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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[117]

Nr. 8.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(7. Fortsetzung.)


Der Ankömmling in der Waldhütte war ein junger Mann von etwa vierundzwanzig Jahren mit einem hübschen offenen Gesicht, mit braunem leichtgekrausten Haar und hellen lustigen Augen. Das Wetter hatte ihn übel zugerichtet, denn er war ohne Regenmantel; der graue Reiseanzug, den er trug, triefte von Nässe, und als er jetzt grüßend den Hut zog, ergossen sich von der Krempe desselben verschiedene kleine Bäche auf den Boden.

„Ich bitte, einem verirrten und verregneten Wandersmann gütigst eine kurze Rast zu gewähren,“ sagte er, zu Maja gewandt. „Ich bin wirklich ein ganz gewöhnliches Menschenkind und kein Wassergeschöpf, wie meine äußere Verfassung vermuthen lassen könnte. Darf ich näher treten?“

„Bleiben Sie nur an der Thüre stehen,“ klang es aus der Ecke. „Wassergeister und Erdmännlein vertragen sich nicht, das wissen Sie vermuthlich aus den Märchen.“

„So? Nun, dann bleibt mir nichts übrig, als mich mit meinen sämtlichen menschlichen Eigenschaften auszuweisen mit Namen, Stand, Familie und sonstigem irdischen Beiwerk. Also: Graf Eckardstein, Lieutenant der Infanterie, Bruder des Majoratsherrn von Eckardstein und eben auf dem Wege dahin. Ich habe in Radefeld den Wagen vorausgeschickt, um den schönen Fußweg über die Odensberger Försterei zu machen als es diesen rücksichtslosen Wolken einfiel, sich in wahren Sturzbädern zu ergießen. Daher stammt meine Wassertoilette, die mich in einen so schnöden Verdacht bringt, aber auch das einzige Märchenhafte an mir ist – darf ich mich nun für genügend legitimiert erachten?“

„Ich glaube wohl. Also läßt sich Graf Viktor nach sechs Jahren doch einmal wieder in der Heimath sehen?“

Der junge Graf stutzte und trat trotz des Verbotes rasch einige Schritte näher. „Sie kennen mich?“

„Wichtelmännlein sind allwissend.“

„Aber sie bleiben nicht unsichtbar, wenn sie sich einmal zu dem Verkehr mit Sterblichen herablassen. Soll ich denn wirklich nicht schauen, was sich unter dieser grauen Hülle birgt?“ Er machte bei den letzten Worten einen neuen Versuch, dem geheimnißvollen Wesen näher ins Gesicht zu blicken aber vergebens, denn eine kleine rosige Hand, die urplötzlich zum Vorschein kam, zog die Kapuze so tief herab, daß nur noch das Näschen hervorguckte, und wieder ertönte das leise neckische Lachen, das wie Vogelgezwitscher klang.

„Rathen Sie, Herr Graf!“

„Unmöglich, wie kann ich das! Ich weiß niemand in Eckardstein oder vielleicht in Odensberg, denn wir stehen ja doch auf Odensberger Grund und Boden –“

Er hielt inne, wie um eine Antwort zu erwarten, aber er vernahm nur das erneute: „Rathen Sie!“

Ein entscheidender Zug
Originalzeichnung von L. Halmi.

[118] Graf Viktor sah ein, daß er auf diesem Wege nicht zum Ziele kam, das helle Lachen und die Stimme verriethen ihm aber, daß es ein noch sehr junges Mädchen sein mußte, das auf solche Weise mit ihm Verstecken spielte. Es blitzte übermüthig auf in seinen Augen, während er mit einer tiefen Verbeugung und scheinbarem Ernste sagte: „In der That, ich glaube jetzt die Stimme zu erkennen und auch die Gestalt – ich habe wohl die Ehre, dem Freifräulein Corona von Schmettwitz gegenüberstehen?“

Das Mittel half; wie von einer Feder geschnellt fuhr das Wichtel plötzlich aus der dunklen Ecke empor, die Kapuze flog zurück, und aus der hellen Fluth des offenen Blondhaars, die sich über den grauen Mantel ergoß, hob sich Majas reizendes Köpfchen mit dem süßen Kindergesicht, das in diesem Augenblick purpurroth war vor Entrüstung.

Corona von Schmettwitz! Das vierzigjährige Stiftsfräulein mit der hohen Schulter und der schnarrenden Stimme! So sollte sie aussehen? So sollte sie sprechen? Sie sah den Grafen vernichtend an.

Dieser mochte wohl nicht geglaubt haben, daß die graue Hülle etwas so Holdseliges berge, denn er blickte in starrer regungsloser Verwunderung auf das junge Mädchen, dessen lichte Erscheinung wie ein Sonnenstrahl in der düsteren Umgebung auftauchte. In der ersten Minute erkannte er sie offenbar noch nicht, dann aber dämmerte ihm eine Erinnerung auf, und beinahe jubelnd rief er: „Klein Maja! – Ich bitte um Verzeihung, gnädiges Fräulein, das war noch eine Erinnerung aus der Kinderzeit!“

Maja lachte fröhlich auf. „Ja, damals trug ich noch kurze Kleidchen und lange, lange Zöpfe, an denen Sie mich immer festhielten. Aber jetzt bin ich böse, Herr Graf, sehr böse – für Corona Schmettwitz haben Sie mich gehalten!“

„Eine Kriegslist, die Sie dem Soldaten schon verzeihen müssen! Auf andere Weise hätte ich die Wahrheit nicht so rasch erfahren. Oder glauben Sie im Ernst, daß ich Sie mit jener Dame verwechseln könnte, vor der ich schon als Knabe eine solche Hochachtung hegte, daß ich regelmäßig davonlief wenn sie im Anzug gegen Eckardstein war? – Wie, noch immer böse gegen den einstigen Spielkameraden Ihres Bruders? Er ist doch oft genug auch der Ihrige gewesen.“

„Jawohl, Sie ließen sich öfter herab, mit ‚Klein Maja‘ zu spielen,“ schmollte diese, indem sie das Haar zurückwarf. „Der Name ist das Einzige, was Sie behalten haben.“

„Ich habe doch wohl noch etwas anderes behalten,“ sagte der junge Graf langsam, während sein Auge unverwandt auf dem lieblichen Gesichtchen haftete. „Ich hätte Sie sonst nicht sofort erkannt, als die graue Wichtelhülle fiel. Jedenfalls wäre ich in den nächsten Tagen nach Odensberg gekommen. Erich ist ja daheim, wie ich höre.“

„Ja, und er ist Bräutigam! Das wissen Sie vermuthlich noch gar nicht?“

„Doch, ich habe die Anzeige seiner Verlobung erhalten und bin ihm noch meinen Glückwunsch schuldig. Ich habe überhaupt so viel zu fragen und zu hören, bin ich doch ganz fremd geworden in der Heimath, und da wir gerade Zeit haben –“

„Wir haben durchaus keine Zeit,“ rief Maja, mit einem Blicke nach der offen gebliebenen Thür. „Sehen Sie nur, es hellt sich auf, der Regen hat nachgelassen. Ich glaube, das Wetter ist vorüber.“

Graf Viktor trat in die Thür und sah nach den Wolken, aber mit einer Miene, die große Enttäuschung verrieth. Er hatte vorhin die Sturzbäder des Himmels rücksichtslos gefunden, jetzt schien er die Aufklärung des Wetters noch weit rücksichtsloser zu finden. „Ja, das Regnen hört auf – aber es wird bald wieder anfangen,“ sagte er hoffnungsvoll. „Jedenfalls müssen wir noch den nächsten Guß abwarten.“

„Damit wir vollständig hier eingeregnet werden?“ fiel Maja ein. „Nein, ich benutze die Pause und laufe schleunigst nach Odensberg. Komm, Puck, wir laufen!“

„Dann laufe ich mit,“ lachte der Graf. „Also ‚Puck‘ heißt das kleine weiße Geschöpf, das mir die Gastfreundschaft im Waldhäuschen versagen wollte. Komm her, du Kläffer, wir wollen Bekanntschaft machen!“

Puck hatte anfangs den Fremden mit sehr mißtrauischer Miene betrachtet und war offenbar noch nicht mit sich einig geworden, ob er ihn als Feind oder Freund behandeln solle, entschied sich aber jetzt doch für das letztere. Als der junge Mann ihn lockte, kam er zutraulich näher und ließ sich streicheln.

So traten denn die Drei gemeinschaftlich den Rückweg an. Der Regen hatte allerdings aufgehört, doch auf der freien Lichtung stürmte es noch gewaltig, und als man in den Schutz der Bäume gelangte, führten die brausenden Wipfel ein kleines Nachspiel des Wolkenbruchs auf – es troff und rieselte von allen Zweigen. Und der etwas tief liegende Fußpfad hatte sich in ein rinnendes Bächlein verwandelt, so daß Maja und ihr Begleiter den Weg seitwärts über Moos und Baumwurzeln suchen mußten. Der Waldbach war hoch angeschwollen und hatte die Ufer zu beiden Seiten des erhöhten Stegs überschwemmt. Man mußte, von Stein zu Stein springend, den Uebergang versuchen. Dabei verlor Puck das Gleichgewicht, glitt ins Wasser und erhob ein klägliches Jammergeschrei, weil er sich in dem Strudel nicht zu halten vermochte. Maja, die bereits am andern Ufer stand, stieß vor Angst um ihren Liebling einen Schmerzensruf aus, und Graf Eckardstein sprang mit beiden Füßen in das Wasser, packte das zappelnde Geschöpf und brachte es seiner Herrin, die den muthigen Retter mit einem dankbaren Blick empfing. Endlich wurde noch mitten im Walde ein blühender wilder Apfelbaum entdeckt, der dem jungen Mädchen einen Ausruf des Entzückens entlockte und dem Grafen Gelegenheit gab, seine Turnkunst zu zeigen. Er blieb aber leider an einem Aste hängen, als er einen der Zweige brach, und kam mit einem klaffenden Riß im Aermel wieder auf den Boden.

Es war ein Weg voll Abenteuer. Die beiden jungen Wanderer kämpften sich lustig durch den Sturm, lachten hell auf, wenn ein Windstoß durch die Bäume fuhr und sie mit einem tüchtigen Sprühregen überschüttete, sprangen und kletterten unverdrossen über Steine und Wurzeln und wurden immer vergnügter, je unwegsamer sich der Wald zeigte. Das war ein Lachen und Plaudern, ein Fragen und Erzählen ohne Ende. Alle alten Kindheits- und Jugenderinnerungen wurden wieder lebendig. Ringsum zwischen den Tannen schwebten graue Nebel und am Himmel jagten dunkle Wolken dahin, aber über den beiden Menschenkindern lag der helle Sonnenschein der Jugend und des Glücks. Was kümmerte sie Wind und Wetter!

Endlich war der Odensberger Park erreicht, der sich fast unmittelbar an den Bergwald anschloß. Maja näherte sich eben der kleinen Gitterthür, durch die sie vor einigen Stunden in das Freie gelangt war, als diese sich plötzlich öffnete und Oskar von Wildenrod ihr hastig entgegentrat.

„Aber Maja, wie konnten Sie in solchem Wetter allein –“ er brach plötzlich ab und musterte mit sichtbarem Befremden ihren Begleiter, den er jetzt erst bemerkte.

Maja, welche die Kapuze wieder über den Kopf gezogen hatte und das verregnete Hütchen am Arme trug, lachte übermüthig auf. „Sie glaubten wohl, ich und der Puck seien in dem Wolkenbruch zu Grunde gegangen? Nein, wir sind beide noch vorhanden und haben sogar unterwegs Gesellschaft gefunden. Doch die Herren kennen sich ja noch gar nicht! Graf Viktor von Eckardstein – Freiherr von Wildenrod, der künftige Schwager meines Bruders.“

Wildenrod erwiderte mit einer gewissen Zurückhaltung den freundlichen Gruß des Fremden, der lachend sagte: „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Baron, obgleich dies meinerseits in einem völlig aufgeweichten Zustande geschieht. Sonst pflege ich trockener zu sein, ich versichere es Sie, aber heute war ich wirklich nicht auf eine Vorstellung gefaßt. Ich wollte nur Fräulein Dernburg bis zum Eingang des Parkes geleiten und mich dann empfehlen.“

„Sie wollen Papa und Erich nicht begrüßen?“ fiel Maja ein.

„Nein, mein gnädiges Fräulein, in solchem Aufzug möchte ich denn doch nicht im Odensberger Herrenhause erscheinen. Aber ich komme in den nächsten Tagen – wenn ich darf.“

Seine Augen suchten bei den letzten Worten die des jungen Mädchens, das neckisch sagte. „Fürchten Sie, daß ich es Ihnen verbiete?“

„Wer weiß! Wassergeist und Wichtel vertragen sich nicht, das habe ich vorhin aus Ihrem eigenen Munde hören müssen. Trotzdem will ich es wagen. Einstweilen bitte ich Sie, dieses Friedenszeichen von mir anzunehmen. Sie wissen ja, wie schwer es errungen wurde.“ Er überreichte ihr mit einer leichten Verbeugung den Blüthenzweig, den er noch in der Hand trug.

[119] Wildenrod hörte schweigend zu, aber sein Blick ruhte unverwandt auf den beiden. Der vertrauliche Ton schien ihn im höchsten Grade zu befremden, und als der Graf sich jetzt verabschiedete, neigte er nur mit kühler Artigkeit den Kopf, sprach einige ebenso kühle Worte und trat dann rasch mit Maja in den Park, während er die Gitterthür hinter sich ins Schloß fallen ließ.

„Sie scheinen mit diesem Herrn sehr genau bekannt zu sein,“ warf er hin, während sie den Weg nach dem Hause einschlugen.

