Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[773]

Nr. 46.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(10. Fortsetzung.)


In diesem Augenblick gewann die Firma plötzlich das große Los! – – Die Hamburger Geschäftswelt nahm sehr viel Antheil daran. Diejenigen, die an Brühl und Grimm Forderungen hatten, athmeten auf, – Gottlob, sie würden zu dem Ihrigen kommen, daran war kein Zweifel. Den Unbetheiligten machte die Sache Spaß, sie fanden, dieser Brühl sei doch wie eine zähe Katze, immer falle er auf die Füße, man könne ihn werfen, wie und wohin man wolle. Die, welche vorsichtig gezögert hatten, sich mit der Firma einzulassen, beeilten sich, ihre Bereitwilligkeit darzuthun, mit ihr fortan Hand in Hand zu gehen. Und die Feiglinge, die wie die Ratten das sinkende Schiff schon verlassen hatten, strömten in hellen Haufen zurück und betheuerten, sie hätten nie an der Leistungsfähigkeit eines solchen Hauses gezweifelt.

Keiner von ihnen allen aber war Zeuge der Scene gewesen, die sich in dem kleinen Zimmer hinter dem Comptoir abspielte, als das Personal gegangen war. Es hatte niemand gesehen, wie Brühl mit zitternden Händen Papiere, die auf einem Tisch umherlagen, zusammengerafft und wieder auseinandergestreut und von neuem aufeinandergeschichtet hatte, anscheinend ohne Sinn und Verstand, und wie er es nicht wagte, die Augen zu Grimm aufzuschlagen, der ihn seinerseits mit einem ernst fragenden Blick


Die Hafendammpromenade in Nizza.

[774] betrachtete, in dem allmählich eine Besorgniß, ein ungläubiger Schrecken aufzudämmern begann. Und wie jeder von ihnen sich hütete, die beklommene Stille mit einem Laut, mit einem Wort zu unterbrechen – – –

Bis Brühl plötzlich auf den Freund zustürzte und ihn bat, ihn beschwor, zu schweigen, mit beredten Worten, wie sie ihm sonst nie im Leben zu Gebot standen, ihm vorstellte, wie kein Mensch auf Erden den wahren Zusammenhang ahne, und wie Winzer immer leichtsinnig gewesen sei und der Firma geschadet habe, und welche Opfer man um seinetwillen habe bringen müssen, – und wie man doch nicht wisse, wo der leichtsinnige Mensch stecke und ob er überhaupt noch am Leben sei, – und wie er, Brühl – dies Geld, die Hilfe in der größten Noth, ja nur als Darlehn ansehe, nun und nimmer als Eigenthum, – wie er es Winzer zurückzahlen wolle bei Heller und Pfennig, in wenigen Jahren, – sicher, – das sei ja jetzt, da die Firma einen neuen Aufschwung nehmen werde, gar keine Frage, – und so weiter ins Unendliche hinein, – mit Schwüren, Thränen, Betheuerungen, Beweisen und Auseinandersetzungen.

Aber Bernhard Grimm blieb stumm, immer stumm unter diesem stürmischen Ausbruch, und als er endlich, endlich sprach, da war es seine fest abgegebene Meinung: man müsse in allen größeren Zeitungen Englands und Amerikas Aufrufe an Gerhard Winzer erlassen, die ihn aufforderten, sich zu melden, und ihm zugleich sagten, weshalb er sich melden solle. Diese Aufrufe müßten in regelmäßigen Zwischenräumen, die noch näher festzusetzen seien, wiederholt werden, und erst wenn nach Recht und Gesetz Gerhard Winzer als verschollen betrachtet werden dürfe, habe man nachzudenken, was mit dem Gelde anzufangen sei, und sich nach Verwandten des Verlorenen umzusehen, die das nächste Recht darauf hätten. Denn das Geld sei sein – Gerhard Winzers – Privateigenthum, und sie wüßten es beide, daß er das Los nur aus Bequemlichkeit auf die Firma hatte schreiben lassen, – thatsächlich habe er es mit seinem eigenen Gelde bezahlt.

Umsonst, daß Brühl dagegen einwarf, das Geld, das die Firma ihm zur Uebersiedlung gegeben, betrage mehr als das Vierfache des Werthes, den das Los als solches gehabt habe. Das sei Wortstreit und Spiegelfechterei, entgegnete Grimm unerschüttert – sie hätten Winzer dies kleine Kapital ohne Vorbehalt gegeben. Wer könne wissen, wie es Winzer inzwischen ergangen, wie rasch die an sich schon geringfügige Summe zu Ende gewesen sei; – wer könne wissen, ob dieser Gewinn, der ihm und ihm allein rechtmäßig bei Heller und Pfennig zukomme, ihn nicht vor Untergang und Verderben rette?

Darauf hatte Brühl sich seinem Freunde zu Füßen geworfen und seine Kniee umfaßt: er solle Erbarmen haben mit ihm, er sei ein verlorener Mann, und er flehe nicht für sich allein – sein geliebtes Weib, sein süßes Kind müßten mit ihm zu Grunde gehen, wenn er diese Hilfe nicht für sich benutzen könne. Gerhard Winzer sei ein einzelner Mensch und sehr begabt – wenn er ernstlich wolle, könne es ihm nicht fehlen, er werde immer und überall durchs Leben kommen. Für Gerhard würde dieser Lotteriegewinn, an den er sicher nie mehr denke, auf den er in keinem Fall rechne, nichts weiter bedeuten als einen unverhofften Glückszufall – für ihn – Brühl – bedeute er kaufmännische Ehre, Familienglück, die ganze Existenz … alles!! Und als Grimm gesagt hatte, eine kaufmännische Ehre, die sich auf einer wissentlichen Unterschlagung, ein Familienglück, das sich auf einem Betrug aufbaue, sei keine Ehre und kein Glück mehr zu nennen, … da griff Brühl zu seinem letzten, verzweifelten Mittel, zur Pistole, und schwur, sich zu töten, falls der andere ihm das Mittel zu seiner Rettung verweigere. Grimm sah, daß es ihm heiliger Ernst war mit dieser Drohung, und der Gedanke, ein Menschenleben, das Leben seines alten Kindheitsgespielen und Jugendfreundes, der überdies Gatte und Familienvater war, auf dem Gewissen zu haben, ließ ihn schwanken und zaudern. Und als Brühl ihm von neuem schwur, er nehme alle und jede Verantwortung einzig auf sich und er werde Gerhard Winzer seine Schuld abtragen, so wahr er hoffe, selig zu werden, – da wandte Grimm sich mit einem schweren, schmerzlichen Seufzer ab, nahm dem Genossen die Pistole aus der Hand und ging aus dem Zimmer, langsam und schwerfällig wie ein Mann, der eine drückende Last zu schleppen hat.

Und dann nahm das Haus Brühl, wie es vorauszusehen gewesen war, seinen Aufschwung – aber doch nicht so rasch und glänzend, wie man allgemein vermuthet hatte. Denn, was freilich kein einziger vorausgesehen hatte, Bernhard Grimm, der „Kopf“, die Seele des Geschäftes, trat zurück, und es gab fortan keine Firma „Brühl und Grimm“ mehr, sondern nur ein „Haus Brühl“!

Die Börsianer fragten sich voll Verwunderung, was da wohl geschehen sein müsse, um die beiden von einander zu trennen. Grimm fing auf eigene Hand an, Geschäfte abzuschließen, fürs erste in kleinem Maßstabe, immer aber gewinnbringend und sicher. Von Brühls Unternehmungen, welcher Art sie immer sein mochten, hielt er sich gänzlich fern, – selbst seinen Rath, seine Meinung versagte er ihm. Es konnte nicht ausbleiben, daß dies ein gewisses Aufsehen erregte und daß die Menschen hin und her riethen, wo wohl der Grund zu suchen sei. Dem wahren Sachverhalt kam aber keine einzige der zahlreichen Vermuthungen nahe.

Und die Jahre kamen und gingen. Mit boshaftem Lächeln ließ Fortuna, die launische Göttin, die Glückswage des Brühlschen Hauses auf und ab schwanken. Hausse und Baisse! Heute obenauf – morgen in Angst und Sorge, so war es ein beständiges Schwanken und Schweben. Denn man mußte hohe und immer höhere Einsätze wagen, um die beständig steigenden Ansprüche des Hauses zu befriedigen. Die Prokuristen und Buchhalter schüttelten den Kopf, am meisten aber that dies der Kassierer, der die kaum eingelaufenen Summen meistens auch sofort wieder ausfolgen mußte. Wo in aller Welt brachte denn der Prinzipal das viele Geld hin? Und auf was für gewagte Geschichten ließ er sich oft ein – Geschichten, von denen er offenbar nichts verstand und die nur dank dem freundlichen Zufall noch glatt abliefen! Man hatte ja einen bedeutenden Umsatz, und es war durchaus kein einseitiges Geschäft – aber wenn jemand in Speditionen, in Eisenbahnen, in Grundbesitz, in überseeischem Handel und auf dem Geldmarkt zu gleicher Zeit arbeiten wollte … dann, ja dann gehörte denn doch ein anderer Kopf dazu, als Herr Brühl ihn besaß. Grimm hätte es vielleicht fertig gebracht – Brühl aber konnte längst den Umfang seines Geschäfts nicht mehr übersehen, das Steuer war ihm aus der Hand geglitten, und er ließ sein Schiff treiben, wie es Wind und Wellen gefiel. Seinen Untergebenen schwindelte es oft, wenn er sich wieder in ein neues Unternehmen einließ – aber es lief noch immer gnädig genug ab. Zuweilen war wirklich ein großer Gewinn zu verzeichnen – und ging es nicht so gut, so kam man meistens doch nur mit einem blauen Auge davon.

Eine sehr große Summe aus dem Geschäft herauszuziehen, daran war nicht zu denken – das wußte Herr Grimm ganz genau, trotzdem er sich anscheinend gar nicht um die Brühlschen Angelegenheiten bekümmerte. Dennoch hielt er es für seine Pflicht, von Zeit zu Zeit seinen ehemaligen Freund und Compagnon an sein damals so bereitwillig geleistetes, mit hundert Eiden beschworenes Versprechen zu erinnern. Und jedesmal, wenn Brühl ihn mit gesenktem Blick und stockender Stimme versicherte, es sei ihm ganz unmöglich, jetzt sein Wort einzulösen, wenn er nicht sich und die Seinigen ruinieren wolle – jedesmal ging Grimm mit herber zusammengepreßten Lippen und verächtlicher flammenden Augen stumm von ihm fort.

Allerdings – die Entschuldigung, die Brühl jedesmal bereit hatte, mußte man einigermaßen gelten lassen: Gerhard Winzer war und blieb verschollen. Grimm hatte auf eigene Hand die geplanten Aufrufe in den bedeutendsten englischen und amerikanischen Zeitungen erlassen, freilich mit dem schwer wiegenden Unterschiede, daß eine andere Veranlassung genannt wurde; es hieß nicht, der Gesuchte habe eine Masse Geld gewonnen, sondern seine Freunde wünschten seinen Aufenthalt zu erfahren, um ihm wichtige Mittheilungen machen zu können. Meldete sich der Verlorengegangene daraufhin, so wollte Grimm mit ihm zusammen aufs neue eine Firma gründen und mit seinem ganzen Kapital und Ansehen für dieselbe einstehen, und Gerhard Winzer sollte es gut dabei haben. Aber die Jahre vergingen, die Aufrufe wurden wiederholt, und er meldete sich nicht! –

Bernhard Grimm betrieb inzwischen sein Geschäft für sich, und es war durchaus nichts Aufregendes dabei, weder ungeheure Gewinne noch namhafte Verluste. Langsam und stetig arbeitete er sich in die Höhe, er ließ sich wenig in die Karten [775] sehen, es wußte eigentlich niemand so recht, wie er stand. Ihm war dies sehr angenehm; wenn er es nur selbst wußte! Sein Ruf, sein Kredit wuchs von Jahr zu Jahr, gewiegte Kaufleute kamen zu ihm mit Vorschlägen, mit ihnen gemeinsam Geschäfte zu machen – er nahm hier an und lehnte dort ab, wie er es für angezeigt fand. Zuweilen suchte ihn dieser und jener „Geschäftsfreund“ auszuforschen, was es denn eigentlich damals zwischen ihm und seinem langjährigen Compagnon Brühl gegeben habe. Darauf pflegte Grimm jedesmal mit einem eigenthümlichen Lächeln zu antworten: „Eine Meinungsverschiedenheit! Wir fanden denn doch, daß wir nicht in allen Stücken zueinander paßten!“ – Immer dasselbe, und weiter kein einziges Wort! Brühl sagte etwas Aehnliches, aber ein Unterschied war doch vorhanden: Brühl sah jedesmal unglücklich und verlegen aus, und Grimm nicht.

Der eine der ehemaligen Freunde war Senator geworden, führte ein großartiges Leben und galt bei allen denen, die nicht in seinen Geschäftsbetrieb hineinsehen konnten, als ein schwer reicher Mann, der die Ehre und das Ansehen, in welchem er stand, vollauf verdiente. Der andere hatte nicht den geringsten Titel, führte ein zurückgezogenes Stillleben bei Blumen, Bildern und Katzen und galt bei denen, die in Hamburg die „Welt“ bildeten, für gar nichts. Brühl hatte eine berühmt schöne Tochter, die sein Haus zum Brennpunkt für zahlreiche Leute machte – Grimm hatte nichts weiter, als ein paar hübsche Bilder und seinen Hafis, und die gaben keinen Brennpunkt ab. Er war damit auch ganz zufrieden und wollte es nicht anders haben.

Doch! Er wollte jetzt eine Pflegetochter haben!

0000000000000000

Bei diesem Endziel im Laufe seines Gedankenganges angekommen, seufzte Brühl tief auf. Es war ihm schlecht zu Muthe, und wenn er daran dachte, daß er jetzt „seinen Damen“ die Eröffnung in betreff Gerdas zu machen und ihnen zu sagen habe, daß sie diesmal unbedingt nachgeben müßten, dann wurde ihm noch bänger. Wie ein schwer geschlagener Mann erhob er sich, um sich in den Garten hinabzubegeben. Zuvor aber ging er doch zum Telephon und gab seinem ersten Buchhalter den Befehl, die Wildensteiner Prioritäts-Obligationen loszuschlagen und für die ganze Summe Kornhöfer Industrie-Aktien zu nehmen, und zwar so schleunig als möglich!




16.

In dem schönen Hause, das Fürst Riantzew für die Dauer seines Hamburger Aufenthalts gemiethet hatte, herrschte seit zwei Tagen eine beklommene Stimmung. Und zwar ging die Schwüle, die sich darin verbreitete, diesmal nicht, wie sonst stets, von der Fürstin aus – diese war guter Dinge, fand Hamburg „nicht so übel“ und hatte sich mit dem Gedanken, noch ein paar Wochen hier bleiben zu müssen, so ziemlich ausgesöhnt! – sondern von dem Hausherrn. Der Fürst ging umher wie ein brüllender Löwe, und selbst die kleine Mascha, sein Liebling, die sich als Rekonvaleszentin noch etwas besonderes herausnehmen durfte, mußte sich barsch abweisen lassen und kam mit feuchten Augen und einem weinerlich verzogenen Mäulchen aus seinem Arbeitszimmer: „Papa böse – Mascha weinen!“

Daß es eine Scene zwischen dem Fürsten und seinem prinzlichen Bruder gegeben hatte, wußte das ganze Hauspersonal, aber die Ursache blieb ihm unbekannt. Man hatte nicht lauschen können, des Fürsten Arbeitskabinett, wo sich der Streit abgespielt hatte, lag zu unbequem dazu. „Gewiß eine Liebesgeschichte, mein schönes Kind!“ versicherte der Kammerdiener der niedlichen georgischen Zofe und schien nicht übel Lust zu haben, seinerseits gleichfalls eine Liebesgeschichte in Scene zu setzen.

