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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[649]

Nr. 39.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(3. Fortsetzung.)

Mittlerweile hatte der kleine Neger, der in eine phantastische blau und rothe Tracht gesteckt war, schüchtern den Arm des in sich versunkenen Herrn berührt, der unwillig zusammenfuhr, aber nach einem Blick in der von dem Knaben bezeichneten Richtung sofort seinen Gesichtsausdruck änderte. Er hob lebhaft den Hut und winkte strahlenden Auges mit der freien Hand zu der jungen Dame herüber.

„Guten Morgen, Papa! Ich komme von Uhlenhorst – war in der Villa, ’s ist schon wunderhübsch im Park! Kommst Du mit mir? Darf ich Dich nach Hause fahren?“

Wieder, auch im Ton, dieselbe glückliche Unbefangenheit! Stella Brühl traf ihren Vater und unterhielt sich mit ihm, wer sonst noch zufällig dabei war, das blieb ihr ganz gleichgültig! Desto weniger ihrem Vater. Der tadellos gekleidete, mittelgroße Herr mit den graugesprenkelten Bartkoteletten drehte den Kopf nach allen Seiten! Seht Ihr auch? Wißt Ihr auch? Das ist die schöne reizende Stella Brühl, und ich bin ihr Vater, ihr stolzer und glücklicher Vater! Er zögerte absichtlich ein Weilchen, um den Genuß des Augenblicks zu verlängern.

„Ich – wirklich, mein liebes Kind – ich wollte eigentlich noch bei einem Geschäftsfreund vorsprechen –“

„Ich fahre Dich hin, steig’ nur ein, Papa! Dudu, hierher!“


Herbst.
Nach einem Gemälde von H. Rettig.

[650] Papa spiegelte seine Eigenliebe noch einmal nach rechts und links, dann folgte er dem kleinen Neger, der ihm den Wagenschlag öffnete, um dann mit unveränderter trübseliger Miene in seinen schwebenden Hühnerkorb zu steigen.

Vater Brühl setzte sich mit selbstgefälligem Lächeln im Wagen seiner schönen Tochter zurecht und ließ seinen Triumph in Hamburg spazierenfahren.

Andree mußte an Werner Troosts Aeußerung denken, daß dem Senator für dieses Kind ein Fürst gerade gut genug wäre. Ob der junge Bildhauer, wäre er am Leben geblieben, jemals dazu gekommen sein würde, dies Wunder sein eigen zu nennen? Wer weiß, welcher grausamen Enttäuschung er aus dem Wege gegangen war! Der Maler seufzte tief auf und machte Kehrt. Vor ihm her, in immer weiterer Ferne, flatterte es wie ein goldbrauner Schmetterling – flatterte – verschwand – tauchte wieder auf und hielt seinen Blick gefesselt, bis das Gewühl der Straße das Bild verschlang. –

Gegen Abend desselben Tages saß Andree im Wohnzimmer seines Gasthofs, in Lessings „Laokoon“ vertieft, den er freilich halb auswendig wußte, als er vor seiner Thür einen lebhaften Wortwechsel hörte; eine der Stimmen kam ihm bekannt vor, er sprang auf, öffnete und sah im Flur seinen „Freund“ Hilt stehen, mit seinem riesengroßen grauen Filzhut auf dem Kopf, in dem er beinahe ertrank – neben ihm den Zimmerkellner Adolf, sichtlich erfreut und geschmeichelt lächelnd.

„Tag, Andree!“ nickte Hilt. „Eben hab’ ich hier einen alten Bekannten entdeckt aus der goldenen Berliner Zeit, damals im ‚Hörselberg‘! Wonniges Lokal, kommt auch bloß in der Reichshauptstadt vor, nicht wahr, Adolf? Sie haben sich eigentlich nicht besonders verändert, noch immer die nüchterne Geschäftsmiene, hinter der kein Mensch sonst etwas ahnt! O, wenn Adolf seine Erinnerungen schreiben wollte, ich wette, er fände Verleger, auch Publikum. Na, na“ – Adolf hatte eine bittende Gebärde gemacht – „ich schweige schon in allen Sprachen. Hier sind Sie einfach bloß Kellner, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr Hilt! Kellner – nichts weiter!“

„Schade, Ihre schönen Anlagen berechtigen Sie entschieden zu vielseitigerem Wirken im Dienst der Menschheit!“

„Willst Du nicht hereinkommen, Hilt?“ unterbrach ihn Andree, dem dies Gespräch unangenehm war. „Adolf, bringen Sie ein paar Dutzend Austern und eine Flasche Yqúem herauf!“

„Schön!“ sagte Hilt und schnalzte mit der Zunge. „Das läßt sich hören. Nun sage, Du Riese Goliath“ – er zog die Thür hinter sich zu und warf sich aufs Sofa – „was treibst Du? Mit der alten Wiedekamp bist Du im Reinen, sie hat mir’s erzählt, und ein hübsches Preischen hat sie Dir gemacht! Nun, Du hast es ja dazu! Malst Du etwas?“

„Malen? Hier im Gasthof? Wie sollte ich wohl?“

„Na, ich meine nur so! Welches ist denn Dein neuestes Sujet?“

„Ich bin noch nicht so ganz klar – oder doch! Aber ich rede noch nicht darüber – eine Art Allegorie!“

„Mensch, ums Himmelswillen! Eine Art Allegorie! Heißt das Vernunft? Und liest den Lessing! Den alten ‚Laokoon‘! Sehr brav gemeint ohne Zweifel, allein die Zeiten sind gewesen!“

„Meinst Du nicht, daß es Regeln und Begriffe giebt, die für alle Zeiten gelten?“

„Bewahre, Du großes Kind! ‚Vorwärts, vorwärts!‘ heißt der Wahlspruch. Weg mit allem alten Plunder! Komm’ nur nächstens zu mir und sieh Dir mein neuestes Bild an, ich thue nicht so geheimnißvoll damit wie gewisse Leute, da wirst Du ein Stück lebendiger Wirklichkeit sehen, nichts von einer Art Allegorie!“

„Du malst keine Stillleben mehr, Hilt?“

„Daß sich Gott erbarme! Stillleben! Was soll unsereins, der in jedem Bilde doch eine deutlich redende That hinstellen will, denn wohl durch Kohlstrünke, abgewelkte Salatstauden und rothe Rüben ausdrücken? Nein, ich mache Studien aus dem Volk und für das Volk – das ist mein Wahlspruch!“

„Und weiß das Volk Deine Werke zu würdigen?“

„Ich sagte Dir ja schon neulich, daß wir noch lange nicht durch sind, daß dreiviertel von den Leuten sich immer noch lieber hübsch gemalte Lügen vorflunkern läßt und kaum der vierte Theil die herbe Wahrheit verträgt. Aber da kommt Adolf mit seinen Schätzen! Ersäufen wir einstweilen den alten Schlendrian und den neuen Feuergeist in diesem lieblichen Tropfen und schlucken wir unsere gegensätzlichen Empfindungen mit Austern hinab!“

Während Andree die Gläser vollschenkte, machte Adolf dem kleinen Maler ein Zeichen mit den Augen, das dieser mit einem raschen Kopfnicken erwiderte. Die beiden verstanden einander noch vortrefflich vom „Hörselberge“ her.

„Prosit!“ Hilt sog den Wein durch die Zähne ein und prüfte ihn auf der Zunge. „Entschieden trinkbar! Wie hast Du es denn bei Brühls gefunden?“

„Ich traf das Ehepaar und die erwachsene Tochter nicht daheim.“

„Pech!“

„Ja – ich ließ meine Karte da! Für einen Augenblick sah ich die beiden jüngeren Kinder.“

„Ach so, die! Die wachsen neben der ‚Prinzessin‘ wie das liebe Unkraut auf! Kein Mensch bekümmert sich um sie! Die Herren Eltern sind daran verzweifelt, daß einer von diesen Sprossen auch bloß eine Spur von der Schönheit ihrer älteren Schwester aufweisen könnte, darum lassen sie die beiden Wildfänge ihren eigenen Weg gehen, wenigstens so lange er sich nicht mit den Pfaden kreuzt, die sie mit dem Krondiamanten der Familie verfolgen.“

„Ja, aber gilt denn bei diesen Leuten durchaus nichts anderes als die Schönheit?“

„Du sagst es! Und Dir müßte diese Thatsache doch ungeheuer begreiflich sein, da Du selbst knietief im Schönheitskultus steckst!“

„Da irrst Du Dich! Ich lasse die Häßlichkeit auch in der Kunst gelten, dafern sie irgendwie charakeristisch ist und einen bestimmten Zweck hat. Denke nicht, daß ich nur schöne Menschen auf meinen Bildern habe; allerdings sehe und male ich sie lieber als die garstigen, erlebe auch, daß sie mehr Wirkung erzielen, selbst im Volk, und verlege mich nicht darauf, Häßlichkeiten auszuklügeln, bloß weil sie häßlich sind und nichts weiter. Doch beiseit’ damit! Möchtest Du mir etwas Näheres über die Brühlsche Familie sagen – falls Du nämlich etwas weißt?“

Hilt zuckte nur geringschätzig die Achseln. Wissen! Ich! Aber naturlich! Und aus guter Quelle! Da ist so ’n kurioses Geschichtchen dabei, vielleicht macht Dir das Spaß! Also vor ungefähr zwanzig Jahren lebten hier in Hamburg drei Kaufleute, die sich zu einer Firma zusammengethan hatten. Offiziell lautete sie: Brühl und Compagnie. Die Compagnie bestand aus einem gewissen Grimm, einem richtigen Original – leidenschaftlicher Blumenfreund und Katzenliebhaber, dabei ein schneidiger Geschäftsmann, eine Autorität in Oel und Getreide. Der dritte war ein flotter Kunde, Gerhard Winzer mit Namen, lustig, leichtlebig – der vertrat das Geschäft nach außen hin, ging an die Börse, saß in den Lokalen herum und sah zu, wo es etwas zu verdienen gab. Ich glaube, der Gute hat dabei mehr auf sein eigenes Vergnügen geachtet, was ich ihm weiter nicht übelnehmen will; kurz, die Karre ging eine Zeitlang bedenklich schief. Brühl, der sich als ganz junger Mensch mit einer blutarmen Schönheit verlobte, hatte sich inzwischen mit dieser, trotzdem sie rasch verblüht war, verheirathet, Grimm hatte eine solche Dummheit nicht begangen; er hatte nur für seine Blumen- und Katzengesellschaft zu sorgen und ist bis heute Junggeselle geblieben. Winzer hatte Liebschaften an allen Ecken und Enden. Das Triumvirat stand also schlecht, schon fing der Kredit an, verfänglich zu wackeln, die Wechsel auf Brühl und Compagnie wurden mit langen Gesichtern begrüßt, und man prophezeite allgemein einen greulichen Krach. Aber siehe da, die Sache machte sich auf ganz unerwartete Weise! Winzer wurde von den beiden solideren Herren, wohl nicht mit Unrecht, als Stein des Anstoßes betrachtet; sie fanden, er sei kein Geschäftsmann, sie fanden, er treibe sich umher, er führe ein unsolides Leben, schade dem Ruf der Firma, sie fanden endlich, er habe sich zu drücken – und der brave Kerl war damit einverstanden. Geld hatte er lange keins mehr im Geschäft stehen, unbehaglich war ihm zumuthe, und Amerika war ihm immer als eine nette Gegend erschienen, wo für Leute seines Schlages noch etwas zu machen sei. Von seinen bisherigen Freunden Grimm und Brühl ließ er sich die Reisekosten und noch etwas darüber für den Anfang gehen – ‚auf Abschlag‘, wie er sagte. ‚Denn, Kinder, wenn ich dort zu etwas komme, geb’ ich es Euch wieder, wenn nicht, seid schön bedankt!‘ – und weg war er! Na, er muß wohl [651] zu nichts gekommen sein, denn man hat seit all den Jahren kein Wort von ihm gehört; wohl aber kam Brühl, der immer mehr Glück wie Verstand gehabt hat, zu etwas, und zwar durch einen großen Lotteriegewinn, der ihm kurze Zeit nach dem Weggang Winzers zufiel. Nun war er wieder obenauf, allein jetzt kommt das Komische von der Geschichte. Jedermann glaubte, nun werde die Firma den wahren Aufschwung nehmen, denn Brühl und Grimm hatten miteinander auf der Schulbank gesessen und galten für geschworene Freunde, obschon der eine klug und der andere etwas einfältig war. Da mußte also wohl Brühls frisch gespickter Geldbeutel und Grimms anschlägiger Kopf etwas Ausgezeichnetes zusammen abgeben. Aber nein! An dem Tage, da Brühl den riesigen Gewinn einheimst, sagt Grimm sich von der Theilnahme am Geschäft los, ist durch kein Bitten, kein Zureden zu bewegen, Compagnon zu bleiben, erklärt rund heraus, es gebe nichts Gutes ab, wenn einer mit einem großen Kapital wirthschafte und der andere mit nichts, und zieht seine Einlage ohne weiteres aus dem Geschäft heraus. Nicht einmal stiller Theilhaber will er bleiben, und nur mit Mühe und Noth kann Brühl ihn bewegen, seine Wohnung zu behalten, im oberen linken Flügel des Brühlschen Hauses, wo er sich ein kostbares Glashaus für seine Blumen hatte einrichten lassen. Er blieb denn in der Wohnung, zahlte pünktlich seine Miethe, war aber von Stund’ an nur noch ein seltener Gast in der Brühlschen Familie, nur bei feierlichen Gelegenheiten. Er hat für sich selbst in Getreide und Oel weiter spekuliert, wie man meint, mit großem Glück, und sein guter Rath soll Brühl oft in schwierigen Geschäftslagen über Wasser gehalten haben. Kurioser Kauz, nicht wahr? Nimmt es seinem Freunde buchstäblich übel, daß er reich geworden ist, und zieht sich deshalb von ihm zurück! – Aber sei so gut und laß mich nicht alle Austern allein aufessen, sondern halt’ auch mit!“

„Ich danke, iß nur – freut mich, wenn Dir’s schmeckt! Ich habe keinen Appetit.“

Andree saß, den Kopf in die Hand gestützt, am Tische und sah zu, wie Hilt die Austern aß. Etwas in der eben gehörten Erzählung berührte ihn nicht angenehm, so leicht hingeplaudert auch das Ganze war.

Die leeren Austerschalen thürmten sich wie ein kleines Gebirge übereinander, Hilt schlürfte und schluckte und sprach dem Yquem fleißig zu.

„Und Brühl ist ein reicher Mann geblieben seit jener Zeit, nicht wahr?“

„Wie man’s nimmt! Die Frau und die Kronprinzessin kosten ihn gewaltig, er muß ganz ungeheure Summen verdienen, wenn er das aus dem Geschäft herausziehen kann. Jetzt angelt er nach einem Schwiegersohn von Rang und Stand, das kostet noch extra. Hier lebt seit einiger Zeit ein moldauischer Fürst Riantzew mit Familie. Dessen jüngerer Bruder, Prinz Riantzew also, hat sich stark in die schöne Stella Brühl verliebt, höchst wahrscheinlich ohne Erlaubniß seines fürstlichen Herrn Bruders, und der biedere Senator hätte nichts dagegen, Vater einer Prinzessin Riantzew zu werden. Nach Geld fragt er nicht soviel, ihn prickelt der Ehrgeiz. Du wirst übrigens wohl alle, von denen ich gesprochen habe, Senator und Gemahlin, Grimm und Prinzen, in Bälde kennenlernen; Brühls werden in den nächsten Tagen ein großes Zauberfest veranstalten, vermuthlich, um den Prinzen etwas fester zu schmieden! Und da Du dort Deinen Besuch gemacht und Deine Karte zurückgelassen hast, da ich zudem mit der anspruchsvollen Frau Mama von Dir gesprochen habe, so hoffe ich, daß die Leute den guten Einfall haben werden, Dich einzuladen. Wir würden dann dort zusammentreffen, man kann da über Hamburger Feste in großem Stile Studien betreiben! – Beiläufig, mein Guter: könntest Du mir vielleicht mit dreihundert Mark unter die sogenannten Arme greifen? ’s ist bloß, damit das halbe Tausend voll wird! Ja? Du bist wirklich ein nobler Kerl, und ich freue mich aufrichtig, daß Du nach Hamburg gekommen bist. Willst Du einen Schuldschein? Nicht? Nun, eigentlich ist’s auch Unsinn, ich schreibe mir alles genau auf, jeden Jahrgang für sich, Du hast’s ja gesehen! – Die Austern sind zu Ende – nein, nein, Du brauchst nicht zu läuten, ich esse nichts weiter. Machen wir ein Ende mit dem Wein! So, adieu! Auf Wiedersehen im Hause Brühl!“

Damit knöpfte sich Hilt kaltblütig den Ueberrock zu, klopfte sich schmunzelnd auf die Tasche, in die er die Kassenscheine geschoben hatte, und reichte Andree die Hand zum Abschied. Dieser gab ihm nur bis zu seiner Zimmerthür das Geleit, konnte daher nicht sehen, daß Hilt im Hausflur vom Zimmerkellner Adolf erwartet und alsbald in eine eifrige, mit vorsichtig gedämpfter Stimme geführte Unterredung verwickelt wurde.

