartung in hellem Vergnügen funkelte. Hübsch war sie, die Kleine, ohne Zweifel. Ueber den etwas zu dicht gekrausten Stirnlöckchen saß ein etwas zu kühner grauer Federhut, der indessen gut stand zu dem bräunlichen Gesichtchen und dem frischen Wangenrot. Das kleine Jackett von billigem Stoff hob ein allerliebstes Figürchen heraus. Die Handschuhe waren ebensowenig tadellos wie das Portemonnaie, welchem sie soeben das Billet anvertraute.

Zur Salzburger Aristokratie gehörte demnach Fräulein Toni nicht, auch nicht zum reichen Bürgerstand, dies war das Ergebnis des kurzen Musterungsblickes. Die Schriftstellerin rückte sich gleichgültig in ihrer Ecke zurecht und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ausschließlich dem Manuskripte zu.

Der kleine Mann stellte daraufhin sein Verlegenheits-Getrippel ein, schaute das reisefrohe Töchterlein eine Weile besorgt an und äußerte endlich das Resultat seines Nachdenkens in den Worten: „Wenn Dir nur nichts passiert, Tonerl!“

„Was soll mir denn passieren, Papa?“ erwiderte sie munter. „Hier im Damencoupé ist doch das unbedingte Numero Sicher.“

Sie warf einen mutwilligen Blick nach dem abweisenden Gesicht in der Fensterecke. „Ein Buch hätt’ ich vielleicht noch’ mitnehmen sollen – zur Unterhaltung!“

„Gieb nur recht acht auf das Handgepäck,“ setzte er seinen vorigen Gedankengang fort.

„Ja.“

„Und laß in Rosenheim, wenn’s zum Essen geht, die Coupéthür schließen, daß Dir nichts wegkommt. Ich hätte doch vielleicht lieber bis dorthin mitfahren sollen, daß Du nicht ohne Schutz gewesen wärst.“

Fräulein Toni schien große Lust zu einem Heiterkeitsausbruch zu haben, auch um die Mundwinkel der anderen spielte ein Lächeln über einen solchen Beschützer.

„Aber Papa, ich bitt’ Dich!“ rief jetzt Toni lustig. „Ein solches Kind bin ich doch nicht mehr, daß ich die paar Packerln nicht glücklich nach München bringen sollt! Mach’ Dir nur gar keine Gedanken. Und grüß’ mir die Mama noch recht schön!“

„Ja.“

„Und die Burgi auch.“

„Werd’s bestellen.“

„Ich möcht g’rad’ nur wissen,“ dachte Toni während dieser letzten Augenblicke, „ob denn je ein Mensch ’was Gescheites reden kann so aus dem Waggon und von draußen herein. Meiner Lebtag hab’ ich’s noch nicht gehört. Und der Papa und ich, wir machen’s jetzt gerade so. Na, Gott sei Dank, da geben’s ja das Signal! Behüt’ Gott, Papa!“ rief sie erleichtert, warf noch eine Kußhand durch das Fenster der zuklappenden Coupéthüre, dann ein Pfiff, ein Ruck, und hin rollte der Zug über das im Wintersonnenschein glänzende Alpenvorland.

Fräulein Toni setzte sich zurecht und begann nun ihrerseits, die Reisegefährtin zu mustern. Puh – nichts Elegantes! Ein alter Winterpaletot, ein gelbes Gesicht mit einer großen Nase, ein verschossenes Seidentuch über den ergrauenden Scheitel geknüpft, denn der Hut – himmlischer Vater, welch ein Altertum! – baumelte droben im Netz. Dieser Erscheinung fühlte sich Fräulein Toni sofort überlegen. Sie hatte nur vor Elegantheit einen ungemessenen Respekt. Hier aber stellte offenbar sie selbst die Feine vor und sie beschloß, sich demgemäß zu betragen. Also behielt sie gleich einmal die Handschuhe an, obwohl es sonst ihren Fingern nur ohne solche wohl war, lehnte sich nachlässig im Sitz zurück und beobachtete ein vornehmes Schweigen, während der Zug nach dem Verlassen des Bahnhofes eine lange Zeit an verschneiten Krautäckern und Wiesen vorüberfuhr.

Endlich hielt er. O Jesus, erst Freilassing! Aber das war ja nicht zum Aushalten, so eine Langweiligkeit, und wenn das bis München so fort gehen sollte … nein, da war es immer noch besser, die alte Jungfer anzureden!

„Stößt Sie denn das nicht arg beim Schreiben?“ fragte sie teilnahmsvoll.

Die scharfen grauen Augen sahen einen Augenblick herüber.

„Ich bin es gewohnt,“ erwiderte die Schriftstellerin nicht ganz so abweisend, als sie eine andere Frage beantwortet haben würde. „Ich reise und schreibe das ganze Jahr.“

Das bewundernde Erstaunen des Mädchens, welchem noch niemals ein schriftstellernder Mensch in Fleisch und Blut vor Augen gekommen war, verfehlte nicht seine besänftigende Wirkung auf die im besten Gedankenfluß Gestörte. Sie legte, freilich mit unterdrücktem Seufzen, den Bleistift nieder, um, wie sie sich innerlich zum Troste sagte, hier einstweilen ein Stück Volkstum zu studieren und vielleicht aus den Angaben der Kleinen ein paar wertvolle Notizen über billige Unterkunft in dem für ihre Verhältnisse so unbequem teueren Salzburg zu erlangen. Sie hatte die Kunde der billigen und guten Gelegenheiten in dem gesamten deutsch-österreichischen Reisegebiet fast bis zur Wissenschaft ausgebildet und benutzte eifrig jede Gelegenheit, etwaige Lücken im Netze auszufüllen.

Und so geschah es, daß schon bald, ehe der Zug noch von Freilassing abgedampft war, ein gemütliches Gespräch zwischen den beiden zum Schweigen Entschlossenen im Gange war. Zuerst erfuhr die junge Toni, daß sie die Ehre habe, mit der rühmlichst bekannten, von Verlegern und Redakteuren höchst gesuchten Berichterstatterin und Reiseschriftstellerin Sophie Panke zu fahren. Sie fühlte sich freilich sehr zerknirscht, keinen von deren zahlreichen bedeutenden Artikeln gelesen zu haben, ja, wenn sie hätte ehrlich sein wollen, nicht einmal ihren Namen zu kennen, aber sie vertuschte diese unverzeihlichen Mängel nach Kräften und erkundigte sich im übrigen so angelegentlich nach dem in Entstehung begriffenen jüngsten Werk, daß die Schriftstellerin ein menschliches Rühren fühlte und sich zur näheren Auskunft herbeiließ.

„Ein kleines Ding nur – aber effektvoll! Resultat dieses strengen Winters. Man muß sich alles zu nutze zu machen wissen. Vorgestern las ich in München, daß der See ganz zugefroren sei, fuhr also gleich nach Berchtesgaden – heute habe ich mein Feuilleton in der Tasche.“

„Und da sind Sie wirklich zu Fuß nach Bartlmä gelaufen?“ fragte das Mädchen mit großen Augen.

„Nun – soweit, als es nötig war, um das richtige Lokalkolorit und die Stimmung heraus zu bekommen, dann setzte ich mich in einen vorüberkommenden Schlitten, es war auch so noch kalt genug. Aber ich wunderte mich, daß nicht halb Salzburg auf dem herrlichen Spiegeleis Schlittschuhe lief.“

„Warum nicht gar! So lang in der Kälten fahren, um eine Stunde Schlittschuh zu laufen! Das haben wir viel näher in Leopoldskron, dort ist das schönste Eis und Musik auch noch.“

„Und nette Leute dazu, nicht wahr?“ neckte Fräulein Panke.

„Na – passiert!“ meinte Toni gleichmütig. „Wenn die paar Offiziere nicht wären – wegen den anderen wär’s nicht der Mühe wert, hinauszugehen. Was man so interessante Leute heißt, das giebt’s bei uns nicht. Mein Schwager sagt immer: Salzburg wäre eine sehr schöne Stadt, wenn nur keine Salzburger drin wären!“

„Na aber hören Sie! Das scheint mir doch ein sehr subjektiver Standpunkt Ihres Herrn Schwagers. In Salzburg, der berühmt schönen und als Aufenthalt gesuchten Stadt giebt es doch gewiß eine Menge angenehmer, gebildeter Menschen zum Umgang –“

„Das kann schon sein, aber die ich kenne, sind halt langweilig. Oder vielmehr, es ist langweilig in Salzburg, es steht ordentlich die Zeit still, und passieren thut das ganze Jahr nichts. Das muß bei Ihrem Leben schon anders sein mit Ihren vielen Reisen!“

„Möchten Sie tauschen?“

„O, auf der Stelle!“ rief Toni.

„Nun, sehen Sie, ich gäbe manchmal meinen Sommer auf Reisen gern für ein behagliches Leben in einer der hübschen Villen, wie sie in Ihren Salzburger Vorstädten stehen.“

„Na, in einer Villa, das ginge am Ende auch noch, da wohnen ja lauter reiche Leute, die ’s gut haben. Aber unsere Stadtwohnung in der Getreidegasse, da möchten Sie auch nicht hin.“

„Nun, eine junge Dame in Ihrem Alter kann ja bald die Wohnung ändern,“ spielte Fräulein Panke an.

„Ueber die Gassen hinüber, in ein Gewölb’ mit Spezereiwaren – na, ich dank!“ erwiderte die Kleine aufrichtig. „Das könnt’ ich freilich alle Tage haben, wenn ich nur möchte, aber ich muß schon sagen, das tauget mir nicht!“

„Sie möchten höher hinaus?“ sagte die andere, belustigt von dieser Unumwundenheit.

„Ja!“ versetzte Toni ohne Zögern, mit lebhaft glänzenden Augen. „Ich möcht’ einmal etwas ganz Apartes haben. Sie [119] müssen nicht denken, daß ich mir selber so apart vorkomme, aber ich meine eben, das Heiraten muß nicht auch so ein alltägliches Geschäft sein, wo man sich erst besinnt, mag man eigentlich oder mag man nicht. Das kommt mir zu armselig vor, gerade wie Talmigold gegen ein echtes. So ein gewöhnlicher gutmütiger Mann – können Sie die sanften Männer leiden, Fräulein?“

„Warum nicht? Fürs Haus sollen sie die besten sein.“

„Na, da danket ich schönstens dafür, das wär’ mir zu zahm. Nein, ich denk mir immer, ein Mann muß sein wie ein Vulkan, donnern und blitzen, daß man sich fürchtet, weil man weiß, er ist imstande, einen totzustechen aus Eifersucht. Und rasend interessant muß er sein und zugleich so unsinnig verliebt – kurz, ein wahrer Abgrund von Leidenschaft, ja lachen Sie nur, das ist halt einmal mein Ideal!“

„Und weil Sie das in Salzburg nicht finden, deshalb reisen Sie fort?“

„Schauens, das haben Sie jetzt g’rad’ getroffen,“ fuhr Toni lebhaft heraus. „Mir ist der Salzburger Karneval doch so fad, mit die paar langweiligen Bäll’! Mitten heraus geh’ ich jetzt fort, nach München zu dem Künstlerfest, das wird anders lustig werden!“

„Haben Sie dort Verwandte?“

„Nun freilich. Ist ja der Volkhard mein Schwager.“

„Sie meinen doch nicht den Maler Volkhard? den berühmten Volkhard?“

„Accurat den meine ich. Sehe ich vielleicht aus, als ob ich keine Schwester haben könnte, die einen berühmten Maler geheiratet hat?“

„Natürlich nicht“ – Fräulein Panke erschöpfte sich in Versicherungen des Gegenteils, und ihr Ton wurde sehr warm dabei, denn die braunäugige Toni erschien ihr plötzlich in ganz neuem, bedeutendem Licht. Schwägerin von Volkhard! Einziehend in das berühmte Haus an der Schwabinger Landstraße, dessen Inneres den Neugierigen so fest verschlossen blieb, daß sogar die unternehmende Sophie Panke noch keinen Vorwand zum Eindringen gefunden hatte – ja, mehr noch, selbstverständliche Genossin der „oberen Götter“ beim bevorstehenden Künstlerfest im Odeon! Diese unbedeutende kleine Salzburgerin mit den lachenden Augen und dem fragwürdigen Deutsch! Fräulein Panke fühlte sich wieder einmal gegen das Schicksal empört. Sie selbst hatte nur mit großer Mühe eine Karte erhalten und kannte niemand von den berühmten Hauptfiguren des Zuges. Sie würde nur aus der Entfernung sehen, was dieses Kind mit unbewußten Augen so verständnislos anstarren würde, wie etwa ein kleiner Seidenspitz, den man im Zuge mitführt! O, es war schändlich! –

Aber bald gewann die Reporterin in ihr wieder die Oberhand und mit vorsichtigen Fragen suchte sie eine Anzahl interessanter Personalnotizen über Volkhard dem Munde seiner Schwägerin zu entlocken. Auch hier harrte ihrer eine Enttäuschung. Die hübsche Toni wußte zwar, daß Volkhard „ein Heidengeld“ mit seinen Bildern verdiene, auch konnte sie dies oder jenes namhaft machen, zu welchem „die Resi“ oder sie selbst gesessen, aber jeder Versuch, nach Denkungsart oder Charakterzügen des Berühmten zu forschen, scheiterte an Tonis mangelhafter psychologischer Begabung. Daß er manchmal „recht kurios“ sein könne, gab sie zwar zu, welcher Art und Richtung aber seine Kuriositäten angehörten, war aus ihren vagen Antworten nicht herauszubringen, so daß Fräulein Panke schließlich von dem Versuch abstand, durch dieses undurchsichtige Medium einen Blick in die Tiefen einer Künstlerseele zu thun.

Desto bereitwilliger erzählte Toni von dem schönen Haus, und wie gut es ihre Schwester darin habe, abgesehen natürlich von den bewußten Kuriositäten. Die drei Kinder seien herzig, wahre kleine Engerln mit den schönsten Haaren. Toiletten habe die Resi, daß es nur so eine Pracht sei, schwere Seide, Sammet und Spitzen, alles „ganz echt“, und sie sei wirklich eine wunderschöne Frau. „Warten Sie, ich zeige Ihnen die Photographie.“

Toni griff über sich, holte den Reisesack herunter und entnahm ihm eine kleine Ledermappe voll Photographien und Briefe. Einer davon, in länglichem blauem Couvert, fiel während des Oeffnens zu Boden. Fräulein Panke hob ihn auf und las die in schwunghafter Kaufmannshand geschriebene Adresse: Fräulein Antonie Burghofer, hierselbst. Sie reichte ihn dem Mädchen, das mit flüchtigem Erröten danach griff und ihn rasch wieder zu den anderen in das Mäppchen schob. Dann betrachtete jene das dargebotene Bild der schönen Frau im spitz und tief ausgeschnittenen Gesellschaftskleid: ein über die Achsel zurückgewandtes Profil mit niederer Stirn unter dichtem Haarknoten, feiner geraden Nase und großgeöffnetem Auge. Die Aehnlichkeit mit der jüngeren Schwester war unverkennbar, freilich war Frau Resi ohne Frage viel schöner als Toni, aber der Ausdruck des Kopfes stand nicht auf der Höhe seiner Linien.