Es war ganz einfach gewesen: der Fürst hatte seinem Herrn Bruder gesagt, wann und wo und in welcher Lage er ihn erblickt, und hatte ihm seinen Wunsch ausgesprochen, er, der Prinz, möge je eher je lieber aus Hamburg verschwinden. Und der prinzliche Bruder hatte sich kurz und rund geweigert.

Anfangs hatte der Fürst dies für Scherz genommen, allein die „kleine Durchlaucht“ war weit davon entfernt, zu scherzen. Als der ältere Bruder entrüstet fragte, was das eigentlich bedeuten solle, entgegnete der jüngere gelassen, das bedeute seine bevorstehende Verlobung mit Fräulein Stella Brühl.

Auf dies hin verlor der Fürst zuerst die Sprache – dann fand er sie wieder und zwar mehrere Sprachen auf einmal. In einem Gemisch von Rumänisch und Französisch, ab und zu von einem kräftigen englischen Fluch unterbrochen – die englische Sprache ist reich an Kraftausdrücken! – hielt er dem jungen Mann das Unmögliche eines solchen Schrittes vor. Der Prinz erwiderte in einem ganz tadellosen Französisch, es sei nichts in dieser Welt unmöglich, was man ernstlich wolle, und er wolle dies sehr ernstlich. Der Fürst schrie ihm zu, er werde seine Hand von ihm abziehen – der Prinz entgegnete mit unerschütterter Ruhe, das werde ihm sehr leid thun, indessen Herr Senator Brühl sei überaus reich, wie ihm jedermann sagen könne, und werde entschieden nicht die Hand von seiner Tochter abziehen, wenn sie einen Prinzen heirathe – im Gegentheil! Der Fürst drohte, der Bruder werde sich durch die bürgerliche Gattin die ganze Laufbahn verscherzen – der Prinz erwiderte, dies fürchte er durchaus nicht, und nannte eine Reihe vornehmer Standesherren, die das gleiche gethan hätten, was er vorhabe, und doch, dank ihrem alten Namen und ihren hohen Verbindungen, die ganze Stufenleiter bis zum Gesandten- oder Botschafterposten durchgemacht hätten. – Der Fürst zählte die ganze lange Stammtafel Derer von Riantzew her, die auch nicht durch einen einzigen bürgerlichen Namen entstellt werde, und fragte seinen Bruder, ob er es über sich gewinne, dieser erlesenen Gesellschaft die Schande anzuthun und eine Hamburger Kaufmannstochter in dieselbe einzuführen. Der Prinz antwortete, eine Schande könne er nicht darin sehen, dem alten Stamm ein frisches Reis aufzupfropfen, und die fürstlichen Ahnen würden an soviel Schönheit und Jugend sicher ihre Freude haben. Die Zeiten seien eben andere geworden, die alten, abgebrauchten Begriffe müßten verschwinden, und er, der Fürst selbst, habe ja so oft gesagt, man müsse mit überlebten Vorurtheilen aufräumen und das Panier der neuen, aufgeklärten Zeit schwingen. Auf die unwirsch hingeworfene Bemerkung des durchlauchtigen Bruders, er habe das nicht persönlich gemeint und jedenfalls nicht seinen einzigen Bruder zum Bannerträger der Aufklärung ausersehen, meinte dieser, das habe er nicht wissen können, da diese Auslassungen ihm gerade an seine Adresse gerichtet erschienen wären.

Die ältere Durchlaucht batte ihre Haltung vollständig verloren, die jüngere die ihre ganz und gar bewahrt, die ältere lief aufgeregt im Zimmer auf und ab, die jüngere saß seelenruhig auf einem kleinen Brokatdivan. Das Ende vom Ganzen war, daß sich der Fürst aufs Kapitulieren legte und, statt mit Drohungen, mit Bitten kam. Aber das half alles nichts. Die kleine Durchlaucht erklärte, so lange in Hamburg zu bleiben, bis Stella Brühl ihr Jawort gegeben habe – und dann natürlich erst recht nicht abzureisen. Als der Fürst höhnisch fragte, wann denn die Werbung vor sich gehen werde, entgegnete der Prinz gefaßt, das wisse er noch nicht, vielleicht werde sich dies auf dem Gartenfest entscheiden, das Senator Brühl demnächst zu geben gedenke. –

Dies berühmte Gartenfest sehnte nicht nur Prinz Riantzew mit Ungeduld herbei – andern Leuten ging es ebenso. Waldemar Andree hatte eine von Frau Senator Brühl selbst geschriebene höfliche Einladung erhalten mit dem Zusatz, sie hoffe, daß dann auch die Angelegenheit mit dem Porträt ihrer Tochter eine endgültige Regelung finden werde.

Wieder in großer Gesellschaft! Wieder nicht mit ihr allein! hatte er geseufzt und das duftende Briefchen unmuthig beiseite geworfen. Aber gleichviel, gleichviel! Er würde sie doch sehen! Er würde sie sprechen! – –

0000000000000000

Selbstverständlich gab es am fünfundzwanzigsten Mai herrliches Wetter, nachdem dasselbe Tage hindurch unbeständig, kühl und trübe gewesen war. Aber heut lachte alles – Himmel und Sonne und Maiengrün um die Wette, und Stella Brühl schlug auch zwei lachende Augen auf. Natürlich! Heut gab sie ihr Sommerfest, heut mußte das Wetter wunderschön sein!

Sie sah ganz und gar nicht nach einer betrübten Braut aus, die den heimlich Geliebten betrauert. Im Grunde genommen dachte sie eigentlich fast nie mehr an Werner Troost, nur der Brief, den sie ihm zuletzt geschrieben und in welchem sie ihm sein Wort zurückgegeben hatte, beunruhigte sie noch zuweilen. Wo war der Brief nur geblieben? Verloren konnte er nicht gut sein, sie hatte diese Briefe stets auf der Post einschreiben lassen und an Werners Wirthin, Signora Marchini, adressiert, – innen lag dann der Brief an den jungen Bildhauer. Warum die Wirthin ihr nicht den [776] Brief zurückgesandt hatte! Sie hatte gleich am Tage nach ihrer Unterredung mit Waldemar Andree nach Rom geschrieben und Signora Marchini gebeten, ihre sämmtlichen Briefe, namentlich aber den letzten, ihr wiederzuschicken, sie hatte aber keine Antwort bekommen. Eine dumme Geschichte! Es ging ihr doch sonst im Leben alles so glatt nach Wunsch, – warum dies nicht?

Freilich, – doch nicht alles! Sie würde vor Andree Komödie oder vielmehr Tragödie spielen und einen streng beherrschten Kummer heucheln müssen, den sie nicht empfand. Aber das war nicht schlimm! Stella war eine geschickte Schauspielerin, sie stand so zu sagen eigentlich immer auf der Bühne und befand sich vortrefflich dabei. Was ihr jetzt so unangenehm war, ja, sie sogar ernstlich verstimmte, das war die Thatsache, daß ihre Schwester Gerda Herrn Grimms Pflegetochter werden und demnächst das elterliche Haus verlassen sollte.

Sie machte sich nichts aus ihr, sie nahm mit ihrem Herzen gar keinen Antheil an ihr. Sie hatte überhaupt keinen Familiensinn, – hätte sie ernstlich darüber nachgedacht, ob sie ihren Vater, ihre Mutter liebe, sie wäre zu dem Ergebniß gelangt, daß es nicht der Fall sei. Aber sie dachte nicht daran. Sie bildete sich ein, ihre Eltern lieb zu haben, – sie waren ja so gütig gegen sie, überhäuften sie mit den schönsten Dingen, kamen ihrem Hang zu Eleganz und Luxus immer bereitwilligst nach, widersprachen ihr nie und schmeichelten ihr unermüdlich. Und das mußte so sein, das verlangte Stella. Es gehörte zu ihrem Leben so untrennbar wie die Luft, die sie athmete, wie das Licht, das sie sah. Immer wieder, in jeder Form, sei sie nun alt oder neu, geistreich oder kindisch, schwungvoll oder unbeholfen, verlangte sie diese ihre eigentliche Lebensnahrung, und wehe dem, der sie ihr nicht bot!

Und Gerda, ihre jüngere Schwester, bot sie ihr nicht!

Darum konnte die schöne Stella das Kind nicht leiden, darum demüthigte und ärgerte sie es, wo sie nur konnte, darum reizte sie die Eltern gegen dasselbe auf und gönnte ihm keine Freude! Die Natur hatte die unvergleichliche Stella mit so vielem überreich bedacht, wozu hätte sie ihr auch noch Gemüth verleihen sollen? Hiervon besaß sie wirklich keine Spur, sie beklagte sich aber auch nicht im mindesten darüber, denn Gemüth kann oft sehr unbequem werden, und dagegen lehnte sie sich auf. Das unausgesetzte Intriguenspiel mit Gerda machte ihr Scherz, sie hatte sich an diesen kleinen häuslichen Guerillakrieg gewöhnt, und da sie klug und eine gute Beobachterin war, so durchschaute sie selbstverständlich die junge Schwester so vollständig, als ob diese von Glas wäre, errieth ihre Wünsche und Neigungen, ihre Sympathien und Antipathien sofort und richtete sich dann gelassen danach ein. So hatte sie es alsbald herausgefunden, daß Gerda in ihrer ungestümen, knabenhaft versteckten Art für Herrn Andree schwärmte, weil er ein paar Mal freundlich und gütig gegen sie gewesen war, und es gewährte Stella nun doppelten Scherz, Herrn Andree in sich selbst verliebt zu machen, doppelten, denn er gefiel ihr auch ohnehin gut, und sie dachte es sich neu und hübsch, einen so ernsten, zielbewußten Menschen ganz um seinen Verstand und seine Fassung zu bringen.

Und nun sollte das alles bald ein Ende haben, – und warum? Bloß, weil Papa einmal vor Jahren von diesem fatalen Grimm einen großen Dienst angenommen hatte und ihm nun dafür so verpflichtet war, daß er ihm in allem gehorchen mußte! Stella war sehr, sehr ungnädig gewesen, als der Vater ihr und der Mama die Eröffnung gemacht hatte, daß er Gerda als Pflegetochter an „seinen Freund Grimm“ abgetreten habe, sie hatte einen sehr unkindlichen Ton angeschlagen und Dinge gesagt, die jeder andere Vater wohl nur auf eine einzige Art beantwortet hätte; aber Herr Brühl ließ sich den Ton gefallen und bestand auf seinem Verlangen, – er that es wahrhaftig! Grimm habe das Recht, eine Gegenleistung von ihm zu fordern, er habe es all’ diese Jahre hindurch nicht gethan, – nun sei der Zeitpunkt da, und sie wären quitt miteinander. Umsonst, daß Stella ihrer Mutter zurief: „Mama, das läßt Du Dir gefallen? So setz’ Dich doch zur Wehr, Du kannst das nicht hingehen lassen, Gerda ist ebenso gut Deine Tochter wie Papas!“ – umsonst, daß Frau Molly ihre beringten Hände rang und erklärte, sie leide es nicht, – der Senator stand da wie ein Fels im Meer, an dem alles abprallt. Er versprach „seinen Damen“ alles, was sie nur von ihm verlangten, zumal wenn das „neue Geschäft“ gut einschlage, – das waren die Kornhöfer Industrie-Aktien, die ihm Grimm empfohlen hatte! – aber in diesem einen Punkt sei alles Reden und Bitten nutzlos: Gerda gehöre bis zum Herbst dem Namen nach noch ihnen, das heißt, sie bleibe bis dahin noch im elterlichen Hause, thatsächlich aber bestimme Grimm schon jetzt über sein künftiges Adoptivkind, und das könne er nun nicht hindern. Sein Engel, sein Prinzeßchen, seine Stella, die ja ihrer Eltern Stolz und Augenweide sei, solle gut und einsichtsvoll sein! Was könne denn ihr an dem unreifen, ungezogenen Ding liegen, mit dem sie nur ihren Aerger gehabt?

Stella hatte keine Antwort darauf gegeben, die bittend hingestreckte väterliche Hand unsanft beiseite geschoben und sich in ihrem Innern das Geständniß gemacht, daß sie Papa nicht leiden könne. Wie durfte er so schwach, so charakterlos, so ohne Willen sein? Sich beliebig von diesem Menschen am Gängelbande leiten lassen? Gewiß hatte er einmal eine ungeheure Dummheit begangen, und Grimm hatte sie gut gemacht oder vertuscht. Diese unehrerbietige Kritik übte Stella ganz kaltblütig in der Stille, während Herr Brühl sein Sperberhaupt tief zwischen die Schultern zog und ängstlich und verstohlen zu dem schönen Haustyrannen hinüberschielte.




17.

Die Einladung zum Brühlschen Gartenfest lautete zum Diner pünktlich um vier Uhr. Andree hatte sich einen Wagen genommen, entdeckte aber, als er der Villa auf der Uhlenhorst nahe kam, daß er wohl um zwanzig Minuten zu früh dort anlangen werde.

Er ließ langsamer fahren, trat, am Ziele angekommen, in den Garten und stieg bedächtig eine mäßige, mit kurzem Rasen bestandene Anhöhe hinan, die ihn zu einem schmalen Kiesweg führte, welcher sich wie ein gelbliches Band durch hohe dunkle Buschpartieen schlängelte.

Am Ende dieses Weges stand er plötzlich vor einem kleinen, von Haselsträuchern dicht umwachsenen Tempelchen, das aus hellen, ungeschälten Birkenstämmen zusammengesetzt war und von den kräftig emporwuchernden Büschen wie von einer natürlichen Laube überwölbt wurde. Zwei Holzstufen führten in das Innere der ringsum offenen kleinen Halle, die innen gedielt war und ein Bänkchen von Birkenstämmen aufwies.

Hier bot sich dem leise Herzutretenden ein überraschender Anblick.

Auf dem Bänkchen kauerte, die Füße in seltsamer affenartiger Weise hoch heraufgezogen, die Arme um die Kniee verschränkt, der Negerknabe, den Andree bei jenem ersten Zusammentreffen mit Stella Brühl hinter ihr im Wagen erblickt hatte. Der Junge war heute nicht aufgeputzt, trug eine grellroth und weiß gestreifte Jacke und Hose aus geringem Baumwollstoff und keinen Fez auf dem krausen Negerhaar. Den Kopf hielt er gesenkt und ab und zu stieß er einen halb thierischen Laut aus, eine Art von Geheul, das in einem wilden Schluchzen endete.

Neben ihm, Andree den Rücken zukehrend, stand eine weiße Mädchengestalt, und das Herz des Lauschers klopfte plötzlich stärker bei dem Gedanken, dies könnte Stella sein. Er entdeckte aber seinen Irrthum augenblicklich, – die Gestalt war unentwickelt und hatte dunkles Haar, das in einen üppigen Knoten geschlungen und im Nacken festgesteckt war. Es war Gerda.

Sie sprach eifrig auf den Knaben ein, tief zu ihm herabgebeugt, in beschwichtigendem Ton, wie man zu einem aufgeregten Kinde spricht.

„Alles anders werden mit Dudu, alles anders werden!“ tröstete sie und klopfte mit der flachen Hand leise auf des Jungen gesenkten Kopf.

„Missie Gerda fortgehen, – Missie Gerda Dudu mitnehmen!“ fuhr sie fort, „Dudu besser haben, – nie mehr Schläge, – nie mehr frieren, – vielen Zucker essen, – immer bedienen bei Tisch! Dudu gut sein, – nicht mehr weinen, – nicht mehr weinen!“

Er stieß ein paar unartikulierte Laute aus und hob ein wenig den Kopf, und nun sah Andree, daß er wirklich weinte und daß dicke Thränen über sein schwarzes Gesicht liefen.

„Dudu Missie Gerda verstanden?“ fragte das junge Mädchen sanft.

Der kleine Neger nickte mehrmals bestätigend.