Am nächsten Morgen lud eine große, steife, goldgeränderte Karte Herrn Waldemar Andree zu einem Souper mit nachfolgendem Tanz auf den achtundzwanzigsten April abends neun Uhr in das Haus des Senator Brühl auf dem Alsterdamme! –




7.

Fürst Emmerik Riantzew hatte seine Güter in der Moldau verlassen, wo er sich einen ganzen Hofstaat von Haushofmeistern, Erziehern, Gouvernanten, Bonnen, Kammerdienern und Jägern hielt, und hatte mit seiner Gemahlin, einer georgischen Prinzessin, und seinen fünf Kindern, sowie einem Theil des eben erwähnten Hofstaates eine „Tour durch Europa“ unternommen. Das war ein weiter Begriff, aber Fürst Emmerik war der Mann dazu und besaß die Mittel, sich diesen Begriff nach seiner Neigung auszugestalten.

Er hatte einen Kurier aus Brüssel in seinen Dienst genommen, ein Juwel von einem Kurier, der fünf Sprachen redete und schon rund um den ganzen Erdball gewesen war. Diesen bezahlte er mit fürstlicher Freigebigkeit, und das wußte der Mann zu schätzen. Er führte seine aristokratische halbasiatische Gesellschaft so gewandt, daß sich das Reisen glatt wie am Fädchen abrollte. Man hatte den ganzen Spätherbst und Winter im Süden zugebracht, Taormina gefiel dem Fürsten besonders gut, und seine Gemahlin hatte wiederum eine Vorliebe für die Riviera, insbesondere für Bordighera, das ihren etwas abgespannten Nerven mehr wohlthat als San Remo und Nizza.

Allmählich, durch einen ungewöhnlich warmen Vorfrühling in Italien verführt, war man weiter nach Norden gegangen, trotzdem der Kurier sehr höfliche Warnungen ausgesprochen hatte. In Venedig war des Fürsten einziger jüngerer Bruder, Prinz Alexander Riantzew, in Oesterreich erzogen und augenblicklich beschäftigungsloser Legationssekretär, zu der Familie gestoßen, um sich ihr fortan anzuschließen und sich von den Anstrengungen des römischen Karnevals zu erholen.

Eine Zeit lang vergnügte man sich in Wien, dann ging es nach Berlin. Hier aber erlaubte sich der deutsche Frühling die Ungezogenheit, einen Rückfall in den Winter zu bekommen. Es fror über Nacht, es schneite, es regnete, es gab schneidenden Nordostwind und milchweiße feuchkalte Nebel; die jungen Triebe und Sprossen, die im Thiergarten an Busch und Baum hervorgekommen waren, verkümmerten beinahe und wagten sich nicht weiter.

Die Gesellschaft aus der Moldau war empört; man hatte eine ganze Flucht der schönsten Zimmer im Central-Hotel gemiethet und in diesen entfachten geschäftige Hände unaufhörlich knatternde Kaminfeuer – umsonst! Die Fürstin war verzweifelt und der Fürst entrüstet: man hatte doch Frühling im Kalender, wie wonnig war’s im Süden gewesen, und in diesem barbarischen Lande schneite man nun wie im Winter ein und fror förmlich an. Dazu die überlegen spöttische Miene des Kuriers, der beständig mit einem Gesicht herumging, das ziemlich deutlich sagte: „Ich habe das alles im voraus gewußt, aber man wollte sich ja nicht rathen lassen! – Wer nicht hören will, muß fühlen!“

Ohne weiteres würden die beleidigten Halbasiaten diesem schrecklichen Deutschland den Rücken gekehrt haben und wieder nach dem Süden gegangen sein, wenn nicht des Fürsten Lieblingstöchterchen, die kleine fünfjährige Mascha, eine gefährliche innere Entzündung bekommen hätte, die ein längeres Krankenlager im Gefolge hatte. Unmöglich, mit dem schwerkranken Kinde eine weite Fahrt zu machen! Als die Kleine endlich außer Lebensgefahr war, stellte es sich heraus. daß ein innerer Absceß eingetreten war, der die sorgsame Behandlung eines Spezialisten erforderte. Ein guter Bekannter des Fürsten, der zufällig in Berlin war, rühmte einen bedeutenden Hamburger Arzt, der in solchem Fall ein Sachverständiger ersten Ranges sei; sobald daher das kranke Kind die Reise ertragen konnte, siedelte die fürstliche Familie nach [652] Hamburg über, wo der unentbehrliche Kurier, da ein längerer Aufenthalt unerläßlich war, eine geräumige Villa nebst Garten auf dem neuen Jungfernstieg miethete. Hier wollte man die sehr langsam fortschreitende Genesung der kleinen Prinzessin gezwungenermaßen abwarten.

Mit Ausnahme der vier gesunden Kinder, die sich fröhlich im Garten tummelten und ihren Bonnen gehörig zu schaffen machten, fühlte die Familie des Fürsten sich unbehaglich. Die Fürstin, eine nicht besonders zärtliche Mutter, ging, sobald es sich nicht um ihre eigene Gesundheit handelte, von dem Grundsatz aus, der Mensch sei dazu da, sich selbst zu überwinden, und, sobald er nur richtig wolle, sei die Genesung fertig. Sie fand deshalb die Angst des Fürsten um die kleine Mascha übertrieben und nahm es dem fünfjährigen Kinde geradezu übel, daß es immer noch krank war und sie alle zwang, in dieser „horriblen“ Stadt so lange auszuhalten; sie zeigte die schlechteste Laune, wollte nichts sehen und hören, fand alles schon im voraus, ohne es zu kennen, „abominabel“, war kaum zu einer Ausfahrt zu bewegen und wies alle Versuche ihres Gemahls, sie zu zerstreuen, mit einem sehr ungnädigen Gesicht ab. Die Dame lag beinahe den ganzen Tag auf der Chaiselongue, natürlich im Negligée, denn wozu für Hamburg Toilette machen? Wenn sie nicht französische Bücher las – und das konnte sie nicht immer, denn sie ärgerte sich zu sehr, daß sie diese langweilige Wartezeit nicht in Paris verleben konnte, wo man sich doch immer amüsierte! – dann quälte sie ihre Dienstleute, welche die gefürchtete Herrin meistens im Bogen umgingen. Namentlich die georgische Kammerzofe (in Paris ausgelernt!) ging fast beständig mit verweinten Augen umher und schwor immer wieder, wenn Monsieur Falvier, der Kurier, nicht wäre, der die hübsche Kleine mit und ohne Französisch zu trösten wußte, dann würde sie längst fortgelaufen sein.

Fürst Emmerik war betrübt, daß sein Lieblingskind sich so wenig erholte und daß seine Gemahlin eine so sorglose Mutter war. Er ging oft ins Krankenzimmer und war jedesmal dabei, wenn der Arzt kam, aber die Mutter konnte er der Kleinen doch nicht ersetzen, er mußte sie bezahlten Pflegern überlassen. Zudem machte ihm sein Bruder, Prinz Alexander, ernstliche Sorge.

Diesen jungen Mann hatte die Natur mit einem gefährlich anziehenden, melancholischen Gesicht ausgestattet. Von Hause aus nichts weniger als düsteren Sinnes, verfehlte der Prinz doch nicht, von seinen äußeren Gaben Gebrauch zu machen; er liebte die Damen und wußte ganz genau, wenn er sie aus seinen mandelförmigen, tiefen Augen mit einem gewissen Aufblick traurig anschmachte, dann könne ihm sobald keine Frau widerstehen. Er sah daher meistens so sehnsüchtig und schmerzvoll aus, als habe er soeben einen schweren Herzenskummer hinter sich und schaue nun nach einem Trost in diesem seinem Leiden aus. Thatsächlich hatte er eigentlich nur Siege zu verzeichnen, aber wozu brauchten die Frauen das zu wissen? Sie waren so gern mitleidig, es war ihnen so süß, trösten zu können – und Prinz Riantzew ließ sich trösten und nahm dankbar alles entgegen, was sich ihm bot! Sein Bruder, der Fürst, wünschte lebhaft, der Prinz möge sich bald mit einer reichen Erbin – natürlich von Stand – verheirathen, denn als jüngerer Sohn besaß er kein besonders glänzendes Einkommen, und er, der ältere, mußte sehr oft aus seiner eigenen Kasse nachhelfen. Aber um die Ehe war es dem flotten Kavalier wahrlich nicht zu thun, er mußte lachen, wenn er nur daran dachte. Er – und ein Ehemann! Was würde da aus seinem Verkehr mit den Damen werden, die ihn allesammt verwöhnten! Da er gerade ohne Beschäftigung war – der Borschafter hatte ihm einen langen Urlaub gegeben und wollte ihn dann ganz weit fortschicken! – so hatte es ihm Spaß gemacht, sich der „Tournée durch Europa“ anzuschließen, die sein Bruder unternahm, er hatte überall irgend jemand oder irgend etwas zu seinem Vergnügen gefunden – und nun gar hier in Hamburg!

Das eben war’s, was den Fürsten, neben seines Töchterchens Krankheit und seiner Gattin schlechter Laune, so sehr verstimmte.

Prinz Alexander hatte sich verliebt – nun, das schadete zunächst nichts, das war schon öfter geschehen – in ein wunderschönes junges Mädchen … schadete gleichfalls nichts, sprach nur für seinen feinen Geschmack und war auch schon öfter dagewesen. Was aber bisher noch nie passiert war, das mußte sich hier in Hamburg begeben: das wunderschöne junge Mädchen nahm durchaus keine Notiz von dem Prinzen! Er machte seine schwermüthigsten Augen, er ritt, fuhr und ging an ihrem Hause vorüber – das entzückende Geschöpf ritt, fuhr und ging gleichfalls auf den belebtesten Promenaden an ihm vorüber, ohne ihn im geringsten zu beachten. So gelang es also nicht, er mußte sie persönlich kennenlernen, mußte versuchen, durch seine Nähe auf sie zu wirken! Er lernte sie kennen, aber er wirkte nicht! Er konnte sich’s nicht verhehlen, es war eine niederschmetternde Thatsache: sie tanzte, scherzte und lachte mit jedem andern ebenso unbefangen wie mit ihm; es war, um toll zu werden!

Und Prinz Alexander wurde auch wirklich toll, er verliebte sich ernstlich. Sein Bruder bekam davon zu hören und machte ihm Vorwürfe. Gegen eine Liaison hatte er nichts einzuwenden – lieber Himmel, er war ein verständiger Mann und Sascha war jung! Allein sich ernstlich verlieben in die Tochter eines Hamburger Kaufmanns, sie am Ende gar heirathen wollen, das ging nicht. Wahrhaftig, das ging nicht. „Thu’ meinetwegen, was Du willst!“ hatte der Fürst bei der letzten Unterredung mit seinem Bruder ausgerufen. „Aber mach, daß diese leidige Geschichte zu Ende kommt, ich will nichts weiter davon hören!“

Darauf war der Prinz, nachdem er seinem fürstlichen Bruder einen kurzen Abschiedsgruß zugenickt hatte, aus dem Zimmer gegangen und einige Tage unsichtbar geblieben.

Heute sollte er wieder sichtbar werden. An einem launischen Aprilvormittag war’s, der Himmel lachte und weinte in einem Athem – augenblicklich hatte er eine freundliche Miene aufgesetzt und schickte goldenen Sonnenschein auf die regenfeuchten Straßen und in das Lesezimmer des Fürsten Riantzew, der gleichfalls ein heiteres Gesicht zeigte, denn eben war der Arzt bei ihm gewesen und hatte ihm günstige Nachrichten über das Befinden der kleinen Prinzessin gebracht.

Der Fürst las in einer Hamburger Zeitung. Er handhabte die deutsche Sprache mit ziemlicher Leichtigkeit und hielt es für seine Pflicht, auf deutschem Boden die Sprache und die Verhältnisse des Landes zu studieren.

Janko, sein serbischer Kammerdiener, pochte leise an die Thür und meldete den Prinzen Alexander. Gleich darauf erschien dessen lichtblonder Kopf unter der blauen Sammetportiere. Der Fürst nickte ihm wohlgelaunt zu und legte das Blatt verkehrt vor sich auf den Tisch. Eigentlich hatte er Sascha sehr lieb, das kam ihm besonders dann zum Bewußtsein, wenn er ihn eine Zeit lang nicht gesehen hatte.

„Guten Morgen!“ sagte er heiter und reichte dem Bruder seine kräftige, große Hand. „Ich freue mich sehr, Dich endlich zu sehen, habe lange nicht das Vergnügen gehabt! Setz’ Dich her und erzähl’, wo Du gesteckt hast!“

Der Prinz zog mit dem Fuß einen Sessel herbei, ließ sich darauf nieder und seufzte.

„Nun?“

„Ja, wo werde ich denn gesteckt haben? Im Klub natürlich! Wohnsdorf ist hier – der aus Böhmen, weißt Du! – und Erwin Tosky und noch ein paar andere. Da haben wir denn gespielt, irgendwie muß man doch seine Zeit hinbringen.“

„Hm! Unglück gehabt?“

„Ja!“ Der Prinz kniff die Augen halb zu und unterdrückte ein Gähnen. Es trat eine kleine, unbehagliche Pause ein.

„Du hast noch mit keinem Wort gefragt, wie es Mascha geht!“ fing der Fürst endlich wieder an, als habe er Lust, die Unterhaltung von den Spielangelegenheiten abzulenken.

„Ach! Entschuldige mich, Emmerik! Nun – also – wie geht’s ihr?“

„Sie befindet sich viel besser, der Geheimrath äußerte sich heute vollkommen zufrieden über ihren Zustand; sie hat gut geschlafen, wie ihre Kammerfrau versichert, ist fieberfrei und zeigt Lust, mit Puppen zu spielen!“

„So! Ich wünsche Dir aufrichtig Glück. Das freut mich sehr!“

Der Prinz sah nicht aus, als ob ihn die Sache sehr freue. „Wie geht es denn Nadine, meiner verehrten Schwägerin?“

Des Fürsten freundliches Gesicht wurde ernst und nahm einen gleichgültigen Ausdruck an.

[653]

Autograph aus dem Helgoländer Fremdenbuch.   Hoffmanns Wohnhaus auf Helgoland.
Die Grundsteinlegung zum Denkmal für Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland.

[654] „Sie ist gesund. Sie ist wie immer!“ sagte er kurz.

In die wiederum eintretende Stille hinein tickte die Standuhr auf dem Kaminsims mit aufdringlicher Deutlichkeit.

„Nun, so erklär’ Dich doch!“ meinte der Fürst endlich und lehnte sich mit der Miene eines Mannes, der sich auf alles Mögliche gefaßt machen will, in seinen Lehnsessel zurück. „Wieviel hast Du denn verloren?“

Prinz Sascha suchte sich das Aussehen eines Menschen zu geben, dem eine Sache vollständig gleichgültig ist, aber so ganz gelang ihm das doch nicht. Er griff in seine Brusttasche und holte ein ganzes Packet zerknitterter Zettelchen daraus hervor, die er vor seinen Bruder auf den Tisch legte. Dieser nahm eins nach dem andern und legte es, nachdem er es genau betrachtet hatte, mit unzufriedenem Kopfschütteln wieder hin.

„Was habt Ihr denn gespielt?“

„Trente et quarante!“

„Ich hatte Dich doch gebeten, Du solltest das Hazardspielen lassen, Sascha!“

Hierzu schwieg der Prinz still. Es war richtig, Emmerik hatte ihn darum gebeten, und er hatte es doch nicht lassen können.