„Nicht wahr – dekorativ?“ fragte Toni triumphierend. „So sagt mein Schwager immer, wenn er von Resi spricht.“

„Ja, sehr ‚dekorativ‘,“ erwiderte die andere. „Man könnte kein besseres Wort finden. Haben Sie auch ein Bild Ihres Schwagers?“

Toni durchblätterte das Päckchen Photographien. „Nein, der ist nicht da. Aber sehen Sie einmal den Papa, ist er nicht gut getroffen?“

„Ja freilich!“ Fräulein Panke betrachtete ergötzt das ängstliche Männchen mit dem gewaltsam würdevollen Photographiegesicht. „Und das ist wohl Ihre Frau Mutter?“ Sie deutete auf eine breit hingesetzte, unendlich gutmütig aussehende Frau mit sehr großen dunkeln Augen.

„Ja, ja. Die arme Mama! Sie ist viel krank, deswegen leben wir auch so still, sie kann gar nichts vertragen von Lustbarkeiten und dergleichen.“

„Ihr Herr Vater ist wohl Beamter?“

„Er ist jetzt pensioniert, er war früher beim Zoll angestellt. Warten Sie, jetzt muß ich Ihnen Volkhards Kinder noch zeigen.“

Während ihre Gefährtin die schönen Blondköpfe bewunderte, entströmten dem Munde der jungen Tante Erzählungen, die manchen Kilometer überdauerten. Fräulein Panke hörte erst mit Ergebung zu, dann mit Interesse, und als der Zug in Rosenheim einfuhr, begaben sich beide als ganz gute Freunde zu dem bescheidenen Genuß eines Bahnhofsmittagessens. Die weiteren Stunden bis München verflogen schnell, die Schriftstellerin mußte zwar definitiv auf Beendigung ihres Feuilletons verzichten, aber eine leise Hoffnung, Anknüpfung mit Volkhard betreffend, sproßte in ihrer Seele empor. Wenn das möglich war, dann wollte sie den Zeitverlust noch segnen!

Und siehe! Das Glück schien günstig. Als der Zug im Bahnhof stand, streckte Toni den Kopf heraus, um sofort in eifriges Grüß Gott! und Händewinken auszubrechen.

Gleich darauf öffnete ein großer, blondbärtiger Mann, eine wahre Hünengestalt, die Coupéthüre und rief: „Na, Mädel, bist Du glücklich da? Gieb mir Deine Siebensachen, dann schnell heraus, in die Droschke! Kathi, nehmen Sie einmal das Zeugs da zusammen!“

„Ja, Hans!“ rief derweil im höchsten Erstaunen das Mädchen, indem sie seine dargebotene Hand kräftig drückte, „wo muß man denn das hinschreiben, daß Du selbst herkommst mich abholen? Das ist ja fabelhaft liebenswürdig von Dir!“

„Ist nicht so gefährlich,“ lachte er dagegen, „komme doch gerade des Wegs vorüber, da wollte ich schauen, ob Du glücklich da bist. Ich muß auch gleich weiter, will Dich nur noch in die Droschke setzen. Sind wir’s? Also voran!“

„Einen Augenblick!“ Toni wandte sich nach der mittlerweile auch ausgestiegenen Reisegenossin zurück, deren Blicke mit größtem Interesse an Volkhards energischen Zügen hingen. „Das ist Fräulein Panke, mit der ich von Salzburg hergefahren bin. Eine berühmte Schriftstellerin. Sie war sehr gut gegen mich. Ich danke auch nochmals bestens, Fräulein.“

„Sehr verbunden,“ sagte der Maler mit einem kühlen Blick auf das ältliche Gesicht, indem er oberflächlich den Schlapphut lüpfte: „Habe die Ehre, mich zu empfehlen, Gnädige!“

Nun war der ersehnte Augenblick da, aber ach! er sollte ungenützt verstreichen! Ehe Fräulein Panke sich soweit gesammelt hatte, um außer dem Händedruck an Toni etwas ihrer und der Situation Würdiges hervorzubringen, empfing sie den Abschiedsgruß Volkhards, der seine Schwägerin an den Arm nahm und sich zum Gehen wandte.

Im nächsten Augenblick war sein breiter Paletotrücken und Tonis zierliche Taille in dem Gedränge der ausgestiegenen Reisenden spurlos verschwunden.


[120]

2.

Es war schon ein paar Jahre her, seit Toni, damals noch ein schmächtiges Backfischlein, zum letztenmal auf Besuch in München gewesen war, seither hatten sich die Schwestern nur bei den Sommeraufenthalten der Familie Volkhard im Salzkammergut gesehen. Deshalb freute sich nun die Kleine „unbändig“, im erwachsenen Zustand wieder einmal das schöne behagliche Haus zu betreten, welches für sie in der Enge ihrer Salzburger Verhältnisse den Inbegriff alles Wünschenswerten vorstellte. Auch das Zusammenleben mit der Schwester, dachte sie, müßte jetzt doch ganz anders werden als früher, viel wärmer und zutraulicher – kurz, Toni konnte das Anfahren des Wagens kaum erwarten und bog wieder und wieder den Kopf aus dem Fenster.

Richtig, da schimmerte es ja schon weiß aus den dürren grauen Bäumen hervor. Erst sah man den vorgebauten Balkon, dann die breiten holländischen Fenster mit den gemalten Einfassungen, die Glaswand des Ateliers im Dachstock und zuletzt die zum Turm abgerundete Hausecke mit der in der Eingangshalle zurückliegenden eisenbeschlagenen Hausthüre. Diese flog auf, als der Wagen hielt, und an den Hals der jungen Tante stürzten sich zwei schlanke Mädchen mit wehenden Blondhaaren – Irmgard und Ursula – während der erst zweijährige Hansel auf dicken Wackelbeinchen eifrig hinterherstrebte.

Toni nahm ihn noch in die allgemeine Umarmung mit hinein, war aber unter allem Küssen und Drängen nur bemüht, die Kinder aus der Winterkälte zurück in das durchwärmte dämmerige Treppenhaus zu schaffen. Dort trat ihr auch die Schwester entgegen, eine prächtige Figur im eleganten Hauskleid, die eine Atmosphäre von Veilchenduft um sich her verbreitete. Herzlich faßte sie Toni in ihre kräftigen Arme, küßte sie wiederholt und sagte:

„Na, das ist schön, Kleine, daß Du glücklich wieder da bist! Nun lege nur gleich in Deinem Zimmer droben ab und komme zum Kaffee. Du mußt ja unterwegs tüchtig durchgefroren sein!“

„O nein, der Wagen war geheizt,“ sagte Toni, immer noch bemüht, die eifrigen Bestrebungen der kleinen Patschhändchen auf ihr Gesicht und Haar zu mäßigen.

„Einerlei,“ erwiderte Frau Volkhard, „Hansel, laß doch die Tante! – Du kommst jetzt herauf; warte, ich zeige Dir das jetzige Fremdenzimmer; der kleine Bursche da hat ja das frühere bekommen. Deine Sachen sind schon oben, da richtest Du Dich ein bissel zusammen und kommst gleich wieder herunter.“

Sie wehrte die nachdringenden Kinder ab und stieg mit der Schwester die teppichbelegte Treppe empor. Dann traten sie, im Oberstock angekomnnen, in ein niederes, aber geräumiges und sehr behaglich aussehendes Zimmer. Ein dicker Teppich bedeckte den Boden, rote Stoffvorhänge teilten die halbrunde Fensterwand, das oberste Stockwerk des Türmchens, von dem übrigen Zimmer ab. Frau Resi zündete die von der Decke niederhängende schwere Messinglampe an, und in ihrem Licht erglänzte freundlich die des Gastes harrende Einrichtung: alte Schränke und Polstermöbel, ein hübscher neuer Schreibtisch, das große Himmelbett und das rosa Meißener Porzellangeschirr des Waschtisches.

„Ach, wie hübsch ist es hier, wie gemütlich!“ rief Toni, sich nach der Schwester umwendend. Aber in demselben Augenblick, wo sie diese deutlich im Licht sah, erstarb ihr das Wort im Munde, sie starrte sie einen Augenblick wie verstört an und rief dann im höchsten Erstaunen:

„Ja, nun Gotteswillen, Resi, wie schaust denn Du aus?“ … Ihre Hände, die soeben das Reisetäschchen von der Schulter nehmen wollten, blieben mit dem Riemen unbeweglich in der Luft stehen.

„Nun, ich meine, ich schau’ aus wie alle Tage,“ versetzte Resi gleichmütig.

„Aber Du hast ja Deine schwarzen Haare nicht mehr, bist ja ganz rot geworden, ist denn das gef–“

„Nur mit einer Essenz gewaschen, die sie hell beizt, das macht man ganz leicht in einem Vierteljahr. Der Hans meinte, die dunkeln Augen müßten zu rotem Haar eigentlich noch viel besser stehen als zu braunem – schwarz war ich ja doch nie, Toni! – Und ich muß sagen, ich finde, er hat recht.“ Die schöne Frau drückte wohlgefällig vor dem Spiegel die weichen goldigen Löckchen fester inn die Stirn. „Kommt es Dir nicht auch so hübscher vor, Kleine?“

Diese war der Handbewegnung starr mit den Augen gefolgt.

„Aber Resi,“ flüsterte sie leise, „so hat ja Deine Haut früher auch nicht ausgesehen. Du bist ja auch geschm–“

„Wirst Du jetzt bald fertig sein mit Deiner Verwunderung!“ fuhr die andere geärgert auf. „Das ist ja doch ganz natürlich, daß der Teint auch hergerichtet werden muß für rot. Darüber faß’ Dich jetzt nur gleich ein für allemal und mach’ vor dem Hans keine Bemerkungen. So was verträgt er nicht, das weißt Du!“

Toni war es gewohnt, von der Aelteren zurecht gewiesen zu werden, sie machte sich also schweigend daran, das uralte rostige Hängeschloß ihres Reisesackes zu öffnen, und Resi griff zu, um zu helfen. Während die einfachen Toilettegeräte auf den schönen Waschtisch verteilt wurden, entspannn sich das Gespräch von neuem, und über den Erzählungen von Papa und Mama hatte die gutherzige Toni rasch den unangenehmen Eindruck vergessen. Um so mehr, als ihr die so veränderte Schwester nach kurzer Zeit wirklich viel „aparter“ so vorkann. Sie selbst war halt ein kleinstädtisches Ding und verstand nichts von dem künstlerischen Geschmack!

(Fortsetzung folgt.)


Der Tiger von Plessis-les-Tours.

Von Ernst Hutten.
(Mit dem Bilde S. 121.)


Leise öffnet er die Thür, der alte König Ludwig XI., und tritt mit schleichendem Schritt in das Genach ein, in das man auf seinen Befehl den seit zwölf Jahren in seinem Käfig schmachtenden Verräter La Balue gebracht hat. Die hagere Gestalt des kranken Königs hebt sich kaum von der dunklen Pforte ab. Der Tyrann hat die Pelzmütze, die mit dem abgeschabten Rock die übliche Kleidung dieses geizigsten aller französischen Herrscher bildete, halb ins Gesicht gedrückt und sieht mit lauerndem und zugleich gierigem Blick seiner kalten, tückischen Augen auf den Gefangenen im Käfig. Aber in seinem Auge liegt zugleich eine Art von Scheu und fast eine Spur grauenvollen Mitleids, soweit der greise Einsiedler von Plessis-les-Tours dessen fähig ist; denn der abgezehrte Mann im Käfig hat einst einen starken Einfluß auf ihn geübt, und er stand sogar seinem Herzen nahe. Schwer gebeugt und niedergedrückt von der Last der Kette, mit der er an das Gitter des Käfigs geschmiedet ist, zugleich körperlich herabgekommen und elend durch seine langjährige Kerkerhaft, blickt der ehemalige Minister und Günstling auf seinen Herrn, mit dem er einst gemeinsame Pläne geschmiedet zur Stillung von dessen Herrschbegier und Rachsucht. Aber trotz der erlittenen Gefängnisqualen hat sein Antlitz und seine Haltung einen Zug von Selbständigkeit und Trotz bewahrt, als dächte er daran, daß er im heiligen Rom an dem Papst Paul II. einen Rückhalt hat, der ihm immer noch Aussicht auf eine Erlösung von seinem Schicksal gestattet. …

Cynisch und in brutaler Haltung steht der berüchtigte Generalprofoß des Königs, Tristan, der furchtbare Henker und Präsident aller exekutiven Justizakte seines grausamen Herrn, an der Seite des Käfigs, hinter dem Rücken die Schlüssel wie im Spiele hin- und herschwenkend. Mitleid aber, teils gemischt mit Neugierde, teils auch vollkommen ehrlich und teilnahmsvoll, zeigen die anderen Anwesenden, namentlich aber der am weitesten Zurückstehende, der gleichzeitig mit überlegenem Blicke den König mustert und in welchem gewiß der Maler unseres dramatisch belebten Bildes den edlen Comines, den milderen Ratgeber des blutdürstigen Königs, dargestellt hat.

*      *      *


[121]

Der Kardinal La Balue im Käfig vor Ludwig XI. (Siehe Seite 120.)
Nach dem Gemälde von A. Cluysenaar.

[122] Es ist ein kleiner schweinslederner Band mit allerhand zierlichen Pressungen, der vor mir liegt. Er ist zu Paris im Jahre 1576 erschienen und enthält die Memoiren eben dieses Philippe de Comines, in welchem er das Zeitalter des elften Ludwigs schlicht und besonnen schildert. Dieses Buch ist die ausgiebigste Quelle für die Geschichte jener Zeit geworden; freilich schrieb um die Mitte des 18. Jahrhunderts Herr Duclos, ein stolzes Mitglied von Akademien und gelehrten Gesellschaften, gleichfalls eine Biographie des elften Ludwigs, die dessen Charakter weit günstiger schildert; aber er handelte dabei im Auftrage des Ministers Maurepas, der im Interesse des Königtums in Frankreich diesen Rettungsversuch für gut hielt.

Der keineswegs unbedeutende Monarch bethätigte den grausamen Grundzug seines Charakters schon, bevor er den Thron bestieg. Denn bereits als Dauphin eröffnete er die Reihe seiner Thaten damit, daß er die vertraute Freundin und Geliebte seines Vaters, die schöne und kluge Agnes Sorel, an welcher der König mit schwärmerischer Neigung hing, beiseite bringen ließ, nicht aus sittlicher Entrüstung, sondern um einen ihm unbequemen Einfluß zu beseitigen. Seinem willensschwachen Vater gegenüber zeigte er sich auch sonst als ein vollkommen herzloser, seinen egoistischen Zielen mit brutaler Rücksichtslosigkeit nachjagender Sohn, der zu verschiedenen Malen den Versuch machte, ihn vom Thron zu stürzen. Indessen, das kommt in den Annalen der Geschichte öfter vor. Seltener ist damit ein Charakter von so erstaunlicher Grausamkeit und Tücke verbunden wie der dieses elften Ludwigs. Er hat nicht in so großem Stile gelebt und gewürgt wie die römischen Cäsaren, aber auch er ist als einer der großen Verbrecher auf Königsthronen anzusehen wie die Nero und Tiberius, wie der ihm wahlverwandte Richard III. und so mancher andere, der die ihm gegebene Herrschermacht mißbrauchte, um die „Wollust der Grausamkeit“ in immer neuen Formen auszukosten.

Aber von den großen politischen Verbrechern scheidet ihn schon der Umstand, daß sie meist auch den Feinden im Felde gegenüber gestanden und Schlachten geschlagen haben, während Ludwig, eine durchaus unkriegerisch veranlagte Natur, seine Erfolge in höherem Maße durch Worte erzielte, durch Gesandtschaften und Verträge, durch Briefe und Unterredungen und, wenn es darauf ankam, durch Gewaltakte, die aber einen kleinlichen heimtückischen Charakter haben und von privaterer, intimerer Art sind als die der großen Usurpatoren.