„O gewiß,“ versetzte seine Begleiterin unbefangen. „Graf Viktor war Erichs Jugendgespiele und hat auch mit mir oft genug getollt. Ich freute mich sehr, als ich ihn jetzt nach sechs Jahren wiedersah.“

„So?“ sagte der Freiherr langsam. Er wandte sich um und streifte mit einem eigenthümlichen Blicke die Gestalt des Grafen, der eben zwischen den Bäumen verschwand, während Maja harmlos weiter plauderte.

„Wenn ich mich nur unbemerkt in mein Zimmer schleichen kann – Papa wird böse, wenn er mich sieht!“

„Jawohl, er wird schelten,“ sagte Wildenrod mit Nachdruck, „und ich möchte es auch thun. Ich war in den Park gegangen, um Sie zu suchen, als das Wetter ausbrach, und hörte von dem Gärtner, daß Sie schon seit einer Stunde fort seien, irgendwo im Walde. Wie unvorsichtig! Haben Sie denn gar nicht daran gedacht, daß man sich daheim um Sie sorgt und ängstigt – daß ich mich ängstige?“

Die vorwurfsvolle Frage rief eine helle Röthe in das Gesicht des jungen Mädchens. „O, das war ganz unnöthig. Hier in Odensberg kennt mich jeder Arbeiter und jedes Kind.“

„Gleichviel, Sie dürfen sich nicht wieder ohne Begleitung so weit hinauswagen, Sie versprechen mir das, Maja, nicht wahr? Und zum Pfande, daß Sie Wort halten, erbitte ich mir dies da.“

Er griff plötzlich wie im Scherze nach dem Blüthenzweig, aber Maja sah ihn halb erschrocken, halb unwillig an.

„Meinen Zweig? Nein! Weshalb soll ich ihn fortgeben?“

„Weil ich darum bitte!“

Die Bitte klang wie eine Forderung, und das mochte Majas Trotz wecken. Sie trat mit entschiedener Abwehr einen Schritt zurück.

„Nein, Herr von Wildenrod – ich gebe die Blüthen nicht her.“

Ein Blitz zorniger Ueberraschung schoß aus den Augen des Freiherrn, er hatte nicht geglaubt, daß das „Kind“ eines so entschiedenen Widerstandes fähig sei, wo es seinen Willen galt, und gerade das reizte ihn, diesen Willen durchzusetzen um jeden Preis.

„Legen Sie so großen Werth darauf?“ fragte er mit herbem Spott. „Der Graf schien es auch zu thun. Das Friedenszeichen hat doch nicht irgend eine geheime Bedeutung für Sie beide?“

„Eine Neckerei, nichts weiter! Viktor ist ja doch ein alter Spielkamerad –“

„Und ich bin ein Fremder für Sie! Das wollen Sie doch wohl sagen, Maja? Ich verstehe!“

Die braunen Augen hoben sich bei diesen mit Bitterkeit gesprochenen Worten erschrocken und bittend empor. „O nein, Herr von Wildenrod, das habe ich nicht gemeint – gewiß nicht.“

„Nicht? Und doch sprechen Sie von ‚Viktor‘ und gestatten ihm sofort wieder die einstige Vertraulichkeit, Ich bin und bleibe ihnen ‚Herr von Wildenrod‘. Wie oft hab’ ich Sie schon gebeten, meinen Vornamen auszusprechen nur ein einziges Mal. Ich habe ihn noch nie von Ihren Lippen gehört!“

Maja gab keine Antwort, sie stand regungslos da, mit glühenden Wangen und gesenkten Augen; aber sie fühlte den heißen Blick, der auf ihr ruhte.

„Wird es Ihnen denn so schwer, mir einen Namen zu geben, den der künftige Verwandte doch beanspruchen darf? Ist das wirklich so schwer? Nun, ich will darauf verzichten, wenn andere zugegen sind, aber jetzt sind wir allein, jetzt will und muß ich ihn hören … Maja!“

Noch ein sekundenlanges Zögern, dann kam es leise und bebend von ihren Lippen: „Oskar!“

Da leuchtete es in den düsteren Zügen des Mannes auf wie leidenschaftliches Glück, er machte eine stürmische Bewegung, als wollte er das junge Mädchen, das scheu und zitternd vor ihm stand, an seine Brust ziehen; allein er bezwang sich, nur die kleine bebende Hand schloß er fest in die seinige.

„Endlich! Und nun die andere, die zweite Bitte.“

„Herr von Wildenrod –“

„Den Zweig, Maja, den Ihnen ein anderer gab und den ich deshalb nicht in Ihren Händen lassen will. Ich bitte!“

Maja widerstrebte nicht mehr. Willenlos im Banne dieser Augen und dieser Stimme, reichte sie ihm den Blüthenzweig hin.

„Dank!“ sagte Oskar leise. Es war nur ein einziges Wort, aber es hatte den Klang mühsam verhaltener Zärtlichkeit.

Da erschien Fräulein Friedberg an einem offenen Fenster des Hauses, dem sich die beiden jetzt näherten, und schlug entsetzt die Hände zusammen, als sie ihren Zögling in diesem Aufzug gewahrte.

„Maja, ums Himmels willen, sind Sie wirklich bei diesem Wetter im Freien gewesen? Sie können sich ja auf den Tod erkälten! Wie sehen Sie aus! Rasch, legen Sie den nassen Mantel ab!“

„Ja, dazu möchte ich auch rathen,“ sagte Oskar lächelnd. „Schnell, schnell ins Haus!“

Das junge Mädchen entschlüpfte mit einem flüchtigen Gruße. Wildenrod folgte ihr langsam, im Gartensaal aber blieb er stehen und seine Stirn furchte sich von neuem, als er auf den blüthenschweren Zweig in seiner Hand blickte. Er ahnte zum ersten Male, daß bei seiner Werbung Gefahr im Verzug sein könnte, und doch wußte er, daß er jetzt noch nicht sprechen durfte. Noch stand er nicht fest genug in der Gunst Dernburgs, der seinen Liebling schwerlich ohne weiteres dem so viel älteren Manne hingeben würde, noch war er Majas nicht sicher. Ein zu früh gesprochenes unbesonnenes Wort konnte hier alles verderben. Und gerade jetzt mußte dieser Graf Eckardstein auftauchen, der ohne alles Zaudern die Vertraulichkeit des Jugendgespielen wieder in Anspruch nahm!

Einige Minuten lang stand Wildenrod in finsteres Grübeln versunken, dann aber richtete er sich mit einem Ruck empor, und in seinen Augen flammte wieder das stolze triumphierende Selbstbewußtsein. Gut … galt es den Kamps um Majas Besitz – er scheute ihn nicht! Wie kleinmüthig, an dem Siege zu zweifeln gegen diesen jungen Fant mit seinem glatten Gesicht! Der mochte sich hüten, ihm den Weg zu kreuzen!

Am Fenster ihres Zimmers stand Maja; sie hatte den nassen Mantel noch nicht abgelegt, wußte wohl gar nicht, daß sie ihn noch trug. Sie blickte träumerisch empor zu dem wolkenumlagerten Himmel, und ein leises glückliches Lächeln spielte um ihre Lippen. Vergessen war die Begegnung im Waldhaus, versunken die Gestalt des Jugendgespielen – sie sah nur eins – die tiefen dunklen Augen, den Blick, der sie wie mit einem Zauberbann umspann, sie hörte nur jene verschleierte Stimme, in der die verhaltene Leidenschaft bebte. Es war ein süßer beängstigender Traum, eine Empfindung, von der sie selbst nicht wußte, ob sie Weh oder Glück bedeute.




Es war voller Frühling geworden! Durch Sturm und Kälte, durch Reif und Nebel hatte er sich siegreich durchgekämpft und die Erde überall zu einem neuen sonnigen Leben erweckt.

Durch den grünenden Bergwald stieg ein einsamer Wanderer rüstig bergauf. Es war noch früh am Tage; noch ruhte der Wald in tiefen bläulich dämmernden Schatten, und schwer und feucht lag der Thau auf dem moosigen Boden. Nur vereinzelte Vogelstimmen klangen durch die Morgenstille, und in den hohen Wipfeln rauschte und brauste es, wenn sie sich im Winde neigten.

Egbert Runeck war auf dem Weg nach dem Albenstein, er wollte Wort halten und das Kreuz da oben selbst untersuchen. Jetzt trat er aus dem Walde auf eine kleine hochgelegene Bergwiese hinaus und gerade vor ihm ragte die mächtige Felswand auf. Nackt und steil stieg sie empor aus den dunklen Tannen, die ihren Fuß umsäumten. Der ganze obere Theil war wild zerklüftet und zerrissen, dort wurzelten nur noch einzelne Zwergtannen und verkümmertes Gestrüpp in den Spalten. Vom Gipfel her grüßte weithin sichtbar ein riesiges Kreuz, das Wahrzeichen des Berges.

Die hohe, einsam aufragende Felsklippe spielte eine Hauptrolle in den Sagen der Umgegend. Schon ihr Name klang an die Alben- und Elfenwelt an, die einst in den Bergwäldern ihr geheimnißvolles Wesen getrieben haben sollte und noch immer in dem Aberglauben des Volkes spukte. Der Albenstein barg versunkene Schätze, die, tief in seinem Felsengrund schlummernd, auf Erlösung harrten, und schon mancher hatte den Versuch, sie zu heben, mit dem Tode gebüßt. Nur die allmächtige Springwurzel

[120]

Winterleben im Spreewald.
Nach einer Skizze von F. Wichgraf gezeichnet von F. Bergen.

[121] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [122] öffnet die verschlossene Tiefe. Wer sie gefunden hat und damit dreimal gegen den Fels schlägt:

„Der hebt aus Nacht und Dunkel
Den goldnen Wunderschrein,
Und all das Schatzgefunkel
Und all das Gold ist sein!“

Seltsam, diese Worte klangen immer wieder in den Ohren des Mannes, der da am Rande der Bergwiese stand. Es war die letzte Strophe des alten Volksliedes, das auch er in seinen Kinderjahren gekannt, aber längst vergessen gehabt. Für ihn gab es keine versunkenen Schätze mehr, ihm war die Tiefe leer und tot, und doch klang das Lied unaufhörlich in seinem Innern oder vielmehr die Stimme, von der er es zuletzt gehört hatte. Er haßte es in tiefster Seele – das schöne verführerische Bild, dies Mädchen, das den Jugendfreund umgarnt hatte und nun Herrin in Odensberg werden sollte, aber er kam nicht los von dem berückenden Klange dieser Stimme, dem dämonischen Zauber dieser Augen, und keine Arbeit, keine Willenskraft wollte dagegen helfen.

Er schritt über die Bergwiese und blickte prüfend zu dem Albenstein hinauf. Die Schneelasten des Winters und die letzten Frühlingsstürme mochten dem Kreuz da oben wohl tüchtig zugesetzt haben, dennoch schien es fest und sicher zu stehen. Plötzlich aber stutzte Egbert, sein Fuß schien am Boden zu wurzeln, während sein Blick wie gebannt an dem Felsgipfel hing. Dort oben regte sich etwas, er sah die Umrisse einer hellen Gestalt, die sich deutlich abzeichneten – sein scharfes Auge erkannte sie, trotz der Entfernung.

Also war es doch keine bloße Prahlerei, keine flüchtige Laune gewesen: das tollkühne Mädchen hatte wirklich das Wagniß unternommen und allein unternommen, wie es schien! Egberts Stirn zog sich finster zusammen, doch an Umkehr war nicht zu denken, auch er war jedenfalls schon gesehen worden. So setzte er denn den Bergstock ein und begann langsam emporzusteigen.

Der Weg, der von hier aus auf die Klippe führte, forderte allerdings einen schwindelfreien Blick und ein furchtloses Herz. Es war eine Art Jägersteig, der sich dicht an dem jähen Abhang entlang zog und immer den Blick in die Tiefe offen ließ. Bisweilen verschwand er ganz, und dann galt es, über Steine und Geröll emporzuklimmen und sich selbst den Pfad zu suchen, bis der gebahnte Steig nach einer Weile wieder sichtbar wurde.

Der junge Ingenieur hatte die kühle Ruhe, mit der er sonst den Aufstieg machte, verloren, oft stockte sein Fuß und er brauchte beträchtlich mehr Zeit als sonst, bis er endlich den Gipfel erreichte. Da stand sie vor ihm, Cäcilie Wildenrod, vom hellen Morgenlicht umflossen, strahlend von Schönheit und Uebermuth.