Der ältere Bruder nahm ein Notizbuch und schrieb mit einem silbernen Stift von jedem Zettel die Zahl auf, immer eine unter die andere. Dann zog er einen kleinen Strich und zählte zusammen – es war eine hohe Summe!

„Hiervon,“ sagte er bedächtig und schichtete die kleinen Papierblätter säuberlich zu einem Häuflein zusammen, „hiervon könnten mehrere Bürgerfamilien jahrelang sorgenfrei leben, und Du gehst hin und verspielst es in wenigen Stunden. Wir haben auch unsere Pflichten, wir Hochgestellten, Pflichten gegen uns selbst, gegen den Staat, gegen das Volk. Jawohl! Wir leben nicht, wie wir sollten, wir geben kein gutes Beispiel für die, die unter uns stehen und ihre Augen auf uns richten, wir liefern selbst den Stoff zu all den Auslassungen, die uns so roh und widerlich erscheinen, die sich gegen den Adel, gegen die Kapitalisten, mit einem Wort gegen die oberen Zehntausend richten. In unserer Zeit hat jeder die Aufgabe, in erster Linie ein tüchtiger Bürger zu sein, einen wahrhaft hoben Sinn zu zeigen und damit dem Volk zu beweisen, daß es Vorurtheile nährt, wenn es dem Adel, dem Titel, dem Kapital von vornherein Mißtrauen entgegenbringt! Wir denken nicht nach, wir verschließen unseren Blick geflissentlich den Schäden unserer Zeit und gehen hin und genießen! Das ist ein großes Unrecht!“

Prinz Alexander hörte mit unbewegter Miene zu, in seinem Innern war er jedoch wenig erbaut von der Weisheit seines Bruders. „Wozu er mir das alles sagt!“ dachte er bei sich, „was soll ich damit?“ Unwillkürlich sah er nach der Zeitung hin, die umgekehrt auf dem Tisch lag. „Ob darin ein solcher Vortrag enthalten ist, ob er er ihn eben gelesen hat? Das Ganze klingt verzweifelt nach einem Leitartikel oder nach der Rede eines funkelnagelneuen Reichtagsabgeordneten, der mit dem Liberalismus liebäugelt und sogenannte Ideale im Busen trägt. So etwas steckt immer an! Der gute Emmerik vergißt ganz, daß er zwölf Jahre älter ist als ich und an meiner Stelle schwerlich anders handeln würde!“

In der That kümmerte sich der jüngere Abkömmling der Riantzews herzlich wenig um Volkswohl, gutes Beispiel, um die Forderungen der Zeit. Das alles lag ihm himmelfern, und er wünschte wirklich nur, „hinzugehen und zu genießen,“ wie sein Bruder strafend bemerkt hatte.

„Mein lieber Emmerik,“ sagte er nach einer kleinen Weile, „es mag viel Wahres in dem sein, was Du anführst, das aber macht die Thatsache nicht ungeschehen, daß ich dieses Geld verloren habe und bezahlen möchte. Willst Du das für mich thun?“

Der Fürst, vor diese nackte Thatsache gestellt, runzelte unmuthig die Stirn; er fand, er habe gut gesprochen, und hatte geglaubt, Eindruck mit seinen Grundsätzen zu machen; mit beiden Händen strich er jetzt an seinem mächtigen braunen Vollbart hinab.

„Ich habe Deine Spielschulden schon sehr oft bezahlt –“

„Sehr oft!“ schob Sascha bestätigend dazwischen.

„Und ich habe Pflichten gegen meine Kinder. Ich weiß nicht, ob ich Dir noch oft werde helfen können. Die Art, wie Du Deine Zeit hinbringst –“

„Wie soll ich sie anders verwerten? Du kannst Dich in den Schoß Deiner Familie flüchten, ich habe keine! Du interessierst Dich für Politik, für Nationalökonomie, für landwirthschaftliche Dinge; ich – Du wirst mich entschuldigen, wenn ich ganz aufrichtig bin! – interessiere mich nicht dafür! Als ich einen ernsthaften Anlauf nahm, hier in Hamburg solid zu werden und Anschluß an eine geachtete Familie zu suchen, da hast Du mir dies in den stärksten Ausdrücken verboten und hast gesagt: ‚Thu, was Du willst, aber laß mich von dieser leidigen Geschichte nichts weiter hören!‘“

Das waren im der That des Fürsten eigene Worte, – und der Prinz hatte nun gethan, was er wollte, er hatte hoch gespielt!

„Hast Du die – hm! die geachtete Familie, deren Du soeben erwähntest, seit jener Mahnung, die ich Dir zukommen ließ, nicht wieder aufgesucht? Auf Dein Wort und Deine Ehre nicht?“

„Auf mein Wort und meine Ehre nicht!“

Der Prinz richtete seinen etwas zusammengesunkenen Oberkörper stramm auf und sah seinem Bruder fest in die Augen. Es stimmte ja auch! Er hatte das Haus des Senator Brühl seit der bewußten Unterredung wirklich nicht betreten. Daß er eine Einladung zu einem morgen dort stattfindenden Souper in der Tasche trug und entschlossen war, ihr zu folgen, sagte er nicht. Warum bewegte sich Emmeriks feierliche Frage in der Vergangenheit? Hätte er die Gegenwart betont – der Prinz würde alles gestanden haben. So blieb seine gefährliche Absicht in der Tiefe seines Busens ruhen.

Der Fürst stand auf und schloß eine Kassette auf, deren kunstvoll gearbeiteten Schlüssel er stets bei sich trug. Er nahm einen Stoß Banknoten aus dem Behältniß hervor und reichte ihn dem Prinzen. „Nimm Dir!“ fügte er dazu.

Alexander „nahm sich“ und murmelte ein paar Dankesworte. Er war beinahe gerührt, er bereute beinahe, was er gethan hatte, und er war beinahe auf dem Punkt, seinem Bruder zu gestehen, daß er habe zu Brühls gehen wollen und es nun aufgebe.

Aber da sah er im Geiste Stella vor sich, Stella, wie er sie neulich in Wirklichkeit gesehen hatte, die schönste Amazone, die man sich träumen konnte, in einem knappen tiefgrünen Reitkleid, eine kleine Jockeymütze mit Silberborten auf dem Tizianhaar, auf ihrer in ganz Hamburg berühmten „Primrose“, einer arabischen Rappenstute, von vier, fünf Herren umgeben – und wie er sie ehrerbietig grüßte, ohne sich ihrem Gefolge anzuschließen, denn damals hatte er sich ’s im Ernst vorgenommen, „ein Ende zu machen“ – da hatte sie ihm zugenickt und ganz wohlgemuth gelächelt, daß all die weißen reizenden Zähnchen blitzten, nicht erzwungen, auch nicht übertrieben freundlich, nur eben ganz so heiter und unbefangen, als stehe ihr ein Prinz Riantzew jeden lieben Tag ihres Lebens zur Verfügung, und dann war sie hingesprengt. Dies sorglose Lächeln, diesen Blick, der sich sofort von ihm ab- und andern zugewandt hatte konnte ihr der verwöhnte Liebling der Frauen nicht verzeihen. Sie sollte ihn bald anders anlächeln, sie mußte, und dann, wenn er es dahin gebracht hatte … ja, dann würde der „kleine Roman“ eben zu Ende sein, und er würde Hamburg verlassen und sich ihr in tadelloser Haltung empfehlen: „Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre –.“

Und Prinz Alexander steckte die Kassenscheine in die Tasche, sagte noch einmal schönen Dank, tauschte einen Händedruck mit seinem Bruder und verließ dessen Zimmer. Der Zurückbleibende sah ihm befriedigt nach und dachte: „So, das wäre abgethan, zu diesen Brühls geht er nicht mehr!“ Der Davongehende sah befriedigt zurück und dachte. „So, das wäre abgethan, morgen also zu diesen Brühls!“

(Fortsetzung folgt.



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Zum Gedächtniß Mozarts.

Die letzten Monate dieses Jahres bringen zwei Gedächtnißtage, welche unsere Blicke um ein Jahrhundert zurückwenden zu dem Bilde des größten deutschen Komponisten; am 30. September 1791 ging Mozarts „Zauberflöte“, eine der kostbarsten Gaben seines Genius, zum ersten Mal über die Bühne, und kurze Zeit nachher, am 5. Dezember, wurde der große Tonkünstler auf der Höhe seines Schaffens aus dieser Welt abberufen, nachdem er sie mit seinem Reichthum an Tönen überschüttet hatte.

Es ist über Mozart so unendlich viel geschrieben worden, daß man denken könnte, das Wesen und die Bedeutung seiner Musik wie seiner Persönlichkeit sei erschöpfend dargestellt. Aber das eben ist der Zauber echter Größe, daß deren Schöpfungen weit hinaus von Geschlecht zu Geschlecht die Gedanken der Späteren bewegen und stets aufs neue der Nachwelt zu thun geben, damit sie durchdringe zu immer tieferem Verständniß. Erschöpfen kann sich die bewundernde Kritik gegenüber einer solchen Größe nicht, ebensowenig wie wir uns in der Bewunderung der Natur selbst und ihres stets aufs neue wirkenden Zaubers erschöpfen können. An dieser Stelle sollen dem außerordentlichen Künstler und liebenswürdigen Menschen nur einige Worte in Bezug auf die beiden Gedächtnißtage gewidmet sein!

Wolfgang Amadeus Mozart wurde am 27. Januar 1756 in Salzburg geboren; zur Freude seines Vaters, des trefflichen Musikers und erzbischöflichen Vicekapellmeisters Leopold Mozart, entwickelte das Kind so frühzeitig eine erstaunliche musikalische Begabung, daß sein Vater, der bei seinem spärlichen Einkommen darauf bedacht sein mußte, seine Einnahmen zu vergrößern, schon in Wolfgangs sechstem Jahre mit diesem und seiner um fünf Jahre älteren Schwester Marianne Kunstreisen nach München und Wien unternahm, auf welchen das geradezu wunderbare Talent des Kindes das höchste Aufsehen erregte. In den folgenden zehn Jahren schlossen sich ähnliche Reisen nach Frankreich, England, Holland und Italien an. Dem italienischen Aufenthalt Mozarts im Jahre 1770 verdanken wir eines seiner reizendsten Bildnisse, welches in Verona gemalt und erst 1850 dort aufgefunden wurde. Jetzt befindet es sich im Besitze der Frau Therese Kammerlacher in Wien.

Seine Schwester Marianne. 0 Mozart im   Vater.  
25. Lebensjahr.       Bild der Mutter.  

Die Familie Mozart. 0Nach dem Gemälde von Joh. Nep. de la Croce.

Mit sechzehn Jahren hatte der Knabe bereits zahlreiche Orchesterstücke, Streichquartette und Motetten, Duos und Trios für verschiedene Instrumente verfaßt, und in Mailand waren sogar bereits 1770 und 1772 zwei Opern von ihm zur Aufführung gekommen. Auf deutschem Boden debütierte er als Opernkomponist 1775 in München mit einer Opera buffa „La finta giardiniera“; München hat auch den Ruhm, diejenige seiner Opern, welche die Periode seiner Meisterschaft einleiten sollte, „Idomeneo“, unter des Komponisten eigener Leitung im Januar 1781 zur ersten Aufführung gebracht und ihm damit seine Bahn auf dem dramatischen Gebiete eröffnet zu haben.

Bisher hatte Mozart im Dienst des Erzbischofs von Salzburg gestanden, eines herrischen, geizigen Machthabers. Die Erfolge in München gaben dem Beglückten die Kraft und das Selbstvertrauen, die Fesseln abzuschütteln und seinen Wohnsitz in Wien zu nehmen, wo er schon als Kind angestaunt und verhätschelt worden war. Allein auch hier konnte er an höherer Stelle nicht die seiner Bedeutung entsprechende Förderung erlangen. Der Neid, den seine außerordentlichen Fähigkeiten erweckten, die Ränke seiner Nebenbuhler, durch welche seine Fortschritte auf dem neu betretenen Wege gehemmt werden sollten – sie wurden durch seinen ersten großen Wiener Erfolg auf dem Gebiete der Oper nur gesteigert, und auch die volle Bewunderung, welche ihm Joseph Haydn, der Schöpfer der neueren Instrumentalmusik, freudig zollte, vermochte die Bosheit und den Unverstand nicht zu entwaffnen. Jene erste, mit allseitigem Beifall aufgenommene Frucht seines Wiener Aufenthalts war die Oper „Die Entführung aus dem Serail“, nachher auch „Belmonte und Constanze“ genannt; sie fiel in die Zeit seiner Liebe zu Constanze Weber, seiner späteren Lebensgefährtin, die er sich gegen den anfänglichen strengen Widerspruch seines Vaters in treuem Festhalten zu erringen wußte.

Auf die „Entführung“ folgte die „Hochzeit des Figaro“, das Meisterstück eines musikalischen Lustspiels; aber mit dem, was Mozart in diesem Werk geschaffen hatte, war er dem herrschenden Musikgeschmack in Wien so weit vorausgeeilt, daß ihm seine Hörer nicht zu folgen vermochten. So kam es, daß nach dem großen Erfolge der vorangegangenen Oper diese neue Schöpfung in der Kaiserstadt völlig ungewürdigt blieb, während sie in Prag die glänzendsten Triumphe feierte. Aus Dankbarkeit schrieb Mozart seine nächste Oper, „Don Juan“, ausdrücklich für das empfänglichere Publikum der böhmischen Hauptstadt, dort vollendete er sie und leitete selbst die Einstudierung und Aufführung.

Der einunddreißigjährige Komponist stand jetzt auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Auch die besten seiner kleineren Werke, namentlich seine vorzüglichsten Symphonien, fallen in diese Zeit. Sein Ruhm war so hoch gestiegen, daß er auch von allen materiellen Sorgen hätte befreit sein müssen, wäre er ebenso praktisch wie schöpferisch gewesen, oder hätte er in einer andern Zeit gelebt und ein anderes dankbareres Vaterland gehabt. Theater, Konzertsäle, Privatsalons – alles war von seinen Werken erfüllt. Der „Don Juan“ hatte die ganze gebildete Welt erobert, nie hatte es in deutschen Landen ein musikalisches Talent gegeben, das so allgemeine Begeisterung erregte. Nur in Wien hatte Mozart auch mit „Don Juan“ seine Lage nicht verbessern können, die Oper hatte dort einen entschiedenen Mißerfolg. Ob die schlechte Rollenbesetzung im Verein mit der nachlässigen Inscenierung daran schuld war, ob die stets bereite Kabale seiner Gegner, ob vielleicht auch [656] die Eifersucht der Wiener auf das Urtheil Prags dabei mitspielte, oder endlich ob auch hier das Publikum dem kühnen Fluge seines Genius nicht zu folgen vermochte – gleichviel: die Thatsache des Mißerfolgs war da, und Mozart blieb nach wie vor der armselige Musiker, welcher Mühe hatte, von Tag zu Tag für sein Auskommen zu sorgen. Daß er es als eine richtige Künstlernatur mit den Geldangelegenheiten leicht nahm, war auch nicht geeignet, seine Lage zu bessern.

Mozart im 14. Lebensjahre.
Nach dem Veroneser Bilde

Um seinen Verhältnissen aufzuhelfen, unternahm er 1789 eine neue, seine sechste Kunstreise, sie führte ihn nach Dresden, Leipzig und Berlin. Der Fürst Karl Lichnowsky, der ihm die Reise anempfohlen hatte, stellte ihm seinen Wagen zur Verfügung und vermittelte persönlich die Bekanntschaft des Komponisten mit dem König von Preußen, der sich auf die Begegnung mit dem berühmten Manne außerordentlich freute. Friedrich Wilhelm II. hat das entschiedene Verdienst, nach dem Tode Friedrichs des Großen sich der bisher verachteten deutschen Musik und besonders der deutschen Oper eifrig angenommen zu haben. Mozart, welcher im April in Berlin anlangte, wurde vom König in jeder Weise ausgezeichnet; er ward zu den Hofkonzerten geladen und spielte dem Fürsten einige seiner Klavierkompositionen vor. Friedrich Wilhelm war von dem Künstler so entzückt, daß er ihm in einem Gespräche den Vorschlag machte, als Hofkapellmeister nach Berlin zu kommen mit einem Gehalte von jährlich 3000 Thalern. Der Gewährsmann für jene Unterredung ist Herr v. Nissen, Mozarts erster verdienstvoller Biograph, der nachmalige Gatte von dessen Witwe Constanze. Diese selbst will die Mittheilung über das großherzige Anerbieten aus des Königs eigenem Munde erhalten haben, als sie mehrere Jahre später sich in Berlin aufhielt. Von ihr wissen wir ferner, daß Mozart das verlockende Versprechen mit den Worten zurückwies: „Kann ich meinen guten Kaiser verlassen?“ Was aber hatte dieser gute Kaiser – und es war der tolerante und vielgeliebte Josef der Zweite – für den anhänglichen Künstler gethan? Mozart war in Wien lange ohne eigentliche Anstellung gewesen, erst 1787 hatte man ihn zum „Kammerkomponisten“ Seiner Majestät mit einer Besoldung von 800 Gulden ernannt. Und der sorglose und gemüthsweiche Mann schlug ein mehr als fünffaches Gehalt aus, um in Wien zu bleiben und dort unter Josefs Nachfolger noch zwei Jahre lang sich mühselig durchzukämpfen. Wohl wurde er in Berlin auch pekuniär anständig honoriert, allein bei seiner großen Freigebigkeit und Herzensgüte blieb ihm von dieser Reise wie von früheren nicht viel Gewinn übrig.