Es ist bezeichnend, daß Ludwig in seinem ganzen Leben rundweg zwei Schlachten geliefert hat, und daß er dabei doch das Land, über welches er herrschte, in so außerordentlichem Maße vergrößerte. Seine politischen Verdienste – das sei hier rasch abgethan – bestehen darin, daß er in einem vielfach hinausgezögerten Kriege mit den großen Vasallen seiner Krone ihre Macht brach und ihre Lehen seinem unmittelbaren Besitz einverleibte; daß er den verwegenen Herrscher von Burgund, Karl den Kühnen, zu Fall brachte und so ein Herzogtum gewann; endlich daß er durch eine schlaue Heirat, zu welcher er seinen Sohn zwang, auch die Bretagne dem Länderbestande, über den die französischen Könige geboten, einverleibte. Kurzum: er hat sein Königreich groß gemacht, und die Franzosen haben nach dieser Richtung in der That allen Grund, ihm dankbar zu sein.

Uns aber reizt natürlich mehr, den Menschen in ihm zu betrachten als den Politiker. Denn wenn er als Staatsmann an Bedeutung immerhin viele seinesgleichen hat, so steht er, rein psychologisch angesehen, ziemlich isoliert da.

Der bezeichnendste Zug an ihm ist eine höchst eigenartige Verbindung der grausamsten Tücke mit Frömmigkeit und religiöser Devotion. Auf seinem Hute und an seinen Gewändern pflegte er kleine bleierne Heiligenbilder zu tragen. Und es scheint, daß seine Frömmigkeit nicht bloße Heuchelei gewesen ist. Er hatte die bestimmte Empfindung, daß er alle Ursache habe, bei seinem Lebenswandel den Himmel fleißig um Vergebung zu bitten. Aber das tigerhafte Element in ihm war zu stark, um diesen Wandel selbst zu ändern. Dabei hatte er immer zwei Eidesformeln zu seiner Verfügung, eine gültige und eine ungültige. Zwei Aussprüche sind es besonders, die den Mann kennzeichnen: „Wer nicht zu heucheln versteht, versteht nicht zu herrschen“ und „Wenn meine Mütze meine Geheimnisse wüßte – ich würde sie verbrennen.“

Ein Menschenleben sah er ungefähr wie eine Mütze an. In seiner nächsten Umgebung hatte er stets die nötigen Hilfskräfte bei der Hand, um einen Unbequemen rasch ins Jenseits zu befördern. War es Haß gegen die Großen, die ihn bekämpft hatten, war es lediglich Freude am Niedrigen: er wählte zu seinen vertrautesten Dienern, die fast die Stelle von Freunden einnahmen, mit Vorliebe Leute aus der Hefe des Volkes.

Besonders nahe steht ihm im Leben ein ehemaliger Barbier, welcher die Dienste des Bartscherens beim Könige gewohnheitsmäßig noch täglich verrichtet, Herr Olivier, dem das Volk den freundlichen Beinamen „der Teufel“ verleiht. Er gehört zu den Wenigen, denen sich der König anvertraut. Ludwig verwendet ihn sogar zu diplomatischen Sendungen, und es ist ergötzlich zu lesen, wie der Barbier einst vor der Prinzessin von Burgund und dem Herzog von Cleve in Gent als Gesandter erscheint, und wie der Gesandte von ihnen verlacht wird, da man weiß, daß er ja bloß ein kleiner Bartkratzer aus einem Dorfe ist. Aber Herr Olivier war eine unheimliche Gestalt und nicht immer zum Spaßen aufgelegt. Wenn er seinem Herrn den Rat erteilte, den oder jenen zu „entfernen“, weil er das oder dies begangen habe oder doch begehen könne, so war der also Bezeichnete sicher, demnächst um eines Hauptes Länge verkürzt zu werden.

Der Vollstrecker des Urteils aber, das meist ein durchaus „inoffizielles“ war, stand in der Person des rohen Tristan l’Hermite zur Verfügung; er war ein brutaler Patron, mehr Henkersknecht als Gerichtsbeamter, von dem selbst der höfliche Duclos gesteht, daß er sich nicht daran genug sein ließ, die „Aufträge“ Ludwigs zu vollführen sondern gern aus freien Stücken ein Uebriges that und mit „barbarischer Lust“ seines düsteren Amtes waltete. Er liebte es, mit seinen Opfern zu spielen wie die Katze mit der Maus. Mit der Schar seiner Menschenjäger streifte er in der Umgebung der königlichen Schlösser umher und ließ, was ihm verdächtig schien, an den nächstgelegenen Bäumen aufknüpfen. Im Privatleben von finsterer Verschlossenheit und starrem Ernst, trieb er sein Handwerk mit cynischem Humor und schrecklichen Späßen.

Der König war mit diesem Entmenschten innig befreundet.

Wenn der Barbier seine rechte Hand war, war der Henker seine linke. Ludwig brauchte einen solchen Mann nicht nur zu seinem Schutze, sondern auch für die Ausführung kleiner privater Befehle, für einen heimlichen Dolchstoß, der einem Herrn vom Hofe oder dem Agenten eines „befreundeten“ Fürsten auf nächtlichem Wege versetzt werden sollte, oder für ein sicheres Geschoß, das irgend einen Lästigen aus unbekanntem Hinterhalt erreichte. Tristan war sehr zuverlässig, um so mehr als er seinen Beruf als „Liebhaber“ ausübte, und Ludwig wußte diese Kraft zu schätzen; er nannte ihn im persönlichen Umgang „Gevatter“ (compère) und hatte eine cynische, tiefinnerliche Freude am Thun und Treiben des „Wackeren“. Casimir Delavigne, der bekannte französische Dramatiker, hat in einer unheimlichen, packenden Scene eines jener grausigen Zwiegespräche vorgeführt, wie sie Ludwig mit seinem Generalprofoß wohl in verschwiegener Stunde geführt haben mag. Der König will einem abreisenden Gesandten ein Schriftstück entreißen, das ihm sonst Schaden bringen kann. Tristan bemerkt dem Herrn, daß jener ja noch in seiner Macht sei. „Nein, nein! Nichts gegen das Völkerrecht! So nicht!“ erwidert der heuchlerische Fürst, und als Tristan fragt, wie sonst das Schriststück entwendet werden solle, antwortet er leise lächelnd. „Wenn er abreist, geleite ihn ein glänzendes Gefolge!“ … Tristan begreift – das glänzende Gefolge soll der fremden Macht, die der Gesandte vertritt, beweisen, daß der König keinen Teil hat an dem Mord, der auf der Reise meuchlings erfolgen soll. „Um ihn zu ehren?“ sagt er mit schrecklichem Hohn, und der König schließt die Unterredung mit den Worten: „Du lächelst, – adieu, Gevatter, Du hast mich verstanden.“ In dieser einen, wertvollsten Szene des sonst schwachen, an allerlei politischen Anspielungen überreichen Stückes sind die beiden Männer und ihr Verhältnis schlagend gekennzeichnet.

Ludwig, der nicht wenig auf dem Gewissen hatte, wurde in eigentümlicher Weise von einer Art Vergeltung ereilt. Furchtbare Phantasiegebilde folterten sein Hirn, schreckende Visionen quälten ihn, und er, der sein ganzes Leben lang ein grausam tückischer Feind der Menschen gewesen war, begann am Ausgang seines Lebens in den Menschen furchtbare Feinde zu wittern. Er, der gegen seinen [123] Vater sich einst verschworen, begann vor Verschwörungen seines Sohnes und seiner nächsten Angehörigen zu zittern, selbst vor der Tochter machte sein Argwohn keinen Halt, und der treffliche Comines erzählt, daß er bald auch Verdacht gegen seinen Schwiegersohn faßte, so daß er sich gegen seine Familie förmlich verschanzte und abschloß.

Er zog sich, gealtert und kränkelnd, aber mit ungebrochener Herrschsucht und Raubgier in sein Schloß Plessis-les-Tours zurück, wo er seine sieche Person hinter furchtbaren Mauern und Befestigungen vor unberufenen Eindringlingen zu schützen suchte. Nicht weniger als drei Mauern von verschiedener Höhe, die durch Türme und Brücken mit einander verbunden waren, umgaben das in der Nähe von Tours gelegene Nest, in dem der alte Gewalthaber hauste.

Zur besonderen Bedeckung hatte er sich eine schottische Leibwache eingerichtet, die von versteckten Orten aus mit sicherem Schuß jeden zu Boden streckte, der sich der Zugbrücke oder einem Teile der Mauer in verdächtiger Weise näherte. Fallgruben, Fußsicheln, Schlingen und andere versteckte Vorrichtungen sorgten dafür, daß die Herankommenden gefangen oder verstümmelt wurden. Und wenn schon hierdurch der Aufenthaltsort Ludwigs einen unheimlichen Charakter hatte, wurde er unerhört grauenhaft durch die schauerliche Art, in welcher der menschenfeindliche Einsiedler durch Tristan Justiz üben ließ.

Er ließ zum Zwecke der Abschreckung überall in der Umgebung seines Wohnsitzes die Leichen derer an den Bäumen befestigen, welche dem Annäherungsverbot zuwidergehandelt oder sonst sich vergangen hatten und deshalb von dem ambulanten Hinrichtungsbureau des „Gevatters“ exekutiert worden waren. Hoch oben in den grünen Aesten schwankten, vom Winde bewegt, die Leichen der Gerichteten, und nicht nur Scott hat im Quentin Durward diese unheimliche äußere Eigentümlichkeit von Plessis-les-Tours in seine Schilderungen verwebt, sondern auch Banville, der lyrische Parodist und Dramatiker, weist in erschütternder Art auf sie hin, indem er die rührende Gestalt seines Straßensängers Gringoire das „Lied von den Gehenkten“ singen läßt, das unter den geängstigten Bewohnern der Umgegend im Schwange ist.

Der argwöhnische Tyrann fand an der Thätigkeit seines getreuen Tristan nicht volles Genügen. Er nahm sich persönlich die Mühe, Marterwerkzeuge zu erfinden, da er in der reinen Ausübung der Grausamkeit, ohne Rücksicht auf die Person der Opfer, eine wollüstige Wonne empfand. Duclos berichtet, daß, wenn der „Gevatter“ Angeklagte foltern ließ, Ludwig hinter einem Vorhang lauschte. Mit welcher Behaglichkeit mag daher der König den Vorschlag eines Herrn seiner Umgebung entgegengenommen haben, der ihm empfahl, niedrige Käfige von acht Fuß Länge bauen zu lassen, in denen nachher die Gefangenen mittels einer besondern Art von Ketten mit schwer wuchtenden Kugeln, die man „Königstöchterlein“ (les fillettes du roi) nannte, qualvoll gefesselt wurden. Der Herr, der den Vorschlag machte, war der Bischof von Verdun. Der erste, der die Verwendbarkeit der neu konstruierten sinnreichen Behälter praktisch zu erproben hatte, war er selbst, und mit ihm – sein Genosse la Balue, wie Comines und Duclos übereinstimmend berichten.

Die Persönlichkeit des Kardinals la Balue ist in mehr als einer Hinsicht interessant. Er war der Sohn eines Schneiders. Früh hatte er den geistlichen Stand erwählt, und, unterstützt von den allgemeinen Zuständen, benutzte er denselben nur zur Befriedigung seiner auf die weltlichsten Genüsse und Ehren gerichteten Begierden. Vermöge seiner großen Geriebenheit gelang es ihm auf irgend eine Art, in intime Beziehungen zu dem Bischof von Poitiers zu gelangen, nach dessen Tode er einen Teil seines Nachlasses in die Tasche steckte. Dann schmuggelte er sich in die Umgebung des Bischofs Beauveau hinein und trieb in den Kanonikaten, die er von ihm erhielt, schmachvollen Schacher. Als er endlich an den Hof Ludwigs gelangt war, wurde die Gewandtheit des talentvollen Ränkeschmiedes rasch bemerkt, und um ihretwillen übersah der König selbst die freche Liederlichkeit, mit welcher der lüsterne Patron die gemeinsten Ausschweifungen unbefangen beging. Er wurde sogar von Ludwig zum Parlamentsrat ermannt, vergalt rasch seinem Wohlthäter Beauveau die Vergangenheit, indem er ihm eine einträgliche Pfründe abjagte, und wurde nach kurzer Zeit Bischof von Evreux.

Bei einem galanten Abenteuer wurde dieser unheimliche Usurpator kirchlicher Gewalten angegriffen und verwundet; seitdem widmete er sich ausschließlich Staatsgeschäften. Ludwig, der nicht nur an der Schlauheit des Mannes, sondern auch an seiner niedrigen Gesinnung Gefallen gefunden haben muß, kettete ihn eng an sich, er überschüttete ihn mit Gunstbezeigungen, und was bei ihm noch mehr sagen wollte, er vertraute ihm.

Dem Abenteurer, der zum Minister geworden war, behagte die Stellung, die er einnahm, nicht übel. Aber er hatte die Schwäche, allerhand Eitelkeiten an den Tag zu legen, die den Emporkömmling kennzeichnen. Natürlich protzte er am stärksten, wie das zu gehen pflegt, mit Eigenschaften, die er nicht hatte. Er liebte es, den Ritterlichen herauszukehren, und strahlte gefallsüchtig wie ein Affe vor Glück, so oft es ihm vergönnt war, sich an der Spitze eines Truppenteils zu zeigen. Ein General sagte deshalb zum König, wie Duclos berichtet: „Majestät, lassen Sie mich über Priester kommandieren, da der Bischof die Parade abnimmt.“ Bei der allgemeinen Lächerlichkeit, der sich la Balue durch diese Schwäche in Hofkreisen aussetzte, würde er bald eine komische Figur geworden sein, wenn er nicht zugleich ein so stark umneideter und gefürchteter Mann gewesen wäre.

Der dreiste Streber schien sich in Wahrheit alles erlauben zu dürfen, wonach seine Laune stand: er hatte den mächtigsten Mann von Frankreich hinter sich und wußte das. So glaubte er einen unerhörten Gewaltstreich wagen zu können, bei dem für ihn nicht nur eine neue Würde abfiel, sondern auch reichlicher Geldgewinn einzuheimsen war. Er beschloß nichts mehr und nichts weniger, als seinen Wohlthäter Beauveau zu stürzen und sich selbst an seine Stelle zu setzen. Gedacht, gethan: Beauveau, der Bischof von Angers, wird verleumdet, vom Papst in Rom daraufhin exkommuniziert, abgesetzt, und der brutale Intriguant la Balue erhält die Stelle des Mannes, bei dem er früher Lakai gewesen und dem er so vieles zu verdanken hatte. La Balue ist nun Bischof von Angers, und der ihm am letzten Ende auch diese neue Macht verschafft hat, ist niemand anders als sein allergnädigster Herr und König, der in Briefen an den Papst sich eifrigst für seinen Liebling und dessen Pläne verwendet hat.

Der finstere und kalte Monarch hatte lange Jahre für diesen geschmeidigen Emporkömmling eine unbegrenzte Vorliebe. Er schenkt ihm ein halbes Dutzend Abteien, er empfiehlt ihn an alle möglichen Persönlichkeiten, er drängt sogar die Kurie um die Kardinalswürde für ihn, die er auch schließlich erhält. Ludwig verwendet ihn fortdauernd zu den wichtigsten Geschäften, er läßt sich von ihm lange Zeit uneingeschränkt und widerstandslos lenken, und schon hat es den Anschein, als sei der Eigenwille, die zähe, leidenschaftliche Herrschbegier des Königs für immer gelähmt – da begeht la Balue Verrat.

Es mußte so kommen. Es war ja eine seiner Eigenheiten, die infamsten Haudlungen gegen die zu begehen, die ihm Gutes erwiesen hatten.