„Nun also! Gutes Kind sein, – aufhören zu weinen! Nix Taschentuch?“

[777]

Die Liebste schreibt:

Komm’ heute morgen nicht, mein Schatz,
Sei auch den Mittag nicht am Platz –
Ich fürcht’ der Nachbarn böse Zung’ –
Komm’ lieber in der Dämmerung!

Die bösen Zungen kennst Du ja,
Sind ewig fern und ewig nah –
Und daß man schlecht von mir noch spricht,
Nicht wahr, mein Schatz, das willst Du nicht?

Wohl ist gar lieb die Morgenstund’ –
Man küßt so frisch sich auf den Mund!
Süß klingt der Mittagsglock’ Getön’,
Doch auch die Dämm’rung ist so schön.

Der Bäume Schatten senken sich,
Ein Nebelflor, herab auf dich,
Die Straßen und Fenster all’ sind leer –
O, wenn es doch schon Dämm’rung wär!

Ihr bösen Zungen, ich lach’ euch aus!
Belagert allesammt mein Haus –
Ich hab’ der Freuden übergenung:
Mein Schatz kommt in der Dämmerung!

Josef Schrattenholz.

[778] Dudu schüttelte heftig den Wollkopf.

Gerda zögerte einen Augenblick, dann faßte sie mit entschlossener Bewegung in die Tasche ihres weißen Wollkleides, aus der sie ein feines Batisttuch zum Vorschein brachte. Mit diesem wischte sie dem Negerknaben die Thränen ab. Andree sah jetzt ihr Profil und den theilnehmenden, gerührten Blick, den sie auf das schwarze Bürschchen heftete.

„Ein gutes Kind!“ dachte der Maler, und dabei machte er absichtlich eine Bewegung, die das Buschwerk in seiner Nähe rauschen ließ. Gerda blickte sich um und wurde roth, als sie ihn sah, lächelte aber glücklich und reichte ihm die Hand; er sprang mit einem Satz die zwei Stufen empor und schüttelte die dargebotene Rechte freundschaftlich.

Dudu war entsetzt zusammengefahren bei Andrees Erscheinen und wollte mit einem wilden Satz über die niedrige Brüstung davonspringen, aber Gerda griff ihm mit rascher Hand in das Wollhaar und hielt ihn fest.

„O, Gast, – o, Gast!“ jammerte er in ganz hohen Fisteltönen.

„Nix thun, – nix bös, – Dudu ruhig sein, – guter Gast, – lieber Gast, – Missie Gerdas gut Freund!“ beschwichtigte sie. „Er hat strengen Befehl bekommen, sich heut vor keinem Gast hier sehen zu lassen, daher seine Angst!“ erklärte sie, zu Andree gewendet.

„Warum denn nicht? Wer will denn Ihren Gästen dies interessante schwarze Exemplar vorenthalten? Er muß ungeheure Furcht haben, – sehen Sie nur, wie er zittert!“

„Er ist sehr feige, das ist wahr. Armes, dummes Mohrchen! Es soll ja auch sehr gescheite Leute in seiner Rasse geben, aber er gehört nicht zu ihnen. Er ist nicht begabter als ein Pudel.“

„Kann er gar kein Deutsch?“

„Er versteht es einigermaßen, wenn man in ganz kurzen, abgerissenen Sätzen zu ihm spricht, so wie ich es thue. Er selbst verfügt aber bloß über ein paar einzelne Worte, es ist furchtbar schwer, ihn zu verstehen.“

„Er hat es nicht gut bei Ihnen im Hause?“

Gerda schüttelte den Kopf.

„Dudu wird ganz nach Laune und ganz wie ein Spielzeug behandelt, und das,“ fügte sie ernsthaft hinzu, „müßte man keinem Menschen anthun, und wenn es auch nur ein einfältiges Mohrchen ist! – Dudu jetzt laufen,“ wendete sie sich wieder zu dem Knaben, „in Wäschekammer sitzen – verstecken – niemand finden, – Missie Gerda kommen später und Dudu Zucker bringen – er nennt nämlich alles, was ihm gut schmeckt, Zucker!“

„Aber warum soll er sich denn in die Wäschekammer verstecken?“

„Ach, er hat eine Dummheit gemacht und soll nun dafür durchgeprügelt werden; es ist nicht so fürchterlich damit, aber er ist nun ’mal ein verschüchtertes Geschöpf und flattert vor Angst. Ich hab’ ihn schon ein paar Mal dorthin versteckt, da findet ihn niemand, und bis morgen ist die Geschichte vergessen. Jetzt fort mit Dir, – husch!“

Dudu setzte zum Sprung an. Plötzlich aber warf er sich vor Gerda auf die Erde und preßte den Saum ihres Kleides an seine breiten wulstigen Lippen.

„Missie Gerda – Zucker, – Missie Gerda – viel Zucker!“

„So, so! Ja, ja, ich weiß schon!“ Sie sah nicht ohne Bangen auf ihr blendend weißes Kleid, das die schwarzen Fäuste gepackt hielten. „Damit meint er jetzt nämlich nicht, ich soll ihm vielen Zucker bringen, sondern ich selbst bin für ihn Zucker, also das Beste, Schönste, was es in seinen Augen giebt!“

Sie klopfte dem Jungen wieder mit der flachen Hand leicht auf den Kopf, und mit einem flinken, katzenartigen Satz war er über die Stufen weggesprungen und im Gebüsch verschwunden. –

„Jetzt lassen Sie sich zunächst einmal anstaunen, Gerda!“ sagte Andree lächelnd, trat einen Schritt zurück und musterte seine junge Freundin mit wohlgefälligen Blicken. „Was haben Sie mit sich angefangen, um so ganz wie eine Dame auszusehen?“

Gerda lachte.

„Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben gut angezogen und gut frisiert. Sehen Sie doch meinen Gürtel! Von Silbergeflecht! Und dies hier sind echte Spitzen! Und mein Haar, – denken Sie sich, die Friseurin fand es hübsch!“

„Das wundert mich nicht! Ich fand es gleich so, und jetzt sieht man recht, welch’ feine Kopfform Sie haben!“

„Ja, und ich esse heut mit beim Diner!“ fuhr sie triumphierend fort.

„Das ist ja ausgezeichnet! Hoffentlich werden wir Nachbarn!“

„Ach nein!“ Gerda machte ein aufrichtig betrübtes Gesicht. „Ich muß neben dem dummen Kuno von Tillenbach sitzen!“

„Und Ihre Schwester?“

„Ich denke, neben Ihnen!“ Gerda sah einen freudig strahlenden Ausdruck in seinen Augen, und es zuckte um ihre Lippen.

Andree gewahrte nichts davon.

„Wer hat Sie denn so hübsch herausgeputzt, Gerda, und es durchgesetzt, daß Sie in der Gesellschaft erscheinen? Fräulein Stella?“

„Bewahre! Ach, Sie wissen noch von nichts? Sie haben Onkel Grimm nicht wiedergesehen, seitdem wir drei damals zusammen das Kaninchen jagten? Zu komisch, bei was für Beschäftigungen Sie mich immer treffen müssen! Heute wieder das Mohrchen!“

„Ja, ich habe Glück damit!“ gab er humoristisch zurück. „Aber Herrn Grimm habe ich wirklich seit damals nicht wiedergesehen – er war so freundlich, mir einen Besuch zu machen, traf mich aber leider nicht zu Hause.“

„Ja, denken Sie nur!“ Sie athmete hoch auf, und ihre Augen lachten mit den Lippen um die Wette. „Ich bin ja jetzt Onkel Grimms Kind! Er hat es Papa gesagt, daß er mich haben will, weil er einsam ist und sich eine Tochter wünscht und mich lieb hat – und Papa hat eingewilligt! Bis zum Herbst soll ich noch hier bleiben, um viel im Freien zu sein, und soll auch noch mit Wolfgang lernen, weil er doch erst zum Oktober aufs Gymnasium kommen soll, aber Onkel Grimm bestimmt schon jetzt alles für mich, er hat mir dieses hübsche Kleid geschenkt und mir die Friseurin geschickt und angeordnet, daß ich bei der Tafel erscheine. Aber das allerschönste“ – sie drückte die Hände fest zusammen, wie Kinder thun, die eine ganz unbändige Freude empfinden – „ich bekomme ein Pferd und Reitunterricht – ach Gott – ich hab’ es gar nicht glauben wollen, denn wie hatte ich mir das immer gewünscht!“

Ihre frohen Kinderaugen sahen zu Andree in die Höhe, und er nickte ihr bestätigend zu.

„Wunderschön! Und Sie freuen sich auf den neuen Pflegevater?“

„Freuen? Bloß freuen? Das ist gar kein Wort! Ich werd’ ihn anbeten, ich werd’ es ihm bis an meines Lebens Ende nicht genug danken können, daß er mich nimmt!“

„Aber Sie werden sich nach den Ihrigen sehnen, wenn Sie auch in demselben Hause wohnen! Sie werden Ihre Schwester vermissen, Ihren Bruder –“

„Wolf darf zu mir kommen, so oft er will!“ unterbrach sie ihn hastig.

„Und Ihre Schwester –“

„Stella sieht heut’ aus wie eine Fee in einem weißen crêpe de chine-Kleide! Aber mein Anzug ist auch schön – ich habe noch nie einen solchen besessen! Und diese Rosen hat der Gärtner mir geben müssen – echte La France!“

Ihn belustigte die harmlose Art, wie sie ihn auf alle Einzelheiten ihrer Toilette aufmerksam machte, aber er merkte doch, wie sie ihm auswich. Indessen näherte sich ein leichter Schritt, die Büsche zur Linken theilten sich, und Stella trat hervor.

Sie beantwortete Andrees tiefe Verbeugung mit einem leichten Kopfneigen; in ihren feuchten blauen Augen schimmerte es wie eine leise Wehmuth, ein unbeschreiblich süßer Reiz von leidvoller Sehnsucht machte das schöne Gesicht noch unendlich anziehender.

„Ich hörte hier Stimmen und kam näher!“ Sie reichte Andree die Hand und sah ihm verständnißvoll in die Augen. „Die Gäste fangen an, sich zu versammeln – aber mir war der Trubel zuviel, ich wollte Einsamkeit haben und bin eine Weile durch den Park gestreift. Wollen wir jetzt zu den übrigen gehen, Herr Andree? Sind Sie bereit?“

Er hatte wie in einem Bann zu ihr hinübergestarrt; ihre Erscheinung – wirklich feenhaft, wie ihre Schwester soeben gesagt hatte – und ihre Stimme thaten es ihm mehr denn je an. Auf sie zutretend, bot er ihr den Arm und wandte sich mit ihr zum Gehen. Nach Gerda blickte er kein einziges Mal mehr zurück – er hatte es vergessen, daß sie da stand und ihm nachsah.

[779] Aber Stella vergaß dies nicht. Nach ein paar Schritten drehte sie den Kopf zurück, blickte die junge Schwester an und dabei war der Ausdruck ihres Gesichtes gänzlich verwandelt; die süße Wehmuth, die stille Trauer waren wie weggewischt, es stand ein triumphierendes Leuchten in ihren Augen, als ob sie sagen wollte: „Ja, ja, Gerda, sieh mich nur mit großen Augen an – ich habe sie alle am Fädchen – und Deinen ehrbaren Herrn Andree auch!“

Da gingen sie hin – das duftige weiße Seidenkleid leuchtete noch einmal zwischen dem Grün der Gesträuche auf – nun war es verschwunden.

Und verschwunden war auch Gerdas Kinderfreude an ihrem neuen Anzug und an ihrer Frisur und an der Thatsache, daß sie heute als junge Dame am Diner theilnehmen sollte. Sie blickte an ihrem weißen Kleidchen hinunter und zupfte mechanisch an den Spitzen, und auf die echten La France-Rosen fielen ein paar helle Thränen nieder. –

Der große Gartensaal machte sich sehr hübsch mit den langen, reich geschmückten Tafeln und den Gruppen von hohen blühenden Büschen und Blumen in allen vier Ecken. Die breiten Flügelthüren, die zum Garten führten, waren zurückgeschlagen und ließen die milde, wohlige Mailuft hereinströmen. Süßer Fliederduft zog durch den weiten Raum, und die Silber- und Krystallgeräthe auf den Tafeln warfen funkelnde Garben im hellen Sonnenlicht.

Stella Brühl saß zwischen Andree und dem Prinzen.

Sie schien die düstere, stirnrunzelnde Miene, den vorwurfsvollen Blick des hochgeborenen Herrn gar nicht zu verstehen, sie sah mit ihrem unbefangen strahlenden Lächeln zu ihm auf, wenn er mit ihr sprach, und gab sich so geschickt den Anschein, das ganze Gespräch, das sie damals im Garten mit dem Prinzen geführt und dessen Inhalt sich auf Andree bezogen hatte, ganz vergessen zu haben, daß der Kavalier an ihrer Seite ganz stutzig wurde und sich ernstlich fragte, ob es wirklich möglich sei, daß ein junges bürgerliches Mädchen seinen – des Prinzen Riantzew! – nachdrücklich betonten Worten so wenig Beachtung schenken, ja, dieselben in unglaublich kurzer Zeit geradezu vergessen könne!

Für Andree hatte dies junge Mädchen, wenn sie sich von dem Prinzen ab- und dem Maler zuwandte, einen ganz andern Ausdruck. Nichts von strahlender Unbefangenheit und Seelenheiterkeit! Blumenhaft lieblich blickten die sehnsuchtsvoll verschleierten Augen, wehmüthig war das Lächeln um die süßen Lippen, und in der Stimme zitterte ein warmer Herzenston. Wenn sie zu Andree aufsah, dann schien sie sagen zu wollen: „Ich muß Komödie vor den andern spielen – Du allein weißt es! Und Du allein weißt auch, warum es eine Komödie für mich ist, und an wen mein Herz denkt und um wen es im tiefsten Innern trauert und weint!“

Nichts gefährlicher, als solch ein stilles Geheimniß zu zweien, von denen der eine Theilnehmer ein wunderschönes Mädchen, der andere ein heiß und tief empfindender, schönheitstrunkener Künstler ist! Immer wieder trafen sich die Blicke der beiden im stillen Einverständniß – immer mehr spann sich der Zauber um den Mann, als sei er allein mit ihr auf einer kleinen, verborgenen Insel der Glückseligkeit, auf dem märchenhaften Eiland, von dem die Dichter singen, zu dem niemand ein Recht, niemand Zutritt hatte als nur er und sie, und ein stiller Dritter noch – ein Toter, der ihren Bund geweiht hatte, der ihnen immer gegenwärtig sein durfte … war er es doch, der sie zusammengeführt hatte!

Und Waldemar Andree neigte sich zu seiner Nachbarin und flüsterte:

„Ich habe ein kleines Porträt in Pastellfarben für Sie angefertigt, und ich bin glücklich, daß es sprechend ähnlich geworden, daß es mir gelungen ist. Sie wissen, wen es darstellt?“

Sie neigte mit gesenkten Augen das Köpfchen.

„Und ich darf es Ihnen bringen – bald bringen – und Sie wollen es von mir annehmen und als Ihr Eigenthum ansehen?“

Sie flüsterte ein Ja, und wieder war das stille, geheime Einverständniß zwischen ihnen da.

Der Prinz schlug jetzt einen gemeinsamen Ausflug vor, Stella mußte sich ihm zuwenden, und er blickte in das andere Gesicht, in das lachende, lebensfreudige, das ihn, den blasierten Weltmann und Frauenkenner, so sehr entzückte.

„Aber Ihr Nachbar zur Rechten darf nicht mit dabei sein, Gnädigste – bitte, bitte!“ flüsterte der Prinz. „Sie sind ohnehin viel zu liebenswürdig gegen diesen Maler.“

„Er sagt mir auch sehr zu, ich denke, mein Prinz, wir sprachen schon einmal darüber. Wenn Sie solch böse Augen und solche Falten auf der Stirn machen, sehen Sie gleich um zehn Jahre älter aus und gefallen mir lange nicht so gut wie sonst.“

Des Prinzen Mienen glätteten sich.