Als er nach Wien zurückgekehrt war, erhielt er vom Kaiser Josef den Auftrag, eine neue Oper nach einem Texte von da Ponte zu schreiben, es war dies die komische Oper „Cosi fan tutte“. Trotz ihrer zahlreichen musikalischen Schönheiten konnte auch sie wegen des unsäglich schlechten Textes keinen dauernden Erfolg haben.

Das Grünhofsche Medaillon.[1]

Das letzte Jahr seines Lebens brachte indessen dem Künstler doch noch in Wien selbst auf dem Boden des Theaters einen großen, ja sensationellen Erfolg mit der „Zauberflöte“, welche am 30. September zur ersten Aufführung kam. Um dieses Werk nach seiner musikalisch-dramatischen Bedeutung richtig zu beurtheilen, muß man die Geschichte seiner Entstehung mit ins Auge fassen. Die „Zauberflöte“ war seit der „Entführung“ die zweite eigentlich deutsche Oper, denn für „Figaro“, „Don Juan“ und „Cosi fan tutte“ hatten italienische Texte die Unterlage geben müssen. Schon aus Anlaß der „Entführung“ hatte sich Mozart in einem Briefe an seinen Vater auf interessante Weise darüber ausgesprochen, wie er über den Werth von Operntexten denke. Es komme dabei keineswegs auf gute Verse und einen poetisch ausgearbeiteten Text an, sondern einzig auf einen geeigneten Plan, welcher dem Komponisten freies Spiel lasse, um auch aus der mittelmäßigsten Dichtung etwas zu machen. Was er hier gefordert hatte, das bot sich ihm bei der „Zauberflöte“ in bester Weise, obwohl er dem Textdichter Schikaneder weitgehende Zugeständnisse machte. Die Worte gingen nicht über platte Handwerkspoesie hinaus, aber der scenische Plan des Ganzen war ein solcher, daß er dem Komponisten ein ungemein günstiges und reiches Feld für die musikalische Behandlung ließ. Als Schikaneder, ein mittelmäßiger Komödiant, aber spekulativer Theaterdirektor, sich in großer Noth befand, begab er sich zu Mozart, um ihm den Vorschlag zu einer Oper zu machen, die ihnen beiden wohl aufhelfen könne. Er theilte ihm mit, wie bei dem Entwurf zu der Oper ganz der Geschmack des großen Haufens in Betracht gezogen werden müsse, denn nur so sei auf Erfolg zu hoffen; er setzte ihm seine Ideen im großen und ganzen auseinander und durch was für bunte Bilder und Späße man das Ding so recht zum Gaudium der großen Menge gestalten könne: zu den Priestern, dem liebenden Paare, zur Königin der Nacht mußte sich der Vogelmensch Papageno gesellen, ferner der Mohr, die Schlange, die Wanderung durch Wasser und Feuer, kurz der ganze Aufwand an abenteuerlichen Mitteln. Mozart war nicht der Mann, der jemand leicht etwas abschlagen konnte, besonders wenn der Jemand in Noth war; auch sagte ihm die märchenhafte Handlung, das Bunte und Phantastische, das zum musikalischen Ausdruck so recht geeignet war, entschieden zu; so nahm er den Vorschlag an. Da Schikaneder selbst in Verlegenheit war, so wollte Mozart in seiner Gutmüthigkeit [657] zunächst keine Forderung in Betreff eines Honorars stellen, und er erhielt auch vorläufig nichts.

Wie lange ihn die Arbeit an der „Zauberflöte“ in Anspruch nahm, können wir nicht mit Sicherheit nachrechnen. Jedenfalls hat er die Komposition während der Sommermonate des Jahres 1791 begonnen und vollendet. Im eigenhändigen Verzeichniß seiner sämmtlichen Werke aus dem Zeitraum von 1784 bis 1791 steht unter dem Juli 1791 verzeichnet: „Die Zauberflöte“, mit dem nachträglichen Vermerk: „Aufgeführt den 30. September“ Und später, unterm 28. September, heißt es: „Zur Oper ‚die Zauberflöte‘ einen Priestermarsch und die Ouvertüre,“ Dies war sonach der Abschluß des Werkes.[2] Die Hauptarbeit wird in die Monate Juni und Juli gefallen sein, denn im August, noch vor Vollendung der „Zauberflöte“, schrieb er die ganze Oper „Titus“, die ihm zur Krönungsfeier Kaiser Leopolds II. in Prag aufgetragen worden war. Die Anspannung seiner Kräfte, mit der er die beiden Tondichtungen so schnell zustande zu bringen hatte, muß – selbst wenn wir seine wunderbare Leichtigkeit des Schaffens in Anschlag bringen – eine große gewesen sein. An der „Zauberflöte“ arbeitele er wie an seinen früheren Opern, indem die Klavierproben einzelner Nummern gehalten wurden, noch ehe das Ganze fertig war, und auch vom Texte wurden verschiedene Stücke ihm erst nachträglich geliefert. Schikaneder, der hier fortwährend seinen Einfluß geltend machte, damit die Musik recht populär und leicht verständlich werde, hatte ihm zur Arbeit einen kleinen Gartenpavillon ganz nahe beim Theater eingeräumt, der später den Namen „Zauberflöten-Häuschen“ erhielt.[3] Mozarts Frau hielt sich in dieser Zeit krank in Baden bei Wien auf. Da hierdurch dem Komponisten die behagliche Häuslichkeit fehlte, so ist es begreiflich, daß sein Zusammenleben mit Schikaneder und dem Theaterpersonal ein ungebundeneres wurde, allein die Gerüchte und Klatschereien, die sich daran knüpfen, sind übertrieben. Daß es in dem Zauberflöten-Häuschen bei gemeinsamen Mahlzeiten lustig zuging, vollends da Schikaneder Mozart und sich selbst stets in angeregter Stimmung zu erhalten suchte, ist sehr wohl glaublich, allein völlig undenkbar ist, daß bei einer so wunderbaren Arbeit, die in so kurzer Zeit gefördert wurde, Mozart sich der Schwelgerei habe ergeben können.

Die Salzburger Erinnerungsstätten.

Schikaneder soll nach der Ueberlieferung dem Komponisten einzelne Melodien vorgepfiffen haben, damit dieser immer am gewünschten volksmäßigen Ton festhalte, und Mozart soll gefügig genug gewesen sein, um auch solche Anweisungen gelten zu lassen. Es ist auch dies sehr wohl möglich, aber wenn es jemals einen Menschen gab, der es verstand, aus Häckerling Gold zu machen, so war es Mozart. Was vom Hauche seines Genius berührt wurde, und mochte es das Gewöhnlichste sein, das wurde durch ihn geadelt.

Nachdem der Künstler aus Prag, wohin er sich zur Aufführung der Oper „Titus“ begeben hatte, zurückgekehrt war, legte er die letzte Hand an die „Zauberflöte“, sodaß sie am 30. September auf die Bühne gebracht werden konnte. Er war in dieser Zeit schon sehr angegriffen, und wohl deshalb überließ er die Hauptproben dem jungen Kapellmeister Henneberg, während er selbst die beiden ersten Aufführungen am Klavier leitete.

In dem vorhin erwähnten Verzeichniß seiner Kompositionen hat Mozart die „Zauberflöte“ als eine „teutsche Oper“ bezeichnet. Auf dem Theaterzettel jedoch hieß sie, wohl nach Schikaneders Bestimmung, „eine große Oper in zwei Akten von Emanuel Schikaneder.“ Erst nach der Aufzählung des gesammten Personals stand dann am Schluß des Zettels: „Die Musik ist von Herrn Wolfgang Amade Mozart, Kapellmeister und wirklichen k. k. Kammerkompositeur. Herr Mozart wird aus Hochachtung für ein gnädiges und verehrungswürdiges Publikum und aus Freundschaft für den Verfasser des Stückes das Orchester heute selbst dirigieren.“

Der Erfolg am ersten Abend entsprach zunächst den Erwartungen nicht. Vermuthlich hatte manches, so besonders die Priestergesellschaft mit ihren freimaurerischen Geheimnissen, zuerst etwas fremdartig berührt. Und obwohl sich im Verlaufe des Abends die Zuhörerschaft immer mehr erwärmte, so war doch Mozart anfangs über die Aufnahme sehr unglücklich. Das wurde indessen sehr bald anders, denn mit jeder neuen Aufführung steigerte sich der Beifall und der Besuch. Schon am 7. Oktober, also eine Woche nach der ersten Aufführung, konnte Mozart an seine Frau [658] nach Baden schreiben: „Eben komme ich von der Oper. Sie war aber so voll wie allzeit. Das Duetto ‚Mann und Weib‘ und das Glöckchenspiel im ersten Akte wurde wie gewöhnlich wiederholt, auch im 2. Akte das Knabenterzett – was mich aber am meisten freut, ist der stille Beifall! Man sieht recht, wie sehr und immer mehr diese Oper steigt.“ Im ersten Monat konnte die „Zauberflöte“ vierundzwanzigmal bei vollem Hause gegeben werden.

Was wäre nun heute, nach hundert Jahren, noch über dieses Werk zu sagen? Diese Musik hat ihre Jugendfrische, ihre Tiefe und Helligkeit bis heute so ungetrübt behalten, daß man trotz ihres Alters kein Verblassen der Farben entdecken kann. Die weihevolle Würde der Priestergesänge berührt uns noch immer wie die heitere Vornehmheit eines klassischen Tempelbaus, die Gesänge der drei Knaben leuchten wie wolkenloses Himmelsblau. Die einzigartige Gabe, kontrapunktliche Wunder zu schaffen, in denen wir über die Tiefen der musikalischen Technik mit leichter Anmuth und melodischem Reize hinweggeführt werden, bewährt Mozart auch hier aufs höchste. Keine Mühsal der Arbeit ist bei ihm zu erkennen, alles fließt dahin in lichter Klarheit und sonniger Schönheit der Formen. So verstand er es, dem Verlangen Schikaneders nach einer Musik für das große Publikum gerecht zu werden und dabei doch, sogar nach einem Jahrhundert noch, auch den Musikverständigen in Staunen und Entzücken zu versetzen. Wenn wir außerdem erwägen, daß das Werk entstand, als schon der Tod mahnend bei ihm anklopfte, daß zwei Monate später seiner Hand die Feder für immer entsank, so will es uns dünken, als ob in diesen ätherreinen Weisen der „Zauberflöte“ schon die Heiterkeit eines von allem Irdischen losgelösten Daseins wiederklinge.

Mozart nach dem Langeschen Bildniß.[4]

Die Freude über den andauernd glänzenden Erfolg seines Werkes wurde dem Künstler leider durch zweierlei Umstände aufs schmerzlichste getrübt, durch seine zunehmende körperliche Schwäche und im Zusammenhang damit durch die Sorge um eine Arbeit, welche ihm unter merkwürdigen Umständen aufgetragen worden war. Es war das Requiem, welches ein Unbekannter bei ihm bestellt hatte, noch ehe er mit der Musik zur „Zauberflöte“ zu Ende gekommen war. Da Mozart nicht wußte, für wen er das Werk zu komponieren habe, so plagte ihn der Gedanke daran unaufhörlich, ja bei seinem zunehmenden körperlichen Uebelbefinden wurde ihm das Requiem in trüben Stimmungen zu einem düstern Hinweis auf seinen Tod, und während im Theater die heitere „Zauberflöte“ das Haus allabendlich füllte, saß der Schöpfer dieser Melodien krank in seinem Zimmer und konnte den Gedanken nicht loswerden, daß man ihm Gift gegeben habe und daß er das Requiem für sich selbst schreibe. Erst spät, nach seinem Tode, kam es an den Tag, daß der Auftraggeber ein Graf Walsegg war; dieser hatte an den Komponisten einen Vermittler geschickt, der aber weder des Grafen Namen nennen, noch sich selbst zu erkennen geben durfte. Welche Grille den Grafen Walsegg dazu bewog, die Sache als Geheimniß zu behandeln, ist hier gleichgültig, doch scheint es fast, er habe die Absicht gehegt, das Requiem als sein eigenes Werk auszugeben, wenigstens für einige Zeit. Wie dem auch sein mag, für Mozart wurde die Sache fast zum Verhängniß. Sein Uebelbefinden und seine Schwäche steigerten sich, und da er eine bestimmte Summe für das Requiem im voraus erhalten hatte, so quälte er sich um so mehr mit der Sorge, daß der Tod ihn an der Vollendung hindern werde. Seine Frau mußte ihm daher auf Wunsch des Arztes die aufregende Arbeit wegnehmen, allein sobald er sich wieder etwas wohler fühlte, verlangte er sie mit aller Dringlichkeit zurück. Man weiß, daß er die Komposition wirklich nicht zum Schlusse bringen konnte, und über die viel umstrittene Frage, wie weit sich der Antheil seines Schülers Süßmayer an einigen Sätzen erstrecke, sind die Akten noch nicht geschlossen. Als Mozarts Requiem aber ist es der Nachwelt überliefert worden und wird noch kommenden Geschlechtern die Herzen erheben.

Die Geschichte von Mozarts Tod ist bei seinen Biographen, welche hierbei im wesentlichen auf Nissens Angaben fußen, ausführlich behandelt, und wir brauchen hier auf die Einzelheiten nicht einzugehen. In der zweiten Hälfte des November, es ist wahrscheinlich der 20. gewesen, war der Leidende noch ausgegangen, in ein Gasthaus der Kärntnerstraße, wo er etwas Wein trank, um sich jedoch bald wieder zu entfernen. Am andern Tage mußte er sich niederlegen: er sollte nicht wieder aufstehen. Die Berichte über die Art seiner Krankheit lauten verschieden. Ins Sterberegister wurde als Todesursache „hitziges Frieselfieber“ eingetragen, nach anderen starb er an der Brustwassersucht. Noch einen halben Tag vor seinem Hingang mußte man ihm die Partitur zum Requiem ans Bett bringen, er ließ einzelne Sätze daraus von seinen Freunden singen und übernahm dabei selbst die Altstimme. Bald danach erklärte er mit Bestimmtheit, daß er in der Nacht sterben werde. Er hatte wahr gesagt, am fünften Dezember um ein Uhr morgens ist er verschieden.

Daß die irdischen Reste des großen Mannes in ein Massengrab gesenkt wurden, weil ein eigenes Grab für ihn nicht bezahlt werden konnte, daß bei dem abscheulichen Wetter am Begräbnißtag, am 6. Dezember, die wenigen Freunde, die dem Toten das letzte Geleit gaben, unterwegs umkehrten und daß so kein liebender Blick mehr auf die Stätte fiel, wo der Sarg in die Erde gesenkt wurde, das ist schon in Nr. 23 dieses Jahrganges der „Gartenlaube“ erzählt worden. Ueber die kläglichen Umstände, in denen er seine Witwe und seine Kinder hinterlassen mußte, schweigen wir. Es fruchtet nichts, noch heute seine Mitwelt deshalb anzuklagen.

Bei Schnee und Regen ward der Meister einst in die Erde gesenkt, aber was er uns in seinen Schöpfungen hinterließ, ist ewiger heller Sonnenschein. Rudolph Genée.     

[659]

Die mohammedanischen Fakire und ihre „Wunder“.

Von Dr. A. Ullrich.