„Sieh’ da, Herr Runeck; treffen wir uns hier auf dem Albenstein! Sie haben sich Zeit genommen zu Ihrem Klettern – ich war schneller oben!“

„Ich kenne die Gefahr des Weges,“ versetzte Egbert gelassen, „und eben deshalb fordere ich sie nicht heraus.“

„Gefahr? Daran habe ich gar nicht gedacht! Sie meinten, ich würde nicht wagen, den Weg zu gehen, oder nach höchstens fünf Minuten wieder umkehren. Was sagen Sie nun?“

Sie blickte ihn herausfordernd an, jetzt mußte doch endlich von diesen starren Lippen ein Wort der Bewunderung kommen! Allein es kam nur die kühle Gegenfrage:

„Weiß man in Odensberg von Ihrem Ausflug, gnädiges Fräulein?“

„Warum nicht gar!“ rief die junge Dame lachend. „Dann hätte man mir Hausarrest gegeben oder mich wenigstens auf Schritt und Tritt bewacht. Ich habe mich heute in der Frühe, als alles noch schlief, heimlich davongeschlichen, habe anspannen lassen und bin nach dem Kronswald gefahren. Von dort ist der Weg kaum zu verfehlen, und Sie sehen, ich habe ihn gefunden.“

„Allein? Das war mehr als unvorsichtig! Wenn Sie einen Fehltritt thaten, wenn Sie stürzten, war keine Hilfe in der Nähe und dann –“

„Mein Gott, fangen Sie nicht an, zu predigen,“ unterbrach sie ihn ungeduldig. „Ich werde schon Strafpredigten genug hören, wenn ich nach Odensberg zurückkehre.“

„Ich habe weder die Absicht noch das Recht, Ihnen zu predigen, gnädiges Fräulein, das steht höchstens Erich zu.“

„Und gerade ihm werde ich es am wenigsten zugestehen.“

„Ihrem künftigen Gatten?“

„Eben deshalb. Ich beabsichtige durchaus, die Herrschaft zu behalten.“

„Das dürfte in diesem Falle nicht schwer sein, Erich ist eine weiche nachgiebige Natur. Er wird niemals versuchen, sich zu wehren.“

„Wehren?“ wiederholte Cäcilie, gereizt und belustigt zugleich. „Sie scheinen unsere künftige Ehe als eine Art Kriegszustand aufzufassen – ein schmeichelhaftes Kompliment für mich!“

„Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich jetzt das Kreuz untersuche,“ unterbrach Egbert die Baroneß. „Ich bin eigens deshalb heraufgekommen. Es gilt, der Möglichkeit eines Unfalls vorzubeugen, dessen Folgen verhängnißvoll werden könnten.“

Cäcilie biß sich auf die Lippen bei dieser Abweisung des vertraulichen Tones, den anzuschlagen sie für gut befunden, und ein zorniger Blick traf den Mann, der es wagte, ihr dergleichen zu bieten.

(Fortsetzung folgt.)




Weltverbesserer.
Von Dr. J. O. Holsch.
II.
Urchristliche und mittelalterliche Staatsideale und Weltverbesserungsgedanken.

Platos Staatsidee war, wie wir sahen, lediglich eine planmäßige, rücksichtslos durchgedachte Einführung der Ideen der Gerechtigkeit und Weisheit in das wirkliche Leben. Die persönlichen Vermittler dabei, die Philosophen, sollten besondere Geistesträger, sozusagen reine Geistesmenschen sein.

Woher aber schöpften diese berufsmäßigen Weisheitsträger diesen ihren überragenden Geist? Wurde er nicht mit ihnen geboren? Und wenn – welch höhere Macht stand jenseit dieses Ursprungs?

Für jeden, der sich bewußt bleibt, daß zwischen dem Griechen Plato und zwischen dem Israeliten Jesus von Nazareth drei bis vier Jahrhunderte mit kreuz- und querlaufenden, äußeren wie inneren Zwischenentwicklungen liegen, tritt unmittelbar zu Tage, daß die Beziehungen zwischen Plato, Nach- und Neuplatonismus und zwischen dem Urchristenthum durchaus dem Gesetz einer ununterbrochenen Geistesentwicklung entsprechen. In der griechischen Philosophie, besonders aber bei Plato, erscheint das Geistige, erscheinen die „Ideen“ noch nicht völlig losgerissen von der Wirklichkeit des diesseitigen Seins und Lebens; es ist noch eine gewisse Verschwommenheit in dem Verhältnisse beider.

Das wurde mit einem Schlage anders, als das Urchristenthum in die Welt trat. Mit ihm fallen Diesseits und Jenseits ausgesprochen, ja man darf sagen, schroff auseinander; ein Zeitalter beginnt, in welchem der schärfste Gegensatz zwischen dem irdisch-materiellen und zwischen dem himmlisch-geistigen Leben das Denken und Fühlen der Menschen durchzieht. Man könnte dieses Zeitalter das der „Transcendenz“ nennen, d. h. dasjenige, in welchem die Vorstellungen vom Jenseits eine Vorherrschaft über das Denken und Empfinden der Menschheit übten.

Es ist von entscheidender Bedeutung, diese Grundrichtung der Geister in ihrer vollen Schärfe und Klarheit bloßzulegen, weil sie allein eine Erklärung zu bieten vermag für die merkwürdigen Blüthen gesellschaftlichen Denkens, welche den zweitausendjährigen Zeitraum zwischen einem Plato und einem – Thomas Morus ausfüllen.

Paulus, aus Kleinasien, wo griechische Weltweisheit mit orientalischer Mystik sich kreuzte, von Geburt Jude, von Erziehung Grieche, also in Person der lebendigste Zeuge für das Zusammenfließen beider Kulturströme, fand zu Athen auf demselben Marktplatze über den ein Sokrates gewandelt war, nur noch die letzten, sophistisch verschulten Ueberbleibsel einstiger griechischer Geisteskraft vor. Dort, wie später im Herzen der alten Welt, in Rom, verkündigte er Jesum: aber nicht den „Jesus im Fleisch“, d, h. wie er auf Erden wandelte, sondern den „Christus im heiligen Geiste“, wie er ihn in seinen Briefen nennt, d. h. den Gottessohn, der nach paulinischer Lehre jenseitig, rein geistig, schon vor seinem Kommen

[123] in die Welt vorhanden war, der nur zeitweise in die Hülle des Fleisches sich begeben hat und nun wieder droben im Himmel, in der andern Welt thront, wohin er auch die Seinigen in absehbarer Zeit bringen wird.

Wir finden: der Geist als jenseitiger ist hier alles, dagegen das Fleisch, die Welt, die Materie diesseits ist nichts. Was der Mensch auf dieser Erde ist, Knecht, Sklave oder Freier, Mann oder Weib, Jude oder Grieche, reich oder arm, Krüppel oder Wohlgestalt – es kommt gar nicht in Betracht gegenüber der einen Thatsache, daß sie alle in Christus voll übernatürlichem Geiste beseligte Kinder einer anderen Welt sind, die gar nicht mit Menschenhänden gemacht ist, deren Güter ganz andere sind als diejenigen, welche die Erde hat, gewährt und begehrt.

So der ursprüngliche Christus- und Christengeist, ein Geist, der mit einer in der ganzen Menschheitsgeschichte beispiellos dastehenden, unsagbaren Kraft und mit der Schnelligkeit des Sauerteigs jenes große Menschengefüge durchdrang, welches man um die Wende unserer Zeitrechnung das römische Reich nannte.

Wenn hier also das höchste Ziel, das wahre Glück des Menschen, jenseit des äußeren, irdisch-wirklichen Lebens, und zwar des Familien- wie des Staatslebens, zu suchen ist, wenn alles Gute von dort kommt und dorthin wieder führen muß – wie soll da der Gedanke der „Weltverbesserung“, der weitläufigen Einrichtung auf dem Boden des diesseitigen Lebens Kraft und Nachdruck gewinnen? Diese Welt mit allem, was sie bietet an Last und Lust – sie liegt ja im Argen, wer dürfte ihr sein Sinnen und Denken widmen?

Es wäre eine durch und durch oberflächliche, ja eine verkehrte Behauptung, zu sagen, die ersten Christen oder gar Christus selbst hätten Gütergemeinschaft geübt oder verlangt. Trotzdem werden gerade gegenwärtig in gelehrten wie in ungelehrten Kreisen derartige Auffassungen mit Vorliebe gepflegt. Weder die Berichte der Evangelien noch die der Apostelgeschichte, welche besonders hierzu verwendet werden, lassen solche Ausdeutung zu, selbst die bekannte Erzählung von Ananias und Saphira nicht. Diese Leute haben ihre irdischen Güter, Geld, Aecker, Nahrungsmittel u. s. w. durchaus nicht abgegeben, um zu theilen, sondern um sich eines unwichtigen, ja eines unter Umständen ihr wahres Glück, ihr ewiges Seelenheil gefährdenden Ballastes zu entledigen! Man müßte also statt von einer „Gütergemeinschaft“ von einer gemeinschaftlichen „Güterentledigung“ reden. Die Abgabe von Gütern zu gemeinem Besten in den ersten christlichen Gemeinden hat nicht im geringsten den Sinn, die weniger bemittelten Mitchristen oder Heiden „glücklich, zufrieden“ zu machen, ihre „gedrückte Lage“ zu verbessern oder gar etwaige „gerechte Forderungen“ derselben zu befriedigen – vielmehr entsprang sie einer ernsthaften inneren Verachtung dieser Güter und verlangte eine solche auch von dem Empfäuger – da sein Herz an dieselben zu hängen, Sünde wider den Heiligen Geist war.

In diesem Grundzuge, der durch die „Wolke christlicher Märtyrer“ bezeugt ist, liegt etwas so Wirklichkeits- und Staatsfremdes, daß es ganz begreiflich erscheint, wenn die Vertreter des römischen Weltreiches diese gänzliche innere Verneinung des herrschenden Staates und demgemäß aller seiner lebendigen Mächte und Träger unheimlich, ja im höchsten Grade staatsgefährlich fanden. Sie war es auch wirklich, denn sie half nicht nur das römische Staatsgebilde zersetzen, sie drängte sogar zu einem ganz anderen, zu einem neuen Staatsideal hin.

Diese Sachlage sprach sich in den ersten Jahrhunderten mehr in einem unmittelbaren Gemeindebewußtsein aus; später wurde sie in den verschiedenartigsten Formen, die theilweise an Seltsamkeit nichts zu wünschen übrig lassen, lehrhaft ausgestaltet. Wir treten nach dem Siege des Christenglaubens in eine Kette von Jahrhunderten ein, in denen man sich über ganz andere Dinge Gedanken machte als über die beste Verfassung der menschlichen Gesellschaft. Während die Völkermassen gährend sich verschoben und vermischten, zerbröckelte der stolze Bau des Römerreiches. Augustinus, jener große Kirchenvater des fünften Jahrhunderts nach Christus, hat zwar 22 Bände über das Wesen eines Staates, eines Reiches geschrieben, aber es war nicht die gesellschaftliche Verfassung der Menschen, über die er schrieb, sondern diejenige des Reiches Gottes. Die künftige Besserung und die schließliche Seligkeit der abgefallenen Engel war jenen Zeiten eine weit wichtigere Frage als die Verbesserung der gegenwärtigen Lage der Menschen. Und noch viel später fiel es einem Franciscus von Assisi nicht ein, in der Wohlhabenheit oder in der wirthschaftlichen Unabhängigkeit seiner Zeitgenossen ein erstrebenswerthes Ziel des Staates zu erblicken: vielmehr übt und verlangt er nachdrücklich und mit großartigem Erfolg das Gelübde der Armuth. Peter von Amiens brachte, auf einem Esel reitend, mit dem bloßen Zeichen des Kreuzes beinahe ganz Mitteleuropa zur Wallfahrt nach dem Heiligen Grabe, nachdem im Jahre 1000 unter der fieberhaftesten Erregung weiter Kreise der Eintritt des „Tausendjährigen Reiches“ mit der Herrschaft Christi vergeblich erwartet und ersehnt worden war. Und während diese felsenfeste allgemeine Ueberzeugung von dem Gegensatze des himmlischen Lebens und Strebens zum irdischen die dichterisch wie die wissenschaftlich angelegten Naturen jener Zeiten beschäftigte, spielte sich praktisch jenes großartige Ringen ab, bei welchem das aufkeimende, wirklichkeitsgeborene „irdische“ Königthum dem „überirdischen“ Machtanspruche eines „katholischen“ d. h. weltumfassenden Papstthums unterlag. Diese Vorherrschaft des kirchlichen Oberhauptes war auch wirthschaftlich deshalb jenen Zeiten natürlich, weil weitaus die Mehrzahl der Bevölkerung ihr Einkommen aus dem reinen Bodenertrag zog, der weit weniger von der Arbeit und dem planmäßigen Eingreifen der Menschen als von der Witterung, d. h. höheren himmlischen Mächten, abhängig ist. Es ist unter diesen Umständen begreiflich, daß alle Menschheits- und Weltverbesserer, an denen auch in diesem langen Zeitraume kein Mangel war, ihre Gedanken beinahe ausschließlich einem Gebiete zuwandten, nämlich dem religiösen. Da man lediglich von einer Menschenverbesserung die Weltüberwindung – „Weltverbesserung“ kann man hier überhaupt nicht sagen – erwartete, so ist die geschichtliche Heerstraße durch jene Jahrhunderte gekennzeichnet durch eine Schar von Schwärmern, Sektierern, Klosterstiftern etc., welche alle die Seelen ihrer Zeitgenossen zu verbessern, zu retten unternahmen, aber immer wieder durch die überlegene Macht der organisierten Kirche aufgesogen oder ausgerottet wurden. Zu den merkwürdigsten und bezeichnendsten Erscheinungen dieser Art gehört der bis in das Zeitalter der Reformation hineinwirkende Abt Joachim de Floris, welcher vom Ende des 12. bis Beginn des 13. Jahrhunderts in Süditalien gelebt hat. Er verband mit einer rücksichtslos scharfen Verurtheilung der Verweltlichung und Ueppigkeit unter den „Prälaten“ die Verkündigung einer neuen dritten und letzten Weltperiode; nachdem das Zeitalter des Vaters und das des Sohnes abgelaufen sei, so verkündete er, trete mit dem Jahre 1260 das letzte, das höchste Weltalter ein, dasjenige des Heiligen Geistes, das mit dem heiligen Benedikt seinen Ursprung nehme. Ein letzter Kampf mit dem Antichrist gehe diesem Zeitalter voran; dann erfolge die Wiedervereinigung mit den griechischen Katholiken, die Bekehrung der Juden, ein Reich der Freiheit, des Lichtes, in welchem die Seligkeit eines in heiligen Betrachtungen verbrachten, einfachen und beschaulichen Lebens sich auf die christliche Menschheit niedersenke, in welchem die Priester wirklich die Träger des Heiligen Geistes seien. Man denke nicht, daß die Schriften dieses Mannes und sein Ansehen, welches durch Jahrhunderte sich forterhielt, lediglich eine kirchliche Angelegenheit gewesen seien – man beachte wohl, daß ein Richard Löwenherz diesen weissagenden Abt zu sich nach Messina berief, um sich von ihm die Offenbarung Johannis erklären zu lassen.