Er schrieb also einen ausführlichen Brief an Ludwigs gefürchtetsten Gegner, den Burgunderherzog, und gab ihm entsprechende Anweisungen, gegen die Interessen des Königs zu handeln. Ihn trieb dabei der Wunsch, sich bei diesem im voraus unentbehrlich zu machen. Als der plumpe Schwindel entdeckt wurde, erwachte in Ludwig die Tigernatur. Er machte kurzen Prozeß; die Käfige, die la Balues Mitschuldiger erfunden hatte, traten in Funktion …

Trotzdem hat la Balue den König überlebt.

Ludwig starb, von furchtbarer Todesangst gepeinigt, als der Sommer des Jahres 1483 zu Ende ging. Er war sechzig Jahre alt geworden. Den Kardinal hatte er ein paar Jahre zuvor freigelassen, weil die Kurie drängte, der Papst selbst wollte den Kardinal in Rom bestrafen. Aber kaum war la Balue in der ewigen Stadt, so gelang es ihm, sich zu rechtfertigen. Er erholte sich dort gründlich von den Strapazen seines zwölfjährigen Käfigdaseins. Und als dann das dreiste Gaunergenie vergnügt und frisch wieder nach Frankreich zurückkehrte, moderten die Gebeine seines Gegners und Königs in der Erde.




[124]

Das Pellerhaus in Nürnberg.

Von Hans Boesch.


Wie noch heute alljährlich viele junge Leute aus Italiens sonnigen Gefilden über die Alpen nach Deutschland ziehen, um dort Arbeit und Verdienst zu suchen, so geschah es vor Jahrhunderten bereits. Es war im Jahre 1550, als ein ärmlicher zwölfjähriger Junge, dessen Aeußeres seine südländische Herkunft verriet, in die mauerumgürtete, weltberühmte Reichsstadt Nürnberg eintrat, die damals noch auf dem Gipfel ihrer Macht und Blüte stand. Obgleich die Jugend im Erbauen von Luftschlössern ja das Kühnste und Großartigste leistet, ließ es sich dieser Knabe, ein Ballenbinderssohn aus Venedig, schwerlich damals träumen, daß er sich einst zum reichsten Kaufmann dieser Stadt, zu einem der vornehmsten Handelsherren in Deutschland überhaupt emporschwingen werde. Als Bartholomäus Viatis im Jahre 1624 im Alter von 86 Jahren starb, soll er nicht weniger als 16 Tonnen Gold hinterlassen haben.

Sein treuester und tüchtigster Diener war Martin Peller aus Radolfszell, der von Hause aus schon vermöglich war. Ihn nahm Viatis zum Geschäftsteilhaber und gab ihm im Jahre 1590 seine Lieblingstochter Maria zum Weibe, welcher bei dem Ableben des Vaters auch der größte Teil des für jene Zeit riesigen Vermögens zufiel, trotzdem eine sehr beträchtliche Zahl von Geschwistern vorhanden war.

Die Außenseite.

Nach zehnjähriger glücklicher Ehe schritt das Paar dazu, sich ein behagliches Heim zu errichten. Die Häuser der Nürnberger Kaufleute und Patrizier sind im allgemeinen nach außen sehr einfacher Art; die sonst glatten Fassaden wurden meist nur durch Erker und Chörchen, seltener durch Malereien belebt. Dagegen war die Dacharchitektur reicher ausgebildet und das Innere des Hauses desto behaglicher und gediegener ausgestattet; wahre Perlen malerischer Baukunst finden sich unter den nie fehlenden Höfen. Martin Peller hatte einen anderen Geschmack. Mit seinem Schwiegervater war er der Ansicht, das neue Haus müsse schon durch sein Aeußeres von dem großen Reichtume der berühmten Firma laut und deutlich Kunde geben. Am 9. August des Jahres 1600 kaufte Martin Peller, Bürger und „Genannter“ des Größern Rats dieser Stadt, wie er in dem Kaufbriefe, der heute noch vorhanden ist, bezeichnet wird, von den Grolandschen Erben eine stattliche Behausung um den ansehnlichen Betrag von 6290 Gulden, der, wie besonders betont wird, sofort bar bezahlt wurde. Der alte Bau aber ward nicht für würdig befunden, sondern wurde abgerissen, um einem Neubaue Platz zu machen. Und so ward in den Jahren 1600 bis 1605 hoch oben an dem aristokratisch ruhigen Aegidienberg ein Denkmal des damaligen Unternehmungsgeistes in diesem stolzen Prachtbau errichtet, der heute noch das Entzücken jedes Besuchers der Stadt Nürnberg bildet und an dem auch der abgestumpfte Eingeborne nicht vorübergeht, ohne ihm einen wohlwollenden Blick zuzuwerfen.

Die aufs reichste geschmückte Fassade mit ihrem mächtigen, durch die Figur des Jupiter bekrönten stolzen Giebel, mit den zierlichen Schnecken, den keck in die Lüfte ragenden Spitzen, vereinigt spätgotisches Maßwerk mit den Formen der Spätrenaissance zu einem imposanten malerischen Ganzen. Die ganze Skala der damals üblichen Säulenordnungen mußte zum Schmucke der Außenseite herhalten; diese ziert auch eine Darstellung des Namenspatrons des Hauserbauers, des heiligen Martin, auf den Peller viel gehalten haben muß, obgleich er Protestant war, denn auch auf seinem kunstreich in Bronze gegossenen Grabdenkmale auf dem St. Johanniskirchhofe fehlt der Heilige nicht. Ein wahres Kleinod aber ist der Hof; zwei Seitenteile mit luftigen, dreifach übereinander gestellten Bogengängen, in welchen sich der Einfluß des italienischen Schwiegervaters zu erkennen giebt, verbinden das Vorder- mit dem Hinterhaus, das durch die weit hervortretende Galerie im ersten Stocke, durch den reizenden Erker, der durch drei Stockwerke geht, an malerischer Wirkung das Hauptgebäude weit übertrifft. Der Reichtum, der die äußere Erscheinung auszeichnet, ist auch im Innern konsequent durchgeführt; Treppen und Gänge, Säle und Zimmer sind aufs prächtigste geschmückt. Die köstlichen geschnitzten und eingelegten Täfelwerke, die reich gegliederten Holzdecken mit den eingefügten Gemälden, der vornehme plastische Schmuck geben uns einen Begriff, in welch’ luxuriöser, aber gediegener Weise einst das prächtige Kaufhaus eingerichtet und ausgestattet war.

So großes Aufsehen der schöne Bau schon zu seiner Zeit erregte, so fand es doch keiner der alten zahlreichen Nürnberger Chronikenschreiber für nötig, den Namen des kunstreichen Architekten in seine Annalen einzutragen. Der jetzige Besitzer des Hauses hat zwar noch zahlreiche Entwürfe und Detailzeichnungen aus der Entstehungszeit des Baues, die einen lehrreichen Einblick in die Entwicklung desselben gewähren, welchen Namen der Baumeister aber [125] trug, konnte noch nicht festgestellt werden. Vielleicht haben diejenigen nicht unrecht, welche in dem Erbauer des Nürnberger Rathauses, Jakob Wolff dem Jüngeren, den Künstler des Pellerhauses vermuten. Es hat diese Annahme um so mehr für sich, als Wolff nachweisbar im Jahre 1600 auf Studienreisen sich begab und erst 1605 wieder und zwar als Stadtwerkmeister in den Akten erscheint, also gerade in dem Jahre, in welchem das Pellerhaus vollendet wurde. Eine fünfjährige Studienreise wäre etwas lang gewesen, dagegen wäre es sehr begreiflich, daß der reichste Kaufmann der Stadt den Rat vermochte, dem damals tüchtigsten Architekten innerhalb ihrer Mauern einen Urlaub zur Ausführung seines Hauses zu gewähren, der bis zur Vollendung desselben im Jahre 1605 dauerte. Daß er nach Uebernahme der Aufgabe zunächst eine Studienreise nach den palastreichen Handelsstädten Oberitaliens antrat, um sich für die Ausführung vorzubereiten, macht die Eigentümlichkeit des Hauses wahrscheinlich genug.

Viele hohe Gäste hat das Pellerhaus in seinen Räumen gesehen, von welchen wohl mancher sein eigenes Heim gern gegen dieses Wohnhaus vertauscht hätte. Sicher gehörten zu denselben auch Fürst Oktavio Piccolomini, Herzog von Amalfi, und der schwedische Kanzler Oxenstierna, wenn sie auch die Präliminarien zu dem Westfälischen Frieden, der dem bis auf den Tod erschöpften Deutschen Reiche die heißersehnte Ruhe gab, nicht in diesem Hause, sondern auf der Pellerschen Besitzung vor der Stadt, in dem malerischen Schlößchen Schoppershof, unterzeichneten, das bis auf unsere Zeit der charakteristischste Repräsentant der Landsitze der altnürnberger Patrizier geblieben ist. Wie oft mögen in jenen Tagen diese hohen Herren und noch viele andere fremde Gäste in den prächtigen Sälen fröhlicher Geselligkeit gepflogen, welch schönes Bild mag die Gesellschaft jener Tage mit ihren reichen, farbenbunten Kostümen in so vorzüglichem Rahmen geboten haben! – Durch Zufall erhielt das Pellersche Haus, das früher auch das „weiße“ genannt ward, einen weiteren wertvollen Schmuck in einem großartigen Kronleuchter aus Krystall, den das Handlungshaus Peller und Viatis für den Fürsten von Thurn und Taxis in Brüssel in dessen Auftrag zu Mailand hatte fertigen lassen. Der Fürst fand den Preis des Leuchters zu hoch, so daß er schließlich Peller blieb, der nun für sein Wohnhaus passend fand, was dem Fürsten für sein Schloß zu teuer gewesen.

Der Hof.

Im Besitze der Familie Peller, die vom Kaiser schon frühzeitig in den Adelstand erhoben worden war und der Stadt Nürnberg tüchtige Bürger gegeben hat, blieb das interessante Baudenkmal bis zum Jahre 1828, in welchem es an einen Spiegelfabrikanten verkauft wurde. Die wertvollen Gemälde und sonstigen Kunstwerke, sowie die Bibliothek gingen ebenfalls in neuen Besitz über. Der Käufer des Hauses hatte ein gutes Geschäft gemacht; er veräußerte den kostbaren Kronleuchter an den König von Preußen, der ihn im Rittersaale des königlichen Schlosses zu Berlin aufhängen ließ. Der Kronleuchter ist somit in seinem Alter zu hohen Ehren gelangt: er spendet jetzt den Gästen des Deutschen Kaisers sein Licht. Der Erlös für den Kronleuchter allein soll den Kaufpreis des Hauses gedeckt haben.

Seitdem das Haus von der Familie verkauft wurde, hat es mehrmals den Besitzer gewechselt. Gegenwärtig ist es Eigentum des Hofmöbelfabrikanten Eyßer und somit in guten Händen. Er ließ das Haus im Jahre 1882/83 einer gründlichen und kundigen Händen anvertrauten Restauration unterziehen, bei welcher herrliche Vertäfelungen, die unter dickem Oelfarbenanstrich verborgen waren, in alter Schöne erstanden und ein architektonisch merkwürdiger und reich ornamentierter Holzplafond neu entdeckt wurde. So ward dem durch das Alter drohenden Verfall Einhalt gethan und die Fortexistenz dieses kostbaren Denkmales deutscher Spätrenaissance gesichert.

Eyßer, als einer der hervorragendsten Industriellen Deutschlands auf seinem Gebiete, hat es verstanden, den Erzeugnissen seines Hauses einen Weltruf zu verschaffen. Sein großes Lager mustergültiger Möbel aller Stilarten, mit denen Werke der übrigen Zweige des modernen deutschen Kunstgewerbes vereinigt sind, hat in diesem Prachtgebäude, das ein vorzügliches Relief für diese Werke bildet, geschmackvolle Aufstellung gefunden. Kein zweiter Kunstindustrieller kann sich rühmen, ein solch vornehmes Lagerhaus von solcher Vergangenheit sein eigen zu nennen. Einen Vorteil hat die heutige Verwendung des Prachtgebäudes noch: es kann in der Gegenwart von jedermann besucht und besehen werden, was früher nur einigen Auserwählten zugänglich war. Auch jetzt noch gehen Könige in diesem Hause ein und aus, die nicht allein das merkwürdige Baudenkmal bewundern, sondern auch Meister Eyßer gern ihre Kundschaft zuwenden.

Am 15. August 1870 wurde der letzte Sprosse des Geschlechtes der Peller von Schoppershof, der Hauptmann Karl Friedrich, im Alter von 29 Jahren in die Familiengruft hinabgesenkt. Ein tapferer Offizier, starb er an seinen in der Schlacht bei Wörth erhaltenen mehrfachen Verwundungen den Heldentod. Das Gedächtnis aber an den Reichtum, die Pracht- und Kunstliebe dieser Patrizierfamilie wird der stolze Bau des Ahnherrn für alle Zeiten rege erhalten.




[126]

Weiße Schreibtafeln.

Seit etwa einem Jahrhundert spielt die dunkelgraue Schiefertafel eine hervorragende Rolle in der Schule. Auf ihr haben wir alle schreiben gelernt. Man sollte glauben, daß darum diese einfache Schiefertafel von unserm gebildeten Zeitalter hoch in Ehren gehalten würde. Aber mit nichten! Die Schriftgelehrten sind einmal schlechte Menschen; sie lohnen der Schiefertafel mit schnödem Undank, predigen ihre gänzliche Abschaffung.

Die Hauptanschwärzer der Schiefertafel sind die Augenärzte. Da heißt es in einem der Gutachten dieser Autoritäten: Für die Deutlichkeit des Sehens und damit für die Leichtigkeit der Wahrnehmung von Geschriebenem kommt es in hohem Maße auf den Helligkeitsunterschied zwischen den Schriftzeichen und dem Untergrunde an. Dieser ist groß, wenn mit schwarzer Tinte auf weißem Papier geschrieben wird, klein, wenn auf der nicht schwarzen, sondern dunkelgrauen Schiefertafel mit dem Griffel nicht weiß, sondern grau geschrieben wird. Dem Kinde, das ohnehin mit der großen Schwierigkeit zu ringen hat, die ihm ganz neuen Schriftzeichen zu erkennen und zu malen, wird also die Aufgabe noch bedeutend erschwert, wenn man ihm die letztgenannten Schreibmaterialien in die Hand giebt. Es wird trachten, möglichst große Bilder der zu beobachtenden Dinge auf seiner Netzhaut zu entwerfen, daher Augen und Kopf soviel als möglich der Tafel annähern. Hiermit aber ist Veranlassung zu schlechter Körperhaltung und zur Entstehung von Kurzsichtigkeit gegeben.

Auf Grund dieser Wahrnehmungen entwickelte sich seit etwa zwanzig Jahren eine eifrige Agitation gegen die Schiefertafel. Zunächst wollte man einen Ersatz für dieselbe schaffen und begann, weiße Schreibtafeln herzustellen, auf denen man mit schwarzen Stiften schreiben und das Geschriebene mit feuchtem Schwamm wieder wegwischen konnte. Die Zahl der neuen weißen Schreibtafeln war recht groß; man verfertigte sie aus Stein, weißlackiertem Blech, Glas und Pappe, aber keine vermochte vor dem gestrengen Gerichte der Augenärzte und Pädagogen zu bestehen. Die eine war zu teuer und zu leicht zerbrechlich; die andere war zwar billig und unzerbrechlich, ihre weiße Fläche nutzte sich aber so rasch ab, daß sie als unpraktisch für Schulzwecke verworfen werden mußte. Die Bemühungen, brauchbare weiße Schreibtafeln für die Schule herzustellen, werden noch gegenwärtig fortgesetzt und in der letzten Zeit wurden uns weiße Pergament- und Papptafeln vorgelegt, die in der That für den ersten Augenblick bestechen. Es bleibt jedoch noch abzuwarten, ob sie auch die nasse Probe in den Händchen der ABC-Schützen bestehen! Wenn es aber noch vor zehn Jahren schien, daß die weiße Schreibtafel eine Zukunft habe, so haben sich in den letzten Jahren die Ansichten doch zu ihren Ungunsten verschoben. Dieselben kommen sehr deutlich in einem Gutachten des Professors der Augenheilkunde Dr. August von Reuß zum Ausdruck.