„Also ich gefalle Ihnen sonst gut?“ fragte er mit einem schmachtenden Blick und einem herausfordernden Drehen des Schnurrbärtchens.

„Ja – nächst Herrn Andree am besten hier von allen!“ gab sie unbefangen zurück.

Er setzte sein Weinglas, aus dem er gerade hatte trinken wollen, unsanft auf den Tisch nieder. „Ich bitte Sie, Gnädigste, ziehen Sie doch nicht Parallelen zwischen mir und diesem – diesem – Herrn –“

„Aber warum denn nicht? Sind Sie nicht beide unsere Gäste?“

„Allerdings! Aber ein Vergleich zwischen einem Riantzew und – hm! – einem –“

„Ach so!“ Stella lachte kurz auf. „Die Stellung ist es, die Sie betonen! Ihnen mag ja der Unterschied sehr einleuchtend sein – aber was habe ich denn davon, daß Sie ein Prinz sind?“

„Und was hätten Sie davon, daß dieser – Herr – Herr – Andree ein Maler ist, wenn ich fragen darf?“

„O, davon habe ich viel! Zunächst zwei Bilder –“

„Zwei?“

„Ja! Nicht wahr, Herr Andree, Sie werden mich zweimal malen? Prinz Riantzew erkundigt sich soeben danach.“

„Es ist so!“ entgegnete Andree mit einer gewissen Feierlichkeit. „Die Eltern des gnädigen Fräuleins haben mir heute, bevor wir zur Tafel gingen, förmlichen Auftrag ertheilt, ein Porträt von Fräulein Stella anzufertigen, und ich habe um die Erlaubniß gebeten, die Züge meiner Nachbarin zu einer Figur in einem großen Gemälde, das mir schon seit längerer Zeit vorschwebt und das ich demnächst in Angriff zu nehmen gedenke, verwerten zu dürfen. Mir ist diese große Gunst, die ich mit Recht als unschätzbar betrachten muß, gewährt worden, und mein Herz ist von Dank erfüllt, denn ich verspreche mir Großes von meinem nächsten Werk.“

Er hatte eigentlich nur zu Stella gesprochen und beachtete daher auch das spöttische Lächeln nicht, mit dem der Prinz seine kleine Rede angehört hatte. Dieser warf dem Maler halb über die Schulter die nachlässige Frage hin:

„Wird man das Glück genießen, dies Kunstwerk schon auf der nächsten Ausstellung im Winter hier bewundern zu können?“

Andree schwieg ein Weilchen und sagte dann im ruhigsten Ton:

„Ich werde mir erlauben, Durchlaucht später Antwort auf diese Frage zu ertheilen!“

Konsul White, der Stellas Gegenüber war und seiner Nachbarin, einer zierlichen Brünette aus Altona, wenig Beachtung schenkte, hatte einige Brocken des soeben geführten Gesprächs aufgefangen und wartete nur auf eine einigermaßen passende Gelegenheit, um gleichfalls ein Wort mit einzustreuen.

„Ich höre das Wort Ausstellung,“ begann er mit seinem breiten englischen Accent; „wird das gnädige Fräulein die Güte haben, auch ihrem weiteren Bekanntenkreise, der nicht das Glück hat, hier im Hause zu verkehren, den Anblick eines Kunstwerkes zu gönnen, das mich ehrlich entzückt hat, so daß ich kaum das Auge davon lassen und nicht aufhören kann, es mit dem Urbild zu vergleichen? Ich meine die Büste dort.“

Andrees Blick folgte der Richtung, die Konsul Whites Augen genommen hatten, und er entdeckte in einer der Blumennischen auf hohem Postamente Stella Brühls Marmorbüste, die er von Rom hierher gebracht hatte.

Es berührte ihn seltsam, sie hier zu finden, in diesem heitern, hellen, mit fröhlichen, geputzten Menschen angefüllten Raum, von hundert Blicken bewundert – und wieder sah er im Geist Werner Troost auf seinem Totenbett liegen und mit den halb gebrochenen Augen nach seinem Werk hinüberblicken!

(Fortsetzung folgt.)



[780]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Aus vormärzlicher Zeit.

Von Rudolf von Gottschall.

Von der Wiege des preußischen Liberalismus, von Königsberg, dessen Leben und Treiben und hervorragende Persönlichkeiten in der vormärzlichen Zeit ich in diesen Blättern bereits früher geschildert habe[1], war ich als junger verbannter Student 1843 nach meiner Vaterstadt Breslau gekommen, in der Hoffnung, dort wieder zur Fortsetzung meiner Studien an der Universität zugelassen zu werden – lag doch eine Eingabe von mir bei dem Kultusminister Eichhorn in Berlin, in welcher ich um diese Bewilligung nachgesucht hatte.

In Breslau fand ich dieselbe Gährung der Geister wie in Königsberg – man kann sich heutigen Tags kaum einen Begriff mehr machen von der Macht der damaligen Zeitströmung, die alle mit sich fortriß, welche Begeisterung für eine schönere Zukunft hegten. Es gab damals nur zwei Parteien – die eine, welche das Bestehende um jeden Preis zu schützen, die andere, welche dem Fortschritt im Staatsleben Bahn zu brechen und kampfesmuthig zu erreichen suchte, was gegenwärtig längst erreicht ist, eine Reichsverfassung und Preßfreiheit, und als letztes goldenes Ziel – ein einiges Deutschland. Jetzt, wo die Parteien sich um bestimmte Interessen scharen und ihre Programme in allen einzelnen Punkten sorgfältig ausgearbeitet haben, kann man sich schwer in eine Zeit zurückdenken, in welcher soviele unbestimmte Wünsche und Träume die Gemüther erfüllten und ein ahnungsvoller Vorfrühling, die politische und nationale Blüthe ankündigend, in den Lüften lag.

Ich war in Breslau bei einer befreundeten Familie im Packhof auf dem Bürgerwerder abgestiegen, studierte dort weniger die Pandekten als Vischers „Aesthetik“ und dichtete mein Drama „Robespierre“, welches später schon durch seinen Titel dem damaligen Polizeipräsidenten, dem wohlmeinenden Kurator der Universität, einigen Schreck einjagte. Ich erhielt zwar die Erlaubniß, die Vorlesungen zu besuchen, doch nicht als immatrikulierter Student. Ich schloß mich an die damaligen Burschenschafter, die Raczeks, an, konnte indeß nicht wirkliches Mitglied der Verbindung werden, da ich der Alma mater nicht offiziell zugehörte: doch meine Gedichte waren dort bekannt und man sah mich gern im Kreise der munteren Zecher. Den burschenschaftlichen Ueberlieferungen getreu hielten auch die Raczeks die Fahne der politischen und geistigen Freiheit hoch, eigene Interessen aufzuopfern gern bereit. So wurde in ihrer Mitte eine Eingabe an das Ministerium ausgearbeitet, in welcher die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit verlangt wurde – unter welcher man doch sehr schöne Vorrechte studentischer Freiheit besaß.

In Breslan spukte indeß schon damals der Geist der späteren Sozialdemokratie. Es gab, allerdings nicht bei den Studenten, aber in gewissen Kreisen der Gesellschaft, Anhänger Proudhons und anderer französischer Schriftsteller, und diese betrachteten achselzuckend die kurzsichtigen Tagespolitiker, welche mit der Lösung von Verfassungsfragen die Menschheit weiterzubringen hofften. Ein französischer Sprachlehrer war die Seele dieser Kreise und das Orakel derselben; doch ahnten die Gleichgesinnten noch nicht, daß ein künftiger berühmter Führer der Partei, die aus ihnen sich später bilden sollte, bereits in der Oderstadt verweilte.

Es war im Kießlingschen Keller, wo ich die Bekanntschaft eines sehr jungen Studenten machte, der sich eines großen Ansehens bei den Kommilitonen erfreute. Man betrachtete ihn als eine Art von Wunderkind, denn er kannte die Werke eines Philosophen fast auswendig, welcher für die Mehrzahl der Genossen etwas Fremdartiges hatte, zu dessen Offenbarungen ihnen der Schlüssel fehlte; er konnte die Aussprüche Hegels mit Angabe der Bände und Seiten citieren, eine vertraute Kenntniß, durch die er später in Berlin selbst auf einen Alexander von Humboldt Eindruck machte. Dabei floß ihm die Rede glatt und geläufig von den Lippen; die schwierigsten Fragen schien er gleichsam im Handumdrehen zu lösen; das Geklapper der Bierseidel, die lärmende Umgebung vermochte nicht den Fluß seiner Weisheit zu hemmen. Erhob sich aber irgend ein Widerspruch, so begegnete dieser nur dem Hohn achselzuckender Ueberlegenheit; denn dieser achtzehnjährige junge Mann erhob Anspruch auf Unfehlbarkeit, die ihm auch von einer großen Zahl der Studiengenossen bereitwillig zugestanden wurde. Seine äußere Erscheinung hatte nichts vom Stubenhocker, der beim Oel der Nachtlampe, um einen Bürgerschen Ausdruck zu gebrauchen, „zusammenhutzelt“; er war schlank gewachsen, hatte ein feingeschnittenes Profil, eine Denkerstirn, eine griechische Nase, ein ausdrucksvolles Mienenspiel, bei welchem besonders die Lippen, die leicht Verachtung und Hohn ausdrückten, mitzuwirken pflegten; das Gepräge israelitischer Herkunft war unverkennbar, trat aber doch nicht aufdringlich hervor. Bei einem langen Gespräch über Hegel, der damals auch mein Philosoph war, fanden wir viele Berührungspunkte. In Kießlings Keller waren feierliche Vorstellungen nicht Mode; ich fragte also hinterdrein nach dem Namen des sprachgewandten, geistig geschulten Studenten und erfuhr, daß er eines jüdischen Kaufmanns Sohn sei, hinter der Börse wohne und Ferdinand Lassalle heiße.

Wir traten uns seitdem näher. Die Burschenschaft wünschte, daß wir eine im Manuskript erscheinende Zeitschrift herausgeben sollten, für welche Lassalle die philosophischen Artikel und ich die Gedichte zu verfassen hätte, doch über die ersten Anfänge kam das Unternehmen nicht viel hinaus. – Wir beide waren Freunde des königlichen Schachs und spielten oft zusammen; während wir aber die leichte Kavallerie der Springer über die Felder hüpfen und die schwere Artillerie der Thürme aufmarschieren ließen, fanden wir noch Zeit genug zu einem guten und nach unserer Ansicht schwerwiegenden Wort über die deutschen Denker und Dichter und über das, was unserer Zeit und unserem Volke noththue.

Vor kurzem war ein schlesischer Dichter gestorben, dessen Worte ebenfalls eine mächtige Triebkraft in der damaligen Bewegung bildeten, Friedrich von Sallet. Sein „Laienevangelium“ hatte Aufsehen erregt; es hatte einen männlicheren Ton als Leopold Schefers „Laienbrevier“ und predigte, in kühner Umschreibung der biblischen Texte, eine Sittlichkeit, die in freier Gesinnung und muthiger Thatkraft bestand. Sallet war früher Offizier gewesen, hatte seinen Abschied genommen, sich mit einem Fräulein von Burgsdorf aus Reichau im Nimptscher Kreise, der späteren Gattin des Dr. Theodor Paur, vermählt und längere Zeit in Breslau gelebt; er hatte kaum das einunddreißigste Jahr überschritten, als ihn der Tod dahinraffte. Ich kannte ihn nicht, doch hörte ich viel von ihm erzählen; für seine Gedichte war ich begeistert und sehr zog mich auch sein Bild an, welches damals in Breslau fast überall zur Schau gestellt war: eine Art von Christuskopf mit langem Gelock, zu welchem man sich keinen rothen Lieutenantskragen hinzudenken konnte, selbst wenn man Phantasie genug besaß, die langen Locken in Gedanken abzuschneiden. Etwas Soldatisches konnte nie im Wesen des jungen Offiziers gelegen haben, der ja auch für diesen Beruf wenig paßte und schon während seiner Dienstzeit wegen anstößiger schriftstellerischer Leistungen zur Festungshaft verurtheilt worden war. Schmächtig und kränklich sah er auf diesem Bilde aus, während seine Gedichte kerngesund waren, ohne jeden krankhaften Schmerzenszug, ja selbst ohne die Schwermuth der schönen Seelen. Sallet hatte eine begeisterte Gemeinde um sich versammelt, meistens junge Gelehrte und die Redakteure der Hauptzeitungen; ich schloß mich diesem Kreise an und wir zusammen gaben das Werk „Leben und Wirken Friedrichs von Sallet“ heraus, zu welchem ich das einleitende Gedicht beisteuerte.

Von diesen geistig regsamen Männern, die natürlich alle zu der Fahne des Liberalismus geschworen hatten, ging auch die Einladung zu einer Abendgesellschaft aus, bei welcher ich die Bekanntschaft eines später vielgenannten schlesischen Parteiführers machen sollte. Wir fanden uns in einem Saale des Hotels zum „Weißen Adler“ in der Ohlauer Straße zusammen. Es galt eine Art von politischer Besprechung, und es waren auch angesehene Bürger Breslaus anwesend; man erwartete einen Vorkämpfer des schlesischen Adels, welcher die gleiche Gesinnung wie wir vertrat. Es währte nicht lange, so trat der Erwartete in den Saal, eine hohe schlanke Gestalt mit Feueraugen und einem lang herabwallenden dunklen Bart, mit ihm ein etwas kleinerer Begleiter. Es war

[781]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Der Festdichter.
Nach einem Gemälde von C. Heyden.

Graf Eduard von Reichenbach mit seinem Freunde Dr. Krönig, einem alten Universitätsgenossen, der seit Jahren auf seinem Schlosse wohnte. Mit Graf Reichenbach kam ein belebendes Element in den ganzen Kreis; es ging von ihm ein Hauch jugendlicher Frische, Thatkraft und Unternehmungslust aus; unter den Bewegungsmännern der damaligen Zeit wüßte ich nur einen zu nennen, der einen ähnlichen Eindruck machte, den Badenser Friedrich Hecker. Graf Reichenbach war ein früherer Jenenser Burschenschafter und er hatte nach dem Verlassen der Hochschule den studentischen Geist nicht abgestreift, sondern mit ins Leben hinüber genommen. Wenn es ihm recht behaglich zu Muthe war, erzählte er von seinen studentischen Abenteuern.

An jenem Abend wurden verschiedene Reden gehalten; Reichenbach sprach mit vielem Feuer und schloß seine Ansprache mit den Worten: „Sie sollen’s in Berlin merken, daß auch wir in unserer Provinz verstehen, den Stier bei den Hörnern zu packen.“

Man fühlte heraus, daß der stürmische Geist dieses schlesischen Grafen noch über das Programm hinausging, welches sich damals die Liberalen vorgezeichnet hatten.

Ich war inzwischen in eine eigene Wohnung auf dem Hofe der ehrwürdigen Bibliothek auf dem Sande übergesiedelt und hatte dem Sekretär derselben ein Zimmer abgemiethet. Meine Fenster gingen auf den Hof, der ein klösterliches Aussehen hatte. Mir gegenüber lagen die Fenster der Bibliothekbeamten – und da drüben hatte ja auch die vormärzliche Bewegung, die Brandung der Geister vor kurzem einen Beamten von seinem Posten fortgespült. Der Minne- und Liedersänger Hoffmann von Fallersleben, der Kenner und Meister altdeutscher Litteratur und Großsiegelbewahrer der Bücherschätze des vormaligen Augustinerklosters, hatte gewagt, einen in Berlin sehr mißliebigen Ton anzustimmen, indem er in seinen „Unpolitischen Liedern“ kleine Epigramme mit oft giftigem Pfeil auf Censur, Beamtenthum, Orden und alles andere, was damals von den Liberalen für vogelfrei erklärt worden war, losgeschnellt hatte. Man machte nicht viel Federlesens mit dem Universitätsprofessor – man entsetzte ihn seiner Aemter und er mußte zum Wanderstabe greifen.