Bei dem lebhaften Interesse, welches für die Erscheinungen des Hypnotismus und ihre naturwissenschaftliche Erklärung gegenwärtig in allen Kreisen besteht, mußten auf der letzten Pariser Weltausstellung die grausigen Vorführungen der mohammedanischen Fakire um so sensationeller wirken, als gerade neuerdings die Wissenschaft diese Erscheinung mit den geheimnißvollen Gesetzen des Hypnotismus in Zusammenhang gebracht hat.

So klein und bescheiden das marokkanische Kaffeehaus war, das unter den echt orientalischen Bauten der höchst malerischen „Straße aus Kairo“ fast verschwand, so groß war doch die Anziehungskraft, die es auf Hunderte von Gelehrten aller Fakultäten und auf Tausende von Laien aller Berufsklassen übte. Sie alle wollten Zeugen sein der wunderbaren Macht des Menschengeistes über den Menschenleib, Zeugen der erstaunlichen Leistungen der Aïssawîjja oder Aïssaua, welche, thatsächlich und unbezweifelbar, wie sie sind, allen bekannten Naturgesetzen zu widersprechen scheinen.

Die Vorstellungen der Aïssaua fanden allabendlich um 9 Uhr in dem genannten marokkanischen Kaffeehaus statt, vor welchem tagsüber die Programmzettel an die Vorübergehenden vertheilt wurden. Der Inhalt eines solchen Programms war vielversprechend, aber gruselig zu lesen. Am Schlusse befand sich die tröstliche Bemerkung: „Um den Eindruck zu verwischen, welchen diese verschiedenen Vorführungen hinterlassen, wird der Abend durch ein Konzert beschlossen, an welchem die berühmten Almehen (Tänzerinnen) theilnehmen.“

Dieser Hinweis des Programms auf das Grausenhafte des von der Schaustellung zu erwartenden Eindrucks war eine Rücksicht auf das Publikum, welche Anerkennung verdient. Es lag darin ein gewisses Zugeständniß, daß öffentliche Vorführungen derartiger aufregender Abnormitäten ungehörig sind. Denn wenn auch die Fakire selbst mit ihren Uebungen zunächst nur religiösen Zwecken dienen wollten, wenn die Folterqualen, die sie sich dabei auferlegten, in ihrer Ekstase von ihnen auch nicht empfunden wurden, so wurde doch jene Schaustellung vom Unternehmer zum Zwecke der Sensation vor das Publikum gebracht, das jene Martern unwillkürlich als wirklich empfundene ansehen mußte. Vorführungen dieser Art gehören allein vor das Forum der Wissenschaft.[5]

Punkt 9 Uhr stieg ich hinauf in das erste Stockwerk, wo ich, dem Eintrittsgelde von 3 Franken angemessen, nur Leute aus den besseren Ständen aller Nationen antraf. Gleich an der Treppe links vom Eingang befand sich ein etwas über 2 Meter langes und ungefähr 11/2 Meter breites, mit einem verschossenen Teppich belegtes Podium, in dessen Hintergrunde vier Aïssaua mit untergeschlagenen Beinen Platz genommen hatten. Vor ihnen, dem Zuschauer zur Rechten, stand ein großer Stachelkaktus und ein Becken mit glühenden Kohlen, in welches von Zeit zu Zeit Räucherwerk hineingeworfen wurde; zur Linken bemerkte man eine eiserne Schaufel, ein Schwert, eine verdeckte Schachtel, in der sich Schlangen befanden, und einen kleineren mit Skorpionen gefüllten Behälter; in der Mitte lagen dünne Glasscherben, ein etwa handlanger, kleinfingerdicker, runder, spitzer Dolch mit ganz gewöhnlichem hölzernen, kugelartigen Griff und einige stählerne Nadeln von der Dicke und Länge der gebräuchlichen Stricknadeln. Ich nahm auf der ersten Bank unmittelbar vor dem Podium Platz, um alle Vorgänge genau beobachten und prüfen zu können. Die Aïssaua begannen unter Begleitung eines trommelartigen, mit Schellen besetzten Instrumentes ihren eintönigen Singsang, dessen einfache Textesworte die immer wiederkehrende Anrufung Allahs und des Ordensstifters Ben Aïssa bildete. Zunächst war das Tempo langsam, die Melodie dumpf und leise, dann wurde die Musik immer schneller, lauter und schreiender. Als der scheußliche Gesang nach einigen Minuten zu einem markerschütternden Gebrüll angewachsen war und damit seinen Höhepunkt erreicht hatte, sprang plötzlich einer der Aïssaua empor und vorwärts auf das Podium, wobei er unabsichtlich das Becken mit den glühenden Kohlen auf den Teppich umstieß, sodaß sich alsbald ein brandiger Geruch im ganzen Raum verbreitete. Er warf sein Oberkleid ab, stemmte beide Arme in die Hüften und begann den vorgeschriebenen religiösen Tanz, bei welchem er taktmäßig ein Bein um das andere erst langsam, dann immer rascher emporhob und den Oberkörper und Kopf vor- und rückwärts beugte oder vielmehr schleuderte, das Gesicht immer seinem ihm gegenüber sitzenden Scheich, den Rücken den Zuschauern zugewandt.

Die Verbeugungen und Schwankungen des Körpers werden unausgesetzt heftiger und tiefer. Da erschallt ganz plötzlich ein durchdringendes, fürchterliches Geheul. Der vom Schwindel ergriffene Aïssauî stürzt wie ein Thier nieder auf alle Vier, weißen Geifer vor dem Munde; mit seinen stieren Augen wie toll um sich blickend, dreht er den Kopf nach allen Seiten, als ob er etwas suche. Jetzt ist die Verzückung auf ihrem Gipfelpunkt angelangt, jetzt ist der Fanatisierte nach dem Glauben der Moslims vom Geist des heiligen Aïssa besessen und durch diese Einwohnung gefeit gegen Hieb und Stich, gegen Feuer und Gift. In diesem Zustande spielt er nun auf Geheiß des Scheichs die Rolle eines Straußes, Kameles, Löwen etc. und verrichtet alles, was ihm geboten wird. Auf einen Wink seines Vorgesetzten fährt er schnell mit der Hand in die Kohlenpfanne, nimmt einige brennende Kohlen heraus, steckt sie in den Mund, haucht sie so stark an, daß die Funken sprühen, kaut und verschluckt sie dann. Hierauf reißt er von dem stacheligen Kaktus ein Blatt weg, beißt ein Stück davon ab, zermalmt es mit den Zähnen und verschlingt es unter jämmerlichem Gestöhn. Der übrig gebliebene größere Theil wurde von dem französischen Impresario zum Zwecke genauer Prüfung herumgereicht. Das Blatt war ungemein zäh und die Stacheln so fest und scharf, daß man sich leicht die Haut damit ritzen konnte. Mit der gleichen Gier zerkaut er das ihm vom Scheich hingeworfene dünne Glas; man hört bei dem Zerkleinerungsprozeß ganz deutlich das Krachen und Knirschen, sieht aber nichts von irgend welcher Verwundung der Zunge und des Mundes; und doch ist es wirkliches, nicht etwa aus durchsichtigem Wachs nachgemachtes Glas, wie sich jeder durch den Augenschein überzeugen konnte, da die übrig gebliebenen Brocken ebenfalls bereitwilligst jedem in die Hand gegeben wurden.

Kaum hat er wieder unter Grunzen und Heulen alles hinuntergewürgt, als er auch schon zähnefletschend nach einer ihm hingehaltenen Schaufel schnappt, deren eiserner Theil bis zum Rothglühen erhitzt worden war. Um jeglichen Zweifel auszuschließen, nahm der die Schaufel hereinbringende Diener ein Stück Papier, legte es darauf, und sofort flammte dasselbe lichterloh; auch saß ich so nahe, daß ich die ausstrahlende Hitze ganz deutlich verspürte. Der Fakir nahm die Schaufel mit der rechten Hand beim hölzernen Stiel und schlug mit der linken ein paarmal auf die glühende Platte, dann leckte er dieselbe ganz behaglich an, als ob ihm dies das größte Vergnügen gewähre, und stellte sich schließlich mit beiden nackten Füßen darauf, bis das Eisen wieder ganz schwarz war, wobei sich ein unangenehmer Geruch wie von verbranntem Horn verbreitete. Jetzt wurde ihm ein haarscharf geschliffenes Schwert gegeben, dessen Schärfe man dadurch bewies, daß darüber hinweggezogenes Papier im Nu entzwei geschnitten wurde. Er stemmte es abwechselnd mit der Spitze und Schneide scheinbar mit aller Kraft gegen den Hals, gegen die nackte Brust und Seite, ohne sich im geringsten zu verletzen. Alsdann wurde das Schwert mit der Schneide nach oben, ungefähr 3 Fuß vom Boden, wagrecht emporgehalten, und zwar an der mit seidenen Tüchern umwickelten Spitze von dem Diener, am Knauf von einem andern Aïssauî. Indem sich nun der Fakir an den Schultern der beiden Männer festhielt, sprang er barfuß mit einem Satz auf die Schneide und richtete sich senkrecht auf. Alsdann entblößte er seinen Leib von den Kleidern und legte sich quer über die Schneide des Schwertes, so daß der Oberkörper nach vorn, der untere Theil des Körpers mit den Füßen nach hinten überhing, ohne daß jedoch die letzteren den Boden berührten, und dabei drückte ihn der Scheich mit seiner eigenen ganzen Körperlast noch

[660]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

Mit dem Strom.
Nach dem Gemälde von Ph. H. Calderon.

[661] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [662] kräftig gegen die Schneide. Das Schwert grub sich förmlich in den Bauch hinein, und doch war nach der Prozedur keine Spur von Verwundung zu sehen. Den oben beschriebenen Dolch erfaßte der Aïssauî am hölzernen Griff und stieß ihn vom Innern des Mundes aus durch die Wange, sodaß die Spitze einen Zoll lang daraus hervorragte; mit den Nadeln durchstach er sich die Ohrläppchen und die Haut an der Gurgel. Niemals jedoch floß ein Tropfen Blut, und als ich ihn später, d. h. gleich nach seinem Auftreten, gegen ein besonderes Trinkgeld genau untersuchte und betastete, konnte ich nicht die geringste Wunde oder die winzigste Narbe erspähen.

Endlich öffnete der Scheich auch noch die Schachtel, nahm eine Schlange heraus und reichte sie dem Aïssauî hin. Als dieser sie erblickte, geberdete er sich wie ein wildes Vieh, stieß rohe, gräßlich gellende Töne hervor, stierte wie ein Verrückter die Schlange an, packte sie, schlug und mißhandelte sie so lange, bis sie in die größte Wuth gerieth, bis ihre Aeuglein vor Zorn blitzten und ihr Doppelzünglein nach ihm hervorschnellte. Dann ließ er sich von ihr an den nackten Körperstellen des Gesichtes, des Halses und der Brust beißen. Er warf sie auf den Boden, fiel selbst nieder auf Hände und Füße, spielte mit ihr wie die Katze mit der Maus, schnappte nach ihr mit den Zähnen, faßte sie im Genick, schüttelte sie so wie es ein Hund mit einer Ratte thut, zerfleischte sie, biß ihr den Kopf ab und fraß sie unter beständigem Ausstoßen eines kläglichen Geheuls bei lebendigem Leibe zur Hälfte auf. Nach dieser letzten Leistung tanzte der Fakir wieder in der schon geschilderten Weise, wobei aber das Tempo immer langsamer wurde, bis er, nachdem er den gelben Turban des Scheichs mit seinen Lippen berührt hatte, wieder ganz zu sich kam und sich ruhig auf seinen Platz setzte.

Auf die Frage einer Dame, ob eine solche Schlangenmahlzeit wohlschmecke, sprang sogleich ein anderer Derwisch auf das Podium, wurde in wenigen Sekunden vom Taumel ergriffen und verzehrte noch einige Schlangen und Skorpione, die er zuvor ebenfalls in die äußerste Wuth gebracht hatte.

Den Schluß bildete das Auftreten des Scheichs selbst. Merkwürdigerweise bemerkte man an ihm keine Verzückung, wenigstens that sich dieselbe nicht auffällig und geräuschvoll kund. Er schien ganz bei gesundem Verstande zu sein. War er vielleicht schon soweit in seiner geheimnißvollen Kunst vorgedrungen, daß er zu seinen Schaustücken der Verzückung nicht mehr benöthigte? Kurz, er nahm aus dem Behälter einen Skorpion, legte ihn auf das Kalbfell der Trommel, reizte und drückte ihn mit seinen Fingern unbarmherzig, bis das Thierchen zornig seinen Stachel emporstreckte. Dann ließ er sich an Lippe, Nase und Zunge stechen und verspeiste ihn endlich ganz. Auch mit dem Dolche brachte er sich verschiedene scheinbare Verletzungen bei und führte denselben sogar schließlich in die Augenhöhle, aber ohne die geringste Spur von Aufregung oder Schmerz. Ganz ruhig und gelassen, als ob er gar keine besondere Leistung vollbracht habe, begab er sich wieder auf seinen Sitz.

Der grauenerregende, düstere Eindruck, den diese gräßlichen Vorstellungen auf mich gemacht hatten, war ein ganz gewaltiger und nachhaltiger, und das um so mehr, als ja Sinnestäuschung oder Betrug völlig ausgeschlossen war. Wohl waren die Vorführungen, als religiöse Uebungen betrachtet, so abschreckend und bestialisch, daß man sich von einem derartigen Gottesdienste als von einer rohen Verirrung des menschlichen Geistes mit Schauder abwenden muß, aber doch nöthigte die dabei bekundete Herrschaft über die bisher bekannten Lebensgesetze gleichzeitig dem Forscher eine mit Grausen gemischte geheime Bewunderung ab.

Wer sind nun aber jene Aïssawîjja oder Aïssaua, deren schauerliche Künste wir hier beschrieben haben? Es sind, kurz gesagt, eine Art „heulender Derwische“, Angehörige einer mohammedanischen religiösen Gesellschaft mit geheimer Organisation, die im Maghrib, d. h. im nordwestlichen Afrika, namentlich in Marokko und Algerien, weit verzweigt ist, in hohem Ansehen steht und einen großen, gefürchteten Einfluß ausübt. Die Zahl derartiger Brüderschaften beläuft sich in Algerien allein auf ein Dutzend, im ganzen Islam aber auf etwa hundert, von denen die bedeutendsten in Afrika die Marabuts, die Aïssawîjja, der Rufai- und der Snussiorden sind. Der Orden der Aïssaua hat nicht, wie man vielleicht meinen könnte, Aehnlichkeit mit unsern christlichen Mönchsorden. Seine Mitglieder leben nicht beisammen in Klöstern, sich nur religiöser Beschaulichkeit und Andachtsübungen hingebend, sondern sie gehören den verschiedensten Gesellschaftsklassen an, stehen mitten im bürgerlichen thätigen Leben als Kaufleute, Handwerker etc. und kommen für gewöhnlich nur einmal wöchentlich zur Hadra (d. i. Vereinigung der Brüder) in die Zauîa (d. i. die als Versammlungsort dienende Moschee), um dort durch Gebete und religiöse Ceremonien, durch Erfüllung des vorgeschriebenen Rituals oder durch Vorstellungen wie die beschriebenen das Andenken ihres Stifters zu feiern und zu ehren. Die Gründer der verschiedenen Sekten sind alle ohne Ausnahme hochangesehene, verehrte, ja vergötterte Heilige des Islam, von deren Leben und Wirken viele Wunderdinge berichtet werden.

Das hohe Interesse für diesen Gegenstand erfordert es wohl, etwas näher auf Entstehung, Einrichtung und Zweck dieser Brüderschaften, hauptsächlich aber der Aïssaua, einzugehen, wodurch zugleich auch ein gründliches Verständniß für die geschilderten Vorgänge angebahnt werden dürfte. Bei dieser Darstellung werde ich mich unter genügender Berücksichtigung der deutschen und englischen Autoren im wesentlichen an die neuesten Schriften der weitgereisten, zuverlässigen französischen Forscher und Gelehrten Henri Duveyrier, Louis Rinn und Nap. Ney halten.