Viel wichtiger – heißt es darin – als die Naturfarbe von Schieferstift und Schiefertafel ist die, welche durch den Schieferstaub des Griffels entsteht. Mit einem feuchten Lappen oder Schwamm wird der Tafel zuerst ein glänzendes Aussehen gegeben, von dem sich die frisch geschriebenen Striche nicht abheben, und nach dem Trocknen ist häufig die ganze Tafel mit einer weißgrauen Tünche überdeckt, die das Geschriebene nur mit Mühe erkennen läßt. Dasselbe gilt umgekehrt von der weißen Tafel, die durch ungenügendes Wischen grau wird. Reinlichkeit kann wohl manches von dem Uebelstande benehmen, aber bei vielen sechsjährigen Kindern selbst aus guten Häusern fehlt es daran. Ich will nicht von den schmutzigen Händen reden, welche durch das Verwischen der Buchstaben erzeugt werden, denn diese interessieren den Augenarzt wenig. Der Hauptgrund, warum ich gegen die Schiefertafel bin, ist aber folgender: Nach meiner Meinung kann ein Schüler, der mit einem Stifte leidlich schreiben gelernt hat, doch nicht mit der Feder schreiben und umgekehrt. Er muß also das Schreiben eigentlich zweimal lernen, muß seinen Kopf und seine Augen gerade doppelt soviel anstrengen, als wenn er das Schreiben von vornherein mit der Feder erlernt hätte. Gegenüber dieser Belastung der Kinder mit einer ganz unnützen Arbeit darf man doch nicht die Tintenkleckse und die schwarzen Finger ins Feld führen, die beim ersten Gebrauch der Tinte, oft auch noch später, entstehen.

Diese Anschauung verschafft sich gegenwärtig in pädagogischen Kreisen und auch in der Schulpraxis Geltung. Wurde schon früher die Benutzung der Schiefertafel auf das geringste Maß, auf die ersten Monate oder gar Wochen des Schreibunterrichtes beschränkt, so mehren sich jetzt Fälle, in welchen Schulbehörden von der Benutzung der Schiefertafel ganz und gar absehen und die Kinder sofort mit Tinte und Feder schreiben lassen.

Trotz alledem braucht man die weiße Schreibtafel nicht ganz und gar zu vernachlässigen. Sie kann sowohl in der Schule wie im öffentlichen Leben gute Dienste leisten. Unsere Schulwandtafeln sind schwarz und der Lehrer schreibt und zeichnet auf ihnen mit Kreide. Seine Darstellungen würden deutlicher ausfallen, wenn er eine weiße Tafel und schwarzen Stift benutzen könnte. In einer Anzahl von Anstalten, namentlich höheren und Hochschulen, sind solche weiße Tafeln längst in Gebrauch. Im Privatleben sind weiße Notiztafeln, auf welchen man mit dem gewöhnlichen Bleistift schreiben und das Geschriebene mit einem nassen Schwamm wegwischen kann, bequem und angenehmer als die leicht verwischbare Schiefertafel. Besonders beachtenswert sind aber die weißen Schreibtafeln für das öffentliche Leben. Kurze und gerade eilige und dringende Mitteilungen von Behörden, wie z. B. Vorständen der Eisenbahnstationen, werden dem Publikum auf Wandtafeln bekannt gegeben. Jedermann weiß aus eigener Erfahrung, wie undeutlich oft die Kreideschrift auf der schwarzen Tafel ausfällt und wie sehr der Glanz der Tafel das Erkennen und Ablesen der Mitteilung erschwert. Eine schwarze Schrift auf mattem weißen Grunde ist bei weitem deutlicher und auf größere Entfernungen sichtbar. Es wäre zu wünschen, daß in dieser Hinsicht der weißen Tafel eine allgemeine Bevorzugung zu teil werden würde.

Jedenfalls sind die Tage der Schiefertafel, die so lange das Wahrzeichen des ersten Schulganges bildete, gezählt. Man schiebt sie beiseite, und es geschieht ihr recht! meinen die Schriftgelehrten. Grau auf Grau ist ihre Erscheinung und Leistung; der Künstler, der oft Grau in Grau malt, mag sich in diesen Farben gefallen; für die Schrift gilt die Losung: Schwarz auf Weiß! Die Wahl der grauen Schiefertafel als Schreibmaterial war also eine Verirrung, das müssen wir der Dahinscheidenden, wie leid es uns auch thut, Schwarz auf Weiß bezeugen. C.     


Loni.

Erzählung von Anton von Perfall.

     (3. Fortsetzung.)


Dem Flori trat auf einmal der unheimliche Vorgang in aller Lebendigkeit vor die Seele. Es war im letzten Spätherbst – in der Nacht nach jener, von welcher das Gericht angenommen hatte, daß in ihr der Mentner den Förster erschossen. Da war er wider seine Gewohnheit in seiner Hütte geblieben, um in aller Frühe bei der Arbeit zu sein. Um elf Uhr ungefähr hörte er das Rascheln von Steinen oben im Holz. Wild, das über den Farrenbach wechselt, in die Hagenberger Gründe – dachte er bei sich – und weil er von den Bauern oft darum gebeten worden war, hat er sich aufgemacht, um das Wild abzutreiben. Da hat er es wispern hören ganz nahe im Wald – er hat sich hinter einen Baum geduckt, und wer ist vorbeigeschlichen, den Blößen ausweichend im Unterholz? – Der Mentner und der Anderl! Daß sie vom Wildern gekommen sind, hat er gleich gewußt. Aber die Gesichter! Leichenblaß! Sie sprachen aufgeregt und leise, aber doch nicht leise genug, daß er nicht gehört hätte, wie von einem Schuß auf den Förster die Rede war und der Anderl sich seines Schusses noch rühmte. Dann verstand er nichts mehr. Er wollte auch nichts mehr hören. Es grauste ihm.

In jener Nacht war der Förster erschossen worden – erschossen vom Anderl in Gegenwart des Mentner. Aber Flori hat sich gehütet, davon zu erzählen, und selbst der Loni kein Wort von seinem Geheimnis verraten. Er hat das Schweigen gelernt von seinen Steinen!

Doch jetzt, seitdem ihn der Gedanke quälte, die Loni könnte wohl gar den Anderl heiraten, da überkam es ihn in diesen Stunden einsamen Grübelns wie eine Mahnung, daß das Schweigen ein End’ haben müsse. Die Loni wenigstens mußte es erfahren – schon wegen dem armen Marei. Um den heimtückischen Lumpen, den Anderl, zu schonen, durfte er das gute herzige Geschöpf nicht elend werden lassen! Und dann der Willy, wie kam denn der dazu – der ihm, gerade wie sein ermordeter Vater, immer so freundlich gesinnt gewesen war.

Das war eine saubere Arbeit, die er heute machte! Die Oktobersonne überschüttete den Farrenbach mit flimmerndem Lichte, welches das weiße Gestein durstig aufsog und dann übersättigt zurückstrahlte. Die Blätter der Ahornbäume schwankten goldig leuchtend zu Boden, in den Kuppeln der Buchen glühte und brannte es. Eine wohlige Wärme herrschte. Flori nickte ein auf seiner Holzbank.

Da kollerte ein Stein; dieses Geräusch konnte ihn aus dem tiefsten Schlaf erwecken. Er blickte jäh auf und seine Augen trafen sogleich mit der Sicherheit, die das beständige Leben in der freien Natur giebt, den Ort, wo es entstanden.

Ein Weib stieg, sichtlich die Blöße des Unterholzes meidend, die gegenüberliegende steile Böschung des Farrenbaches herab. Jetzt stand sie mitten im Geröll und blickte nach ihm herüber, mit der Hand die Augen vor der Sonne schützend.

[127] Das feine Schutznetz seiner Brille ließ ihm die Gestalt verschwommeu und übergroß erscheinen. Loni, die Mentnerbäuerin! Es fuhr ihm durch alle Glieder.

Das aufgegangene Haar leuchtete wie Feuer im Sonnenlicht, die kräftige Gestalt erschien von neuer Jugend belebt, das Antlitz war noch immer von jener hellen durchsichtigen Weiße, die ihn einst an ihr entzückt hatte.

Sie suchte offenbar ihn – kein Weg führte hier durch, und sie wollte nicht gesehen werden; nur, um ihn zu treffen, kam sie durch das Gestrüpp geschlichen. Die Steine fingen an zu tanzen um ihn her. Was konnte sie denn wollen von ihm? Was denn? Er sprang auf und wollte ihr entgegen – da knackte sein steifes Bein, das er ganz vergessen; krumm, gebeugt wie die vom ausgetretenen Farrenbach zerknickten, zerzausten Weiden umher, stand er da, Loni zu empfangen.

„Geh’n wir eini in d’Hütt’n, i hab’ mit Dir z’red’n,“ sagte sie.

Da blickte er erst auf. Sie war außer Atem, etwas Scheues, Lauerndes lag in ihrem ganzen Wesen. Und da hatte er einen Augenblick geglaubt – „o mein, Flori, g’scheit wirst Du nimma,“ dachte er bei sich.

„Geh! Geh! Ma braucht uns net z’seh’n,“ drängte die Bäuerin.

„So ’was B’sonders hast mit mir z’red’n?“ fragte er mit erzwungener Ruhe, „na, nach’er komm’ nur.“

Er ging mit ihr in die Hütte.

Der Raum war eng, das Lager, die Werkzeuge, ein kleiner Herd und ein Tisch füllten ihn fast vollständig, und doch schloß Loni die Thüre.

Sie war dunkel gekleidet, trotz aller Einfachheit mit auffallender Sorgfalt. Erhitzt vom raschen Gehen, löste sie schwer atmend das seidene Fürtuch. Der Anblick ihres weißen Halses verwirrte ihn. Ihre blauen Augen glänzten noch ebenso wie damals in der Zeit seines Glückes. Die Wärme ihres Atems überrieselte ihn. Und als sie jetzt die volle Hand in die seine legte und ihn ansah, zuckte es in ihm auf. „Was sie jetzt von dir will, das muaß’t thun!“

„Flori!“ tönte ihre Stimme in sein Denken. „Gelt, Du hast’s net vergess’n, wie’s amal war zwisch’n uns zwei?“

„I vergessen? Das fragst mi? Hab’ ja nur immer g’lebt in Gedank’n daran! Glaubst, daß i vergess’n hätt’ können, was D’ mir zum Abschied gesagt hast im Garten?“

Sie entzog ihm rasch ihre Hand, jähe Röte stieg den Hals herauf über ihr Antlitz.

„Ja, das hab’ i mir aa denkt,“ sagte sie unsicher. „Wenn’s dann aa anders komma is, als wir uns damals ’dacht hab’n –“ sie sah auf den Boden und rollte mit dem Fuß ein Steinchen, das sich hierher verirrt, hin und her. „Guate Freund’ bleib’n ma do’, net wahr, Flori?“ Sie warf den Kopf auf und sah ihm scharf in das Gesicht.

Der Wechsel war zu rasch für ihn. Die plötzlich wieder in ihm aufgeflammte Hoffnung war so rasch nicht wieder auszulöschen, alle guten und weisen Vorsätze, die er hier in unzähligen einsamen Nächten, an unzähligen arbeitsvollen Tagen gefaßt, waren zerstoben in der Nähe dieses Weibes. Die alte Leidenschaft packte ihn und er dachte nicht mehr an den lahmen Fuß, an das früh ergraute Haar, an seine schwieligen Steinklopferhände, er sah sich wieder als den Flori von einst, den schmucksten Bursch im Thal, der sich vor keinem Nebenbuhler scheute. Und um solch einen handelte es sich jetzt, um den Anderl, um dessentwillen sie zu ihm kam, den sie liebte, den sie retten wollte!

Er staunte selbst über die Klarheit, die auf einmal über ihn kam.

„Und desweg’n kommt die Mentnerbäuerin zum Stoanerflori, um ’hn nach seina Freundschaft z’ frag’n?“

„Do’ um a bißl mehr,“ erwiderte die Bäuerin, „um glei’ an Freundschaftsdienst z’ verlang’a – den erst’n, Flori, nach langa Zeit!“

„Und der wär’, Bäu’rin?“

„Blnatweni’, g’rad – Du weißt ’s ja eh – weg’n den Anderl!“

Der Steinhauer lehnte sich über den Tisch. „Daß Di des gar so ’packt hat! Was kümmert Di denn der Anderl, daß d’ Di gar so aufregst weg’n eam?“

Loni wurde feuerrot.

„Er is a guater Knecht, der Mentner hat ihn selb’r hoch g’halt’n – und – und – wo i jetz’ ganz allei’ bi –! Um das alles handelt’ si’s aber gar net. I will net, daß die G’schicht mit ’m G’richt wieder angeht. Für was soll’s denn guat sei, sag’ selb’r, Flori!“

„No – so ganz ohne wär’s do’ net, wenn g’rad was d’ran wär’! Der Mentner, Dei Mann, läg’ nimma als Mörd’r auf ’m Kirchhof, s’ Marei, Dei Kind, kunnt mit ’m Willy glückli’ werd’n! Das wär’ scho was, meinat i.“

Loni wischte sich den Schweiß von der Stirne; die Luft ging ihr aus in dem engen Raume.

„Wenn was d’ran wär’! – Aber aufs Ung’wisse, auf a paar Wort’ von an Halbtot’n hin, an Mensch’n ins Zuchthaus bringa – das möcht’ i do’ um all’s net.“

„I aa net!“ entgegnete gelassen Flori, „und aufs Ung’wisse, auf a Wort hin, kommt er aa net ins Zuchthaus.“

„Also zu was nach’er red’n? Was wär’ ’em Mentner – was wär’ ’em Marei damit g’nützt?“ Loni wurde wieder zuversichtlicher.

„Ganz richtig! – Wenn man aber mehr wüßt’ als a paar Wort’? – – Siehst, wo die zwei Ficht’n steh’n, neben den letzt’n Stoahauf’n, da bin i g’stand’n, und g’rad da, wo Du in’ Bach einig’stieg’n bist, war der Mentner und der Anderl. Und g’wes’n is’ Nachts, um elf umanand, vorig’s Jahr, die Nacht nach dera, in welcher der Förster derschoss’n wor’n sei soll. – Da hab’ i’s g’hört mit meine eigne Ohr’n, wia der Anderl si b’rühmt hat, daß der Förster von seiner Kug’l g’fall’n is!“

Die Bäuerin sah ihn starr an, um ihre Mundwinkel zuckte es verdächtig. „Und wenn i ’s selb’r glaubet, daß der Anderl den Förster derschoss’n hat, wär’ das a Grund, ihn z’ verrat’n? Kunnt’s net so sich begeb’n hab’n, daß i ’hn net verrat’n darf? Wenn er – i sag’ nur – wenn er mit dem Schuß dem Mentner ’s Leb’n g’rett hätt’ – mei’m Mann! Wär’ er dann a Mörder für mi – den i anzeig’n muaß? Thätst Du ’hn dann ins Zuchthaus liefern? G’wiß net! Und kunnt’s net so g’wes’n sein?“

Flori horchte gespannt auf. „So hat er Dir’s d’rzählt?“

Die Bäuerin fuhr entsetzt auf. „Das hab’ i net g’sagt! Flori, um Gott’swill’n, das hab’ i net g’sagt – i hab’ nur g’meint, wenn’s so wär’!“ – Sie hob ihre zitternde Hand flehend auf.