Ein junger Privatdocent, der damals ebenfalls in deutscher Sprache und Litteratur wirkte, rückte, trotz der fühlbaren Lücke, die sich nach dem Abgang Hoffmanns gebildet hatte, nicht in die Reihe der Professoren vor; er war wohl auch ketzerischer Gesinnungen verdächtig! In unsern studentischen Kreisen hielt man nicht viel von dem hochaufgeschossenen Privatdocenten. Er galt für einen Stutzer, welcher bei den kaufmännischen Vergnügungen auf der Börse die Honneurs machte; und als eine Sammlung Gedichte von ihm erschien, die in der That keine lyrische Ader verriethen, da hatte er ganz seinen Ruhm dahin und die böswilligste kritische Lauge ergoß sich über den jungen Dichter, der bei uns damals dieselbe Rolle spielte, wie der Lyriker Bellmaus in Freytags „Journalisten“. Doch die Welt ist dem Irrthum unterworfen [782] und auch eine Studentenschaft kann sich irren. Dieser Bellmaus war kein anderer als Gustav Freytag, der allerdings seitdem die Lyrik auf dem Strich hatte, aber dafür auf andern Gebieten sich zu einer ersten Größe unserer Litteratur emporarbeitete, und die Vorstudien, die er damals bei den Kaufleuten, auf der Börse, in den Materialwaren-Handlungen zum Mißvergnügen eines großen Theils der akademischen Jugend machte, hat er in seinem Haupt- und Glanzwerke „Soll und Haben“ ja zu Nutz und Frommen des ganzen deutschen Lesepublikums verwerthet.

Aus dem einsamen Klosterhofe sollte auch ich bald in die Verbannung ziehen, doch mit glänzendem Geleite. Schon war die ersehnte Bewilligung unterwegs, die mich wieder in Reih und Glied mit der übrigen Studentenschaft stellen sollte, als ein heimtückischer Zufall den guten Willen des Kultusministeriums vereitelte und mich selbst wieder, als ich schon dem Hafen nahe war, auf die hohe See hinaustrieb. Schuld daran trug diesmal die leidige Philosophie und der thörichte Eifer, eine Rolle zu spielen, die ich meinem jungen Dichterruhm schuldig zu sein glaubte; denn wenn man mit achtzehn Jahren ein Bändchen Gedichte hat erscheinen lassen, welches, dank der Zeitströmung, in allen deutschen Blättern besprochen wurde, so hält man sich für berühmt, und wenn man sich den Siebzigern nähert, so erkennt man erst, daß dazu die Arbeit eines ganzen Lebens nicht genügt hat.

Unter den Professoren der Universität befand sich ein Philosoph, der einen vorzüglichen Vortrag hatte, Christlieb Julius Braniß, der aber mit der Freigeisterei der Junghegelianer wenig einverstanden war und in einem seiner Collegia Ludwig Feuerbach aufs heftigste angriff. Das erbitterte die zahlreichen Anhänger des letzteren unter der Jugend und sie demonstrierten durch heftiges Scharren mit den Füßen, was damals durchaus nicht wie heute eine zustimmende Huldigung bedeutete, sondern einen recht böswilligen Widerspruch. Eine Widerlegung des Professors war das nun freilich nicht, und einer seiner eifrigsten Anhänger, ein junger Student Namens Grieben, später lange Zeit ein tüchtiger Redakteur der „Kölnischen Zeitung“, warf sich in einem Zeitungsartikel zum Richter auf über das unpassende Gebahren der akademischen Jugend. Damit hatte er aber in ein Wespennest gestochen; es wurde, zum Theil von den Führern der Burschenschaft, an deren Spitze mein späterer Schwager, Max von Wittenburg, stand, eine große studentische Versammlung einberufen, auf welcher Grieben seinen „Pairs“ Rede stehen und sich wegen seiner Anmaßung, die Studentenschaft hofmeistern zu wollen, rechtfertigen sollte. Die Versammlung wurde vom Rektor verboten, aber, wie das oft zu geschehen pflegt und in vormärzlicher Zeit die Regel war, trotzdem abgehalten, und sie war so zahlreich besucht, wie nur irgend möglich. Grieben erschien wie auf der Armesünderbank und wurde von den Geschossen der Redner durchbohrt wie der heilige Sebastian: er fand gar keine Vertheidiger. Auch ich hielt es für angebracht, ein kräftig Wörtlein mitzusprechen, und noch einer wandte sich gegen Grieben: eine spitze, aber scharfdurchdringende Stimme verschaffte sich Gehör – es war diejenige Ferdinand Lassalles, der hier wohl seine erste öffentliche Rede hielt.

Nun begab sich das Unvermeidliche: die Untersuchung des Universitätsgerichts wurde eingeleitet, Wittenburg fiel als ihr erstes Opfer. Ich aber war diesem Gericht nicht unterthan; ich war nur ein geduldeter Hörer der Alma Viadrina – und so machte man mir weiter keinen langen Prozeß, sondern ich wurde einfach aus der Stadt verwiesen. Da der Universitätskurator Heinicke zugleich Polizeipräsident war, so machte dies keine Schwierigkeiten. Ich hatte noch eine kurze Verhandlung mit ihm, bei welcher wir uns über die Wahl solcher Dramenstoffe wie Robespierre nicht verständigen konnten und bei welcher der im übrigen sehr leutselige und liebenswürdige Herr sich über mein Talent günstiger aussprach als später mancher kritische Weltrichter, der mich zwar aus keiner Stadt verwies, aber vom deutschen Parnaß verbannen wollte; an der Sache selbst ließ sich indeß nichts ändern, ich mußte mein Ränzchen schnüren. Doch ohne Sang und Klang sollte ich nicht von dannen ziehen – ich war ja ein Dichter und die Studentenschaft wollte ihre Dichter ehren. Ueber die Sandbrücke rasselten die Vierspänner und vor dem Klosterhof schmetterte das Posthorn! Ein großes „Komitat“ mir zu Ehren – die Burschenschafter alle, aber auch einige Wagen mit Landsmannschaftern und Ferdinand Lassalle, der keiner Verbindung angehörte, fehlten nicht! Auch die liberale Bürgerschaft hatte einige Vertreter gesendet, die mit in meinem Wagen saßen. Und so ging’s in langem Wagenzuge über die Sandbrücke durch die Stadt, an dem Polizeigebäude vorüber, wo die Postillone lustig das Lied schmetterten: „Bemooster Bursche zieh’ ich aus“, vorüber an einer zahlreichen in den Straßen sich ansammelnden Volksmenge nach dem Oberschlesischen Bahnhofe. Dort wurde in gewohnter studentischer Weise, „himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“ Abschied genommen – viel Volk hatte sich nachgedrängt und die Wächter der Ordnung hatten keine leichte Arbeit. Bald saß ich im Eisenbahnwagen und dampfte den oberschlesischen Wäldern zu.

Das Komitat setzte natürlich wieder das Universitätsgericht in Thätigkeit. Auch Lassalle wurde vorgeladen und trotz seiner glänzenden Vertheidigung, die er mir in einem größeren Briefe mittheilte, zu mehrtägiger Carcerstrafe verurtheilt. Die künftigen Ereignisse warfen ihre Schatten voraus. Es war seine erste Untersuchung, Vertheidigung und Haft – er sollte später in diesen gerichtlichen Angelegenheiten recht viel Uebung gewinnen.

In den oberschlesischen Wäldern suchte ich zunächst eine Zufluchtsstätte. Dort hatte eine alte Tante von mir ein großes Besitzthum, Wiersbel bei Friedland; es war wie begraben in mächtigen Wäldern, die sich bis zur Oder erstreckten, und ein großer Theil dieser Forsten gehörte zu dem Gute. Es war eine Freude, allein oder mit dem Förster durch diese Wälder zu streifen, wo uns oft stundenlang kein menschliches Wesen begegnete. Da gab es prächtige Eichen auf den Dämmen, melancholische Waldteiche in den Lichtungen, aus deren Röhricht das Konzert der Sumpfvögel ertönte. Und wenn ich einsam neue Wege suchte, welche Freude, mich in diesem Urwalde zu verirren und wie eine Rothhaut mich nach dem Stande der Sonne zu orientieren und wieder in meinen Wigwam heimzufinden. Mancher Vogel wurde von den Zweigen heruntergeknallt: ja selbst manches harmlose Eichhorn mußte es mit dem Tode büßen, daß es den Namen des mir damals sehr mißliebigen Kultusministers trug.

Etwa zwei Stunden Wegs von Wiersbel entfernt, mehr nach Neiße zu, lag Waltdorf, das Gut des Grafen Reichenbach, wo ich stets ein willkommener Gast war und wochenlang verweilte. Das Wohnhaus war nicht groß, aber schloßähnlich und hatte vor dem Haupteingang eine kleine Säulenhalle, zu welcher Stufen in die Höhe führten. Graf Reichenbach hatte mir meinen „Robespierre“ abgekauft und als mein Verleger das Stück im Buchhandel erscheinen lassen. Auch ein Drama „Thomas Münzer“ hatte ich zu dichten unternommen, und ich las die vollendeten Akte in Waltdorf einem großen Publikum vor, das zu diesem Zwecke eingeladen war und meistens aus Bewohnern der benachbarten Festung Neiße bestand. „Thomas Münzer“ hat indeß niemals das Licht der Oeffentlichkeit erblickt und die ungedruckte Vergessenheit der gedruckten vorgezogen.

Waltdorf war damals eine Freistatt für alle Gemaßregelten, und so fand ich mich dort mit einem Manne zusammen, dessen Name heutigentags wieder die Blätter füllt – es war der seines Amtes entsetzte Professor Hoffmann von Fallersleben. Damals stand er in seiner Blüthe; die Regierung hatte ihn zum Märtyrer seiner Ueberzeugung gemacht und zugleich zum wandernden Minnesänger, da sie ihn aus seiner sicheren Lebensstellung hinausgedrängt hatte. Er war von großer kräftiger Gestalt, blühender Gesichtsfarbe, etwas grobkörnig und vierschrötig in seinem Wesen, und wenn er mit dem dicken Knotenstock in der Hand und den nägelbeschlagenen Stiefeln ins Zimmer trat, so machte er durchaus nicht den Eindruck eines Salonpoeten. Wie oft bin ich mit ihm über die Felder und durch die Gebüsche von Waltdorf gewandert, durch eine Landschaft, deren Hintergrund die blaßblauen Sudeten bildeten! So kräftig aber seine Gestalt war, seine Stimme hatte keineswegs des Basses Grundgewalt, sie hatte einen hellen Ton und paßte zum Gläserklang, der die Kehrreime begleitete, wenn er seine „Unpolitischen Lieder“ vorsang. Hatte er doch einige nach bekannten Melodien gedichtet, zu andern selbst leichte Sangesweisen gefunden! Oft bei unsern Spaziergängen trug er dies oder jenes Liedlein vor: er selbst hat sie ja den Glöcklein verglichen, bei deren Klang die Lawine stürzt. Abends im Saal des Schlosses, wenn er, ein großer Kinderfreund, mit den Kindern gespielt oder ihnen Spielzeug zurechtgeschnitzt hatte, sang er ihnen nicht bloß Kinderlieder vor, die er zahlreich gedichtet hat, sondern bei der Bowle und in der von ihr hervorgerufenen erhöhten Stimmung begann er das helle Glöcklein seiner politischen Lieder ertönen zu lassen.

[783] Später zog der Liedersänger von Stadt zu Stadt, und wie oft hat er an der Gasthoftafel seine Lieder vorgesungen und dafür Beifall und gelegentliche Fackelzüge geerntet! Wie haben sich die Zeiten geändert! Ein Dichter, der jetzt an einer Gasthoftafel seine Lieder vorsingen oder vordeklamieren wollte, würde ganz gewiß in eine Nervenheilanstalt gebracht werden.

Ich selbst aber fand endlich Gnade beim Ministerium, ich wurde an der Breslauer Universität zugelassen, diente mein Jahr bei den Gardeschützen ab, wo ich nicht nur die Bekanntschaft der französisch sprechenden Schweizeroffiziere und vieler tapferer Neufchateler machte, sondern auch diejenige eines später vielgenannten Bühnenschriftstellers; denn der jüngste Lieutenant bei meiner Compagnie war – Gustav von Moser.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der höhere Standpunkt.

Von E. Werner.

Ja, Gnädige, es ist schon richtig so, die Sach’ mit dem Schleier. Wenn’s auch lange her ist, schon viele hundert Jahr, so geht’s noch heutzutag, man soll’s nur versuchen. Wenn ein Bub’ was Liebes hat, dann muß er ihm den Schleier stehlen – ein Fürtuch thut’s auch, wenn’s ein Madel aus den Bergen ist – dann vergißt’s ihn nimmer. Er liegt ihm im Sinn Tag und Nacht und es kommt nimmer los von ihm – aber gestohl’n muß es halt sein.“

Es war ein alter Bauer in Lodenjacke und Kniestrümpfen, der soeben eine der Bergsagen erzählt hatte, an denen die Alpen so reich sind, und nun mit feierlichem Ernste den alten Volksglauben vertrat, der sich daran knüpfte. Seine Zuhörer, eine junge Dame und ein halb erwachsener Knabe, lauschten mit voller Aufmerksamkeit der wundersamen Geschichte, während die beiden Herren, die etwas abseits auf der grünen Matte der Alm lagerten, sich ablehnender verhielten. Der Aeltere, ein Mann in vorgerückten Jahren, mit ergrautem Haar und freundlich wohlwollenden Zügen, lächelte nur, während sich in dem Gesichte des Jüngeren der herbste Spott ausprägte.

„Nun hören Sie nur diesen Unsinn, Herr Kollege!“ sagte er halblaut. „Und dabei spricht der Mensch im Tone felsenfester Ueberzeugung! Dieses Volk mit seinem Aberglauben hat doch noch entsetzlich weit bis zum Lichte der Vernunft!“

„Wozu sich denn so ereifern, lieber Normann,“ sagte der Aeltere ruhig. „Lassen Sie doch dem Volke das bißchen Poesie, das noch in seinen Sagen und Bräuchen wiederklingt, sonst ist sie ja nirgends mehr zu finden.“

„Ist auch gar nicht nöthig,“ brummte Normann. „Man kann auch ohne das fertig werden im Leben.“

„Je nachdem, mit zwanzig Jahren denkt man anders darüber. Ich habe auch meine poetischen Jugendsünden gehabt, ich habe sogar einige Male Verse verbrochen. Nun, entsetzen Sie sich nur nicht, besagte Verse waren ganz ehrbar an meine damalige Braut und spätere Ehegemahlin gerichtet. In solchem Falle greift auch einmal ein Mann der Wissenschaft in die Saiten der Leier – Sie haben das freilich wohl niemals gethan?“

„Ich? Aber Herr Professor Herwig!“

„Nehmen Sie es nur nicht übel,“ lachte Herwig. „Ihnen traut das ja auch niemand zu. – Nun Dora, hast Du endlich genug von der Wundergeschichte?“

Die letzte Frage galt der jungen Dame, die soeben herantrat. Es war ein Mädchen von etwa zwanzig Jahren, eine frische, anmuthige Erscheinung, welcher der dunkelblaue Reiseanzug allerliebst stand. Der leichte Strohhut mit dem blauen Schleier, der auf den braunen Flechten saß, beschattete ein rosiges Gesicht mit klaren braunen Augen und zwei Grübchen in den Wangen, aus denen der Schelm lachte, und das ganze Wesen sprühte von jener glücklichen Heiterkeit und jenem Uebermuth, den nur die Jugend kennt.