Die Orden sind alle ausnahmslos wirkliche „geheime Gesellschaften“. Ursprünglich einen rein moralischen und religiösen Zweck verfolgend, haben manche in letzter Zeit infolge der Bedrängung des Islam von seiten der christlichen Völker auch die Politik in ihr Programm aufgenommen. Wie ein Netz umspannen sie die gesammte mohammedanische Welt und ihre Sendboten eilen mit geheimen Weisungen vom Sudan bis zum Kaukasus, vom Atlas bis zum Ganges.

Jeder Orden hat seine besonderen Aufnahmeförmlichkeiten, Grade, Paßworte und Erkennungszeichen. Wer in einen Orden aufgenommen werden – oder wie die Muselmänner sich ausdrücken: „die Rose nehmen oder empfangen“ – will, der hat zunächst eine mehr oder weniger lange Prüfungszeit zu bestehen, die bei manchen Gesellschaften „tausend und einen Tag“ dauert. Bei andern, wie z. B. bei den Kaderya, ist die Einführung leicht und die Prüfungen sind kurz. Hat der Aufzunehmende diese bestanden, so wird er als „Chuan“, d. i. Bruder, in die Geheimnisse des ersten „Grades“ eingeweiht und erhält das entsprechende „Paßwort“, den „Dzikr“, der gewöhnlich Anrufungen Gottes enthält und sich aus ganz bestimmten Versen des Korans zusammensetzt, die in einer gewissen Ordnung gegenseitig abgefragt werden. Außerdem erkennen sich die „Eingeweihten“ oder „Wissenden“ an ihrem ganzen Auftreten, an der Farbe der Kleider, an unmerklichen Zeichen am Gewande und an der Kopfbedeckung, und schließlich an einem ganz besonderen Handgriff, so daß Betrug von uneingeweihter Seite durchaus unmöglich ist.

Der „Dzikr“ des ersten Grades ist bei allen Orden sehr einfach; denn „es stehet geschrieben“ durch den Propheten: „Der Glaube ist um so reiner, je einfacher das Gebet ist.“ Und so lautet denn z. B. dieser Dzikr bei den Aïssaua fast nur: „Es giebt keinen Gott außer Gott, dem Mächtigen, dem Barmherzigen, dem Einzigen!“ Er muß täglich fünfmal viele tausendmal hintereinander hergesagt werden,[6] und zwar bei Sonnenaufgang, um neun Uhr morgens, um zwei Uhr und vier Uhr nachmittags und am Abend bei Sonnenuntergang. Diese fortwährende Wiederholung einer und derselben Anrufung muß nach Verlauf einer bestimmten Zeit nervöse Aufregung, geistige Abstumpfung, eine Art Hypnose oder besser eine religiöse Verzückung herbeiführen, in welchem Zustande das eigene Denken und Wollen verschwindet und der gläubige Jünger zu einem blinden Werkzeug in den Händen seines Oberen wird. Und das soll er auch sein, heißt es doch wörtlich in einem Ordensstatut: „Du sollst sein in den Händen Deines Scheichs wie der Leichnam in den Händen der Todtenwäscherin. Gott selbst ist es, der durch sein Wort befiehlt!“ Der Scheich ist der Ordensoberste oder Großmeister. Als solchen kennzeichnet ihn ein gelber Turban, wie ja das Sonnengelb überhaupt im ganzen Morgenlande die Farbe der Erleuchteten, der Weisen ist, daher auch die buddhistischen Priester [663] gelbe Gewänder tragen. Dem Scheich wird göttliche Unfehlbarkeit zugesprochen und unumschränkte Macht über seine untergebenen Brüder, die ihm sklavischen Gehorsam schulden. Allerdings wird er diese Gewalt kaum mißbrauchen, da er – nach dem Glauben der Moslims – eine so hohe Stufe der Vollendung erreicht hat, daß nur noch milde Frömmigkeit und wahre Menschenliebe sein Inneres beseelen.

Das Ziel eines jeden Bundes soll nämlich sein das Streben nach göttlicher Vollkommenheit. Die Heiligkeit ist eine „Leiter“, deren höchste Sprossen zu erklimmen jedoch nur wenigen vergönnt ist.

Jeder Orden ist gewöhnlich in sieben Grade eingetheilt. Jeder Grad kann – und dies ist namentlich bei den Aïssaua der Fall – nur erworben werden nach jahrelanger Nüchternheit, Enthaltsamkeit und strengster frommer Bußübung, die, mit körperlicher und seelischer Selbstpeinigung verbunden, eine Umstimmung des ganzen psychologischen Lebensprozesses herbeiführt, so daß alsdann auch die unglaublichsten Qualen dem gegen Leiden und Schmerzen gestählten Körper nichts anhaben können. Mit jedem neuen Grade empfängt der Gläubige einen anderen Namen. Erst mit dem dritten Grade heißt er Fakir (persisch Derwisch[7]), d. i. ein Armer, jedoch im mystischen Sinne dieses Wortes, in Anbetracht seines noch unzulänglichen Wissens und seiner noch geringen Macht über die geheimen Kräfte des Menschen und der Natur wie seines noch kurzen Fortschrittes auf der Bahn zur vollkommenen Glückseligkeit. Er entspricht demnach auf dieser Stufe dem brahmanischen Yogi und dem buddhistischen Bickschu. Das höchste Ziel – Versenkung und Aufgehen in Gott, also das Nirwâna der Hindu – wird nur von wenigen Auserwählten des siebenten Grades erreicht, den Tauhîdi, die somit den buddhistischen Arahats oder Mahatmas gleichstehen, denen alle Geheimnisse der Natur entschleiert sind und denen die Gabe verliehen ist, „Wunder zu verrichten“. Alle Brüder bilden zusammen die sogenannte „Kette“, hiermit an die hermetische[8] Kette der Neuplatoniker[9] erinnernd. Die Regeln und Lehren eines Ordens werden streng geheim gehalten und nur hin und wieder auf besondere Vergünstigung hin solchen Fremden und Profanen theilweise anvertraut, die „das Licht suchen“.

Jede Brüderschaft ist vom Ordensgeneral an bis herab zum niedrigsten dienenden Laienbruder streng gegliedert und schärfste Disciplin herrscht überall. Denn nur so kann das End- und Hauptziel erlangt werden: „das Wirken zur größeren Ehre Gottes und die Erhöhung und Ausbreitung des wahren Glaubens“ (d. i. des Islam).

Diesem Zwecke und dieser Lehre gemäß sind die meisten Orden von der gehässigsten Unduldsamkeit gegen Andersgläubige, namentlich gegen die „Christenhunde“ erfüllt. Und es ist noch nicht viele Jahre her, seitdem es den christlichen Reisenden gestattet ist, den Straßenaufzügen und den Versammlungen der Aïssaua anzuwohnen und ihre „heilige Stadt“ Kairuân zu betreten. Warum diese Erlaubniß jetzt ertheilt wird und wie es kommt, daß die Aïssaua, die sich doch ganz besonders durch ihre strenge Rechtgläubigkeit und durch unbiegsame Treue gegen ihre Grundsätze auszeichnen, sogar nach Europa gesandt werden, um den so sehr verabscheuten Christen ihre Wunderthaten zu zeigen, das muß allerdings berechtigte Verwunderung erregen – doch den eigentlichen Grund hierfür kennt wohl der Ordensgeneral allein.

Der Orden der Aïssaua wurde zu Anfang des 16. Jahrhunderts gegründet. Sein Stifter stammte aus königlichem Geschlechte und wurde in der marokkanischen Stadt Mekinez geboren. Nachdem er auf einer Pilgerfahrt nach Mekka in die Geheimnisse der arabischen und ägyptischen Sekten eingeweiht worden war, kehrte er als „Wissender“ in seine Heimath zurück, wo er durch die weisen Lehren, die er predigte, durch das sittenreine Leben, das er führte, und durch die erstaunlichen Wunder, die er that, bald einen zahlreichen Kreis begeisterter Jünger um sich versammelte. Als einer der größten Heiligen des Islam wird er verehrt unter dem Namen Sidi Mohammed ben Aïssa. Aïssa oder ’Yssa (= Jesus oder Jeschuah) ist ein bei den Arabern sehr beliebter Name, nach welchem sich seine Anhänger „Aïssawîjja oder Aïssaua“ nennen.

In Europa traten die Aïssaua zum ersten Male während der Pariser Weltausstellung im Jahre 1867 auf und erregten damals schon ungemeines Aufsehen. Ob sie auch auf der zweiten Pariser Weltausstellung im Jahre 1878 waren, weiß ich nicht; ich wenigstens habe sie damals nicht bemerkt. Wie ganz natürlich, wurden ihre Leistungen vor 20 Jahren als reiner Schwindel, als Taschenspielerei hingestellt, was ja auch heutigen Tages noch von zweifelsüchtigen oder besser gesagt unwissenden Leuten geschieht.

Damals war eine solche Anschauung allerdings wohl zu entschuldigen, denn man kannte ja die verwandten Erscheinungen des Hypnotismus noch nicht genügend, um diese allenfalls zur Erklärung herbeiziehen zu können. Anders verhält sich die Sache gegenwärtig. Nicht länger mehr läßt sich die Echtheit der wunderbaren Vorstellungen mohammedanischer Fakire und indischer Yogins ableugnen. Ihre Thatsächlichkeit ist durch massenhafte, unanfechtbare Zeugnisse unumstößlich festgestellt. Auch die moderne Naturwissenschaft hat sich der merkwürdigen Erscheinungen bemächtigt, sie theilweise schon gründlich untersucht und – soweit es bis jetzt möglich ist – erklärt, oder doch hingewiesen auf den Weg der Erklärung, der schließlich zum Ziele führen muß.

Die Echtheit und Wahrheit der geschilderten Schaustellungen wird erwiesen und bekräftigt: 1) durch das Fehlschlagen mancher Experimente, 2) durch die massenhaft angehäuften, unantastbaren Zeugnisse anderer Leute, bedeutender Reisenden und Gelehrten, welche dieselben Leistungen unter anderen Verhältnissen und an andern Orten gesehen haben, 3) durch ähnliche, von der Wissenschaft angestellte Versuche, welche den oben beschriebenen Experimenten der Aïssaua als Erklärung dienen können.

Anknüpfend an die Bemerkung auf dem Programmzettel, daß mit den Vorstellungen keine Gefahr für die ausführenden Aïssaua verbunden sei, fragte ich den französischen Impresario, ob es niemals vorkomme, daß sich ein Aïssauî verletze. Er antwortete, daß dies bisweilen geschehe, und daß man derartige Leute mit oft tiefen Wunden hin und wieder in Algerien antreffe. Das seien dann solche Ordensbrüder, die – nach der Meinung der Muselmänner – noch nicht „heilig“ genug seien, denn den sittlich völlig reinen Derwischen könne kein Unfall irgendwelcher Art zustoßen. Dieses manchmal eintretende Mißlingen der Vorführungen beweist schlagend, daß das Gelingen nicht gänzlich vom Willen des Ausführenden abhängt, daß die Experimente keine Taschenspielereien sind, denn kein Taschenspieler wird so thöricht sein, sich vorsätzlich und absichtlich vielleicht für sein ganzes Leben durch tiefe, schmerzhafte Verwundungen zu schaden.

Der vertrauenswürdigen Gewährsmänner für die Thatsächlichkeit dieser Vorführungen aber sind es so viele und so gute – wir nennen hier außer den oben erwähnten deutschen und französischen Forschern nur die Deutschen Schweiger-Lerchenfeld, von Maltzan, Graf von Schack, Friedrich von Hellwald, W. Preyer, Eduard Glaser, die Engländer Browne, Lane, Richardson, den Italiener de Amicis, die Franzosen Narcisse Cotte und Benjamin Constant – daß auch der hartgesottenste Zweifler sich überzeugen lassen müßte.

Uebrigens sind jene Erscheinungen ja nichts weniger als neu. Wir finden sie von den ältesten Zeiten an bei allen Völkern und in allen Religionen, so z. B. bei den heidnischen Schamanen in Sibirien, bei den buddhistischen Mönchen in Tibet, bei den brahmanischen Yogins in Indien und schließlich auch bei christlichen Sekten.

Da muß – um nur einen einzigen Fall zu erwähnen – vor allem auf die ungemeines Aufsehen erregenden, eigenthümlichen Vorgänge hingewiesen werden, die im vorigen Jahrhundert (1730 bis 1762) am Grabe des Abbé Paris, des Stifters der jansenistischen Sekte der „Konvulsionäre“, in der Stadt Paris selbst stattfanden, die, so unglaublich und außerordentlich sie auch sind, nicht einmal von den Jesuiten, den heftigsten Gegnern der Jansenisten, geleugnet werden konnten, und die selbst der zweifelsüchtige englische Philosoph Hume und der noch skeptischere französische Schriftsteller Diderot als auf Wahrheit beruhend anerkennen mußten.

Die furchtbarsten Mißhandlungen ihres Körpers dienten [664] diesen Fanatikern als heißbegehrte Heilmittel. So lesen wir bei du Prel („Der Salamander“): „Eine Bedrückung der Brust erheischt, daß man mit äußerster Kraft darauf schlage; excessive Kälte oder verzehrende Hitze, die plötzlich den Konvulsionär ergreifen, mahnen ihn, daß es nöthig ist, ihn mitten in Flammen zu stellen; ein lebhafter Schmerz, wie wenn eine Eisenspitze Fleischtheile durchdringt, erfordert einen Degenstich genau am schmerzhaften Orte, wäre es selbst am Halse, im Munde oder in den Augen, wovon zahlreiche Beispiele gesehen wurden; wie heftig aber auch der Stoß des Degens sein mag, so kann doch die schärfste Spitze das zarteste Fleisch nicht durchdringen, selbst nicht die Augen der Konvulsionäre … Die tödlichsten Schläge und Dinge von der schädlichsten Beschaffenheit verwandeln sich in wohlthuende Heilmittel … Die Konvulsionäre stellen sich mitten in die Flammen, legen sich – in einzelnen Fällen sogar stundenlang – in das Feuer, gehen auf glühenden Kohlen und essen dieselben, ohne sich zu verletzen, ohne daß ihre Haare oder Kleider auch nur versengt werden.“

Wer die einschlägigen Werke über Völkerkunde kennt, der weiß, daß darin wahrheitsgetreue Berichte über ähnliche Erscheinungen namentlich bei den noch ganz ungebildeten, rohen Volksstämmen in Menge anzutreffen sind, so daß Adolf Bastian, einer der bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiete, mit Recht sagen kann: „Gerade bei den Naturvölkern finden wir die meisten der Erscheinungen, welche wir bei uns nur künstlich und nicht ohne Gefahr für die Versuchsperson erzeugen können, als etwas mehr oder weniger Normales vor.“ – Angesichts eines so umfangreichen und gewichtigen Beweismaterials, welches sogar die Vertreter der Naturwissenschaft liefern, muß jeglicher Zweifel verstummen, muß die Auffassung der Sache als Betrug für unhaltbar erklärt, müssen die Leistungen der Aïssaua und andere derartige wunderbare Vorgänge als unanfechtbar und echt anerkannt werden.

Wie aber soll man nun eigentlich all das geheimnißvoll Unerklärliche erklären? Die gläubigen Anhänger der verschiedenen Religionsgemeinschaften sind um eine sie vollständig befriedigende Auskunft durchaus nicht verlegen. Die Mohammedaner glauben fest, daß all die Wunderdinge der Aïssaua durch deren Stifter, den „heiligen“ Aïssa, bewirkt werden; die Buddhisten lehren, niedere, erdgebundene Geister, die weder gut noch böse sind, verrichten dies alles. Selbstverständlich genügen solche Erklärungen dem auf der Bildungshöhe seiner Zeit stehenden, aufgeklärten Weltbürger nicht. Er verlangt eine strenge naturwissenschaftliche Deutung. Und diese kann ihm in der That dargeboten werden.

Einige Gelehrte wie z. B. Braid, Charcot, Richet, Lombroso, Mendel sehen in den wundersamen, außersinnlichen Erscheinungen bei den arabischen und indischen Fakiren und in ähnlichen sonderbaren Zuständen weiter nichts als ekstatische Hypnose.

Nun ist allerdings Schmerzlosigkeit in der Hypnose ganz unbestreitbar festgestellt worden. Nadelstiche in Wange, Daumenballen, Arm und andere Körpertheile werden nicht gefühlt. Schmerzlos werden Zähne ausgezogen und die Mandeln herausgeschnitten. Auch schon größere Operationen wurden manche von französischen und englischen Aerzten an Hypnotisierten vorgenommen, ohne daß die Kranken den geringsten Schmerz empfanden, so von Récamier, Esdaile, Braid. Doch Schmerzlosigkeit allein genügt nicht zur Erklärung aller geschilderten Vorgänge.