Flori ergriff sie und sah sie voll Mitleid an. „Sei nur stad, Du hast’s ja net g’sagt.“

Da brach die Bäuerin in lautes Schluchzen aus und senkte verzweifelt ihr Haupt auf den Tisch.

Flori hob sie sorgsam auf. „Nur stad sei’, Loni!“

Sie legte den Arm vor das Antlitz, sich vor seinem teilnehmenden Blick zu schützen.

Lange schwieg er. Ihre roten Zöpfe waren aufgegangen und glitten leuchtend über den Tisch.

„Schau, Loni, jetzt gilt’s d’ Freundschaft! Wia i Di hab’ komma seh’n, hab’ i freili g’meint, ’s geltat was anders – fort damit! Schau, i weiß alles, Du hast ’hn gern, den Anderl –“

Eine mächtige Erschütterung ging durch den Körper Lonis.

„Du hast ’hn gern und weißt Dir net z’ helf’n! Aber es wär’ ja net Dei Glück – ’s wär’ Dei größt’s Unglück! A vergoss’ns Bluat schreit zum Himmel, da ändert kei’ Deutung d’ran und über kurz oder lang käm’s Verhängnis daherg’schoss’n wia der Farrenbach nach an G’witt’r und thät Euch verschwemma.“

Loni blickte wirr im Raume umher, während Flori fortfuhr:

„Und ’s Marei, Dei Kind, Dei einzig’s Kind, kannst das so hinsterb’n seh’n am gebroch’na Herz’n? Das thuat’s von Tag z’ Tag! Du hast’s ja so liab, Dei Kind, ’s war ja Dei einz’ger Trost die lange Zeit her.“

„Ja, das war’s!“ entgegnete Loni einigermaßen gefaßt durch den milden Zuspruch Floris – dann wurde sie wieder von der Verzweiflung gepackt. „Aber i will ja nix mehr wiss’n vom Anderl! Wegschick’n will i ’hn – all’s – all’s will i thun – aber anzeig’n, verrat’n kann i ’hn net, darf i ’hn net – um nix in der Welt, aa net um mei eigens Kind. I kann Dir’s net sag’n, warum.“

„Weiß schon warum! Weil er Dir selb’r all’s g’standen hat, in aner Stund’, die koa Verrat net kenna soll.“

Loni erwiderte nichts, ihr Haupt ruhte auf der Hand Floris, [128] über die ein heißer Thränenstrom sich ergoß. Der kräftige Körper zuckte auf in unnennbarem Weh.

Auch über Floris Gesicht ging ein Zucken.

„Loni, die Liab muaßt Dir aus’m Herz’n reiß’n, die muaßt zum Opfer bringa – Dei’m Kind, Dein’ arma Marei! Der Anderl aber, der soll si’ davo mach’n, kannst ihm ja Zeit lass’n a paar Woch’n, ins Amerika ’nei weg’n meina – nach’er liegt nix mehr d’ran, daß’ net auskommt! – Ja, so gang’s, Herrgott, so gang’s! All’n wär’ g’holf’n und dem Anderl schad’ts nimma! – Loni, so machst’ das, er selb’r muaß’s einseh’n, daß’ net anders geht!“

Loni hob ihr verstörtes Antlitz. „Nach Amerika? Uebers Meer? – Ja – ja, so gang’s und i – i – schnür’ mei Bünd’l und geh’, wia i komma bin.“

„Du bleibst bei Dei’m Kind, das Dir sei ganz’s Glück verdankt und Di auf Händ’n trag’n wird – und wenn dann a paar Enkerln komma, wird’s lebendi werd’n um Di, wia im Fruhjahr. Dann wirst einseh’n, daß’ aa no an and’re Liab giebt, die glückli macht, als die Du kennst, und wirst Di gar net mehr sehna danach –“

„Du red’st ja, als wenn Du das all’s schon erfahren hätt’st!“ erwiderte bitter Loni, „als wenn’s Vergess’n so leicht wär’!“

„I – wia kannst D’ denn von mir red’n, Loni! I hab’ ja nix wia mein’ Stoana, an di i all’weil hinred’! Ja, wenn i no an Wes’n hätt’, an dem i das G’wiss’ in mir auslassen könnt’ – i kann’s ja selb’r net nenna – dann – dann –“

Loni blickte ihn so sonderbar an – wie Erlösung aus schwerem Bann, wie Frohlocken glitt es über ihr Antlitz. „Flori! Liab’r guat’r Flori!“ rief sie und streckte die Arme nach ihm aus.

Der Steinhauer blickte überrascht, als traute er seinen Ohren nicht, auf sie. Aber er rührte sich nicht. Da sank Loni mutlos in sich zusammen.

Doch gleich danach raffte sie sich auf. „I muaß fort – hoam. – Und ja, Flori! I will’s so mach’n, wie Du g’sagt hast; unser Herrgott gieb’ mir d’ Kraft dazua. Aber red’n derfst net, bis’ Zeit is, des versprichst ma?“

Sie griff nach seiner Hand. Er reichte sie ihr. „Des versprech’ i Dir, Loni!“

Sie floh förmlich aus der Hütte, über den Arbeitsplatz und den Farrenbach, ohne sich umzusehen.

Flori sah ihr kopfschüttelnd nach. „Wenn ’s nur d’ Kraft dazua hat – und wenn sie’s net hat – dann – dann muaß i ihr helf’n, geht’s wia’s mag. Und wann i selb’r drüber z’Grund geha sollt’ – an mir liegt ja net viel – wann nur sie und das arm’ Hascherl, das Marei, wieda froh und glückli wird!“

Der Abend sank über den Grund, eine feuchte Kühle wehte aus der Schlucht des Farrenbaches. Flori ging wieder an die Arbeit, bald schlug er wie im Zorn auf die Steine, daß die Stücke wirr umherflogen, bald ließ er den Hammer minutenlang ruhen und blickte mit seligem Lächeln vor sich hin, in Erinnerung oder Ahnung versunken.




5.

Der Mentner hatte kein Testament hinterlassen, der lebenstrotzende Mann dachte nicht ans Sterben. So war das Marei die alleinige Erbin des Hofes, Loni war auf den Pflichtteil angewiesen, auf den „Austrag“, Wohnung und Verköstigung; das Uebrige stand im Belieben der Tochter und, so lange diese minderjährig war, im Ermessen des vom Gericht aufgestellten Vormunds.

Das war ein neuer Umstand, welcher Lonis Verhältnis zur Tochter trübte. Das Opfer, welches sie einst gebracht, als sie den ungeliebten Mentner zum Manne nahm, war ein vergebliches. Sie war in der Blüte ihrer Kraft eine Austräglerin! Das war fast noch schlimmer als eine hablose Dirn’. Doch in dem qualvollen Zwiespalt ihrer Seele, der sie vollauf in Anspruch nahm, fügte sie sich leidlich gut in das Unvermeidliche. Anderseits that Marei, in ihrer Herzensgüte das Unrecht fühlend, welches die Mutter erlitt, alles Erdenkliche, um ihr über das Peinliche des neuen Zustands hinwegzuhelfen. Für sie war und blieb Loni die Mutter, die Herrin des Hofes. Sie konnte sich gar nicht denken, daß es anders werden sollte.

Die schlimme Lage der Mutter, der Schmerz darüber, den sie ihr an den Augen abzusehen glaubte, weckte von neuem ihre kindliche Liebe. Sie brachte es jetzt nicht übers Herz, den Kampf zu beginnen, den sie in jener Nacht auf sich genommen. Er kam ihr ja ohnehin so sündhaft vor; nur die große Liebe zu ihrem Willy hatte sie damals so aufgebracht. Und auf Loni wirkte dieses Verhalten der Tochter wohlthuend, es erinnerte sie täglich von neuem an ihre heilige Mutterpflicht einem solchen Kind gegenüber.

Sie hoffte im stillen, Anderl werde, wenn er Kenntnis erhalte von ihrer Besitzlosigkeit, von seiner Liebe abstehen. Am Ende reizte ihn doch auch der Gedanke, Bauer zu werden, Besitzer des Mentnerhofes. Das heißt – sie hoffte es und fürchtete es zugleich.

Aber ihr Hoffen und Fürchten war überflüssig. Er lachte ihr ins Gesicht, als sie davon zu sprechen anfing. „Glaubst, i mach’s so wia Du mit’n Mentner? Da kennst mi’ schlecht, Loni. I bin net wia die andern, in an’ Punkt net. I hab’ in mei’m Leb’n vordem mi no um kei Weibsleut kümmert, bis mi’s anpackt hat, die Liab zu Dir. Und wia hat’s mi anpackt, Loni – i kann Di nimma lass’n, und wenn i betteln müaßt für Di! Wennst mi’ net willst, sag’s nur, schick mi weita; sie woll’n mi aa so schon lang weg hab’n vom Hof. Was i nach’a thua, das weiß i net – und Du? Die Austraglerin spiel’n auf’n Mentnerhof – so a Weib wia Du!!“

Da wurden alle ihre guten Vorsätze zu Schanden, die sie bei Flori gefaßt. Einmal schon hatte sie uneigennützige treue Liebe verschmäht, um Wohlstand zu gewinnen, bitter hatte es sich gerächt; sollte sie es noch einmal thun? Sie sah in der Zukunft sich schaudernd als die alte gebeugte Austraglerin des Mentnerhofes. Das kommt rasch, wenn man einmal mit allem gebrochen hat. Der Vorschlag, den ihr Flori gemacht, die Flucht Anderls und die nachfolgende Anzeige seiner Schuld, erschien ihr in diesem Augenblick eine Ungeheuerlichkeit. Sie brachte ihn nicht über die Lippen. Die Unterredung endete mit einer Festigung anstatt der Lösung der unseligen Fesseln, die sie umstrickt hielten. – – –

Monate waren vergangen, Hagenberg lag im Schnee vergraben, auch sein Schandfleck, der Mentnerhof, blitzte jetzt in tadelloser Weiße.

Man war auf die Hausarbeit angewiesen und rückte unwillkürlich enger aneinander.

Der Mentner war gerade zu dieser Zeit ein störendes Element im Hause gewesen. Seine robuste Persönlichkeit füllte beängstigend die engen niederen Räume. Die Langeweile machte ihn launisch, er suchte sie durch Schelten zu vertreiben.

Jetzt war das anders! Eine lautlose feierliche Stille herrschte den ganzen Tag über, und wenn man auch in derselben sein eigenes unruhiges Herz um so deutlicher pochen hörte, so machte sich doch bei Mutter und Tochter das Bedürfnis innigen Anschlusses geltend. Der Försterwilly war längst nicht mehr in Hagenberg; er war um Versetzung eingekommen, und man hatte seinem Wunsch Rechnung getragen. Doch jede Woche kam ein Brief an Marei. Die treue Liebe, das unerschütterliche Hoffen, welches aus jeder Zeile sprach, beglückten das Mädchen. Aber die Briefe enthielten auch noch anderes: eine stete Aufforderung, die Augen offen zu halten, die Mutter und Anderl zu beobachten, dem Schuldigen nachzuspüren. Sie selbst war daran schuld mit ihrem doppelten Verdachte, welchen sie dem Geliebten gegenüber ausgesprochen, und das Schlimmste dabei war, daß derselbe von Tag zu Tag unsicherer wurde, sowohl in Bezug auf die Stellung des Anderl zu ihrer Mutter, als auf seine Schuld am Tode von Willys Vater.

So sehr sie auch – und sie that es mit heftigem Widerwillen – die Augen offen hielt, sie konnte nicht das geringste Verdächtige bemerken, keinen unrechten Blick, kein Wort. Anderl blieb immer der Gleiche, der schweigsame unterwürfige Knecht – keine Spur von einer Annäherung.

Einmal sich bewußt eines falschen Verdachtes, wurde sie gegen sich selbst mißtrauisch und glaubte auch nicht mehr recht an den weiteren noch schwerer wiegenden gegen den Anderl. Und es war ihr, als müsse sie ihr Unrecht gutmachen, obwohl ihr das Herz dabei blutete, obwohl sie ihre letzte Hoffnung damit schwinden sah.

Dieser innere Widerstreit zehrte an ihrer Jugendkraft. Der rosige Schmelz ihrer Wangen wich, der liederfrohe Mund verstummte, die Falte der Resignation erschien in seinen früher von heiterem Lächeln belebten Winkeln. Der strahlende Glanz der Augen war dem Ausdruck des Kummers gewichen, der Sehnsucht nach einem verlorenen Glück.

[129]

Winternacht auf dem Meere.
Nach einer Originalzeichnung von E. Limmer.

[130] Der Mutter konnte diese Veränderung nicht entgehen und sie gab die Schuld dafür dem Willy.

Das war ihr auch eine rechte Liebe, die der Tochter die Schuld des toten Vaters entgelten ließ. Sie begriff diese Anschauung nicht, nach ihrem eigenen leidenschaftlichen Herzen urteileud. Sie hätte sich ja selbst verdammen müssen, wenn sie die Berechtigung derselben zugegeben hätte, und je mehr sie dagegen eiferte, desto mehr beruhigte sich ihr eigenes Gewissen.

Sie hielt mit ihrem scharfen Urteil auch Marei gegenüber nicht zurück. Bei jeder Gelegenheit brachte sie die Sprache darauf und ihre lebhafte Erregung, die leidenschaftlichen Worte, die sie fand, steckten auch Marei an. Auch in ihr erhob sich der Zweifel, ob nicht am Ende die Mutter recht habe, ob es nicht eine Schwäche in Willys Empfinden für sie sei, daß er seinen Bedenken nachgab. Wer konnte denn fest behaupten, daß wirklich der Mentner seinen Vater ermordet habe? Hat das Gericht ihn nicht freigelassen? Also nur dem Gerede der Leute zuliebe verzichtete er auf sie?

Von dieser Seite hatte sie ihr Schicksal noch gar nicht betrachtet. Loni hatte geglaubt, ihr durch den Tadel Willys den drohenden Verlust des Geliebten erträglicher zu machen, aber sie erreichte das Gegenteil. Ein neuer Gram nagte an dem Herzen ihres Kindes, sein Zustand verschlimmerte sich von Woche zu Woche.

Jeden Sonntag Vormittag nach dem Gottesdienst kam einer ins Haus, dessen Besuch Loni und Anderl sehr peinlich war – der Stoanerflori, der während des Winters im Dorf wohnte. Für erstere war er ein ständiger Mahner – „Hast Di no net entschloss’n, an End’ z’ mach’n? Kannst Dei Kind so dahinwelk’n seh’n?“ Für den Anderl eine ständige Anklage: „Du bist der Mörder, i kenn’ Di wohl!“ Noch hatte Loni Anderl nicht mitgeteilt, daß Floris Verdacht sich nicht allein auf das letzte Wort des sterbenden Mentners an ihn gründete, aber ihm genügte das Zusammentreffen mit dem verhaßten Menschen im Stall am Sterbetag.