„O Papa, ich plaudere so gern mit den Leuten,“ erwiderte sie, „und wenn der Sepp nun vollends auf die Bergsagen kommt, hat er in mir die dankbarste Zuhörerin. Aber ist es nicht schön hier auf der Alm? Sieh nur, wie reizend unser Schlehdorf dort unten liegt, wie der See blitzt im Sonnenschein! Und droben auf dem Gipfel muß es noch schöner sein, da sieht man über all die Bergeshäupter weg, weit in das Land hinaus. Ich war noch nie dort oben, heut aber steigen wir jedenfalls hinauf, nicht wahr, Friedel?“

Sie wandte sich zu dem Knaben, der gleichfalls städtisch gekleidet war, dessen dürftiger und schon vielfach abgetragener Anzug aber verrieth, daß er nur eine dienende Stellung in der Gesellschaft einnahm. Er mochte dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein und war hochaufgeschossen, aber mager und schwächlich. Das reiche, blonde Haar fiel um ein blasses Gesicht, das recht kümmerlich aussah mit seiner krankhaften Farbe und den dunklen Ringen um die Augen. Anziehend waren nur diese großen blauen Augen selbst, die freilich nicht in froher Reise- und Wanderlust strahlten wie die der jungen Dame. Sie hatten im Gegentheil einen recht müden, traurigen Ausdruck und doch leuchteten sie auf, als von der weiten Aussicht droben auf der Höhe die Rede war. Der Knabe war augenscheinlich eins jener armen verkümmerten Stadtkinder, die in engen Straßen und dunklen Höfen aufwachsen, ohne viel Luft und Licht, ohne den Sonnenschein des Lebens. Es mochte wohl das erste Mal sein, daß er hinaus kam in die freie große Bergeswelt.

Er warf einen halb fragenden, halb furchtsamen Blick auf den Professor Normann, der gleichmüthig sagte:

„Natürlich geht der Junge mit, wer soll denn sonst die Sachen tragen?“

„Ich bleibe jedenfalls hier,“ erklärte Herwig. „Der letzte Theil des Wegs scheint mir doch recht beschwerlich zu sein, und wie ich höre, ist es noch eine volle Stunde bis zum Gipfel. Sie nehmen meine Tochter wohl unter Ihren Schutz, lieber Normann, ich werde Sie hier erwarten.“

Die junge Dame schien nicht gerade sehr erbaut von dieser ihr zugewiesenen Begleitung, sie warf das Köpfchen zurück und bemerkte in spöttischem Tone:

„Der Herr Professor macht sich ja nichts aus den Bergaussichten.“

„Nein, mein Fräulein, ich bin nun einmal nicht angelegt für die Landschaft und ihre Bewunderung,“ lautete die ziemlich unverbindliche Erwiderung.

„Warum reisen Sie dann überhaupt?“

„Um naturwissenschaftliche Studien zu machen – zu keinem anderen Zwecke.“

„Sie brauchen das gar nicht so nachdrücklich zu betonen,“ lachte Dora. „Ich habe Sie durchaus nicht im Verdacht, daß Sie auf die Schleierjagd gehen wie der junge Jäger, von dem uns Sepp soeben erzählte; Sie haben es doch gehört?“

Der Professor nahm es offenbar übel, daß man sich unterstand, mit ihm zu scherzen; er richtete sich steif in die Höhe.

„Wenn Sie noch Vergnügen an Kindermärchen finden, Fräulein Dora – ich vermag dieses Vergnügen leider nicht zu theilen,“ versetzte er und schritt zu einem seitwärts gelegenen Felsblock, wo er eine Moosart von dem Gestein löste und aufmerksam betrachtete.

„Hu, wie ungnädig!“ spottete das junge Mädchen halblaut. „Papa, diesmal hast Du wirklich einen recht unliebenswürdigen Reisegefährten aufgefischt.“

„Liebenswürdig ist Normann allerdings nicht,“ gab Herwig zu. „Er giebt sich sogar redlich Mühe, das Gegentheil zu sein, sobald ein Dritter zugegen ist; man muß ihn unter vier Augen haben, um ihn in seinem wahren Wesen kennenzulernen. Wie ich Dir bereits gesagt habe, seine wissenschaftlichen Leistungen sind hochbedeutend und er ist auf dem Wege, eine Berühmtheit in seinem Fache zu werden.“

Doras Gesicht verrieth deutlich, daß ihr ein unbedeutender aber lustiger Reisegefährte weit lieber gewesen wäre als diese unliebenswürdige künftige Berühmtheit; sie verzog schmollend die Lippen.

„Daß er sich auch gerade in Schlehdorf ansiedeln mußte, wo wir wohnen! Und wenn er uns nur wenigstens auf den [784] Bergwanderungen allein ließe, aber immer ist er hinter uns und verdirbt mir die ganze schöne Bergwelt mit seinem griesgrämigen Wesen und seinen herzlosen Spöttereien.“

Der Vater widersprach nicht, denn er war im Grunde derselben Meinung. Trotz aller Hochschätzung sagte ihm das Wesen Normanns ganz und gar nicht zu, auch ihn verletzte dessen Schroffheit und Formlosigkeit oft genug; aber er konnte doch nichts dagegen einwenden, wenn der Kollege, den er zufällig in Schlehdorf getroffen hatte und mit dem er seit Jahren in regem wissenschafttichen Verkehr stand, sich ihm anschloß.

„Man sieht es ihm an, daß er wenig mit der Welt und den Menschen verkehrt,“ sagte er ausweichend. „Er ist eben ein Gelehrter, mein Kind, der nur seine Wissenschaft im Kopfe hat und nicht gewohnt ist, auf andere Rücksicht zu nehmen.“

„Nein, wahrhaftig nicht,“ lachte Dora. „Und ich wäre in seinen Augen überhaupt gar nicht daseinsberechtigt, wenn ich nicht das Glück hätte, die Tochter meines Vaters zu sein. Ich glaube, er sperrte mich am liebsten in irgend eine Felskluft, und wenn ich vollends lache, sieht er aus, als möchte er mich gleich auf der Stelle mit Haut und Haar verschlingen.“

Die letzte Behauptung schien in der That nicht so ganz unbegründet zu sein, denn der Profestor, der jetzt zurückkam, machte ein unendlich grimmiges Gesicht, als dies helle frische Mädchenlachen an sein Ohr schlug. Er mochte im Anfang der Vierzig stehen, sah aber weit älter aus, und die finstere Falte auf der hohen Stirn, der herbe Zug um die Lippen verschönten ihn auch nicht besonders. Was ihm aber ein beinahe abschreckendes Ansehen gab, das waren die dichten schwarzen Haare, die ungebändigt und wenig gepflegt um den Kopf starrten wie eine Mähne. Sonst war er eine stattliche, kraftvolle Erscheinung und schien sich trotz angestrengter Geistesarbeit seine volle körperliche Gesundheit bewahrt zu haben.

„Ich denke, wir brechen jetzt auf,“ sagte er kurz. „Sie wollen also zurückbleiben, Kollege?“

„Ja, ich bleibe auf der Alm und plaudere inzwischen mit dem Sepp.“

„Viel Vergnügen zu Ihren Volkspoesiestudien! Ich bitte Sie nur, darin auf meine Mitarbeit von vornherein zu verzichten,“ versetzte Normann in seiner rücksichtslosen Art. „Vorwärts, Friedel, nimm die Sachen! Ist es gefällig, Fräulein Dora?“

Dora nahm Abschied von dem Vater, während Friedel sich mit einer ziemlich schweren Umhängetasche, mit dem Schirm des Professors und verschiedenen anderen Sachen belud; dann schritten die drei über die Matte hin und bald entzog sie der Wald dem Auge des Zurückbleibenden.

Der Weg führte nur eine kurze Strecke unter den schattigen, rauschenden Tannen dahin, dann stieg er in vielfachen Windungen steil und schattenlos empor und die Sonne brannte mit immer heißerer Gluth. Es war eine ziemlich beschwerliche Bergwanderung; das junge Mädchen freilich überwand sie mühelos, sie stieg leicht und sicher aufwärts, und die braunen Augen strahlten immer heller und freudiger, je weiter und mächtiger sich die Landschaft aufthat. Auch ihr Begleiter verrieth keine Spur von Ermüdung, aber es wurde ihm doch heiß bei der ungewohnten Bewegung und er blieb auf einmal stehen.

„Da, Friedel, nimm meinen Plaid,“ sagte er. Dann bemerkte er erst, daß Friedel nicht hinter ihm war. „Wo ist denn der Junge geblieben? Ich glaube, er kann schon wieder nicht mit, da unten schleicht er wie eine Schnecke!“

Dora war gleichfalls stehen geblieben und sah sich um.

„Sie hätten ihn auf der Alm lassen sollen,“ erwiderte sie. „Er trägt so mühsam an der schweren Tasche und der Weg ist überhaupt zu beschwerlich für ihn!“

„Auf der Alm lassen?“ erwiderte Normann. „Wozu habe ich den Jungen denn mitgenommen, doch nicht etwa zu seinem Vergnügen? Die Sachen soll er mir tragen, ich habe keine Lust, mich bei der Hitze damit herumzuschleppen.“

„Er ist aber ein Stadtkind und hält das Bergsteigen nicht aus.“

„So muß er es lernen! Ein Junge von vierzehn Jahren und nicht steigen können! – Da kommt er endlich, aber in was für einem traurigen Tempo! Vorwärts, Friedel!“

Friedel, der in der That eine Strecke zurückgeblieben war, kam jetzt heran. Der Schweiß stand in großen Tropfen auf seiner Stirn, aber das Gesicht war trotz Erhitzung und Anstrengung leichenblaß, und die schmale, kleine Brust keuchte in kurzen schweren Athemzügen. Trotzdem streckte er gehorsam die Hände aus und nahm den Plaid, den sein Herr ihm zuwarf, in Empfang.

Dora aber war nicht gesonnen, diese Mehrbelastung des armen Jungen zu dulden.

„Setze Dich hin, Friedel, und ruhe Dich aus,“ ordnete sie in einem sehr nachdrücklichen Tone an. „Du kannst ja nicht weiter. Gieb mir den Plaid, ich will Dir wenigstens das dicke Tuch abnehmen, wenn es dem Herrn Professor zu schwer ist!“

Sie machte wirklich Miene, ihren Vorsatz auszuführen, jetzt aber schien es dem Herrn Professor doch einzuleuchten, daß das nicht ganz schicklich sei. Er riß mit einem unverständlichen Gebrumm dem erschöpften Knaben den Plaid aus der Hand und warf ihn über die Schulter, aber dabei fiel ein bitterböser Blick auf die junge Dame, die sich einen derartigen Eingriff erlaubte und ihm dabei noch eine verhüllte, aber doch recht fühlbare Zurechtweisung gab.

„Nun, so ruhe Dich aus!“ grollte er. „Der Weg ist ja nicht zu verfehlen. Kannst nachkommen, wenn es durchaus nicht anders geht.“

Die Erlaubniß wurde im barschesten Tone gegeben. Friedel nahm sie schweigend hin, aber die Art, wie er sich auf einen Stein niederließ, zeigte, daß er in der That nicht weiter konnte, während Normann, der offenbar nicht begriff, daß man von dem „bißchen Bergsteigen“ ermüdet sein könne, die kraftvollen Glieder reckte und rüstig weiter stieg. Als er bemerkte, daß seine Begleiterin sich von Zeit zu Zeit besorgt umsah, fragte er spöttisch:

„Sie haben den Friedel wohl sehr ins Herz geschlossen.“

„Wenigstens habe ich Mitleid mit ihm; es geht dem armen Knaben so hart.“

„Hart? Nun, ich dächte, es ginge ihm so gut, wie es einem Jungen in seiner Lage überhaupt gehen kann.“

„Halten Sie es für ein Glück, eine Waise zu sein und bei fremden Menschen sein Brot essen zu müssen?“

„So? Ist der Friedel elternlos?“ sagte der Professor mit einer gewissen Verwunderung.

Dora sah ihn erstaunt an.

„Das wissen Sie nicht? Und Sie kennen ihn doch seit zwei Jahren, wie er mir erzählte.“

„Kennen? Nun ja, ich weiß, daß er im Hinterhause wohnt, daß er jeden Tag kommt, um mir die Stiefel zu putzen, und weil er still und ruhig ist, habe ich ihn mir überhaupt zur persönlichen Bedienung genommen. Meine alte Wirthschafterin schwatzt den ganzen Tag lang, das geht wie ein Mühlwerk vom Morgen bis zum Abend, deshalb darf sie mir auch nie in das Studierzimmer. Der Friedel weiß, daß er nicht mucksen darf, der thut den Mund nur auf, wenn er gefragt wird, den habe ich mir gezogen!“

„Ja, ich merke etwas von dieser Trappistenerziehung,“ spottete das junge Mädchen. „Ich hatte anfangs Mühe genug, ihn zum Reden zu bringen, wenn er so still und traurig neben mir stand und zusah, wie ich malte oder zeichnete. Er ist ja glücklich, wenn er nur zuschauen darf, und dabei verräth er in seinen schüchternen Bemerkungen oft ein ganz merkwürdiges künstlerisches Verständniß.“

„Künstlerisches Verständniß!“ Normann zuckte verächtlich die Achseln. „Das ist doch nichts als der Reiz der Neuheit, welchen die bunten Farben auf den Jungen ausüben, weil er zu Hause und bei mir dergleichen nicht zu sehen bekommt! Leider ist er wie gebannt an Ihre Staffelei; so oft ich ihn brauche, steckt er drüben in Ihrem Garten und seine ganze Lebensgeschichte scheint er Ihnen auch schon erzählt zu haben. Warum denn nicht, wenn es Ihnen Vergnügen macht! Ich aber habe mehr zu thun, als mich mit meinem Stiefelputzer abzugeben.“

Der spöttisch wegwerfende Ton reizte das junge Mädchen vielleicht noch mehr als die Worte selbst. Die sonst so weiche Stimme hatte einen ungewöhnlich herben Klang, als sie erwiderte:

„Das wäre auch zu viel verlangt von Ihnen, Herr Professor! Mein Vater aber, der doch auch ein Mann der Wissenschaft ist, hat mir oft gesagt: Man kann in jedem Menschen den Prometheusfunken suchen und finden, den man selbst in der Brust trägt, es gehört nur ein wenig Herz und ein wenig Menschenliebe dazu – darüber verfügt freilich nicht jedermann.“

[785]

Kontrolversammlung.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.

[786] „Oho, das geht auf mich!“ rief Normann entrüstet. „Ich bin in Ihren Augen wohl ein herzloses Ungeheuer?“

Doras Blick streifte einen Augenblick lang sein Gesicht, dann entgegnete sie mit unverhohlenem Spott:

„Wenn Sie sich selbst so nennen – ich hätte es zarter ausgedrückt.“

Der Professor war wüthend über diese Antwort. Er vermißte wieder einmal gänzlich die Ehrfurcht, die man seinen Jahren und seiner wissenschaftlichen Bedeutung schuldig war. Diese Dora Herwig mißfiel ihm überhaupt gründlich. Man sah es, daß sie das einzige Kind eines überzärtlichen Vaters war, verzogen und verwöhnt in jeder Hinsicht. Dieses naseweise zwanzigjährige Ding hatte nicht die mindeste Hochachtung vor dem Herrn Professor, sondern verkehrte mit ihm völlig auf dem Fuße der Gleichheit, widersprach ihm bei jeder Gelegenheit und nahm sich bisweilen sogar heraus, ihn zurechtzuweisen. Und man konnte nicht einmal grob gegen sie sein, wenigstens nicht in genügendem Maße, weil sie die Tochter eines Kollegen war, den man schätzte und auf den man doch einige Rücksicht nehmen mußte. Normann hatte sich noch niemals so geärgert wie während dieses Aufenthaltes in Schlehdorf, wo er ganz ungestört seinen Studien zu leben gedacht hatte und wo ihm nun dieser Störenfried mit den braunen Augen und dem hellen Lachen die ganze Stimmung verdarb. Wie oft hatte er sich schon vorgenommen, lieber den Kollegen und die naturwissenschaftlichen Gespräche fahren zu lassen als sich Tag für Tag so weiter zu schleppen; aber sobald Herwig mit seiner Tochter eine Bergwanderung unternahm, war er immer wieder da und ärgerte sich immer wieder von neuem.