Von Joachim de Floris an, der selbst vom Heiligen Lande die ersten Eindrücke religiöser Begeisterung mitgebracht hatte, glühte bis zu den Hussiten die Sehnsucht nach dem kommenden Tausendjährigen Reiche fort, zum Theil verbunden mit der Sehnsucht nach dem „Heiligen Lande“, und noch in dem Zeitalter der Reformation flammte sie nachhaltig auf. Wohl wurde in all diesen Erwartungen, Weissagungen und Reformgedanken, angelehnt an die Schilderungen des Propheten Jesaja, auch der Fülle irdischer Gaben, der paradiesischen Fruchtbarkeit der Natur etc. gedacht, aber diese Seite ist völlig Nebensache, sie tritt in den Hintergrund gegenüber der Seligkeit der Geister, welche, befreit von irdischem Wesen, von fleischlichen Schlacken, die reine und unmittelbare Gottesgemeinschaft genießen.

Wir können daher dieses Zeitalter, dessen Anschauungen so lange auch unsere Vorfahren beherrscht haben, nicht verlassen, ohne gerade im Hinblick auf gegenwärtige Weltverbesserungspläne und -gedanken diesen bedeutsamsten Zug desselben besonders hervorzuheben. „Das Leben der Lust“ – so sagt in zutreffender Weise ein neuer Bearbeiter der Utopien aller Zeiten – „das in späteren Utopien eine so große Rolle spielt, tritt hier ganz zurück, und höhere Ideale sind es, welche die Menschheit bewegen. Die [124] Religion beherrschte damals die ganze Litteratur. So ist es auch begreiflich, daß Chiliasten und andere Phantasten des Mittelalters eine Aenderung der Verhältnisse und die Herbeiführung einer goldenen Zeit nicht durch eine menschliche Revolution , sondern von der göttlichen Allmacht erwarteten.“

Trotz alledem wäre es weder ganz zutreffend noch auch ganz gerecht, wenn man sagen wollte, jene Utopisten des Mittelalters seien dabei weiser gewesen als diejenigen der Gegenwart. Nein! Wer nur immer das Mittelalter kennt, weiß, wie schroff hier „Ideal“ und „Wirklichkeit“ sich gegenüberstanden, weiß, welch entsetzliche Greuelthaten die frommen Kreuzfahrer im Heiligen Lande, bei der Eroberung der Heiligen Stadt unter dem Rufe „Gott will es“ verübten, weiß, wie nicht ausnahmsweise, sondern sehr oft furchtbare Wütheriche unmittelbar vor oder nach dem Genusse des Abendmahls die größten Blutbäder planten, wie die Religion selbst zur Ursache von Grausamkeiten wurde, welche unsere Zeit nicht mehr kennt. Die Lebensideale des Mittelalters waren wohl höher schweifende, phantastischere als diejenigen der neueren Zeiten, aber ihr Einfluß auf das wirkliche Handeln der Menschen war weit geringer, als man gewöhnlich annimmt. Was „höher“ war, das war eigentlich nur der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Denken und Handeln, zwischen Weltanschauung und Weltgestaltung.

Somit glauben wir, daß, wie die Entwicklung des Menschengeschlechts und des Menschengeistes überhaupt, so auch die Staatsideale, die gesellschaftlichen Erkenntnisse und Ziele der Menschen vorwärts, nicht rückwärts schreiten; von ursprünglich phantastischen, unwirklichen Umrissen an beginnend, ringen sie sich zu immer größerem Wirklichkeitssinn und zu immer deutlicherem Wirklichkeitsgehalte durch.

Ein leuchtendes Beispiel hierfür scheint uns ganz besonders derjenige Mann zu sein, der, zwischen Mittelalter und Neuzeit mitten inne stehend, mit einem ganz eigenartigen Werke gleichsam den Typus für die eigentlichen „Weltverbesserungspläne“ geschaffen hat. Dieser Mann ist Thomas More, der berühmte, gelehrte Lordkanzler Heinrichs VIII. von England; er hat 1478 bis 1535 gelebt und sein Werk „Ueber den besten Staat und die neue Insel Utopia“, erschienen im Jahre 1516, hat mit dem Namen zugleich auch die Litteraturgattung der „Utopien“, der „Nirgendheime“, für die Folgezeit eröffnet. Von dieser denkwürdigen Schrift das nächste Mal!




Goethes letzte Liebe.

Eines der herrlichsten Goetheschen Gedichte, die sogenannte „Marienbader Elegie“, ist mit dem Namen Ulrike von Levetzow unauflöslich verbunden. Auch auf sie, die heute noch unter uns lebt und am 4. Februar dieses Jahres ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert hat, ist ein Strahl der Dichtersonne gefallen; auch sie hat einen Antheil errungen an der Unsterblichkeit, die dem Namen Goethe anhaftet. Die neunzehnjährige, zu holder Schönheit und Anmuth emporgeblühte Jungfrau entflammte das ewig junge Herz des zweiundsiebzigjährigen Dichters zu leidenschaftlicher Liebe, die er zwar mannhaft niederkämpfte, aber nicht, ohne die schönen Stunden leidenvollen Glückes in seiner Dichtung zu verherrlichen. Man hat wohl über die Leidenschaft des Greises gespöttelt, aber von der Selbstlosigkeit und Reinheit seiner Liebe, von dem Adel seiner Gefühle zeugen am besten die wunderbaren Verse der „Elegie“, die wir hier folgen lassen:

„In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträthselnd sich den ewig Ungenannten;

5
Wir heißen’s: fromm sein! – Solcher sel’gen Höhe

Fühl’ ich mich theilhaft, wenn ich vor ihr stehe.

Vor ihrem Blick wie vor der Sonne Walten
Vor ihrem Athem wie vor Frühlingslüften;
Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,

10
Der Selbstsinn in winterlichen Grüften;

Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,
Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.“

Schloß Triblitz in Böhmen, der Wohnsitz von Ulrike v. Levetzow.

Wer war nun das wunderbare Wesen, das dieses heilige Bekenntniß der Liebe und der Macht des Weibes dem Dichter entlockt hat?

Ulrike von Levetzow ward am 4. Februar 1804 in Leipzig geboren als Tochter eines mecklenburgischen Hofmarschalls. Ihre Mutter, eine geborene von Brösigke, der Goethe schon im Jahre 1806 in Karlsbad nähergetreten war, verheirathete sich nach Trennung der ersten Ehe mit dem Vetter ihres ersten Gemahls, ebenfalls einem Herrn von Levetzow, der in der Schlacht bei Belle-Alliance fiel. Die Witwe verlebte den Sommer mit ihren Töchtern oft bei ihrem Vater, der sich in Marienbad ein Haus gekauft hatte. In demselben Hause wohnte Goethe, der die böhmischen Bäder wiederholt zur Stärkung seiner Gesundheit aufsuchte, vom 12. Juni bis 4. Juli 1822 und kam dadurch mit der Familie und auch mit der achtzehnjährigen Ulrike in nahe Verbindung. Ob der tiefe und unauslöschliche Eindruck, den das an Geist und Körper vollkommene Mädchen auf das Herz des Dichters ausgeübt hat, schon aus dieser Zeit sich herschreibt, darüber fehlt es an genauerer Kunde, aber das gerade damals gedichtete Gespräch „Aeolsharfe“, in dem zwei Liebende beim Abschied Trost in der Erinnerung des genossenen Glückes finden wollen, läßt sich gar nicht anders erklären.

Die letzten Worte dieses Gedichtes:

„Ja, du bist wohl an Iris zu vergleichen,
Ein liebenswürdig Wunderzeichen!
So schmiegsam herrlich, bunt in Harmonie
Und immer neu und immer gleich wie sie.“

waren Goethe, wie er an Zelter schrieb, besonders ans Herz gewachsen.

Der Magnet zog ihn schon im nächsten Jahre wieder nach Marienbad. Am 2. Juli kam er dort an, am 11. Juli folgte Frau von Levetzow mit ihren Töchtern. Diesmal trafen sie dort eine hohe fürstliche Gesellschaft, darunter den Herzog Karl August, den

[125]

Ulrike v. Levetzow mit Mutter und Schwestern im Jahre 1822.

Exkönig Ludwig Bonaparte von Holland, den Herzog von Leuchtenberg. Feste reihten sich an Feste, all denen der alternde Dichter nicht ohne Beschwerde teilnahm. Aber mehr noch als hier öffnete sich ihm Ulrikens schöne Seele auf den Spaziergängen „gegen die Mühle“, nach dem „Kreuzbrunnen“ und „auf dem Waldsitz“ und in dem täglichen Verkehr im Hause und in der Familie.

Der Eindruck, den das holde Mädchen in ihrer kindlichen Natürlichkeit und Reinheit des Herzens aus ihn machte, nahm bald sein Denken und Fühlen gefangen. Schien ihm zuerst das Verhältnis das eines Vaters, dann eines Oheims zu einer „allzusehr geliebten Nichte“, so wurde es ihm bald klar, daß ihn eine leidenschaftliche Liebe erfaßt habe, der er energisch Halt gebieten müsse. Den Schmerz der Entsagung linderte das herrliche Spiel der russischen Musikkünstlerin von Szymanowska, das ihn manchmal zu Thränen rührte und dem er dankbar das schöne Gedicht „Aussöhnung“ gewidmet hat:

„Da schwebt hervor Musik mit Engelschwingen,
Verflicht zu Millionen Tön’ und Töne,
Des Menschen Wesen durch und durch zu dringen
Zu überfüllen ihn mit ew’ger Schöne:

5
Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen

Den Götterwerth der Töne wie der Thränen.

Und so das Herz erleichtert merkt behende,
Daß es noch lebt und schlägt und möchte schlagen,
Zum reinsten Dank der überreichen Spende

10
Sich selbst erwidernd willig darzutragen.

Da fühlte sich - o, daß es ewig bliebe! -
Das Doppelglück der Tolle wie der Liebe.“

Am 18. August 1823 begaben sich die Levetzowschen Damen nach Karlsbad, der Dichter folgte ihnen am 5. August; er wohnte auch hier mit ihnen in demselben Hause Es kamen zwölf Tage gemeinsamen Lebens, die Goethe in seiner Elegie dichterisch verherrlicht hat. Oft war er den ganzen Tag an Ulrikens Seite, meist von ihrer Schwester Amalie, deren lustige Ungeduld von Ulrikens ruhig ernstem, sicherm Benehmen abstach, oder der Stiefschwester Bertha begleitet. Spaziergänge bei dem herrlichen Wetter, Promenaden um Brunnen wechselten ab mit Fahrten in die Umgebung und kleinen dramatischen Festlichkeiten. Bis tief in die Nacht saß er nicht selten mit Frau von Levetzow und Ulriken, las ihnen aus seinen Gedichten vor, erklärte ihnen den prächtigen Sternenhimmel und unterhielt sie aus dem reichen Schatz seinem Geistes und Gemüths. Manchmal hörte er auch freundlich die Erzählung der Mädchen aus ihrer Kinderzeit an

Das letzte Porträt von Ulrike v. Levetzow.

oder lauschte, wenn die Geliebte aus Walter Scotts „Schwarzem Zwerg“ vorlas, oder lachte über die Scherze der mutwilligen Schwester. Den Geburtstag des Dichters verlebten die Damen mit ihm allein in Elbogen bei Karlsbad. Er hatte gewünscht, daß der Geburtstag als Geheimniß behandelt werden sollte; selbst die Damen wagten mir in ihren Mienen ihre Gefühle für ihn auszudrücken.

Aus den Jahren dieser Liebe stammt auch das Bild der Familie Levetzow, das wir hier zu veröffentlichen in der glücklichen Lage sind. Es ist 1822 in Marienbad gemalt worden und zeigt die kraftvolle schöne Gestalt der Mutter, umgeben von ihren liebreizenden Töchtern. Links steht Bertha, das Kind aus zweiter Ehe, damals etwa 15 Jahre alt, während das reizende Köpfchen der 1808 geborenen Amalie uns schalkhaft von der rechten Seite entgegenschaut. Ulrike steht aufrecht mit der Laute in der Hand. Der innige Verkehr Goethes mit Ulrike erregte natürlich in Karlsbad große Aufregung. Man erzählt sogar, daß Karl August eine Heirath beider betrieben habe. Selbstverständlich war das nur ein Scherz des Herzogs. Am 5. September schlug die Abschiedsstunde, in Goethes Gedicht „An Werther“ mit den Worten bezeichnet: „Das Scheiden endlich – Scheiden ist der Tod.“ Aber noch an demselben Tage „gab ihm ein Gott zu sagen, was er leide“. Schon auf der ersten Station der Heimreise begann er die „Elegie“ und auf der Reise wurde sie vollendet. Es ist ein herrliches Denkmal und zugleich der Dank für die seligen Stunden. Indem er tiefgerührt für immer Abschied vom der Geliebten nahm, faßte er ihr innerstes Wesen in die ihr selbst in den Mund gelegten Worte zusammen:

„Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich, So bist du alles, bist unüberwindlich.“

Frau von Levetzow verheiratete sich 1848 in dritter Ehe mit dem Grafen Klebelsberg auf Schloß Triblitz bei Teplitz. Amalie, die 1827 den preußischen Major Leopold von Rauch geheiratet hatte, ist früh gestorben. Bertha folgte ihr als Gattin des Barons Mladota von Solopist zu Netlück bei Teplitz im Jahre 1885. Ulrike ist unvermählt geblieben. Nach dem Tode der Mutter im Jahre 1868 wurde sie alleinige Besitzerin des Schlosses Triblitz. Ihr nebenstehendes Bildniß ist nach der letzten Photographie angefertigt, die wir von ihr haben, und zeigt eine wunderbare Aehnlichkeit mit dem Marienbader Jugendporträt. Ulrike hat ihr schönes und wohltätiges Wirken in ihrem Kreise selbst am besten bezeichnet, indem sie auf einem Medaillon, das ihr Bild enthält, dem Goetheschen Worte „liebreizend“ hinzufügte: „jetzt liebespendend“

K. Heinemann.
[126]

Auf Geben und Nehmen.