Die Aïssaua waren wie der gehörnte Siegfried unverwundbar; wenigstens sah man nach den augenscheinlich tiefen Verwundungen keine Spur von einer Narbe, auch floß kein Tropfen Blut. Nun besuchte ich eine Vorstellung des Hypnotiseurs Donato in Paris und beobachtete das folgende Experiment.

Donato ließ sich von einer Dame eine ziemlich dicke stählerne Hutnadel geben, bohrte dieselbe durch die Muskeln des unteren Armes eines Hypnotisierten, zog sie dann wieder heraus, machte einige Striche mit der Hand über die verwundete Stelle – und weder Blut noch Wunde oder Narbe war zu bemerken. Dr. Moll („Der Hypnotismus“ S. 82) schreibt: „Dalboeuf erzeugte symmetrische Brandwunden und machte die eine Wunde durch Suggestion (d. h. durch eine Eingebung, durch einen Befehl an den Hypnotisierten) schmerzlos. Hierbei wurde beobachtet, daß die analgetische (schmerzlose) Wunde viel größere Tendenz zur Heilung und insbesondere keine Tendenz zeigte zu einer entzündlichen Ausbreitung in die Umgebung.“

Diese Proben scheinen geeignet zu sein, die Unverwundbarkeit und Feuerfestigkeit der Aïssaua zu erklären. Denn wenn schon in der einfachen Hypnose kleinere Wunden sich sofort schließen, ohne Narben zu hinterlassen, wenn Brandwunden schmerzlos gemacht werden können und dann verhältnißmäßig schnell heilen, warum sollte es nicht möglich sein, daß in jener religiösen Verzückung, die wir einstweilen als hochgradige Hypnose betrachten wollen, größere Verletzungen durch Dolche und Schwerter schmerzlos bleiben und narbenlos verschwinden, und daß Brandwunden, die durch Belecken und Anfassen eines glühend gemachten Eisens etwa entstehen, sofort geheilt werden? Der Unterschied ist ja nur ein gradweiser, aber kein wesentlicher. Aehnlich verhält es sich mit dem Verschlingen von schädlichen Substanzen wie von Glas, Steinen, Nägeln, Skorpionen und Schlangen ohne nachtheilige Folgen für den Körper. Hypnotisierte trinken auf die betreffende Suggestion hin Tinte für Wein, essen Zwiebeln für Birnen, riechen Ammoniak für kölnisches Wasser, genießen Wasser anstatt Branntwein, worauf sie berauscht werden, und umgekehrt ist es vorgekommen, daß sich nach dem Genuß berauschender Getränke die Wirkung des Alkohols nicht gezeigt hat, wenn man ihnen vorspiegelte, daß sie Wasser trinken.

Noch andere Illusionen, d. h. Einbildungen, daß ein Ding etwas anderes sei als das, was es wirklich ist, können erzeugt werden. Der Däne Hansen machte seine Hypnotisierten z. B. glauben, daß sie ein Kind im Arme wiegen, und es war ein Kopfkissen; der Amerikaner Dods verwandelte ihnen einen Rohrstock in eine Schlange, ein Taschentuch in einen Vogel, ein Kind in ein Kaninchen; der Franzose Richet ließ seine Versuchspersonen sich als Greis, Kind, Pfarrer, Neger, als Katze, Hund, Frosch fühlen, worauf sie ganz das Benehmen dieser Personen oder Thiere annahmen, und als letztere sprangen sie über Tisch und Stühle, heulten, bellten oder quakten. Moll sagt: „Gerade bei den Persönlichkeitsänderungen resp. der Verwandlung der Hypnotischen in Thiere werden wir lebhaft an das Mittelalter erinnert, wo einzelne Menschen sich in Thiere verwandelt glaubten; am häufigsten war die angebliche Verwandlung in den Wolf.[10] Solche Menschen fielen andere an, zerfleischten, verzehrten sie und zeigten überhaupt thierische Rohheit und thierische Triebe.“

Wenn dies alles möglich ist, so ist es ebenso gut möglich, ja höchst wahrscheinlich, daß ein Aïssauî infolge der dahinzielenden Eingebung des Scheichs, der sein Hypnotiseur ist, sich für einen Strauß, einen Löwen oder ein Kamel hält und dann die verschiedensten schädlichen Stoffe ohne jeglichen Nachtheil hinunterwürgt, da er das letztere vielleicht unter der vorher gegebenen Suggestion thut, daß der Kaktus ein Stück Brot, die Schlange ein wohlschmeckender gebratener Aal sei.

So wären denn die seltsamen, grausigen Vorgänge bei den A[ï]ssaua ihres unbegreiflichen, wunderbaren Charakters entkleidet – und auf ganz natürliche Weise erklärt durch den Hypnotismus; nur bedarf eben dieser als eine neue, bisher wenig gekannte Erscheinung für die Wissenschaft selbst noch einer befriedigenden Erklärung. Jedoch muß man sich wohl hüten, die religiöse Verzückung einzig und allein als Hypnose anzusehen. Preyer hat ganz recht, wenn er sagt: „Diese wenig bekannten Zustände sind den hypnotischen zum Theil verwandt, aber ätiologisch (d. h. ihrer Entstehungsursache nach) jedenfalls von ihnen gänzlich verschieden und sehr untersuchungswerth.“ Gewiß ist jener Zustand, wie wir ihn unstreitig bei den Aïssaua vorfinden, noch etwas anderes als bloßer Hypnotismus und auch durch wesentlich andere Mittel bedingt, denn er tritt erst nach jahrelanger strengster Bußübung ein. Aber eben so gewiß ist, daß die moderne Wissenschaft sich auf dem richtigen Wege zur Erklärung dieser bisher so verborgenen Dinge befindet, und daß sie schließlich den Nebelschleier von den geheimnißvollen Wundern im Menschen und in der Natur unbarmherzig hinwegziehen und uns das sonnige Land zeigen wird, wo in sieghaftem Glanze die Wahrheit wohnt. [665]

DENKSPRÜCHE.

 Geldes Werth.
Der erst erkennt recht Geldes Werth,
Der, – fehlt’s ihm. – es zu borgen begehrt.


 Worauf es ankommt.
Am rechten Platz der rechte Mann,
Darauf vor allem kommt es an.


 Vergebliches Thun.
Verhaßt ist manchem der Hahn.
Der kündet des Morgens Nah’n;
Doch, ob er den Hahn auch tödte,
Nicht hemmt er die Morgenröthe.


0Erbschaft von den Vätern her.
Wo Freundschaft hegen
Die Väter,
Genießen den Segen
Noch später
Die Kinder.
0 Nicht minder,
Wo Haß und Feindschaft pflegen
Die Väter,
Da haben später
Unter der Väter Verschulden
Noch die Kinder zu dulden.


 Sprechen und Radebrechen.
Wer eine Sprache nicht kann sprechen,
Mag immerhin sie radebrechen.
Nur glaub’ er nicht und prahl’ er nicht,
Daß er die Sprache wirklich spricht!


 Indischer Spruch.
Wenn du Gutes thust dem Bösen,
Glaub’ nicht, daß dir Gutes draus entsprieße.
Gift’ge Frucht bringt stets der Giftbaum,
Ob man ihn mit Honig auch begieße.

 D. Sanders.




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Das Los des Schönen.

Erzählung aus dem achtzehnten Jahrhundert. Von Stefanie Keyser.0 Mit Abbildungen von René Reinicke.

(3. Fortsetzung.)

Auf dem Rondell herrschte Festfreude. Da war niemand verwundert, daß Amtmanns Töchter plötzlich sich in den Armen lagen und lachten und weinten zu gleicher Zeit; auch nicht, daß die beiden jungen Paare in der an diesem gesegneten Tage so viel besuchten Geisblattlaube verschwanden, während das würdige Elternpaar mit andern Wohlgeborenen eine Menuett zu Vieren tanzte, die für künstlicher aber weniger aufregend galt als die zu Zweien. Es erschien ebenso allen natürlich, daß der junge Fremde so fröhlich sich an den roh gezimmerten Tisch der Honoratioren zwischen die beiden vornehmsten Mädchen setzte: es standen so gute Dinge darauf. Hatte doch die Frau Pastorin einen Konsistorialvogel gespendet, einen Truthahn, mit dem sie sonst nur bei der Kirchenvisitation aufwartete. –

Zum Abschied drückten sich alle Gäste des Rondellfestes die Hände, warum nicht auch der junge Offizier und die liebliche Lida, wenn es auch ein wenig lange dauerte? Der Splitterrichter gab es damals nicht viel, jeder gönnte dem andern sein Pläsier. Und daß die jungen Mädchen dann eiligst in ihre Kammer hinauf huschten, fiel weder den Eltern noch der müden Magd auf – es schlug ja schon die Mitternachtsstunde.

Lida hatte zwar gezögert, ihr war zu Muthe, als müsse sie vor den Eltern niederknieen und sie um Verzeihung bitten, daß sie selbständig über ihr Schicksal entschieden hatte, als müsse sie um ihren Segen flehen für den geschlossenen Bund. Aber Lotte zog sie mit fort. „Der Vater will schlafen gehen, er sieht sich schon nach der Zipfelmütze um; da kommst Du ihm sehr in die Quere. Und der Mutter ist auch Ruhe zu gönnen, sie hat viel mit dem Doktor tanzen müssen, und was macht der für Sprünge! Morgen wird schon alles zum Klappen kommen. Sieh, drüben in Ehrhardts Stube ist noch helles Licht, dort sitzt Dein Heinrich vor meines Inspektors neuem Schreibpult und verfaßt den Brief, in welchem er um Dich anhält. Er muß ja mit dem Morgengrauen wieder fort, der arme Mensch, hat nicht länger Urlaub erhalten und sie haben ihm eine so elende Mähre aus den Trainpferden ausgelesen. Na, wenn Ihr erst da drüben wohnt, holen wir Euch alle Sonntage in unserer Chaise ab.“ Damit fuhr sie in ihr Bett und schlief bald den Schlaf der Gerechten.

Lida aber blickte hinüber nach dem Gutshofe, bis das Licht, das ihr leuchtete, endlich erlosch. –

Als das erste Frühroth leuchtete, sah ein Paar anderer Augen dem Abreitenden ernst und bedenklich nach. In dem Tumult des Festes war Ehrhardt, angefeuert von einem guten „Bischof“, den sein Schwiegervater in der großen Terrine von Meißner Porzellan zum Besten gab, von dem fröhlichen Wesen seiner Braut fortgerissen worden und nicht recht zur Besinnung gekommen. Und als er dann allein dem jungen Offizier gegenüber saß und dieser sein ganzes Herz ihm aufschloß, das liebevolle, anschlußbedürftige, das immer einsam und verlassen gewesen war – da hatte er den Muth nicht finden können, zur Bedachtsamkeit zu mahnen. Es war ihm unmöglich, mit sorgenvollen Worten den Jubel zu verkümmern, den dieses junge Gemüth zum ersten Mal empfand über die Geliebte, die Braut, wie sie dem Jüngling in seinen Träumen vorgeschwebt hatte, über eine traute Häuslichkeit, die der Mann erhoffte. So erwiderte er die innige Bitte des jungen Schwagers, ihm ein Freund zu sein, nur mit festem biederem Händedruck.

Aber jetzt, wo der nüchterne Werkeltag heraufgraute, wo die frische Morgenluft ihn anblies, vergingen die leuchtenden Bilder des Himmelfahrtsfestes – wie Seifenblasen, dachte er unbehaglich; und die trennenden Klüfte, über welche die jungen Herzen Brücken, schimmernd gleich Regenbogen, geschlagen hatten, gähnten tief und kalt ihn an.

Und auch in der Familienstube des Amtshauses sah es am andern Morgen bedenklich aus, als auf den Frühstückstisch das feierlich große Schreiben niedergelegt wurde, das Heinrich vor seiner Abreise dem Inspektor zur Besorgung übergeben hatte. Nachdem es der Amtmann unter dem athemlosen Schweigen seiner Familie gelesen und alle von dem Inhalt benachrichtigt hatte, trat eine Stille ein, die den beiden Mädchen das Herz zuschnürte. Nur die Dose knarrte leise, als der Amtmann eine Prise nahm.

„Verzeihen Sie,“ flüsterte Lida bittend, „vergeben Sie mir; ich konnte nicht anders.“

„Ich bin auch verlobt gewesen und habe nichts gesagt,“ rief Lotte, um den Zorn auf sich abzulenken.

„Davon ist nicht die Rede,“ entgegnete der Vater, das Schreiben zusammenfaltend. „Verlöbnisse werden gemeiniglich zwischen den zwei betreffenden Personen abgeschlossen, ohne Zuziehung der natürlichen Vormünder.“

Die Mutter trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn. „Das habe ich nicht gedacht. Meine Tochter einen Offizier heirathen! In diese Armuth hinein! Wenn ich denke, wie die alte Hauptmännin drüben in der Festung sich ihr Mäßchen Bier unter der alten zerschlissenen seidenen Saloppe selbst heimträgt, und mir sagen muß: so geht Deine Lida auch einmal herum!“

Lida sah sie mit den großen dunklen Augen an; trotz des Schmerzes, den sie über den Kummer der Mutter empfand, lag ein Lächeln auf ihren Lippen: ach, welches Glück, für ihn sorgen zu dürfen! Seligkeit wäre es, keine Erniedrigung! Lotte kam ihr zu Hilfe. „Du brauchst Dir das Bier nicht zu holen. Ich lege ein Fäßchen von unserem Haustrunk in Euren Keller.“

„Es ist nicht von Bier und alten Saloppen die Rede,“ lenkte der Amtmann die Verhandlung wieder auf den richtigen Weg, „sondern von einem Heirathsantrag, den Lieutenant von Altendorn unserer Lida macht. Er setzt mit anerkennenswerther Offenheit seine Verhältnisse auseinander. Die Dürftigkeit derselben wollen wir für jetzt dahingestellt sein lassen. Auch daß er, wie ich trotz seines Schweigens über diesen Punkt genau weiß, aus der Leibgarde ausscheiden muß, weil er dort nie ein [666] bürgerliches Mädchen heirathen darf, auch das will ich nicht weiter in die Wagschale legen, obgleich dieser Umstand schon einen Stein des Anstoßes abgiebt für eine respektable Familie, wie wir sind. Für uns muß maßgebend sein, daß die Sache noch nicht spruchreif ist. Er will sich versetzen lassen, doch er ist noch nicht versetzt; er will um Erlaubniß bitten, heirathen zu dürfen, aber er hat sie noch nicht. Bevor seine Angelegenheiten so geordnet sind, wie er beabsichtigt, kann er billigerweise kein bindendes Wort von uns verlangen. Mit diesem Bescheid mußt Du Dich vertrösten, Lida, ich werde ihm denselben eröffnen. – Und nun, mein Schatz, schenke mir den Kaffee ein; ich habe ein schwieriges Urtheil[WS 1] zu fällen, ein Grenzstein soll auf dem Rain verrückt worden sein, und die Männer, welche als kleine Jungen bei dem Setzen desselben Ohrfeigen bekommen haben, damit sich die Stätte ihrem Gedächtniß einpräge, werden eidlich vernommen.“

Nach beendetem Frühstück begab sich jedes an sein Geschäft. Lotte ging in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Da knarrte die Thür hinter ihr, und Lida schlich herein, eine große Schürze vorgebunden. „Schicke die Magd in den Garten! Die Mutter will die Bohnenbeete gejätet haben. Ich will Dir helfen.“

Lotte stand wie versteinert. „Du wolltest ja Rosenblätter in Deinen ‚Potpourri‘ sammeln?“

„Das kann ich am Nachmittag thun,“ sagte Lida und sah die Schwester schüchtern an. „Ich möchte gern ordentlich kochen lernen. Aber nicht den Lammsbraten; den trägt’s für uns einmal nicht. Rüben sind wohl billig? Ich will sie putzen. Ist das zu viel Butter zum Schmoren?“ Sie maß das Stückchen bedenklich mit den Augen.