Der arme Friedel litt natürlich am meisten unter dieser üblen Laune seines Herrn und Gebieters, und er mußte auch jetzt als Blitzableiter dienen bei dem Gewitter, welches die letzte Aeußerung der jungen Dame heraufbeschworen hatte.

Der Knabe hatte nur etwa zehn Minuten lang ausgeruht und sich dann wieder auf den Weg gemacht. Man sah es von oben, wie er hastete, um die Vorausgegangenen zu erreichen. Jetzt schlug er plötzlich einen schmalen, aber sehr steilen Felspfad ein, der eine große Biegung des eigentlichen Weges abschnitt. Das erregte nun aber erst recht den Zorn des Professors.

„Was fällt denn dem Jungen ein, da hinaufzuklettern!“ wetterte er. „Das soll er doch den Ziegen und den Hirtenbuben überlassen. Friedel! Er hört nicht! Nun meinetwegen, wenn Du’s nicht besser haben willst –“

„Friedel, nicht da hinauf!“ rief auch Dora und winkte abwehrend, aber der Knabe mißverstand entweder den Zuruf, oder er scheute den noch gefährlicheren Rückweg, denn es war in der That eine bloße Felsrinne, in der er schon ziemlich weit an der jähen Wand emporgestiegen war. Genug, er klomm weiter aufwärts.

„Er klettert bei alledem gar nicht so übel,“ meinte Normann, der stehen geblieben war. „Und schwindelfrei scheint er auch zu sein. Es ist immerhin ein tollkühnes Stück, den Steig da zu versuchen, ich hätte es ihm kaum zugetraut, dem Duckmäuser.“

„Friedel ist kein Duckmäuser,“ sagte Dora ruhig. „Er ist nur verschüchtert, ein armes, kränkliches Kind, das verkommen wird in dem elenden Leben bei den harten Pflegeeltern. Ich ließe das sicher nicht zu, wenn ich ihn nur bei uns in Heidelberg hätte.“

„Da würden Sie der Menschheit einen rechten Dienst erweisen, wenn Sie ihr ein solches Trauerpflänzchen erhielten,“ versetzte der Professor, ohne den Vorwurf zu bemerken, der in den letzten Worten lag.

„Aber Herr Professor!“ Der Ausruf klang voller Entrüstung, doch Normann fuhr gleichmüthig fort:

„Nun ja, ist es etwa ein Glück für die Menschheit, wenn einem Jammerwesen, das nicht für das Leben taugt, dies Leben noch so und so lange gefristet wird? Sehen Sie sich den Jungen doch nur an! Der ist ein Schwindsuchtskandidat. Der wird nie die Arme ordentlich zur Arbeit rühren können, worauf er doch angewiesen ist. Das schleppt sich elend durch das armselige Dasein, ist sich und anderen eine Last und verkommt schließlich doch. Da ist es doch wahrhaftig besser, daß es je eher je lieber zu Grunde geht! – Ja, mein Fräulein, Sie brauchen mich gar nicht so entrüstet anzusehen, es ist mein voller Ernst. Sie stehen natürlich auf dem Standpunkte der sogenannten Menschenliebe, das ist recht hübsch, recht bequem, aber leider meistentheils recht unvernünftig. Es giebt noch einen höheren Standpunkt, der sich nicht mit schönen Empfindungen und Redensarten abgiebt, sondern vernünftige Schlüsse zieht. Er ist freilich nichts für Frauen, die werden sich nie dazu erheben –“

„Nein, das werden sie nie – Gott sei Dank!“ fiel Dora ihm in das Wort. Ihr Antlitz war purpurroth und die sonst so lachenden Augen flammten in leidenschaftlicher Erregung. „Gott sei Dank!“ wiederholte sie noch heftiger. „Denn eine Frau, die ein armes, verlassenes Menschenkind, dem sie vielleicht noch helfen könnte, ruhig vor ihren Augen verkommen sieht, weil sie vernünftige Schlüsse zieht und auf einem höheren Standpunkte steht als auf dem der ‚sogenannten Menschenliebe‘, die verdiente – einen Mann wie Sie, Herr Professor!“

Professor Normann war anfangs ganz starr vor Ueberraschung bei diesem Ausfall. Er war es bisher nur gewohnt, Grobheiten auszutheilen, und nun mußte er auch einmal eine echte, unverfälschte Grobheit in Empfang nehmen und noch dazu aus dem rosigen Munde eines jungen Mädchens. Das nöthigte ihm bei alledem eine gewisse Hochachtung ab, so unangenehm es ihn traf. Und dabei sah das Mädchen so bildhübsch aus mit dem heißgerötheten Gesicht und den blitzenden Augen – es war, um aus der Haut zu fahren!

„Das ist also das Schlimmste, was Sie einer Frau wünschen können, – mich zum Mann?“ brach er endlich los. „Recht schmeichelhaft für mich, aber seien Sie nur unbesorgt, mein Fräulein, das Unglück passiert keiner Ihres Geschlechtes. Halten Sie mich nur für ein Ungeheuer, ich sage Ihnen noch einmal, ich halte gar nichts von der sogenannten Menschenliebe, ganz und gar nichts! Wie die Welt und das Leben nun einmal beschaffen sind, können wir nur gesunde, kraftvolle Menschen brauchen, keine Schwächlinge, die man mühsam aufpäppelt und die dann doch nichts leisten können. Was nicht lebenskräftig ist, dem ist auch besser, nicht zu leben! Das lehrt uns die Natur, die Wissenschaft, die Vernunft, das sehen wir überhaupt –“

Er hielt inne, denn ein schwacher Angstruf, dem ein lauter Aufschrei Doras folgte, unterbrach die Auseinandersetzung. Friedel hatte bereits den größten Theil des gefährlichen Weges zurückgelegt und setzte eben den Fuß auf einen Stein, als dieser plötzlich unter seinen Tritten wich, – der Knabe strauchelte, fiel und glitt dann unaufhaltsam abwärts. Wohl klammerte er sich im Sturze noch an ein Felsengesträuch, das die schmächtige Gestalt allein vielleicht festgehalten und getragen hätte, aber die schwere Tasche hatte bei dem jähen Falle die rettenden Zweige geknickt und zog ihn unaufhaltsam abwärts. Nur einen Augenblick lang hing er dort an der Wand, dann verlor er den Halt und verschwand in der Tiefe.

(Fortsetzung folgt.)


Blätter und Blüthen.

Die Wahehe. Der Weg von der Küste Ostafrikas nach dem Njassasee führt anfangs durch eine weite, heiße und fieberschwangere Ebene; dann gelangt der Reisende in eine Hügellandschaft, die immer höher emporsteigt; während er weiter wandert, kann er von erhöhten Punkten ein weites Panorama überschauen. Hinter ihm liegt die langweilige Ebene mit gelben und dunkelgrünen Farben, welche das Dickicht und den Wald kennzeichnen; rechts und links von ihm zeigt sich ein wogendes Meer von Gipfeln und vor ihm thürmen sich gewaltige Berge empor. Bald darauf umfängt ihn eine wilde Bergscenerie; der Karawanenpfad klimmt steil bergan, er führt durch prachtvolle Waldungen oder über kahle Höhenzüge. Hier grüßen den Europäer Pflanzen, wie er sie in seiner Heimath zu schauen gewohnt ist, und auf den Höhen weht bereits ein kühler Luftzug, der mitunter zu einem Sturmwind anwächst und in welchem die leichtbekeideten Träger von der Küste fröstelnd zusammenschauern. Nach einem schwierigen tagelangen Marsch durch dieses Gebirge betritt der Reisende die Hochebene Centralafrikas in einer Höhe von 1500 bis 1600 Metern über dem Meeresspiegel.

Ein trostloses Land! Wellenförmige mit gelbem Gras und niedrigem Buschwerk bewachsene Hügel durchziehen die Landschaft; das Wild ist selten und es fehlt hier der Löwe und der Leopard, da sie keine genügende Nahrung finden. Nur ab und zu erblickt man eine weidende Herde, von schlank gebauten, fast nackt einhergehenden Eingeborenen gehütet. Auch die Vogelwelt ist spärlich vertreten: einige Krähen auf den Felsen oder häßliche abschreckende Geier, welche auf [787] Aas lauern, sind die einzigen Vögel, welche sich zeigen; sehr selten werden andere sichtbar.

So ist die Heimath der Wahehe beschaffen, jenes wilden Stammes, welcher unserer ostafrikanischen Schutztruppe eine so schmerzliche Niederlage bereitet hat. Ein Krieger- und Hirtenvolk, fühlen sie sich hinter den steilen Bergen sicher und stürzen von Zeit zu Zeit, Raubvögeln gleich, von ihrem hohen Horste in die benachbarten Thäler von Usagara, um zu morden und zu plündern.

In Friedenszeiten bieten die Wahehe einen anmuthigen Anblick; gruppenweise wandern sie einher, lange Stäbe in der Hand, ihre schlanke wohlgebildete Gestalt in ein großes weißes oder blaues baumwollenes Gewand gekleidet, welches, nachlässig übergeworfen, im Winde flattert. Aber im allgemeinen legen sie keinen großen Werth auf die Kleidung; wer sich auf dem Marsche befindet, trägt nicht einen Fetzen an sich – und dies in einem Lande, in welchem wie gesagt der Neger von der Küste empfindlich friert und selbst um die Mittagszeit sich am Lagerfeuer zu wärmen sucht. Feuerwaffen sind bei den Wahehe noch nicht viel üblich. Sie tragen im Kriege einen länglich runden Schild von Leder, etwa einen Meter lang und in der Mitte 1/4 Meter breit. Ihre Angriffswaffe besteht vor allem in einem kurzen Stoßspeer; außerdem führen sie noch eine Anzahl Wurfspieße und ein Mittelding zwischen Sichel und Axt bei sich.

Der englische Reisende Thomson, der ihr Land besucht und durchquert hatte, berichtete seiner Zeit: „Die Wahehe besitzen eine große Ausdauer, sowohl Hunger wie Beschwerden zu ertragen. Wenn es die Umstände erfordern, so reisen sie mehrere Tag lang im Trabe, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, und sind daher imstande, plötzlich und unerwartet über den Feind herzufallen.“

In Anbetracht dieser Eigenschaften und ihrer Raublust sind die Wahehe unerwünschte Bewohner Deutsch-Ostafrikas, um so mehr, als sie von Süden her die wichtige Straße von Mpwapwa nach Tabora ernstlich bedrohen. Sie sind aber nur ein Glied in der langen Kette feindlicher Elemente, welche den Weg von der Küste nach den großen centralafrikanischen Seen unsicher machen.

Vom Norden dringen die Hirten- und Kriegervölker hamitischer Abkunft, die Galla und die Massai, vor; und Krieger- und Hirtenvölker drohen auch vom Süden her. Hier sei von den letzteren die Rede.

Aus den Gebieten am Njassasee war vor noch nicht langer Zeit ein Sulustamm nach dem Norden aufgebrochen; militärisch organisiert, tapfer und verwegen, wurden diese Nomaden zum Schrecken der Gebiete, die sie heimsuchten. Sie selbst nannten sich „Maviti“, das heißt „Leute des Krieges“, und zwar mit vollem Recht; denn neben der Viehzucht bildete der Krieg, die Plünderung ihrer Nachbarn ihre wichtigste Lebensaufgabe. Sie führten dieselbe mit einem solchen Nachdruck aus, daß schon die Kunde von ihrem Erscheinen die Bevölkerung in die Flucht trieb. Die Maviti hielten ursprünglich auf der Hochebene westlich vom Njassasee das ackerbauende Volk der Manganja in Unterwürfigkeit, aber ihre Horden haben sich über weitere Gebiete ausgedehnt. An verschiedenen Punkten Ostafrikas sind ihnen die Forschungsreisenden begegnet. Sie werden verschieden genannt: „Wahindsche“, „Wahehe“, „Watuta“, „Wangoni“, aber im Grunde sind sie voneinander wenig oder gar nicht verschieden. Sie selbst, wie die Wahehe, nennen sich noch vielfach „Leute des Krieges“. Während nun die Wahehe die Hochebene näher der Küste besetzt halten und Usagara bedrohen, treibt im Mondlande der Stamm der Watuta oder Wangoni sein Unwesen. Gerade mit diesen Vettern der Wahehe hat die Expedition Emins kämpfen müssen – und leider, wie wir wissen, nicht immer mit entscheidendem Erfolg.

Die Kämpfe der Offiziere Emins und der Untergang der Expedition v. Zelewskis sind trotz der weiten gegenseitigen Entfernung der beiden Schauplätze doch von einem und demselben Standpunkte aus zu beurtheilen. Nicht die Station Mpwapwa, sondern die ganze Karawanenstraße bis über Tabora hinaus wird von diesen Räubern beunruhigt, die nicht nur von den Deutschen, sondern auch von den Arabern, sowie von den friedlicheren, ackerbautreibenden Stämmen als Feinde angesehen werden. Das Zurückdämmen dieser Völkerfluth ist eine der großen Kulturaufgaben, welche Deutschland in Ostafrika zu lösen hat.


Zacharias Werny, der letzte Lützower.
Nach einer Photographie des Instituts Fath in Halberstadt.


Die Hafendammpromenade in Nizza. (Zu dem Bilde S. 773.) Am Anfange dieses Jahres wurde auf einem Ausläufer der berühmten Promenade des Anglais in Nizza ein herrlicher Bau der Benutzung des Publikums übergeben, ein Bau, der in seiner Erscheinung einen eigenartigen Reiz besitzt und über dessen Geschichte im folgenden etwas mitgetheilt werden soll.

Schon gegen 1880 faßte eine englische Gesellschaft den Entschluß, eine Promenade in das Meer hinaus zu bauen, und die Arbeiten wurden auch gleich in Angriff genommen und bis zum Schluß des Jahres 1883 fortgesetzt. Aber als eben das Gebäude eröffnet werden sollte, wurde es durch einen heftigen Brand zerstört. Nur die Plattform ließ das verheerende Element übrig.

Eine französisch-belgische Gesellschaft kam später auf den Plan zurück, und gegen Ende des Jahres 1888 wurden die Arbeiten mit großem Eifer wieder aufgenommen. Die Plattform, welche früher nur eine Höhe von 6,25 Metern gehabt hatte, wurde nun zum Schutze gegen die höchsten Wellen um 1,75 Meter höher gemacht. Das ganze Gebäude ruht auf ungefähr 250 Pfeilern, welche zur Probe je mit 85 000 Kilogramm belastet wurden, ohne daß sie eine Formveränderung gezeigt hätten. Sie sind untereinander durch Andreaskreuze verbunden und tragen oben ein Gitterwerk, auf welchem das Gebäude selbst mit seinen Cementgewölben und Hohlziegelmauern ruht, das eine Gesammtfläche von ungefähr 6500 Quadratmetern bedeckt.

Aus der Mitte des Oberbaues ragt der 25 Meter hohe Kuppelbau hervor, der mit einem weithin sichtbaren Zinkdach versehen ist und eine vergoldete Sirene von 9 Metern Höhe trägt. Zu den Seiten dieses Baus sind breite Terrassen, an deren Enden sich Thürmchen erheben. Von den letzteren genießt man eine herrliche Fernsicht auf das Meer, auf ganz Nizza und auf die schneebedeckten Gipfel der Alpen. Der Stil des Ganzen hat zwar ein orientalisches Gepräge, ist in Wirklichkeit aber ein Gemenge verschiedener Stilarten, die sich zu einem höchst eigenartigen Ganzen vereinigen.

Die Verbindung mit dem Ufer wird durch eine Brücke von 60 Metern Länge und 13 Metern Breite hergestellt, über welche man sowohl zu Fuß als zu Wagen zur großen Treppe gelangen kann, die zur Plattform führt.