Novelle von Johannes Wilda.
(Schluß.)


Als man abends bei herrlichem Mondschein über das stille Meer nach Radegast zurückdampfte, befahl die Prinzessin den jungen Offizier an ihre Seite. Und während sie nun beide außer Hörweite des Gefolges auf dem Verdeck hin und her schritten, legte Herbert eine rückhaltlose Beichte ab.

Aufmerksam hörte die Prinzessin zu. Als ihr Begleiter zum Schlusse ihre einflußreiche Hilfe zur Erlangung des Konsenses erbat, um den er nach Hildes Absage ohne fest verbürgten Erfolg offiziell gar nicht mehr nachsuchen könne, schaute sie einen Augenblick sinnend vor sich hin.

„Offen gestanden, mein junger Freund,“ sagte sie dann freundlich, „ich persönlich hänge nicht an Vorurtheilen. Aber Sie wissen selbst, daß die ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft nicht ungestraft verletzt werden dürfen, Darin sind wir auf der Höhe ebensogut abhängig wie Sie. Auch ist Ihnen ja bekannt, wie peinlich Seine Majestät in solchen Dingen denkt.“

„Ehen deshalb sehe ich ohne die erbetene Hilfe keinen anderen Weg als den des Abschieds.“

„O, das würde mir doch aufrichtig leid thun. Daher also Ihre Schwärmerei für bescheidene Existenzen! Und das junge Mädchen würde des gebrachten Opfers werth sein?“

„Werth? Königliche Hoheit, für mich giebt es nur die Frage, ob ich ihrer werth bin!“

Eine Pause trat ein. Finster schaute Herbert auf die im Mondlicht zauberhaft glitzernde Fluth.

„Herr Lieutenant,“ begann die Prinzessin darauf in ihrer einfachen Art, „warten Sie noch mit der Wiederholung des Abschiedsgesuchs! Nächstens kommt mein Mann, um uns abzuholen. Ich will dann mit ihm darüber reden, ob er glaubt, bei dem König die Bewilligung des Konsenses für Sie erlangen zu können.“

„O, wenn Königliche Hoheit diese Gnade haben wollten, dann wird sich alles noch zum besten wenden!“

„Vielleicht ja, sicher ist es nicht. Die Genehmigung wird wohl sehr wesentlich davon abhängen, ob man annehmen darf, daß dem Fräulein später in der Gesellschaft keine Schwierigkeiten bereitet werden, und das hängt wieder von persönlichen Eigenschaften der Dame ab.“

„Wenn Königliche Hoheit Fräulein Jaspersen sehen würden, könnte in dieser Beziehung kein Zweifel mehr sein.“

„Ich glaube Ihnen, und was an mir liegt, soll geschehen, um meine Vielliebchen-Verpflichtung voll einzulösen – trotz Ihrer Hinterlist! Lassen Sie also die Geschichte ein paar Wochen ruhen und seien Sie inzwischen nicht zu sanguinisch, aber auch nicht zu niedergeschlagen!“

Damit war die vertrauliche Unterredung beendigt, die in Herberts Brust begrabene Hoffnungen neu erweckte. Mit frischem Lebensmuth that er von jetzt an seinen Dienst, zur heimlichen Freude der Prinzessin.




6.

Der „Falke“ kehrte mit der prinzlichen Familie an Bord von Radegast nach dem Kriegshafen zurück; die schönen Tage der Freiheit waren vorüber und die jungen Prinzessinnen zeigten betrübte Gesichter. Namentlich der Abschied von Frettwurst fiel ihnen schwer. Der Brave hatte sein Vielliebchengeschenk, das dreimastige Schiff, noch nicht fertig machen können und mußte versprechen, es später in der Residenz selbst abliefern zu wollen. Davor graute ihm; er wäre den Ehren, die seiner warteten, gern aus dem Wege gegangen. Im übrigen aber lag auf seinem Gesicht wieder der frühere Glanz innerster Befriedigung, seit er den frohen Umschwung in der Stimmung seines Herrn bemerkt und obendrein mit seiner Lena ein glückliches Wiedersehen gefeiert hatte. Sie war einen Nachmittag lang in Radegast gewesen; er hatte sie vollständig ausgesöhnt mit seiner Saumseligkeit in brieflichen Angelegenheiten, auch über Hochzeit und Heimstätte alles Nöthige mit ihr beredet, denn nach seiner bevorstehenden Entlassung aus der Marine sollte sofort der neue Hausstand gegründet werden.

Im Kriegshafen traf Prinz August mit den Seinigen zusammen. Den Herren, welche seiner Familie während der letzten Wochen so vertraut geworden waren, kam er nach seiner heiteren Art offen und frisch entgegen, und nicht zuletzt erfreute sich Herbert seines Wohlwollens. Dabei fragte sich der junge Offizier mit einer gewissen Ungeduld, ob die Prinzessin wohl mit ihrem Gatten von seiner Angelegenheit und dem kühnen Vielliebchen gesprochen habe – aber nichts deutete darauf hin.

Doch als die Abschiedsstunde kam und die fürstlichen Gäste bereits im Boote saßen, während die Offiziere, sich tief verneigend, im Fallreep standen, wandte sich der Prinz noch einmal an Herbert, und ihn mit einem vielsagenden Blick aus seinen freundlichen blauen Augen anschauend, rief er lächelnd: „Ich denke dran!“

Nun wußte Herbert, daß seine Sache in guten Händen sei. – 0000000000

Schade, daß der Lieutenant Gebhardt nicht ein klein wenig Allwissenheit besaß, sonst würde ihm am nächsten Morgen noch weit froher als ohnehin schon ums Herz gewesen sein.

Zu dieser Zeit nämlich rollte eine offene Hofequipage in flottem Trab aus der Stadt um das Horn des Binnenhafens herum, immer weiter und weiter die Landstraße hinaus, welche an dem Stranddorf vorüberführte. In dem Wagen saß die Prinzessin mit ihrer ältesten Tochter.

Im Wirthshaus des Stranddorfes, dem auch Herbert einst seinen Besuch abgestattet hatte, wurde Halt gemacht, und nach kurzer Rast unternahmen Mutter und Tochter einen Spaziergang durch das Dorf, um sich dann, genau wie jener, von einem hoffnungsvollen kleinen Kerl den Weg nach dem Schulhaus zeigen zu lassen.

Durch die geöffneten Fenster des Schulzimmers schallten den Ankömmlingen aus fast hundert Kinderkehlen in dröhnendem Zusammenklang die Sätze eines Bibelspruchs entgegen, der auf diese Weise dem jugendlichen Gedächtniß eingeprägt werden sollte. Die Prinzessin konnte es sich nicht versagen, durch die niedrigen Fenster einen Blick über die blond- und braunköpfige Schar und zu dem sympathischen alten Herrn auf dem Katheder zu werfen, um jedoch keine Störung zu erregen, zog sie sich rasch zurück, als sich einer der kleinen Burschen, der sich ins Freie sehnen mochte, umdrehte und mit maßlosem Erstaunen die ungewohnte Erscheinung musterte. Sie begab sich in den Garten, wo Trina eben mit dem Pflücken von Aepfeln beschäftigt war.

Frau Jaspersen gerieth in die höchste Aufregung, als die Magd athemlos meldete, eine ganz feine Dame nebst einem ebenso feinen Fräulein sei drunten und lasse fragen, ob man vielleicht von den Gravensteiner Aepfeln kaufen könne.

Da die Hausfrau sich nicht in geeigneter Toilette glaubte, um vom Herde weg solchem Besuch entgegenzutreten, so wurde Hilde hinuntergeschickt, die mit ernster, in sich gekehrter Miene im Wohnzimmer an einer Handarbeit gesessen hatte.

Als das Mädchen, etwas verlegen, im Garten erschien, wiederholte die Prinzessin mit einer Entschuldigung ihre Frage. „Sie haben hier so wunderschönes Obst, daß ich und meine Tochter der Versuchung nicht widerstehen können, wenn irgend möglich ein Pröbchen davon zu erwerben. Doch Sie verkaufen wohl nichts?“

„Nein,“ entgegnete Hilde, „aber Sie machen uns eine Freude, wenn Sie trotzdem einige Aepfel annehmen wollen) Bitte, treten Sie doch näher!“

Im Bewußtsein ihrer Stellung und ihrer Absichten machte die hohe Frau ohne weitere Umstände von dem liebenswürdig vorgetragenen Anerbieten Gebrauch, so daß Hilde einen Augenblick dachte: „Nun, viel Komplimente scheint die nicht gewohnt zu sein. Und wie sie mich anguckt, freundlich und doch schrecklich vornehm!“

Sie bat die Fremden, sich unter der schon falb und durchsichtig werdenden Linde niederzulassen, woraus bereitwillig Platz genommen wurde.

„Sind Sie die Tochter des Herrn Lehrers?“

„Jawohl, gnädige Frau.“

„Also Fräulein Hilde Jaspersen?“

Hilde bejahte, betrachtete aber die Fragende sehr erstaunt. Woher wußte diese denn schon ihren Namen?

[127] „Sie sehen für ein Landkind recht blaß aus, liebes Fräulein; sind Sie kürzlich krank gewesen?“

Die Wirkung dieser Frage beseitigte freilich für den Augenblick jede Spur von Blässe im Gesicht des Mädchens. In ihre Verlegenheit mischte sich ein klein wenig Zorn über die rückhaltlose Art der Dame. Indessen, bloße Neugier oder Hochmuth lagen hier nicht vor, das hatte sie schon gemerkt, und so antwortete sie bescheiden: „Allerdings bin ich krank gewesen und noch immer ein wenig angegriffen. – Aber bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick!“ Sie eilte fort, um eine kleine Leiter zu holen, und begann dann selbst die besten Aepfel von den erreichbaren Zweigen zu pflücken.

„Hilf ihr!“ gebot die Prinzessin ihrer Tochter, und diese gehorchte mit fröhlichem Lachen.

Mit ihrem Sonnenschirm spielend, beobachtete die Fürstin das Thun der jungen Mädchen. Ihre noch unentwickelte Tochter, im eleganten hellen Gewand, stand mit dem Körbchen unter dem Baum; Hilde, im dunklen Hauskleid, reichte die Früchte von oben herunter. Sie verlor durchaus nicht neben dem freundlichen Königskind, sondern gewährte, wenn sie sich anmuthig zwischen den Blättern zurückbog, während verlorene Sonnenstrahlen ihr über Antlitz und Gestalt huschten, ein ungemein anziehendes Bild.

Das Wohlgefallen, das die Prinzessin an dem Lehrerstöchterlein fand, mußte ein großes sein, denn auch als die Aepfel gepflückt und gekostet waren, unterhielt sie sich noch lange und eingehend mit dem jungen Mädchen. Sie wich sogar nicht eher, als bis sie auch noch Herrn und Frau Jaspersen zu Gesicht bekam, denen sie sich als eine zum Hofe gehörige Gräfin So und So vorstellte.

Der Lehrer machte eine förmlich bestürzte Miene, als die Gräfin ihm beim Scheiden ein Goldstück überreichte.

„Sie brauchen nicht zu erschrecken, Herr Jaspersen! Trotzdem Ihre Aepfel Goldes werth sind, sollen Sie es gar nicht haben. Aber für arme Kinder Ihrer Schule werden Sie es wohl verwenden können. Es wird auch hier deren geben!“

„Nicht viele, gottlob, aber einige doch, und für diese will ich es mit wärmstem Dank behalten.“

„Recht so! Und nun nochmals Dank für die köstliche Bewirthung! Es hat uns sehr gefreut, Sie kennenzulernen. Ich wünsche, daß Ihre Tochter recht bald ihre rothen Backen wieder bekomme. Wenn man Krankheit oder Kummer gehabt hat, kehrt das Glück oft über Nacht zurück, man weiß nicht wie. Also adieu! Ich werde Ihre Gastfreundlichkeit nicht vergessen, Fräulein Jaspersen, und wenn der Tag erscheint, an dem ich Ihnen dafür erkenntlich sein darf, so werden Sie wissen, daß Sie das lediglich Ihren eigenen Vorzügen zu verdanken haben!“

Als die vornehmen Gäste sich mit herzlichem Händedruck verabschiedet hatten, blieb die Familie Jaspersen in gehobener, aber ein wenig sonderbarer Stimmung zurück. Was sollte denn dieses geheimnißvolle Schlußwort, diese im Verhältniß zu dem geringfügigen Anlaß fast überwichtige Zukunftsverheißung besagen?

Im Dorfe hatte die Hofequipage natürlich Aufsehen erregt. Die „Hofdamen“ waren zu Jaspersens gegangen - das mußte unbedingt mit Hildes leichtsinnigem Seeabenteuer in Verbindung stehen, und bald lief die geheimnißvolle, gierig geglaubte Kunde um, der Marinelieutenant, der früher so oft sich gezeigt habe, sei ein heimlicher Graf. Er habe mit Schulmeisters Hilde, der man so etwas auch nicht zugetraut hätte, heimlich ins Ausland fliehen wollen, sei jedoch von einem Kriegsschiff eingefangen worden. Da er aber dem Mädchen die Ehe versprochen habe, so sei jetzt die Gräfin, seine Mutter, hergereist und habe Jaspersens viel Geld gegeben, damit sie zufrieden seien und keine Ansprüche mehr an den jungen Grafen stellten.