Der Flori war überzeugt von seiner Schuld – das fühlte der Anderl. Außerdem fürchtete er in ihm seinen Nebenbuhler. Die Eifersucht war ihm noch ein schärferer Stachel des Hasses als die Furcht. Wie er auf den Förster losgedrückt hat, wie er ihn hat stürzen sehen, da ist’s ihm wohl eiskalt über den Rücken hinuntergelaufen, er hätte viel darum gegeben, wenn er wieder aufgestanden wäre, den Flori aber – den könnte er ruhig zusammenbrechen sehen! Gar oft kam ihm der Gedanke, wenn er ihn eintreten sah.

Der Steinhauer wußte sehr wohl, daß er kein gern gesehener Gast war, aber das machte ihm nichts aus, er hielt es für seine Pflicht, ohne einen andern Nebengedanken, Loni vor einem unheilvollen Schritte zu bewahren und das arme Marei zu retten, deren Leid ihm in die Seele schnitt. Jeden Sonntag hoffte er, den Anderl nicht mehr zu sehen, jeden Sonntag schied er mit einem fragenden mahnenden Blick auf Loni. Vergebens! Der Anderl blieb.

Der Föhn stürzte schon herein über die schneebefreiten Schneiden; es rauschte und brauste in den Schluchten von geschäftigen Wassern – auch der Farrenbach war erwacht aus seinem Winterschlaf und wälzte sich mit neuer Jugendkraft aus der Schlucht zu Thal.

Floris Winterrast war zu Ende. Das ferne Rauschen, das bis in das Dorf drang, ließ ihm keine Ruhe mehr, der alte Freund rief. Es war der letzte Sonntag, den er im Dorf zubrachte, abends wollte er wieder seine Hütte beziehen, um Montag in aller Frühe seinen Dienst wieder anzutreten.

Das hatte er nicht gedacht, daß dieser Tag anbrechen werde, ohne daß die Mentnerin ihr Versprechen erfüllt haben würde. Heute wollte er noch einmal mit der Bäuerin ernstlich reden. War er erst wieder aus dem Dorfe, fehlte der ständige Mahner – dann war es ganz aus, dann war am Ende im Frühjahr Hochzeit!

Mareis Mut und Hoffnung waren gebrochen, sie fügte sich willenlos dem Verhängnis. Nur die Furcht vor Flori hielt die Bäuerin von dem letzten Schritt ab. Dieser sah schärfer als das unschuldige Marei. Er sah mit Augen der Eifersucht, wenn er es sich auch nicht eingestand.

Mit einem festen Entschluß betrat er das Mentnerhaus. Marei war allein in der Stube. In dem altväterischen Lehnstuhle sitzend, das Haupt tief auf die Brust herabgebeugt, hätte sie einer alten Frau geglichen, wenn nicht der Märzsonnenstrahl in den hellblonden Löckchen über der weißen Stirn sein Spiel getrieben.

Sie hörte den Flori nicht eintreten. In ihren schmalen Händen hielt sie einen Brief.

Leise trat Flori näher. Ueber ihr regungsloses Antlitz glitten Thränen und fielen mit einem harten Tone auf das Papier. So weit war es gekommen – dieses sieche leidvolle Wesen war das frische frohe Mentnermarei von einst.

Ein grimmiger Zorn stieg in Flori auf – „und das all’s um den Mensch’n? Dös darf net sein, an End’ haben mua’s! – Marei!“

Das Mädchen fuhr erschreckt auf und verbarg den Brief unter der Schürze. „Du bist’s, Flori!“ sagte sie dann, von seiner Gegenwart sichtlich angenehm berührt. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

„Komm’ i zur Unzeit, so sag’s ungeniert,“ meinte Flori.

Marei hielt ihn fest. „G’wiß net! Schau, wenn Du einagehst, nach’er is mir imma, als käm’ a guate Botschaft, a Hilf – i weiß selbst net warum.“

„A bess’re Botschaft könnt’ i leicht bringa, als die wohl is.“ Er deutete auf den Brief in ihren Händen. „Vom Willy?“

Marei nickte traurig. „Daß’s aus is.“

„Aus is! –- War’ ja net übl! Untreu der Willy? Nach’er glaubt’ i an nix mehr.“

„Net untreu, – aber er giebt mir d’ Treu z’ruck. I soll mi net opfern für ihn – net mei’ Jugend vertrauern! ’s gäb no’ brave Männer g’nua, die sich net z’stoß’n brauch’n an mein Vatern – g’rad er sei verdammt dazua. Da, les selb’r mei Urteil!“

Sie reichte ihm den Brief und setzte sich wieder erschöpft in den Lehnsessel.

Flora las – der Brief knitterte in seinen harten Fingern. Eine heftige Erregung malte sich in seinen Zügen – oft lachte er seltsam auf und schüttelte den Kopf. – „Er ist es halt doch g’wes’n, Dein Vater? Er hat sich selbst ja anklagt in sei’m Irrereden auf dem Totenlager? ‚Einen Unschuldigen in Verdacht bringen, weil es uns so passen thät, kann auch keinen Segen bringen,‘“ las er laut.

„Unschuldig?“ Er lachte höhnisch auf. „Weiß er denn das so g’wiß, der Herr Willy?“

Er zerknüllte zornig den Brief und schleuderte ihn zu Boden.

Marei war jäh aufgefahren. Sie strich sich, wie aus schwerem Traum erwachend, das Haar aus den Schläfen und blickte starr auf den Steinhauer. „Flori, Du weißt, wer’s than hat!“

Da lag sie auch schon auf den Knien und hob flehend die Hände zu ihm empor. „Flori, bei allen Heiligen beschwör’ i Di, es gilt mein Leb’n, schau mi an, i kann’s net mach’n ohn’ ihn – red’! Is’ der Anderl? – Der Anderl is’ – i weiß! Unser Herrgott selb’r hat’s mir zeigt und i hab’ no zweifeln könna! Der Vat’r hat Dir’s g’stand’n, eh’ i komma bin, unter der Buch’n, i und d’ Muatt’r. Er hat Dir verbot’n z’red’n, den Knecht z’ verrat’n und die Bitt’ eines Sterbenden is heili. Das glaub’ i, das weiß i – aber a jung’s Leb’n, zwei junge Leb’n san aa heili. Das hat der Vater net so bedacht, er hat mi ja so liab g’habt, er könnt’ mi net so leid’n seh’n. Flori, hab’ Erbarma mit mir – red’!“

Marei war außer sich, sie hielt den zitternden Mann mit übernatürlicher Kraft umfaßt, ihr Atem flog, aus ihren Augen flammte jetzt unbändige Leidenschaft, das Erbe der Mutter.

Flori war fassungslos, er fühlte, sein Widerstand war diesem Anprall nicht gewachsen und doch hatte er Loni geschworen, zu schweigen. Er mußte sie wenigsteus vorher noch einmal sprechen, sie auffordern zur entscheidenden That, dazu war er ja heute gekommen. So sträubte er sich mit aller Kraft gegen das Ansinnen des Mädchens.

„Laß mi, Marei – er hat nix g’sagt, Dein Vat’r, als den Nam’ und hat ma nix verbot’n, bei unserm Herrgott schwör’ i’s.“

„So schwör’ aa, daß Du sonst nix davon weißt. – Siehst, dös kannst net.“

Flori suchte gewaltsam ihre Umschlingung zu lösen, zu fliehen. Loni konnte jeden Augenblick eintreten, oder gar der Anderl – vergebens!

Er fühlte: wenn er dem Marei jetzt nachgiebt, wird ihn die Loni hassen, verachten; noch einmal dämmerte die alte Hoffnung in ihm auf. – „I kann net – i darf net!“ Er sprach es mehr zu sich selbst in seiner Ratlosigkeit.

„Darfst net!“ Marei griff das verhängnisvolle Wort auf. „Wer verbiet’s Dir? Wer auf der Welt kann’s Dir verbiet’n?“

In diesem Augenblick trat Loni zur Thür herein. Sie blieb [131] regungslos stehen, mit einem drohenden Blick auf den entsetzten, sprachlosen Flori.

Marei bemerkte sie nicht in ihrer Erregung.

„Wer kann Dir’s verbiet’n, an Tot’n sei’ Ehr wieder z’geben, den verflucht’n Mörder z’ nenna?“

„Der Tote selb’r!“

Loni sprach diese Worte. Marei schrie laut auf und blickte auf ihre Mutter, wie auf eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Lonis Antlitz war wie aus Stein gemeißelt, so bewegungslos.

„Muatt’r! Der Tote? – Der Vat’r?“

„Ja, der Vat’r, dem’s sein Will’ net sein kann, daß a Mensch, der ihm ’s Leb’n g’rett’ hat, drum leid’n soll wia a Mörd’r.“

„Dem Vat’r – ’s Leb’n g’rett’ – der Anderl?“ rief stammelnd das Mädchen und ein Freudenschimmer flog über ihre erstaunten Züge.

„Der Anderl – ja. Nun sollst’s wiss’n, weil der da,“ sie nickte verächtlich mit dem Kopfe gegen Flori, „do kei Ruah giebt. Der Anderl, der den Kirchberger in dem Augenblick d’rschoss’n hat, wo er Dein’ Vatern hat d’rschiaß’n woll’n! Jetzt zeig’ ’hn an, wennst’ kannst.“

Marei mußte sich setzen, ein Schwindel befiel sie – so nahe ihrem Ziele, erhob sich ein neues unüberwindliches Hindernis. Der Gedanke, daß, wenn Anderl nicht geschossen hätte, ihr Vater von der Hand des Försters, also durch den Vater ihres Geliebten, gefallen wäre, zeigte ihr die Situation in einem neuen, fürchterlichen Lichte! Ihr Haupt neigte sich auf die Seite, Totenblässe überzog das Antlitz, die Hände sanken kraftlos an den Seiten herab.

Flori sprang hinzu und stützte die Ohnmächtige. „Jetzt aba is’ die höchst’ Zeit, Loni,“ flüsterte er dabei heftig, „sonst wird’s z’ spät – und das wär’ a Mord!“

Die Bäuerin ging auf das Mädchen zu und stieß Flori mit einer heftigen Bewegung zurück, als wollte sie ihm das Recht verwehren, ihrem Kinde zu helfen.

„Was mischst’ Di denn eigentli all’weil d’rein? I weiß selb’r, was i z’ thuan hab’ und was i mei’m Kind schuldi bin. – Marei!“ rief sie dann in einem Tone, aus welchem das erwachte Muttergefühl klang.

Das Mädchen hob, wie aus einem tiefen Schlaf erwachend, das Haupt, blickte mit einem innigen Ausdruck auf die Mutter, drückte flehend ihre Hand und brach in lautes Schluchzen aus.

Loni strich zärtlich ihr über das Haar, ihr Antlitz hatte jetzt einen milden Ausdruck. „Auf mi verlaß’ Di, auf mi allei – Du brauchst kein ander’n Mensch’n!“

Dabei warf sie Flori einen feindseligen Blick zu. „Nur eins versprich mir, Marei, daß D’ von dem, was D’ jetzt g’hört hast, schweig’n willst wia’s Grab, bis i Dir sag’, daß D’ red’n darfst. Net lang’ soll’s dau’rn.“

„O wia guat des is, Dei Red’n, Dei Hand – Dei Liab!“ Marei streichelte die mütterliche Rechte und schloß selig lächelnd die Augen. „I versprech’s, kei Wort soll – – I hab’s g’rad im Traum g’seh’n, wia’s do’ no’ kommt – mi und d’n Willy in an Gart’n – und so schön war’s – so schön!“ Sie blickte verklärt.

Loni führte die Tochter langsam mit sorgsamer Hand in die Schlafstube. Ruhe war jetzt das Nötigste.

Flori blickte den beiden mit verbissenem Schmerz nach. „Loni!“ rief er noch einmal, als sie unter die Thür traten.

Die Bäuerin wandte sich nicht; er floh aus dem Hause.

Er hatte sein Wort gebrochen, ihr die Freiheit des Handelns geraubt, in der sie vielleicht den Lohn erhofft hatte für das qualvolle Opfer, das sie bringen mußte. Das wird sie ihm nie vergeben, sie wird ihn hassen von nun an. – „Und do’ is’ a Glück, daß’ so komma is, sie hätt’ sonst die Kraft nimm’r g’fund’n,“ das war sein Trost.

(Fortsetzung folgt.)



Blätter und Blüten.



Eine hochherzige Stiftung zur Pflege der Wissenschaft, ähnlich der Wentzelschen, die wir in Nr. 43 des vorigen Jahrgangs zu verzeichnen hatten und welche der Berliner Akademie der Wissenschaften zugefallen war, ist neuerdings von dem Wiener Bürger Joseph Treitl dem gleichen Institut seiner Vaterstadt testamentarisch überwiesen worden. Der in hohem Alter Verstorbene, welcher auch dem öffentlichen Wohle lange Jahre als Mitglied des Wiener Gemeinderats diente, hat die Wiener Akademie der Wissenschaften zur Universalerbin seines Vermögens eingesetzt, das sich auf über eine Million Gulden beläuft, von welcher Summe ungefähr 200 000 von besonderen Legaten beansprucht werden. Der alte Herr, der in seinem Haus in der Wiedener Vorstadt in stiller Zurückgezogenheit lebte, war ein eifriger Anhänger der Naturwissenschaften, im besondern zog ihn die Astronomie mächtig an. Dementsprechend hat er unter den besonderen Zwecken, denen seine Stiftung dienen soll, die Erforschung der physikalischen Beschaffenheit der Himmelskörper und des Erdballs an erster Stelle genannt. Er erwartet aber nach dem Wortlaut seines Testaments von der Akademie eine Verwendung, durch welche auf dem Wege der Belehrung und Aufklärung auch eine Kräftigung der Moral, Erweiterung gewerblicher Kenntnisse, Vereinfachung der Heilkunst und Hebung des materiellen Wohlstandes erreicht werden kann. Das letztere verspricht er sich von dem immer weiteren Bekanntwerden neuerer Entdeckungen, die sich zur praktischen Verwertung eignen. Der wackere Wiener hat sich mit seiner Stiftung ein Denkmal gesetzt, das in der Wissenschaft noch in ferner Zeit lebendig fortwirken wird.

Ludwig Fulda (Mit Bildnis S. 117.) Der Name des liebenswürdigen, noch in der Blüte der Jugend stehenden Lustspieldichters, dessen Bild die erste Seite unserer Nummer schmückt, wird vielen Lesern die angenehme Erinnerung an Theaterabende wachrufen, die ihnen den seltenen Genuß eines künstlerisch abgetönten Humors, der auch den Geist ansprach und anregte, vermittelt haben. Der nachdenklich kritische Zug, welcher in dem den Dichter fein charakterisierenden Porträt W. Auberlens hervortritt, ist auch der heiteren Muse eigen, welcher wir die geistvoll satirischen Lustspiele „Die wilde Jagd“, „Der Talisman“ und „Die Kameraden“ verdanken. Diese Nachdenklichkeit Ludwig Fuldas, sein Hang, im besonderen die Schwächen und Grundschäden der modernen Geselligkeit satirisch zu beleuchten, entspringt aber nicht der Vorherrschaft eines kühlen Verstandes über die poetische Kraft, sondern einer tiefinnigen, warmherzigen Anteilnahme des Gemüts an menschlicher Schwäche und Unvollkommenheit. Mit scharfem Blick erkennt sein Auge die Verkehrtheiten, mit denen sich so viele das Leben sauer machen und um dasjenige Maß von Glück betrügen, das sie erwerben könnten, wenn sie nur wollten. Aber mit mildem Humor führt er das Bekehrungswerk durch. So verschieden nach Stoff und Stil die genannten dramatischen Hauptwerke des Autors sind, es ist die gleiche Tendenz, die sie durchdringt. Da wird in der „wilden Jagd“ die Sucht nach äußerlichen Erfolgen und gesellschaftlichen Zerstreuungen auf Kosten des häuslichen Glücks verspottet. Im „Talisman“, in dem Anderssens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ eine mächtige poetische Vertretung erlebte, fällt das Licht der Satire auf die schweren seelischen Gefahren, die den Herrschern zum Unheil ihres ganzen Volks von ihrer schmeichlerischen Umgebung drohen. Und sein neuestes Werk „Die Kameraden“ schildert im Schicksal einer modernen Weltdame die verhängnisvolle Wirkung von unverstandenen Emancipationstheorien und deren Schlagwörtern auf unreife Köpfe. Wie in diesen Lustspielen waltet auch in seinen Gedichten ein fein satirischer Humor von gleicher Richtung, der über scharfzugespitzten epigrammatischen Ausdruck verfügt; wir verweisen auf die gehaltvollen Sammlungen „Satura“, „Sinngedichte“, „Gedichte“, neben denen auch die fesselnden Novellen „Lebensfragmente“ zu nennen sind.