Das Innere des Gebäudes ist reich ausgestattet, zum Theil in japanischem, chinesischem und indischem Stile. Nichts fehlt hier: Theater, Spielzimmer, Tanzsäle, Rauchzimmer, Cafés und Restaurationen, alles ist beisammen, so daß, wer Lust hat, ganze Tage draußen auf dem Meere zubringen mag, ohne sich über Einförmigkeit seines Daseins beklagen zu können. F. K.     

Der letzte Lützower. (Mit Bildniß.) In den Tagen des Körnerjubiläums ist auch des Lützower Freicorps wieder viel gedacht worden. Die wenigsten aber werden dabei gewußt haben, daß von jener berühmten Schar einer – der letzte – noch lebt! Es ist der Veteran Zacharias Werny zu Halberstadt, heute ein hundertjähriger Greis, denn sein Geburtstag ist der 12. Oktober 1791. Werny war von Hause aus Gärtner. Wie er nun in den Frühjahrstagen 1813 als wandernder Handwerksgeselle auf dem Wege nach Wien durch Breslau kam, da ergriffen auch ihn die mächtigen Wogen der vaterländischen Bewegung und er trat in das Lützowsche Freicorps ein. Schon nach drei Tagen – zu längerer Ausbildung war keine Zeit – rückte Werny gegen den Feind mit aus. Freilich sollte sein Dienst in der tapferen Freischar nicht allzu lange dauern. Bei einem Gefechte im Mecklenburgischen geschah es ihm nämlich, daß er gefangen genommen wurde; es gelang ihm zwar, während der nächsten Nacht auf dem Transport wieder zu entkommen, aber seine Lützower fand er nicht wieder. Er schloß sich der nächsten befreundeten Truppe an, die er traf, und das war die „russisch-deutsche Legion“, in deren Verband er die weiteren Kämpfe mitmachte und mit welcher er auch später nach dem Friedensschluß von 1814 in das neugebildete 30. Regiment überging. Mit diesem überschritt er den Rhein, als der Krieg gegen Napoleon abermals losbrach, blieb in dem Gefecht bei Wabern (Wawre) am 17. Juni 1815 wie durch ein Wunder unverwundet, zog mit in Paris ein und mußte noch einige Monate bei der Besatzungsarmee in der Normandie aushalten, um dann endlich in das Vaterland zurückzukehren. Von seiner Garnison Thorn wurde er im Herbste 1816 nach seiner Heimath Halberstadt entlassen.

Hier erregte sein Erscheinen kein geringes Aufsehen. Nach jenem verhängnißvollen Gefechte nämlich, welches Werny von seiner Truppe getrennt und in die „russisch-deutsche Legion“ geführt hatte, war er, da er nicht zurückkehrte, in den Listen der Lützower als „tot“ vermerkt worden, und so rechnete man ihn auch daheim nicht mehr unter die Lebenden. Welches Erstaunen nun, als er trotzdem auf einmal gesund und frisch wieder auftauchte! Aber es bewahrheitete sich an ihm wieder einmal der alte Satz, daß die Totgeglaubten am längsten leben. Er fing seine Gärtnerei wieder an, zog sich dann nach Jahren, das Geschäft dem Sohne übergebend, ins Privatleben zurück und genoß in ungetrübter Frische die Freuden eines rüstigen Alters. Eine Reihe von Ehrenzeichen schmückt seine Brust, und wenn der Halberstadter Kriegerverein einen Umzug hielt, – stets war der alte Werny mit dabei. Und als sein hundertster Geburtstag am 12. Oktober dieses Jahres herangekommen war, da ließen es sich seine Mitbürger nicht nehmen, diesen fast wunderbar zu nennenden Ehrentag mit ihm zu begehen, mit dem lebendigen Zeugen einer längst vergangenen großen Zeit – mit dem „letzten Lützower“.

Bei der Kontrolversammlung. (Zu dem Bilde S. 785.) „Still gestanden! Richt Euch!“ – Das einst in den Tagen des aktiven Dienstes so unzählige Male vernommene Kommando übt auch heute noch unter den Reservisten, die sich mit ihren Militärpapieren zu der vorgeschriebenen Kontrolversammlung eingefunden haben, seine zwingende Wirkung, stramm klappen die Absätze zusammen, ob sie nun an derben Bauernstiefeln oder eleganten Lackschuhen sitzen. So weit stimmt’s also. Aber die Haltung im übrigen verräth doch etwas den Zahn der Zeit, welcher von dem Ergebniß der mühevollen Drillarbeit eines oder mehrerer Jahre schon ein recht erkleckliches Stück heruntergenagt hat.

„Na, nehmen Sie mal etwas Kopp hoch, Sie Nummer vier, schauen Sie mir nicht so neuigkeitsgierig an der Front herauf,“ ruft der Bezirksfeldwebel einem biederen Schneidergesellen zu, welchem augenblicklich das elegante Jackett des rechten Flügelmanns wichtiger zu sein scheint als die Schärfe der Richtung.

„Nummer sechs, thun Sie mir den einzigen Gefallen und nehmen Sie Ihren unteren Rockknopf zurück!“

[788] Der Angerufene, ein wohlgenährter Bierbrauer, bemüht sich vergeblich, zwischen der Richtung seiner Gesichts- und derjenigen seiner vorderen Körperlinie den richtigen Kompromiß zu schließen. Stimmt’s oben, so hapert’s unten, und stimmt’s unten, so steht sein Kopf um ein paar Handbreiten hinter den Kameraden zurück. So kann’s denn natürlich auch seinem feingekleideten Nebenmann nicht gelingen, für seine Person die Zufriedenheit des Herrn Feldwebels zu erringen, und unter ihm macht gar die ganze Linie einen Haken! „Zurück der ganze linke Flügel, von der Mitte ab zurück!“ schreit immer heiserer der geplagte Mann – langsam findet einer um den andern sein richtiges Plätzchen und leidlich befriedigt tritt der Feldwebel endlich vom Flügel weg, ruft noch mit einer letzten Anstrengung seiner des Kommandierens doch etwas entwöhnten Lunge „Augen gerade aus!“ und erstattet dem dienstthuenden Bezirksoffizier die Meldung: „Sechsundachtzig Reservisten der Jahresklasse 1885 zur Stelle!“

Und mit Würde tritt der die Kontrolversammlung leitende Hauptmann an den Flügel, wirft einen scharfen Blick die Front hinunter, findet selbstverständlich noch einiges auszusetzen an der so mühevoll zustande gebrachten Richtung, und nun endlich erschallt das erlösende Kommando: „Rührt Euch!“ Die Verlesung der Kriegsartikel, der verschiedenen Bekanntmachungen und allerhöchsten Verordnungen kann beginnen.

Die neue Glocke auf dem Michaelisthurm zu Hildesheim.

„Ziehet, ziehet, hebt!
Sie bewegt sich, schwebt!“

Unwillkürlich muß man dieser Verse aus Schillers „Lied von der Glocke“ gedenken beim Anblick des Vorgangs, welchen der Zeichner in unserem Bildchen festgehalten hat. An einem Septembertage dieses Jahres wurde auf den uralt ehrwürdigen Ostthurm der Hildesheimer Michaeliskirche, eines der bedeutendsten romanischen Baudenkmäler unseres Heimathlandes, eine neue Glocke aufgezogen. Es war das keine einfache Arbeit, denn da der Bau des Thurmes und die Lage des Geläutes ein Aufziehen im Innern nicht gestattete, so mußte man die nicht weniger als 3510 kg schwere und am unteren Rande etwa 2 m im Durchmesser haltende Glocke an der Außenseite heraufwinden. Das geschah denn auch unter Beisein des Kirchenvorstands und eines zahlreichen Publikums, das dem feierlich-ängstlichen Werke mit Spannung folgte.

Die neue Glocke ist hervorgegangen aus der Glockengießerei von J. J. Radler und Söhne in Hildesheim. Sie trägt am oberen Rande zwischen zwei Blattfriesen auf der einen Seite die Inschrift: „Es ist vollbracht!“, auf der andern: „Ich rufe euch zum Dienst des Herrn, o Menschenkinder, höret gern!“ Am unteren Rande sind die Namen des Kirchenvorstandes und des Gießers sowie die Jahreszahl des Gusses, 1891, angebracht. Den mittleren Theil des Glockenmantels verzieren zwei Reliefdarstellungen, die Kreuzigung Christi und das Bildniß Luthers.

Am 26. September fand zum ersten Mal ein Probeläuten statt und nun tönt bei jeder feierlichen Veranlassung der schöne Amoll-Accord a0c0e, welchen die neue Glocke mit ihren älteren Schwestern bildet, über die altersgraue Stadt Hildesheim hin. Mögen an ihr auch die Schlußworte der Schillerschen Glocke in Erfüllung gehen:

„Freude dieser Stadt bedeute,
Friede sei ihr erst Geläute!“

Der Aufzug der neuen Glocke auf
dem Michaelisthurm zu Hildesheim.

Nach einer Zeichnung von C. Grote.

Selbstsucht und Nächstenliebe. Der verständige Mensch hört gern auf die Rathschläge des Alters und läßt sich von ihnen leiten. So muß man demjenigen dankbar sein, der die Erfahrungen eines langen Lebens gesammelt und gesichtet dem jüngeren Geschlechte übermittelt, damit es daran lerne. Dieser Dank gebührt auch dem Manne, der uns das Buch geschenkt „Aus den Lebenserfahrungen eines Siebzigers“ (Gotha, F. A. Perthes). In ihm hat er niedergelegt, was sich dem einsamen Greise als die Summe seines Daseins ergab, schlicht und einfach, aber eindringlich und überzeugend. Vernehmen wir als eine Probe, wie er über Selbstsucht und Nächstenliebe redet!

„Nicht bloß kleine Leiden zu vergessen, auch schwerste Kümmernisse zu lindern und allmählich in Seelenheiterkeit umzuwandeln, giebt es kein besseres Mittel als Arbeit für gemeinnützige Zwecke. Schon die Arbeit an sich stumpft jeden Stachel ab. Ein besonderer Segen liegt aber in dem uneigennützigen Thun für andere, ohne Seitenblicke auf Dank oder öffentliche Anerkennung. Die Früchte werkthätiger Liebe scheinen nicht selten zweifelhaft, ja den Erwartungen entgegengesetzt. Auch das soll nicht beirren. Dürfen wir uns sagen, daß wir guten Willen, ehrliches Bemühen eingesetzt haben, so bleibt die wohlthätige Rückwirkung auf uns selbst niemals aus. Die Eigenliebe ist ein schlechter Rechner. Aber nur wer von Nächstenliebe ohne selbstsüchtige Hintergedanken erfüllt ist – neuere Philosophen haben dafür das Wort ‚Altruismus‘, als Gegensatz zum ‚Egoismus‘, geschaffen – kann das einsehen. Jedem andern erscheint die Behauptung widersinnig oder heuchlerisch. Der Egoismus, ja schon die Selbstliebe, wenn sie sich und ihre Ziele scharf ins Auge fassen, müßten, sollte man meinen, zu einer zersetzenden Kritik an sich selbst gelangen. Der einzelne Mensch ist doch nur ein Punkt im unermeßlichen All. Wer daran nicht denkt, seine Person nicht als Theil des großen Ganzen auffaßt, sondern Liebe und Sorge, Sinnen und Trachten auf dieses armselige leibliche Ich konzentriert, das so leicht geschädigt, vernichtet werden kenn, dessen ‚Leben dahinfährt, als sei eine Wolke dagewesen‘, gleicht einem ‚thörichten Manne, der sein Haus auf Sand baute‘.“

Werthvoller Kehricht. Die Werkstätten der Gold- und Silberschmiede, namentlich in den fabrikmäßig eingerichteten Betrieben zu Pforzheim, Hanau, Frankfurt a. M., Magdeburg, liefern Abfälle, deren Werth oft nach Tausenden von Mark für den Doppelcentner zählt.

Silberschliff, d. h. der beim Feilen und Polieren des Silbers mit Schmirgel entstehende Abfall, enthält bis zu 16 Prozent Silber und der Doppelcentner davon wird im Handel mit etwa 3000 Mark bezahlt.

In den Bijouteriefabriken wird der Kehricht der einzelnen Werkstätten gesammelt, ausgeglüht und wieder auf den Markt gebracht. Jeden Abend nach Beendigung der Arbeit bestreut man die Werkstätte mit feuchtem Sägemehl oder feuchtem Sand und kehrt sie sorgfältig aus. In den Kehricht werden ferner die Schmelztiegel geworfen, welche nicht mehr gebraucht werden, sowie der sogenannte Wasserschlamm von dem Waschwasser der Arbeiter. Letzterem, welches gold- und silberhaltig ist, wird nämlich Erde zugesetzt, worauf man das Wasser abgießt; der Rückstand ist eben der Wasserschlamm.

An ausgeglühtem Werkstättenkehricht, sogenannter Krätzasche, soll jährlich allein von Pforzheim für über eine halbe Million Mark versandt werden.

Die „Dame mit dem Muff“ (Zu unserer Kunstbeilage.) Das Gemälde, welches unsere heutige Kunstbeilage wiedergiebt, gehört zu den Zierden des Louvremuseums zu Paris. Es ist eine der überaus zahlreichen Schöpfungen, welche die Welt dem Pinsel der Frau Lebrun, einer geborenen Vigée, verdankt. Diese Künstlerin, welche in dem hohen Alter von siebenundachtzig Jahren 1842 zu Paris starb, war nicht bloß ein außerordentliches, frühreifes, durch glänzende äußere Verhältnisse begünstigtes Talent, sie war auch eine schöne und liebenswürdige Frau und bildete einen der bevorzugtesten Mittelpunkte im geistigen Leben der französischen Hauptstadt. Die Schrecknisse der ersten Revolution vertrieben sie wie so viele andere aus Frankeich und zwangen sie, im Auslande eine Stätte für ihre Kunst zu suchen. Sie fand diese auch: an den Höfen von Wien, Berlin, Petersburg und London ward sie mit Auszeichnung aufgenommen. Aber schon im Jahre 1801 kehrte sie nach Frankreich zurück, und sie blieb dort, obwohl der neue Machthaber Napoleon der Bourbonenfreundin nicht eben gut gesinnt war. Sie verstand es, wie sie innerhalb der vorrevolutionären Schule der französischen Kunst eine ehrenvolle Stellung eingenommen hatte, so auch der neuen inzwischen aufgekommenen Kunstrichtung sich anzupassen, und als die bis ins hohe Alter noch rüstige Greisin starb, da hinterließ sie nicht weniger als fünfzehn historische Gemälde, über sechshundert Bildnisse und gegen zweihundert Landschaften. Gewiß ein gesegnetes Talent!



manicula 0Hierzu Kunstbeilage XIII: Die „Dame mit dem Muff“.0 Von Vigée-Lebrun.


Inhalt: Ein Götzenbild. Roman von Marie Bernhard (10. Fortsetzung). S. 773. – Die Hafendammpromenade in Nizza. Bild. S. 773. – Die Liebste schreibt. Gedicht von Josef Schrattenholz. Mit Bild. S. 777. – Aus vormärzlicher Zeit. Von Rudolf von Gottschall. S. 780. – Der Festdichter. Bild. S. 781. – Der höhere Standpunkt. Von E. Werner. S. 783. – Kontrolversammlung. Bild. S. 785. – Blätter und Blüthen: Die Wahebe. S. 786. – Die Hafendammpromenade in Nizza. S. 787. (Zu dem Bilde S. 773. – Der letzte Lützower. Mit Bildniß. S. 787. – Bei der Kontrolversammlung. S. 787. (Zu dem Bilde S. 785.) – Die neue Glocke auf dem Michaelisthurme zu Hildesheim. Mit Abbildung. S. 788. – Selbstsucht und Nächstenliebe. S. 788. – Werthvoller Kehricht. S. 788. – Die „Dame mit dem Muff“. S. 788. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Im Jahrgang 1871, Nummer 2 und 13.