*      *      *

An Bord der „Preußen“ zurückkommandiert, erwartete Herbert in fieberhafter Spannung von seiner Gönnerin eine Nachricht aus der Hauptstadt, wohin sie inzwischen zurückgekehrt war. Tadellos versah er seinen Dienst, doch war er froh, wenn er wieder allein seinen Gedanken nachhängen konnte. Die Kameraden benahmen sich rücksichtsvoll gegen ihn. Sie glaubten, er habe seine übereilte Verlobung bereits wieder gelöst, und vermieden jede Anspielung auf das Geschehene. Trotzdem fühlte sich Herbert nicht wohl in ihrer Gesellschaft, das Herz wurde ihm erst leichter, wenn er mit Frettwurst die „Bachstelze“ tummeln konnte. Je stärker es wehte, desto lieber war es ihm. Der Kampf mit der See befriedigte und stählte ihn, ja gab ihm neue Hoffnung.

So oft bei diesen Fahrten der Steg an der Strandhöhe in Sicht kam, hoffte Frettwurst, die „Bachstelze“ werde sich ihm zuwenden – immer vergebens, und rathlos zerbrach er sich den Kopf darüber, warum sich sein Herr gar nicht mehr um das Fräulein kümmere. Das arme kleine „Katteker“ weinte sich jetzt wohl die Augen roth nach dem Schatz, der nicht mehr kam! Was mochte es da gegeben haben? Das kleine „Katteker“ war doch gewiß nicht schlecht und noch weniger war sein guter Herr treulos gewesen, das wußte er bestimmt!

Und eines Tages erhielt diese biedere Zuversicht eine glänzende Bestätigung, unmittelbar nachdem an Bord der „Preußen“ für den Lieutenant Gebhardt ein Telegramm folgenden Inhalts abgegeben worden war:

„Alles in Ordnung! Kommen Sie ruhig um den Konsens ein! Herzlichen Glückwunsch dem Brautpaar von meinem Mann und mir. Prinzeß August“. 
0000000000

„Frettwurst, Du schast mal gau[1] to Gebhardt kamen!“

In dieser wenig respektvollen Weise rief die Ordonnanz der Offiziersmesse, der „Läufer“, den nachdenklichen Frettwurst an, der im Zwischendeck damit beschäftigt war, in einem Strumpfe seines Lieutenants ein Loch zuzustopfen, das die Waschfrau übersehen hatte. Der Gerufene warf augenblicklich Nadel und Strumpf in seinen Flickkasten und eilte nach der Messe, wo ihm sein Herr strahlenden Auges, mit einem Papier in der Hand, entgegentrat. Frettwurst wußte im Nu, was die Glocke geschlagen hatte. Es ging wieder zu ihr!

„Frettwurst, fix die erste Garnitur heraus! Aber Ueberrock! Das neue Portepee, frische Wäsche und so weiter!“

„Nanu,“ dachte Frettwurst, irre werdend, „so fien? Denn geiht dat doch wull ni na’t Dörp.“

Doch er fühlte sich wieder beruhigt, als Herbert fortfuhr: „Und dann ziehen Sie ebenfalls schleunigst gute Uniform an, geben an Land diese Depesche an die Prinzeß August auf und machen die ‚Bachstelze‘ klar! Ich bin in einer Stunde an der Brücke!“

„Zu Befehl, Herr Leutenant!“

Während der Bursche flink die Sachen hervorholte, murmelte er: „Awerst so fien, so fien? Dat het wat to bedüden![2] Dat sücht meist ut[3], as wenn he friegen gahn[4] wull? Hurra, lütt Katteker, wo warst du dann lachen!“ – –

Mit zwei freudig erregten Menschen an Bord, das hohe feine Linnen geschwellt vom kräftigen Herbstwind, durchschnitt die „Bachstelze“ die blauen Fluthen des Hafens. Uebermüthig tänzelnd, mit unaufhaltsamer Eile jagte sie dahin, als wüßte auch sie, zu wem es gehe. Mochten die weißen Wolken oben in die Ferne ziehen, wohin immer es sie trieb – ihr Ziel lag am grünen traulichen Ufer der Heimath!

Als sich die „Bachstelze“ eben in schlankem Bogen der Landungsstelle zuwandte, kehrte das Panzergeschwader von einer Uebung aus See zurück. In langgestreckter Kiellinie dampften die mächtigen schwarzen Ungeheuer hintereinander her – eine drohende majestätische Prozession. Die selbstbewußte Ruhe, die sie umgab, wurde dann und wann durch die Signale unterbrochen, welche die Dampfsirenen der Schiffe einander zuheulten.

Herbert nickte den stolzen Schiffen fröhlich zu. „Ich bleibe bei euch für immer, ein glücklicher Mann!“ Dann schaute er wieder selig gerade aus. Dort über dem Wasser kam der in rothbraunen goldigen Farben leuchtende Wald näher und näher, dort winkte der Steg! Was er in Sommertagen erst sehnsuchtsvoll geträumt, was ihm dann in halb frevelhaftem Spiele unverdient in den Schoß gefallen, was in Noth und Gefahr ganz sein eigen geworden war, um dann wieder fast unwiederbringlich zu entschwinden – jetzt war es neu emporgetaucht, gereifter, leuchtender in der klaren Herbstsonne: die blaue Blume des Glücks! –

Die Lehrersfamilie saß still und ernst im Wohnzimmer beisammen. Der köstlichen Luft wegen hatte man die Fenster geöffnet, um welche die Trauben zwischen den verfärbten Weinblättern hingen. Die Hände in den Schoß gelegt, blickte Hilde zu den Wolken empor, und in trüber Sehnsucht zog ihr das Dichterwort durch den Sinn:

„Eilende Wolken, Segler der Lüfte!
Wer mit euch wanderte, mit euch schiffte!“

[128] Fort in die Ferne fühlte sie sich getrieben, durch Wandern und Kämpfen den Schmerz zu betäuben, Vergessen und Frieden zu finden! –

„He kümmt!“

Dieser Ausruf, den Trina hochrothen Gesichtes in die Stube hereinbrüllte, um dann sofort wieder zu verschwinden, platzte wie eine Bombe in die stille Gesellschaft.

„He kümmt!“ – Wer kommt? Verblüfft schauten sich die drei Menschen an. Herr Jaspersen wollte gerade ärgerlich aufspringen und die Enteilende festhalten, als eine Erscheinung in den Rahmen der Thür trat, welche genügende Aufklärung brachte, aber gleichzeitig die Ueberraschung verstärkte. Da stand der, an den die Drei jeden Tag gedacht, in blitzender Uniform, in feierlicher Haltung und streckte Hilde wortlos die ausgebreiteten Arme entgegen. Und von einer Ahnung ihres Glückes durchzuckt, vermochte sie sich nicht zu halten – mit einem Ausruf der Erlösung, der Seligkeit flog sie ihm entgegen und hing an seinem Halse.

So hielten sie einander fest umschlungen, während die Eltern, noch immer wortlos, aber offenbar ohne die geringste Absicht, Einsprache zu thun, daneben standen.

„Vater! Liebe Mutter!“

Herbert umarmte das Paar, als ob in denkbar klarster Weise alles zwischen ihnen geordnet wäre. Und doch war noch kein Wort der Erklärung gegeben! Nun, das fliegende Berichten des Geschehenen kam rasch genug hinterher und riß im Nu die Schranken nieder, die sich seither jeder guten Wendung entgegengethürmt hatten.

An diesem Abend erhob sich in dem von tödlichem Banne befreiten Schulhaus ein Gläserklingen ohn’ Ende, an dem auch Frettwurst, durch Trina kurzer Hand für einige Zeit als Schiffswache abgelöst, reichlichen Antheil nahm. Trinkspruch folgte auf Trinkspruch, und mit besonderer Begeisterung ward der des Lehrers auf den Prinzen August und seine Gemahlin angenommen, die eine so liebenswürdige Vermittlerin und Spionin gewesen.

„Und Papa,“ rief Hilde fröhlich, „das Vielliebchen wollen wir auch nicht vergessen. Hoch lebe der alte Brauch, der Prinzessinnen bezwingt und Glückliche schafft!“

„Ja, Kinder, der hübsche Brauch soll leben! Doch wißt Ihr, was Euer Glück vor allem geschaffen hat?“

„Unsere Liebe, Papa!“

„Gewiß, auch sie. Aber die tiefere Ursache liegt in Euerem Charakter. Ihr gehört beide zu den Menschen, die ihren Stolz darein setzen, dem Schicksal nichts schuldig zu bleiben, die, wo sie nehmen dürfen, auch vollwichtig geben wollen, Darum ist mir auch um Euere Zukunft nicht bange. Noch finden würdige Menschen überall ihren Platz. Selbst wenn Ihr zunächst nicht die Verschickung in eine andere Garnison zu erwarten hättet – durch eigene Kraft, nicht durch die Sonne fürstlicher Huld, würdet Ihr Euch Euere Stellung im fest geschlossenen Kreise auch hier sichern, in der Nähe Euerer Eltern, der einfachen Schulmeistersleute!“

*      *      *

Längst ist der Konsens in Gnaden bewilligt worden, längst hat die Hochzeit stattgefunden.

Und der Schulmeister hat recht behalten. Frau Hilde erfreut sich heute einer Stellung in den Marinekreisen, die nichts zu wünschen übrig läßt, trotzdem ihr Mann längst wieder nach der alten Station zurückversetzt ist und mit den anspruchslosen Eltern ein eifriger Verkehr gepflegt wird. Am glücklichsten sind über diesen die Kinder. Wenn Papa die „Bachstelze“ klar machen läßt, um mit ihnen zu den Großeltern hinüberzusegeln, ist es jedesmal ein Festtag für sie. Unter der Linde, zwischen den Obstbäumen und Stachelbeerbüschen, bei den Bienenkörben – überall sind sie zu Hause. Der Großvater hat seine helle Freude daran, welche wißbegierigen kleinen Imker seine Enkel sind. Sehr zärtlich hängt die muntere Schar auch an der alten Trina, die bis an ihr seliges Ende felsenfest von ihren großen Verdiensten um das Zustandekommen der Ehe von Herrn und Frau Kapitän Gebhardt überzeugt bleiben wird.

Vom gleichen Verdienst nicht minder durchdrungen ist in der Ferne ein anderer braver Mensch: der Fischer Frettwurst. Die Liebe zu seinem ehemaligen Herrn und dem „lütten Katteker“ füllt neben der zärtlichen Neigung zu Weib und Kind noch immer sein treues Herz. Von der großen Welt will er nichts wissen, trotz der beklemmend ehrenvollen Aufnahme, die ihm bei der Ablieferung seines Vielliebchengeschenkes an die kleine Prinzessin widerfuhr.

Zum Geburtstage seines früheren Herrn rafft sich Frettwurst mit einer aus Mangel an Uebung alljährlich unbotmäßiger werdenden Hand zu einem schriftlichen Glückwunsch auf. Sein jüngstes derartiges Werk schließt mit den Zeilen:

„Meine Lena hat mir, ebenso wie bei Ihnen und die gnädige Frau Kaptän, wieder mit ein kleines Mädchen beschert. Ich konnte nun heil zufrieden sein, aberst, Herr Kaptän, so, wie in die Zeit, als wir zu die gnädige Frau Kaptän mit die ‚Bachstelze‘ als Braut fuhren und ich mit die Jolle und die Botter umslug, wird es doch allmeintag nich wieder! Das haben Herr Kaptän mich auch dunnemals schon über das menschliche Leben im voraus gesagt. Womit ich mit meine und meine Frau ihre Grüße an den gnädigen Herrn Kaptän und die gnädige Frau Kaptän und die lieben kleinen Kinder und nochmalichen Glückwunsch bis zu nächstes Jahr bin
 Ihr immer verbleibender
August Frettwurst.“ 


Zwei Morgen im Schlosse zu Versailles.

Von Dr. H. Ellermann.

Es war am 15. August 1785, dem Feiertag von Mariä Himmelfahrt, da trat aus dem Kabinett des Königs Ludwig XVI. im Schlosse zu Versailles ein Mann, angethan mit der ganzen pomphaften Tracht des hohen geistlichen Würdenträgers. Aber seine Miene stimmte schlecht zu dem festlichen Gewande, das er trug, und sein Weg führte ihn nicht zum feierlichen Hochamt in die Kirche, sondern geradeswegs zur Bastille. In dem Saal des Oeil de boeuf ward er auf Befehl des Königs durch den Herzog von Villeroi verhaftet und alsbald nach dem Gefängniß abgeführt.

Der Gefangene war niemand anderes als der berüchtigte Kardinal Rohan, Großalmosenier von Frankreich, Bischof von Straßburg, Inhaber einer ganzen Anzahl der einträglichsten Pfründen. Drinnen aber im Kabinett des Königs waren sehr peinliche Dinge verhandelt worden. Der Kardinal, der eben im Begriffe stand, sich zur Abhaltung der großen Messe in die Kirche zu begeben, hatte plötzlich den Befehl erhalten, sich zum König zu verfügen. Als er eintrat, empfing ihn der König mit der Frage:

„Sie haben bei Böhmer ein Diamantenhalsband für 1600000 Franken gekauft?“

„Ja, Sire!“ erwiderte der Kardinal.