Ludwig Fulda, am 15. Juli 1862 in Frankfurt a. M. als Sohn eines Kaufmanns geboren, ist sich schon früh seines poetischen Talents bewußt geworden. Für einen Einakter in Versen „Die Aufrichtige“ erhielt er noch als Student in einer ausgeschriebenen Konkurrenz den Preis. Seinen ersten Dichtungen fehlte freilich die warme Unmittelbarkeit poetischer Lebensdarstellung. Und wie sich in ihnen der Einfluß seiner gleichzeitigen litterarhistorischen Studien geltend machte, so gab in einigen späteren Dramen, wie „Das verlorene Paradies“, „Die Sklavin“, die starke Wirkung der „sozialen Frage“ auf die gleichzeitige Litteratur vorübergehend auch seinem Talent eine Richtung, in welcher sich dasselbe nicht mit frischer Unmittelbarkeit bewegte. Doch rechtzeitig erkannte der feinfühlige Dichter die ihm gezogenen Grenzen und kehrte zum Lustspiel zurück, auf dessen Felde ihm jetzt Lorbeeren blühen, die nicht so bald verwelken werden. Rastlos bemüht, sich in der Beherrschung der dramatischen Technik immer mehr zu vervollkommnen, ergab er sich mit besonderer Hingabe dem Studium Molières, des großen Meisters der neuzeitlichen Bühnensatire, und dieser Eifer ist nicht nur seinem eigenen Schaffen, sondern auch dem klassischen Dichter selbst zu gute gekommen, wie seine musterhafte Uebersetzung von „Molières Meisterwerken“ und deren Wirkung von der Bühne herab beweisen. J. Pr.     


Winternacht auf dem Meere. (Zu dem Bilde S. 129.) Sind es nicht zwei echte Helden von der „Waterkant“, die da in sturmdurchtoster Winternacht am Steuer der „Irma“ sich kaum auf den Füßen zu halten vermögen? Cord und Hinnerk stammen aus demselben Küstendorfe und kamen schon mit zwölf Jahren als Schiffsjungen auf ein und dasselbe Schiff, wo in der strengen Zucht und dem überaus harten Dienst ihre [132] jungen Glieder geschmeidig und tüchtig, ihre jungen Seelen mannhart geschmiedet und gestählt wurden. Sie gehören der immer mehr aussterbenden Klasse der „echten“, d. h. auf Segelschiffen ausgebildeten Seeleute an, haben sich den Wind in allen Meeren gehörig um die Nase wehen lassen und dabei ohne hohe Schule gelernt, die Naturkräfte zu verstehen und zu gebrauchen, ohne zu zittern und zu zagen. Dann kam die Zeit, wo beide des Strandvogts schmucke Tochter liebgewannen, und fast hätte die Jugendfreundschaft zu einem tragischen oder doch blutigen Ende geführt. Da wollte es aber das Glück, daß Cord als Vollmatrose mit seinem Schiff einen Monat früher „binnen“ kam als Hinnerk mit dem seinen und daß er die Theda, eben des Strandvogts Tochter, in herbem Kummer sitzen fand, denn ihr waren Vater und Mutter gestorben; ihr selbst aber, die nie gelernt hatte, zu dienen, fehlte nun das trockene Brot. Natürlich wollte Cord mit beiden Händen zufassen; konnte er doch der Geliebten nicht nur ein Sparkassenbuch einhändigen, sondern auch seine demnächstige Beförderung zum Bootsmann in sichere Aussicht stellen. Theda aber sagte: „Ja, wenn Du Hinnerk wärest!“ Erst wollte er aufbrausen und alles in Grund und Boden schlagen, dann schluckte er „dreimal trocken nieder“, reichte Theda die Hand und murmelte: „Der ,Armin’ steht noch lange aus, ich bleibe aber so lange auf Platz, und Du sollst Hinnerk haben, auf mein Wort! Mußt aber’s Maul halten, Theda, von wegen meiner.“ Und das Friesenmädchen wußte schon „Maul zu halten“ und gab später dem Verschmähten freiwillig den ersten und einzigen Kuß, als er ihr den Heißgeliebten zuführte. Darüber sind nun schon viele Jahre verflossen. Nach hundert und aber hundert Trennungen hat das Geschick die beiden Freunde an Bord der „Irma“ wieder zusammengeführt, Cord den Bootsmann und Hinnerk den Segelmacher, der auch Dienste als Vollmatrose zu leisten hat. Anfangs gingen sie sich ein wenig scheu aus dem Wege: als aber nach der bisher vorn Wetter begünstigten Fährt über das brave tüchtige Schiff die furchtbarsten Stürme hereinbrachen, da fanden sie sich zusammen, die beiden alten Jungen von der Waterkant –

„Glövest Do, dat die ,Irma‘ dat utholen kann?“ fragte Hinnerk, als er zur Hundewache, zwischen 4 bis 6 Uhr nachmittags, als Assistenz an das Steuerrad beordert wurde. Cord räusperte sich und erwiderte dann: „Dat fragst Do noch, wo dat doch nich Din erste Fahrt is.“ Die Rede blieb ihm aber halb in der Kehle stecken, denn mit aller Wucht sauste eine neue Schneebö aus den rabenschwarzen Wolken hernieder, drückte das ächzende Schiff seitwärts in die Wogen und pfiff die schrillsten Melodien im Takelwerk. – „Na, denn man ’ran, wir werden dat Schipp un seine ganze Bagage schonst durch dat ekliche Wetter durchbringen.“

„Weist’ auch, wat heut’ für’n Tag is?“ schreit Hinnerk dem alten Kameraden in die Ohren. Der giebt ihm einen ärgerlichen Rippenstoß in die Seite und schreit durch Sturmesbrausen und Schneegestöber zurück: „Wat for’n Dämlack Do büst! Hüt is Sonntag!“

„Kann wohl sin; aberst wi markt den 7. Januar, wo Du vor finfundtwintig Jahren mi de Theda to führt hast. Do, min oll, leiv Cord!“

„Na, denn man to! Dat wi de ,Irma‘ un ihren Segelmacher richtig to Anker bringen für Theda un die Jungens!“ H. P.     


Die Grabkapelle der Fürstin Bismarck in Varzin.
Nach einer Photographie von Fritz Lindow.

Die Grabkapelle der Fürstin Bismarck in Varzin. Als am 27. November vorigen Jahres Fürst Bismarck in Varzin vom Verlust seiner so innig geliebten Lebensgefährtin betroffen wurde, ordnete er an, daß die Fürstin ihre letzte Ruhe an der Stätte ihres Todes finden sollte, wo sie, wie schon so oft, den Sommer und Winter mit einander verlebt hatten. Ein kleines Gartenhaus, das ein Lieblingsplatz der Fürstin war, wurde zu einer einfachen Grabkapelle umgewandelt und hier wurde der Sarg beigesetzt in Gegenwart des Fürsten, seiner nächsten Familienangehörigen und Freunde, des Beamten und Forstpersonals des Gutes und vieler Einwohner von Varzin. Der im Arbeitszimmer der Fürstin aufgebahrte Sarg wurde von sechs Förstern und sechs Inspektoren in das Gartenhaus getragen, dessen umfriedete Lage zwischen den Bäumen des Parkes unser obenstehendes Bild den Lesern vergegenwärtigt. Die vielen Hunderte von Kränzen und Blumengebinden aller Art, die auf die Trauernachricht hin in Varzin eintrafen, gelangten im ganzen Raume zur Verteilung. Es wird erzählt, daß Fürst Bismarck nach der Trauerfeier vor dem Verlassen der Stätte aus einem Kranze, der zu Häupten der Toten lag, eine weiße Rose gebrochen habe, die er mit sich nahm. Da inzwischen in Schönhausen, dem Stammgut des Fürsten, wo die meisten seiner Vorfahren ruhen, mit dem Bau einer Familiengruft begonnen wurde, ist anzunehmen, daß auch die Fürstin später dort beigesetzt wird.

Lehrbuch des Schnittzeichnens. Das Schneidern ist eine Kunst: Geschmack und eine geschickte Hand gehören dazu, sowie die Fähigkeit, im Vorübergehen mit einem Blick die Besonderheit einer eleganten Toilette „loszuhaben“. Was aber sonst dazu erforderlich ist, das kann gelernt werden, sowohl praktisch in einem Kurs als an der Hand eines guten Lehrbuches, wie das „Lehrbuch des Schnittzeichnens“ von Helene Sommer (Dresden, Köhler). Die Verfasserin leitet eine Lehranstalt für theoretische und praktische Damenschneiderei in Dresden, sie giebt im Textteil ihres mit Zeichnungen reich ausgestatteten Buches die genaue Unterweisung zum Maßnehmen, Schnittzeichnen, Zusammenheften, Anprobieren und Fertigstellen der Kleidungsstücke. Von anderen Methoden unterscheidet sich die ihrige vorteilhaft dadurch, daß sie kein nach Berechnung aufgestelltes Schema zu Grunde legt, sondern nur die Maße des Körpers selbst, deren sorgfältige Ermittlung und Zusammenstellung das gute Passen gewährleistet. Wer die betreffenden Abschnitte genau studiert und das Erlernte richtig anwendet, wird in kurzer Zeit imstande sein, für sich und andere die Modezeitungen mit ihren stets wechselnden Neuheiten zu benutzen, indem das alte, unveränderliche Körpermaß stets zu Grunde gelegt und alles andere nach ihm gerichtet wird. Wo dies nicht geschieht, wiederholt sich immer aufs neue die schon so oft gehörte Klage, daß die Schnitte aus der Modezeitung nicht passen wollen. Wir haben wiederholt schon auf den großen wirtschaftlichen Nutzen der Hausschneiderei hingewiesen. Aber nicht um seinetwillen allein sollte sie gepflegt werden, sondern um der größeren praktischen Tüchtigkeit und Gewandtheit willen, die dabei gewonnen werden. Unsere junge Mädchenwelt stickt, häkelt und knüpft viel zu viel Ueberflüssiges, sie sollte statt dessen recht fleißig zur Hausschneiderei angehalten werden. Als Anregung dazu empfehlen wir das praktische Sommersche Werk bestens. Bn.     


Kälte von – 110° C. ein – Heilmittel. Wiederholt haben wir über die Versuche berichtet, die von dem berühmten Physiker Raoul Pictet mit künstlich erzeugten äußerst niedrigen Temperaturen angestellt werden. In unserem Artikel „Brennender Frost“ in Nr. 52 des Jahrgangs 1893 haben wir von der verderblichen Wirkung ungemein niedriger Temperaturen auf den Menschen berichtet, heute möchten wir kurz erwähnen, daß dieser Frost, wie er unter natürlichen Umständen auf der Erde noch niemals beobachtet wurde, auch wohlthätig den Menschen zu beeinflussen vermag.

Pictet machte die Entdeckung, daß eine Kälte, die unter – 65° C. liegt, sich ganz eigenartig verhält. Gegen einen solchen Frost schützen keine schlechten Wärmeleiter; diese Kältestrahlen dringen durch den dichtesten Pelz und das schönste Federbett mit derselben Leichtigkeit wie der Sonnenstrahl durch die Glasscheibe. Pictet wollte nun sehen, wie sich Tiere in einer solchen Kälte verhalten würden. Er hüllte sie darum in Pelze ein und versenkte sie in einen Gefrierschacht von – 110° C. Temperatur, wo sie kurze Zeit verblieben. Nach der Ansicht des berühmten Physikers waren sie hier von der Kälte von 0° bis –65° durch die Pelze geschützt und nur der Einwirkung der alles durchdringenden Kälte von –65° bis –110° C. ausgesetzt. Die Tiere ertrugen diese ungemein niedrige Temperatur und verließen den Gefrierschacht mit einem wahren Heißhunger behaftet. – Nun stieg der Forscher selbst, wohl in Pelze eingehüllt, in den Gefrierschacht bei einer Temperatur von –110° C. Nach vier Minuten stellte sich bei ihm das Gefühl eines wahren Heißhungers ein und er verließ den Schacht mit dem größten Appetit. Das war höchst überraschend, denn Herr Pictet litt seit zehn Jahren an einer schmerzhaften Magenkrankheit und wußte seit lange nicht mehr, was Appetit heißt. – Er war darum über diese Wirkung des Gefrierschachts aufs höchste erstaunt und er begab sich nun wiederholt in denselben. Nach acht Sitzungen hatte sich auch seine Verdauung gebessert und die Schmerzen waren verschwunden. Der Kälteforscher hatte sich selbst geheilt. – Der Vorfall ist höchst eigenartig und interessant; aber vereinzelte Versuche haben noch keine Beweiskraft; weitere Versuche werden ergeben, ob der künstliche Frost von –110° C. sich wirklich zu Heilzwecken wird verwenden lassen; dann würden wir ein neues „Frostheilverfahren“, eine Frigotherapie, besitzen! *      


Kleiner Briefkasten.

J. H. in Prag. Der Schriftsteller Johannes van Dewall ist bereits am 16. April 1883 in Wiesbaden gestorben.

Alte Abonnentin S. E. in Bonn und Ch. G. W., Texas. Wir bitten um gefl. Angabe Ihrer vollständigen Adresse.

St. in Weißenburg i. E. Die Auflösung der Schachaufgabe in Beilage 2 zu Nr. 41 des Jahrgangs 1891 finden sie in der Beilage 3 zu Nr. 42.


Hierzu die Extra-Beilage: Vom Untergang der „Elbe“ gerettet. Von Anna Böcker.

Inhalt: Echt. Erzählung von R. Artaria. S. 117. – Ludwig Fulda. Bildnis. S. 117. – Der Tiger von Plessis-les-Tours. Von Ernst Hutten. S. 120. Mit dem Bilde S. 121. – Das Pellerhaus in Nürnberg. Von Hans Boesch. S. 124. Mit Abbildungen S. 124 und 125. – Weiße Schreibtafeln. S. 126. – Loni. Erzählung von Anton von Perfall (3. Fortsetzung). S. 126. – Winternacht auf dem Meere. Bild. S. 129. – Blätter und Blüten: Eine hochherzige Stiftung zur Pflege der Wissenschaft. S. 131. – Ludwig Fulda. S. 131. (Mit Bildnis S. 117.) – Winternacht auf dem Meere. S. 131. (Zu dem Bilde S. 129.) – Die Grabkapelle der Fürstin Bismarck in Varzin. Mit Abbildung. S. 132. – Lehrbuch des Schnittzeichnens. S. 132. – Kälte von –110° C. ein – Heilmittel. S. 132. – Kleiner Briefkasten. S. 132.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.