„Und was ist damit geschehen?“

„Ich denke, es befindet sich in den Händen Ihrer Majestät der Königin!“

„Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben?“

„Eine Gräfin de Lamotte-Valois. Sie wies mir einen Brief der Königin vor, und ich mußte glauben, Ihrer Majestät einen Dienst zu erweisen, indem ich die Besorgung übernahm.“

Da unterbrach ihn die Königin, die mit einigen Herren des Gefolges Zeuge der Unterredung war, mit den Worten:

„Mein Herr, wie haben Sie, mit dem ich seit acht Jahren kein Wort geredet, glauben können, ich würde Sie zu diesem Geschäfte ausersehen, vollends durch die Vermittlung einer solchen Frau!“

„Ich sehe wohl,“ war die zerknirschte Antwort des Kardinals, „daß ich das Opfer eines schnöden Betrugs geworden bin. Ich werde das Halsband bezahlen. Das Bestreben, Eurer Majestät einen Gefallen zu erweisen, hat mir den Blick getrübt. Ich sah keinerlei Hinterhalt dabei, und es thut mir außerordentlich leid.“ Er zog, währenddem einen Brief aus der Tasche, in welchem in der That die Königin der Lamotte jenen Auftrag gab. Der König nahm ihn, warf einen Blick darauf und hielt ihn dann dem Kardinal vor mit den Worten:

„Das ist doch weder die Handschrift noch die Unterschrift

[129]

Ludwig XVI. mit seiner Familie während des Aufstandes in Versailles am Morgen des 6. Oktober 1789.
Nach einer Zeichnung von Edmund Brüning.

[130] der Königin! Wie konnte ein Prinz aus dem Hause Rohan, ein Großalmosenier von Frankreich glauben, die Königin würde mit ‚Marie Antoinette von Frankreich‘ zeichnen? Jedes Kind weiß, daß die Königinnen nur mit ihrem Taufnamen unterschreiben!“ Und indem er ihm zugleich einen vom Kardinal geschriebenen Brief an den Juwelier Böhmer vorwies, verlangte er noch einmal entschieden Aufklärung des Räthsels.

Jetzt wurde dem Kardinal schwül. Er erbleichte und mußte sich gegen den Tisch stützen.

„Sire, ich bin zu erregt, um mich vor Eurer Majestät gebührend zu verantworten,“ bat er mit unsicherer Stimme.

„Hier in meinem Kabinett finden Sie Papier, Tinte und Feder. Schreiben Sie auf, was Sie mir zu sagen haben!“

Der Kardinal that, wie ihm geheißen. Nach einer Viertelstunde kehrte er zurück mit seiner Rechtfertigungsschrift. Aber sie war so unklar und nichtssagend, daß sie einem Geständniß seiner Schuld gleichkam.

In Wahrheit hatte er sich von der intriganten Lamotte einreden lassen, die Königin Marie Antoinette würde um den Preis dieses von ihr heiß begehrten Halsbandes selbst für eine Liebschaft zu haben sein, hatte er sich durch das Gaukelspiel eines nächtlichen Stelldicheins, bei welchem irgend ein Frauenzimmer die Rolle der Königin spielte, vollends betölpeln lassen, den Ankauf des verhängnißvollen Schmuckes zu unternehmen.

Und so geschah denn, was wir wissen. Der König entließ den Frevler, der sich erkühnt hatte, die weibliche Ehre der Königin aufs gröblichste zu beschimpfen, mit der kurzen Bemerkung:

„Sie werden bei dem Heraustreten aus diesem Kabinett verhaftet werden!“

So berichtet die Hofdame der Königin Marie Antoinette, Madame Campan, der wir in den Hauptzügen gefolgt sind. Es kann hier nicht unsere Absicht sein, die ganze, oft erzählte Geschichte von dem berüchtigten Halsbandprozeß noch einmal zu erzählen. Aber erinnern mußten wir an diesen aufregenden Morgen im Schlosse zu Versailles, denn von ihm führt eine gerade Linie sich folgerichtig aneinander kettender Ereignisse zu jenen anderen Morgenstunden, denen des 6. Oktober 1789, die wohl die fürchterlichsten waren, welche das schicksalsreiche Schloß zu Versailles gesehen hat.

Wenn wir Heutigen, die wir den ganzen Verlauf des blutigen Geschichtsdramas der französischen Revolution übersehen, die Anfänge der Bewegung betrachten, so müssen wir uns wundern, wie königstreu die ersten Wortführer der Umwälzung noch waren.

Die berühmte Brandschrift des Abbé Sièyes „Was ist der dritte Stand?“, die mit düsterer Fackelgluth das Elend und die Verworfenheit des alten Privilegienstaats beleuchtet, sie macht Halt vor der Person des Königs. „Das Volk hat sich gewöhnt, wenn es murrt, den Monarchen zu trennen von den Bewegern der Gewalt,“ führt der streitbare Abbé aus. „Es hat den König immer als einen Menschen betrachtet, der so gewiß betrogen wird und inmitten eines rührigen und allmächtigen Hofes so wehrlos dasteht, daß es nie daran gedacht hat, ihm all das Unheil zuzuschreiben, das in seinem Namen geschehen ist. Einzig die Aristokratie ist es, die gegen die Vernunft, das Recht, das Volk und den König streitet.“ Die Wähler von Limoux schreiben in dem „Cahier“, in dem Wunsch- und Beschwerdeheft, das sie im Frühjahr 1789 ihren Abgeordneten zur Nationalversammlung nach Versailles mitgaben: „Sire, seit Jahrhunderten schmachten die Gemeinen Ihres Reiches unter Mißbräuchen jeder Art. Seit lange waren unserer Könige und unsere Interessen die dieselben sind, vollständig getrennt. Ein Hoffnungsstrahl beginnt uns über dem Haupt zu leuchten, aber er wird bald verschwinden, unser Glück wird nur einen Augenblick währen, und wir werden zurücktauchen in die Finsterniß des Elends, wenn Ew. Majestät nicht, im Einklang mit der Nation, das Uebel ausrottet mit der Wurzel.“ Der dritte Stand von Paris knüpft um dieselbe Zeit an das Verlangen nach Schleifung der Bastille noch den Vorschlag, inmitten des durch ihre Niederlegung gelassenen freien Platzes eine Säule von einfach edler Bauart zur errichten mit der Inschrift: „Ludwig XVI., dem Wiederhersteller der öffentlichen Freiheit.“ Und als die neugewählten Abgeordneten mit dem gesamten Hofe an der Spitze in feierlichem Aufzuge von der Versailler Notredamekirche zur Kirche des Heiligen Ludwig sich bewegten, da begrüßte nach dem Zeugniß der Frau von Staël den König ein lautes Hochrufen der ungeheuren Menschenmassen.

Nicht so seine Gemahlin.

Die Königin fand keinen Willkomm. Ja, sie wäre glücklich gewesen, wenn sie nur mit Stillschweigen aufgenommen worden wäre, aber Gassenweiber schleuderten ihr einen Ruf zu, der ihr das Blut in den Adern erstarren machte: „Hoch der Herzog von Orleans!“ Das war ihr grimmigster Feind, der rührigste ihrer Lästerer.

Ja, die unglückliche Marie Antoinette war nie beliebt gewesen in ihrer neuen Heimath, und als der Haß zum Throne kroch, da war sie sein erstes Opfer. In jenen ersten Gährungen der Revolution trat der Keim zum 16. Oktober 1793, dem Tage, da Marie Antoinette unter dem wüthenden Jubel des Janhagels ihr Haupt auf den Block legte, deutlicher zu Tage als der zum 21. Januar desselben Jahres, da Ludwig Capet der Blutgier der Schreckensmänner zum Opfer fiel.

Der erste schwere Schlag, welcher der Königin enthüllte, wie wenig sie und ihre Ehre dem Volke galten, stand in engstem Zusammenhange mit jenem Auftritt am Morgen des 15. August, den wir oben erzählt haben. Das Pariser Parlament verhandelte im Mai 1786 den Prozeß des gefangenen Kardinals Rohan, und sofort zeigte sich, daß Hof, Adel, Klerus und Volk wie ein Mann Partei ergriff gegen die „Oesterreicherin“ und für den Kardinal. Am 31. Mai erfolgte das Urtheil des Gerichtshofes. Mit einer Mehrheit von fünf Stimmen beschloß er die ehrenvolle Freisprechung des Kardinals; und nicht bloß das, Paris nahm diese Freisprechung mit einem Jubel auf, den der Graf Mirabeau geradezu als „Delirium“ bezeichnet. Marie Antoinette war tief erschüttert über diesen Ausgang. Unter einem Strom von Thränen klagte sie ihrer Kammerfrau Madame Campan: „Kommen Sie, beweinen Sie Ihre beschimpfte Königin, die das Opfer der Ränke und der Ungerechtigkeit geworden ist!“

Und doch, so ganz unschuldig war die Königin nicht an diesem Ende des Prozesses. Sie hatte zu viel gethan, die Vorurtheile, die man ihr entgegenbrachte, durch eigene Unbesonnenheit zu verstärken. Sie war äußerst unvorsichtig in der Wahl ihrer Günstlinge, ihre vertrauteste Umgebung bestand aus Persönlichkeiten, deren Ruf sehr tief stand; und als ihr Beichtvater Vermond ihr einmal darüber Vorhalte machte und meinte, sie beobachte nicht einmal mehr die Vorsicht, wenigstens mit einigen Frauen von tadellosem Rufe Verbindung zu erhalten, da besann sie sich lächelnd, und es fiel ihr in der That nur die einzige Prinzeß Lamballe ein, die auf diesen Ehrentitel Anspruch machen konnte. Am allerwenigsten verzieh man ihr die Schwäche für die Herzogin Polignac, an die sie Unsummen verschleuderte zu einer Zeit, da der französische Staat unaufhaltsam und offenkundig dem Bankerott entgegenschritt. Haltlos, naiv unverständig in der Zeit ihres Glücks, hat Marie Antoinette erst unter den Leiden der Revolution jene Seelengröße sich erstritten, die ihre letzten Stunden verklärt.

Kann man sich wundern, daß auch im weiteren Verlauf der Ereignisse die Königin der erste Zielpunkt der revolutionären Leidenschaft blieb, daß man sie verantwortlich machte für alles Böse, was geschah oder auch nur geglaubt wurde! Sie war die „Madame Defizit“, als nach dem Zusammenbruch des Systems Calonne die Finanznoth Frankreichs greller als je zu Tage trat. Die Volkswuth gegen die Königin war so heftig, daß der König ihr verbot, sich in Paris zu zeigen.

Und als die Revolution des dritten Standes überging in eine Revolution des vierten Standes, als die Weiber des Palais Royal und die Banditen aus ganz Frankreich Paris beherrschten und die Politik machten, da war es wiederum die Königin, nicht der König, die mit den schmeichelhaftesten Ausgeburten einer gänzlich scham- und zügellosen Lästerwuth bedacht wurde. Der junge Camille Desmoulins, gewiß kein zimperlicher Herr, war in den Julitagen des Jahres 1789 Zeuge einer Scene im Palais Royal, wie ein vierjähriges Kind auf den Schultern eines Packträgers wohl zwanzigmal die Runde um den Garten machte und dabei fortwährend die ihm eingetrichterten Worte schrie: „Beschluß des französischen Volks – die Polignac verbannt auf 100 Meilen von Paris – Conde idem – Conti idem – d’Artois idem – die Königin ...“ Was hier folgte, war selbst dem jungen Camille zu stark, denn er wagte es in dem Briefe an seinen Vater, wo er diese Geschichte erzählt, nicht zu wiederholen.

An der Königin endlich gedachte das Gesindel des 5. und 6. Oktober seine Wuth auszulassen.

[131] In Paris herrschte Hunger und Anarchie. Da warf irgend jemand den Gedanken in die Massen des Palais Royal: Nach Versailles! Welche Intriguen sonst noch mitgespielt haben mögen, wird wohl nie aufgeklärt werden. Genug, am Morgen des 5. Oktober setzte sich ein Haufe von Dirnen, Fischweibern, Hökerinnen und als Weiber verkleideten Strolchen unter dem Oberbefehl des Bastillekämpfers Maillard nach Versailles in Bewegung. Eine kleine Abordnung erhält Zutritt in die Nationalversammlung; aber die Weiber drängen in Masse nach, füllen die Galerien, den Saal; sie setzen sich zu den Abgeordneten auf die Bänke, verhöhnen den Präsidenten, und als diesem endlich die Sache zu toll wird und er seinen Sitz verläßt, setzt sich ungeniert eines der Weiber darauf. Auf einer Galerie führt ein Fischweib das Regiment. Hundert andere brüllen oder schweigen auf ihr Kommando, während sie die Abgeordneten zur Rede stellt oder abkanzelt. „Wer spricht denn da unten? Das Plappermaul soll schweigen! Was geht uns das an – es handelt sich um Brot!“ Da ein Dekret über die Beschaffung von Lebensmitteln bereits erlassen ist, so verlangen die Führer mehr. Man soll die Taxe des Brotes auf 6 Sous (24 Pfennig) für 4 Pfund setzen und die des Fleisches auf 6 Sous für das Pfund. „Wir sind keine Kinder mehr, mit denen man spielt: wir haben unsere Fäuste, thut, was wir verlangen!“ Auch das Regiment Flandern, das zum Schutze des Königs herangezogen war, soll wieder entlassen werden – „das sind nur tausend Menschen mehr zum Füttern, die uns das Brot vor dem Mund wegessen“

So ging es eine gute Weile fort. Währenddem hat ein anderer Haufe sich an das Flandrische Regiment gemacht, das auf dem Platze vor dem Schlosse steht. Die Mädchen des Palais Royal machen ihre Verführungskünste geltend, und noch vor Abend ist das Regiment werthlos geworden.

Und immer noch wächst der Wirrwarr und die Leidenschaft der Menge. Eine förmliche Tollheit hat sie ergriffen. Schon unterwegs ist der Ruf gefallen: „Wir bringen euch den Kopf der Königin auf einer Pike.“ „Tod der Königin“, läuft auch jetzt durch die Reihen des Gesindels, und mit der Wollust der Mordgier malen sich die erhitzten Köpfe aus, wie sie der Verhaßten das Herz aus dem Leibe reißen wollen.

Endlich, gegen Mitternacht, trifft Lafayette mit der Pariser Nationalgarde in Versailles ein. Aber auch sie ist unzuverlässig. Noch eben hat sie in Paris ihre Führer vergewaltigt. Die Versailler Nationalgarde ihrerseits hat das Schloß umstellt und jeden Ausgang gesperrt. Aber Lafayette steht für die Treue seiner Pariser Nationalgarde, und der König vertraut ihr die Außenposten des Schlosses an. Alle Wachen haben strengen Befehl, nicht zu schießen. Der König will es

So brach der 6. Oktober an.

Es war morgens um 4½ Uhr. Eine kurze Ruhe hielt die Bewohner des Schlosses umfangen. Da hörten die Kammerfrauen der Königin, die sich im Vorzimmer ihres Schlafgemachs befanden, Schüsse und furchtbares Geschrei[.] Sofort trat die eine bei der Königin ein, sie zu wecken, die andere – es war die Schwester der Madame Campan, der wir einen ausführlichen Bericht über diese Vorgänge verdanken – eilte weg in der Richtung, aus welcher der Lärm kam. Sie öffnete die Thür zum großen „Saal der Garden“ und da sah sie auch schon einen Mann der Leibwache, der blutüberströmt mit seinem Gewehr die Thür gegen eine wüthend andringende Menge zu sperren suchte. Er drehte sich um und schrie: „Madame, retten Sie die Königin, man will sie ermorden.“ Die Kammerfrau schloß augenblicklich die Thür hinter dem Opfer seiner Pflicht, stieß den großen Riegel vor, ebenso im folgenden Zimmer, und als sie am Schlafkabinett der Königin war, rief sie hinein: „Stehen Sie auf, Madame! Zum Ankleiden ist keine Zeit, retten Sie sich zum König!“ Die erschrockene Fürstin sprang empor, ließ sich rasch die nothwendigsten Kleidungsstücke überwerfen und flüchtete zum König. Dort in dem Saale des Oeil de boeuf sammelte sich allmählich die königliche Familie, der König, die Königin, das Töchterchen, das damals elf Jahre alt war, und der achtjährige Dauphin, nebst dem Gefolge. Sie erwarteten nichts anderes als den Tod. Entsetzt starrten sie hinab auf den Platz, wo die Mordgesellen tobten.

Da, im Augenblick der höchsten Noth, erschien Lafayette mit seinen Grenadieren. Es gelang ihm, das Schloß von dem Gesindel zu säubern und zu retten, was noch zu retten war. Dann trat er auf den Balkon hinaus und parlamentierte mit der Menge. „Der König nach Paris!“ war die Bedingung der Kapitulation. Und jetzt spielte Lafayette ein gewagtes Spiel. Er vermochte die Königin, mit ihm auf den Balkon zu treten. Dort versuchte er zu sprechen, aber er konnte sich nicht verständlich machen. Da beugte er sich nieder und küßte ehrfurchtsvoll die Hand der Königin. Die Menge, ganz überrumpelt von diesem Schritt, schrie: „Es lebe der General, es lebe die Königin!“ Der Umschlag war ein jäher und vollständiger. Ganz gerührt fragte der König den General: „Was können Sie jetzt für meine Garden thun?“ Und abermals spielte Lafayette dem Volke eine Komödie vor. Er ließ einen Gardisten kommen, trat mit ihm hinaus aus den Balkon umarmte den Mann und heftete ihm seine Kokarde an. Er kannte seine Leute. Drunten brüllten sie: „Es leben die Gardes du Corps!“ Der Friede war gemacht.

Um zwei Uhr nachmittags trat dann der König die Reise nach Paris an. In der Mitte die königliche Familie und etwa hundert Abgeordnete in Wagen, dann Artillerie, Weiber rittlings auf den Kanonen, dann ein paar Lastwagen voll Mehl. Rings umher die Garden des Königs, jeder hinter sich auf dem Pferde einen Nationalgardisten – dann die Nationalgarde von Paris, endlich Weiber, Pikenmänner, zu Fuß, zu Pferd, auf Wagen oder Karren. Vorn an der Spitze aber eine Bande, die an zwei langen Stangen die abgeschnittenen Köpfe zweier bei dem Ueberfall des Schlosses gemordeter Leibgardisten trug.

Man zieht durch Sèvres. Da liegt am Wege ein Barbierladen. Ein teuflischer Gedanke durchzuckt die Unmenschen an der Spitze. Sie holen den Barbier herbei und zwingen ihn, die beiden Köpfe säuberlich zu pudern und zu frisieren. Und unter solchem Zeichen zog Ludwig XVI. in Paris ein.

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Blätter und Blüthen.


Vorsicht! Es erscheint neuerdings in Dresden ein belletristisches Blatt letzten Ranges, welches sich „Kleine Gartenlaube“ nennt (Redaktion und Verlag von A. E. Pohlan in Dresden). Dasselbe steht natürlich in keinerlei Beziehung zur „Gartenlaube“, scheint es indessen auf eine Irreführung des Publikums abgesehen zu haben. Darauf deuten nicht bloß Titel und Kopfzeichnung des Blattes, sondern vor allem auch der Autorname H. W. Heimburg, der über dem Roman „Die Blume des Glücks“ auf der ersten Seite des Prospektes steht. Es bedarf keines Beweises, daß unsere W. Heimburg mit diesem oder dieser H. W. Heimburg nicht das Geringste zu thun hat, daß die gefeierte und allbeliebte Schriftstellerin W. Heimburg ausschließlich der „Gartenlaube“ ihre Kraft widmet und weit davon entfernt ist, zu einer so fragwürdigen Erscheinung wie der „Kleinen Gartenlaube“ auch nur eine Zeile beizusteuern.

Winterleben im Spreewald. (Zu dem Bilde S. 120 und 121.) Einige Wegstunden hinter der Tuchmacherstadt Kottbus tritt die Spree in eine etwa 9 Meilen lange und 1 bis 1½ Meilen breite, vollständig flache Niederung ein, die sich auf ihrer ganzen Ausdehnung nur um einige Meter senkt. Die Spree, bis dahin ein fröhlich fließendes Gewässer, befindet sich plötzlich in der größten Verlegenheit: es fehlt ihr an einer bestimmten Flußrinne, und so bleibt ihr denn nichts anderes übrig, als sich ziel- und planlos in Hunderte von Armen, „Blotas“, wie der Spreewaldwende sagt, zu zersplittern. Man spricht von 300 Spreearmen, und wenn man so gefällig sein will, beim Zählen einige Feld- und Wiesengräben mit in Betracht zu ziehen, so ist an dieser Zahl auch nichts zu mäkeln. Erst am Ende der Niederung findet sich der Fluß wieder zusammen, windet sich der Reichshauptstadt zu, um hier seine größte Lebensaufgabe zu erfüllen – ohne ihn würde ja kein Berliner mit Spreewasser getauft werden können.

Zwischen jenen Hunderten von Spreearmen nun breitet sich ein humusreiches fruchtbares Schwemmland aus und bildet Tausende von flachen Inseln, die sogenannten „Kaupen“. Wenn diese „Kaupen“ nicht mit malerischen Bauernhäusern besät sind, so leuchten sie im tiefsten Wiesengrün [132] oder sie sind mit Wald überzogen; in die „Blotas“ herein ragen vom Ufer aus oft riesenhafte Sumpfgewächse, oder die Kanäle sind durch die dichten Laubkronen der Erlen und Eichen, Eschen und Ulmen förmlich eingedeckt. Die Uferhäuschen die stillen Mühlen, die Kanäle sind in eine laubgrüne Nacht eingebettet, und lautlos gleiten die Bauernkähne aneinander vorüber, als wollten sie dieses Stillleben nicht unterbrechen.

Im Winter aber, da geht’s im Spreewald lauter und lustiger her. Die Dörfer, die einzelnen Gehöfte, die im Sommer durch die Spreearme voneinander getrennt sind und den Verkehr unter sich nur durch Kähne vermitteln können, sind durch den Frost erst zu wirklichen Nachbarn geworden. Krystallene Brücken und Straßen sind entstanden, und mit einem Schlage entwickelt sich ein so frisches blühendes Winterleben, wie es sich vielleicht nur noch in Holland zeigen kann. Der flüchtige Schlittschuh tritt an die Stelle des beschwerlichen Bauernkahnes, die ganze Bevölkerung erscheint plötzlich beflügelt, wenn auch nur, wie Merkur, an den Füßen. Zwischen den Bauern und Bäuerinnen, die meist gradlinig auf rostigen Eisen dahingleiten und mit ihrer Fahrt irgend einen Zweck verbinden, winden sich Mitglieder der Berliner Eissportvereine in eleganten Bogen hindurch. Wir sehen den Sendboten der nächsten Postanstalt gleichfalls auf Schlittschuhen seines Amtes walten. Für die Jäger ist die Eisdecke auf den labyrinthischen Wasserläufen eine besonders willkommene Erscheinung; jetzt können Inseln jagdmäßig abgetrieben werden, auf denen sonst das Wild geschützt liegt durch brakige Moorgründe, oder der gefrorene Sumpfboden gestattet, das Wild aus seinen Verstecken aufzustöbern und auf die „Blotas“ herauszutreiben, wo es den Feuerrohren verfallen ist.

Höchst seltsam wirkt auf den Fremden ein Leichenbegängniß auf – Schlittschuhen. Wir sind gewohnt, Leidtragende ernst und gemessen einherschreiten zu sehen. Hier erblicken wir eine Reihe wehklagender Schlittschuhläufer in der flottesten rhythmischen Bewegung, die wir sonst nur bei frohen Anlässen beobachteten, und vor ihnen her wird über die weiße Eisfläche ein dunkler Sarg gezogen. Das wirkt befremdend, ja verblüffend. Der seltsame Zug eilt vorüber; die Majestät des Todes spricht auch hier ihre beredte Sprache und hinterläßt vielleicht einen tieferen Eindruck als altgewohnte Trauerbilder. Th. G.     

Die amerikanischen Kolumbus-Briefmarken. (Mit Abbildungen.) Die Vereinigten Staaten von Nordamerika feiern das Jubelfest der Entdeckung ihres Welttheils in der mannigfaltigsten Weise. Sie veranstalten nicht bloß in Chicago eine Weltausstellung, die an Großartigkeit alles Dagewesene übertreffen soll, sie haben zum Beginn dieses Festjahres auch neue Briefmarken in den Verkehr gebracht, deren bildlicher Schmuck durchweg der Verherrlichung des Kolumbus und seiner That gewidmet ist. Und zwar haben dabei in den meisten Fällen bekannte Kunstwerke zur Vorlage gedient. Die Ein-Cent-Marke ist nach einem Gemälde von William H. Powell gebildet und stellt Kolumbus dar in dem Augenblick, da er zuerst das Land in Sicht bekommt. Die Zwei-Cent-Marke zeigt Kolumbus’ Landung nach dem im Rundbau des Kapitols zu Washington befindlichen Gemälde von Vanderlyn. Auf der Drei-Cent-Marke erblickt man das Flaggenschiff des Kolumbus, die „Santa Maria“, auf der Vier-Cent-Marke seine ganze Flotte, beide nach spanischen Kupferstichen gefertigt. Die Fünf-Cent-Marke führt uns nach einem Bilde von Brozik in dem New-Yorker „Metropolitan Museum“ Kolumbus vor, wie er die Königin Isabella um Beistand bittet. Die drei folgenden Marken, zu sechs, zehn und fünfzehn Cent, schildern die Triumphe des Kolumbus nach seiner Rückkehr von der ersten Reise, den Empfang in Barcelona (Original: ein Relief an den Erzthüren des Kapitols zu Washington), die Vorstellung von Eingeborenen und den Bericht über seine Entdeckungen (vergl. unsere Wiedergabe dieses Bildes Jahrg. 1892, S. 193).

Die amerikanischen Kolumbus-Briefmarken.

In die Tage des Ringens führt uns zurück die Dreißig-Cent-Marke mit „Kolumbus in Rabida“; er setzt den Mönchen, die ihn barmherzig aufgenommen, seine Pläne auseinander. Die Fünfzig-Cent-Marke bildet Heatons Gemälde im Kapitol zu Washington ab, die Abberufung des in Ungnade gefallenen Helden. Die folgende Marke, zu einem Dollar, weist die Königin Isabella auf, wie sie ihre Juwelen verpfändet, die zu zwei Dollar zeigt Kolumbus in Ketten. Auf der Drei-Dollar-Marke wird er dargestellt, wie er seine dritte Reise beschreibt, die Vier-Dollar-Marke setzt die Bildnisse des Kolumbus und der Königin Isabella nebeneinander, die letzte endlich, im Werthe von fünf Dollar, trägt den Kopf des Kolumbus im Profil. Ueberall haben, wie gesagt, amerikanische, spanische oder andere Kunstwerke das Vorbild abgegeben. Die neuen Marken, die am 1. Januar d. J. dem Verkehr übergeben worden sind und mit dem 1. Januar 1894 außer Kurs treten, weisen eine außerordentlich scharfe und feine Zeichnung auf, auch darin würdig des festlichen Anlasses, dem sie ihre Entstehung verdanken.


Inhalt:

[ Verzeichnis der Beiträge in Nr. 8/1893. ]



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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

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