„Du armes Mäuschen,“ jammerte Lotte, „Du hungerst wohl gar auf Vorrath? Ich schicke Dir schon einen Lammsbraten und auch eine Büchse mit Butter.“

„Ach, das einfache Essen schmeckt ganz gut,“ lachte Lida; Du sollst sehen, welch schöne Bettelmannssuppen ich aus Wasser, Brot und Milch kochen lerne. Die Bauern essen sie auch und sind stark dabei.“

„Nein, Du schlägst Eier hinein,“ befahl Lotte nachdrücklich. „Ich schicke sie Dir durch die Botenfrau.“

So bereitete die eine sich freudig auf die Armuth vor, und die andere gab ebenso freudig alles weg, was sie hatte.

„Wie schnell die Jugend ihre Sorgen in den Wind schlägt!“ seufzte die Mutter schweren Herzens, als sie mit dem Schlüsselbund auf ihrem täglichen Rundgang vom Keller nach dem Boden hinaufstieg. Ist das nicht in der Küche ein Gezwitscher, als sei ein Nest lustiger Finken ausgeflogen?“

Allein das fröhliche Gezwitscher hielt nicht lange an. Am Abend hallte ein tiefer Seufzer durch die jetzt einsame Küche. Er kam von Lottens Mund, der des Seufzens gar nicht gewohnt war. Sie kauerte vor dem Herde und brachte das große Feuerzeug in Ordnung. Die Magd war wieder einmal nicht vorsorglich gewesen, sie war mit dem Vesperbrot zu den Arbeitern auf den Krautacker gelaufen und würde nachher eine Stunde mit Stahl und Stein kippen müssen, wenn die Abendsuppe gekocht werden sollte. Es war ja kein Zunder mehr da, und Lotte beschäftigte sich damit, neuen zu brennen.

„Ein elendes Geschäft!“ murmelte sie. Kaum züngelt das Flämmchen auf aus dem alten Linnengespinnst, so wird der Blechdeckel darauf gedrückt, daß es nur ein wenig schwelen darf und ausgehen muß. Gerade wie im Leben!“

„Das will ich mir doch verbeten haben!“ Ehrhardt, der durch die Thürspalte gelugt hatte, trat lachend herein. „Was philosophierst Du da für dummes Zeug zusammen?“

„Wäre es doch dummes Zeug!“ seufzte sie weiter und drückte abermals ein lustiges Flämmchen aus. Aber denke Dir, wie der Vater den armen Altendorn beschieden hat. In einem ganz steifen Brief sagt er ihm, es scheine allerdings, als habe Lida den Herrn in Affektion genommen. Da indessen der Herr noch nicht recht adjustiert sei, so erachte er es für geboten, daß jetzt nichts festgestellt werde, sondern erst des Herrn Lieutenants Angelegenheiten geordnet werden müssen, bevor der Vater sich zu expektorieren habe. Nun denk’ einmal, wenn Dir gesagt worden wäre: ‚Die Lotte hat den Herrn Inspektor in Affektion genommen.‘“

Ehrhardt zog nachdenklich die Stirne kraus. „Ich würde die Rede, in unser ehrliches Deutsch übersetzt, so verstanden haben: die Lotte ist in den Inspektor bis über beide Ohren verliebt.“

„Ehrhardt!“ fuhr sie auf. Er sah sie übermüthig an. „Hoffentlich will die Demoiselle nicht widersprechen.“

Sie hatte sich schon besonnen, senkte den Kopf und seufzte: „Ach, Ehrhardtchen!“

Er musterte sie prüfend: so nachgiebig und „Ehrhardtchen“! Da wollte sie etwas. „Nun heraus mit der Sprache! Wo soll ‚Ehrhardtchen‘ helfen?“

Jetzt war die Schleuse aufgezogen. „Ach, wenn Du das thun würdest! Sieh, der Vater will den Brief mit der Postkutsche schicken, die einmal dazu verordnet sei. Nun kommt die aber erst übermorgen hier durch, und der Schaffner ist immer betrunken, und die alte Karre fällt aus einem Loch ins andere. Wie leicht kann der Brief da mit in einem Loche stecken bleiben – was eigentlich nicht schade wäre,“ sezte sie mit echt weiblicher Logik hinzu. „Nein, lache nicht! Denke Dir nur, wie lange der arme Mensch auf Antwort warten soll, wenn er sie überhaupt jemals bekommt. Und kein tröstendes Wörtchen von Lida! Das ist zu arg! Komm’ mir nicht mit einer Vernunftpredigt, die habe ich Dir auch nicht gehalten, sondern ich bin ans Quittenspalier gelaufen, bis die Vorbehalte des Vaters und die Aengstlichkeiten der Mutter überwunden waren.“

Er blickte sie an. Ein Sonnenstrahl fiel durch das tiefe vergitterte Küchenfenster gerade auf den zu ihm emporgerichteten Mädchenkopf, daß das blonde Haar unter dem Puder förmlich glitzerte. Die Vernunft verzog sich. Er schlang seinen Arm um sie und sagte: „Nun weiter!“

„Wie war denn das mit den Wollpreisen?“ fragte sie listig. „Hattest Du nicht Lust, einmal drüben in der Residenz Erkundigungen einzuziehen? Wenn Du nun bald dazu thätest und das furchtbare Schreiben mitnähmest, dann könntest Du auch ein Briefchen von Lida als Trost beigeben. Nein, schüttle nicht den Kopf! Das Quittenspalier mit seinen Geheimnissen kann auch nicht vor dem Katechismus bestehen, und der liebe Gott hat dennoch seinen Segen dazu gegeben.“ Sie streichelte ihm die gebräunte Wange. „Du mit Deinem verständigen Blick könntest Dir die Verhältnisse auch einmal in der Nähe ansehen. Man bekäme doch eine richtige Einsicht.“

„Schmeichelkätzchen!“ drohte er, aber er ließ sich streicheln und schmeicheln und gab endlich ganz weich den Bescheid: „So melde dem Herrn Papa, daß ich morgen in die Residenz reise und seine Antwort mitnehmen will!“

„Ehrhardtchen!“ Sie flog ihm um den Hals.

Derweilen war der Zunderkasten ausgebrannt. „Das ist recht,“ rief sie lustig. Es hat doch einmal sich ausflackern dürfen. Drücke die Flämmchen aus, wer will, ich nicht!“




Am nächsten Tage ritt Ehrhardt nach der Residenz des Nachbarlandes ab, begleitet von einem Knecht; er ein Felleisen mit Wollenproben, der Knecht einen Hafersack hinter sich auf den breiten Rücken der starken Eisenschimmel.

[667] Bei dem Inspektor der großen Domäne an der Grenze hielt er Nachtrast und besprach mit ihm die Angelegenheit des Wollhandels. Der aber schüttelte den Kopf, meinte, die da drüben seien nicht geeignet zu Geschäftsverbindungen, wußte viel zu erzählen von unsinniger Verschwendung des Hofes, die den Seckel geleert habe, von Bedrückung des Volkes, von Spionage und Willkür, die dort Hand in Hand gingen. Das waren keine guten Nachrichten. Doch Ehrhardt mußte zugestehen, daß Lotte recht gehabt habe, wenn sie rieth, man solle sich die Verhältnisse einmal mit eigenen Augen ansehen.

Nachdenklich ritt er am andern Morgen von dem Schlagbaum des Herzogthums zu dem Grenzpfahl hinüber, der die Farben des Vaterländchens trug, dem sein vermuthlicher Schwager angehörte. Sofort erkannte er, daß die Aecker in der Bearbeitung sehr zurück waren. Aber eine Frage an einen Bauern, der mit seinem elenden Kuhgespann des Weges zog, wurde nur mit einem mißtrauischen Blick beantwortet. Der nächste sagte finster: „Die Frohnden!“

Bei guter Zeit langte er in der von dem Freund empfohlenen Ausspanne an, die vor den Mauern der Residenz für seinen Zweck bequem gelegen war, da er dort, wenn er nicht Nachtherberge nehmen wollte, von Paßscherereien verschont blieb.

Als er seine Pferde versorgt hatte, ging er durch das mit Wachen stark besetzte Thor in die Residenz hinein. Die große Hauptstraße führte in mannigfachen Windungen nach dem weiten Schloßplatz. Es fiel ihm auf, daß die Leute so gedrückt aussahen, daß sie ihn scheu anblickten, als er ein neuerbautes Palais bewunderte. Marmorstufen führten zu der Eingangspforte, über der ein zierlich geschweifter Balkon schwebte; Amoretten mit Bogen und Pfeil und lodernden Fackeln schmückten, in Stuck ausgeführt, die Fassade.

„Wem gehört dieses Schlößchen?“ fragte er einen Arbeiter, der die Straße vor dem kleinen Prachtbau aus einer großen Gießkanne sprengte.

„Das ist Monbijou,“ antwortete der Mann, „und gehört der Gräfin Wildern.“

Ehrhardt schnalzte mit den Fingern. Landbekannt war der Ruf der Gräfin Wildern, die mit dem verstorbenen Prinzen Klothar auf sehr innigem Fuße gestanden hatte und trotz der durch den Tod ihres Verehrers gelockerten Fühlung noch immer für allmächtig bei Hofe galt. Er wandte sich zum Gehen.

Da blieben plötzlich die Leute mit abgezogenen Kappen und Hüten stehen. Ein glänzender Aufzug nahte vom Schloßplatz her. Zwei riesige Lakaien trugen eine ganz vergoldete Porte–chaise. Hinter den Scheiben zeigte sich ein wundervolles Frauenbild. Aus dem tiefen Ausschnitt eines mit Spitzengekräusel überrieselten aurorafarbenen Seidenkleides hob sich die üppige Büste; eine Schnur von Perlen schmückte den schlanken Hals. Eine Agraffe von großen Brillanten im Haar verursachte zusammen mit dem Ohrgehänge ein solches Gefunkel, daß man geblendet fast das schön geformte Gesicht übersah. Nur die kleine schwarze Fliege, das Schönheitspflästerchen, fiel ins Auge; sie war dicht an die vollen Lippen gesetzt, als nasche sie von dem erdbeerrothen Mund.

Ehrhardt erwachte aus seinem Staunen, als ein zur Begleitung nebenherschreitender Lakai ihm den Hut vom Kopfe schlug.

Er wollte auffahren, dem Kerl nach. Aber der Arbeiter hielt ihn am Rock fest und warnte in einem Ton, der die Berechtigung des Bedienten anerkannte: „Es ist ja die Gräfin Wildern,“ Ehe Ehrhardt antworten konnte, ließen sich von der andern Seite Trommelwirbel hören, glänzende Uniformen blitzten auf: die Wachtparade der Leibgarde marschierte nach dem Schloßplatz.

Der Inspektor unterdrückte seine Empörung und ging hinter der Porte-chaise her, dem militärischen Aufzug entgegen. Vielleicht war das Glück ihm hold, und er begegnete Altendorn, konnte ihm einen Wink geben, daß er nach der Parade ihn sprechen wolle.

Wahrhaftig, der junge Offizier, der die Soldaten führte, war der Gesuchte. Indeß, welch sonderbaren Ausdruck trug das sonst so sanfte Gesicht! Täuschte er sich, oder verschärften sich wirklich die Züge, je näher er kam, bis zur schroffsten steinernen Unnahbarkeit? Und welches Leben erhob sich in dem vergoldeten Gehäuse! Ein Hin- und Herbiegen, daß der leicht umhüllende Flor wie ein Nebelwölkchen von den Schultern sank, ein Fächerwedeln, als sei der goldene Schrein ein feuriger Ofen.

Jetzt schritt der junge Lieutenant an der Porte-chaise vorüber. Er grüßte mit der Grazie, die jede seiner Bewegungen auszeichnete, aber seine Augen waren niedergeschlagen, so daß nur der Schatten der dunklen Wimpern auf den Wangen zu schauen war. Mit verzehrender Glut hingen die Blicke des schönen Weibes an der Jünglingsgestalt.

Was war das? Und warum lachte der zweite Offizier so eigenthümlich und häßlich vor sich hin?

Ehrhardt konnte nicht weiter darüber grübeln.

Altendorn schritt eben an ihm vorbei. Jetzt erblickte er ihn, und plötzlich war der finstere Ausdruck verschwunden; eine helle Röthe flog über sein Gesicht, voll gespannter Erwartung heftete sich sein Blick auf den Freund.

Und als Ehrhardt beruhigend ihm zuwinkte, ach, wie dankbar schauten da die eben noch so strengen Augen darein!

„In einer Stunde bin ich zu Haus,“ rief Altendorn dem Inspektor halblaut zu.

Lotte hatte doch recht! Mochten die Verhältnisse so verzwickt sein, wie sie wollten, den armen Menschen durfte man nicht auf die Folter spannen. In diesem Gedanken fragte Ehrhardt einen der Umstehenden nach der Wohnung des Lieutenants und suchte dann nach einer Stunde, die ihm überlang vorkam, das ihm bezeichnete Haus auf. Es war ein ärmliches Stübchen, in welches er gewiesen wurde. In der Thür kam ihm Altendorn schon entgegen.

Ehrhardt drückte ihm herzlich die Hand und übergab ihm zuerst des Amtmanns Schreiben. Der Offizier wechselte beim Lesen die Farbe, allein er sagte gefaßt: „Ich durfte keine andere Antwort erwarten.“

Trotz aller früheren Bedenken war der Inspektor jetzt herzlich froh, daß er ihm als Balsam das Briefchen von Lida geben konnte. Altendorn wandte sich ab und trat damit zum Fenster. Natürlich, er küßte den kleinen Ring, den Ehrhardt durch das Papier hindurch gefühlt hatte!

Inzwischen warf der junge Landwirth einen prüfenden Blick auf das Stübchen. Ringsum kahle Wände, auf dem Tisch, noch in Papier gewickelt, ein kleiner Imbiß, den der glänzende Offizier sich wohl selbst mitgebracht hatte.

„Und ich habe Lida nichts zu geben,“ vollendete Altendorns Stimme traurig das Zeugniß von Armuth. das seine Umgebung ausstellte, während sein Blick an dem schlichten Reif haftete, den er an den kleinen Finger gesteckt hatte. Ehrhardt wollte schon ein tröstendes Wort sagen, als plötzlich ein blitzender Strahl von der Fensterbank her ihm ins Auge fiel. Er kam von einem funkelnden Schmuckstück, das dort lag im grellsten Gegensatz zu der ärmlichen Umgebung.

Altendorn war dem Blick Ehrhardts gefolgt; eine dunkle Röthe schoß in sein Gesicht. „Um Gotteswillenl“ rief er. „Nicht einmal in Gedanken darf dieser Schmuck mit Lida in Verbindung gebracht werden. Er muß auch sofort wieder aus dem Haus. Ich habe nur noch keinen Boten gefunden.“

(Schluß folgt.)
[668]

Blätter und Blüthen.

Die Grundsteinlegung zum Denkmal für Hoffmann von Fallersleben auf Helgoland. (Mit Abbildung S. 653.) Als im vorigen Jahr der Aufruf erging, dem Dichter des Liedes „Deutschland, Deutschland über alles“ ein Denkmal zu setzen auf der neu erworbenen Insel Helgoland, wo einst am 26. August 1841 das Gedicht entstanden war, da fand dieser Gedanke die bereitwilligste Unterstützung, vor allem auch durch die „Gartenlaube“, welche jenen Aufruf zuerst veröffentlichte und die Freude hatte, die Beiträge zu ihrer Sammlung in reichem Maße fließen zu sehen. So wurde es möglich, am 26. August dieses Jahres, am fünfzigjährigen Geburtstag des schlichten und gerade deshalb so volksthümlich gewordenen Nationalliedes, den Grundstein zu dem Denkmal zu legen, das von dem bekannten Berliner Bildhauer Schaper ausgeführt wird. Wie von Anfang an, so war es auch hier wieder Emil Rittershaus, der Schöpfer so mancher treuherziger, warmempfundener Gedichte, welcher mit seinen poetischen Worten zum Gelingen der Sache beitrug. Da der starke Wind es verhinderte, die ganze Feier am Denkmalsplatze selbst – auf dem „Unterlande“ neben der Landungsbrücke – abzuhalten, so fand die Einleitung zur Grundsteinlegung in dem laubgeschmückten geschützten Vorplatz vor dem Konversationshause statt. Dort nun hielt Rittershaus zum Beginn eine schwungvolle Ansprache in Versen, die nach einem Rückblick auf die vergangenen fünfzig Jahre deutschen Lebens und deutscher Geschichte, nach einer Mahnung zum unverbrüchlichen Festhalten an der errungenen Einheit unseres Volkes, mit den Worten schloß:

„Gott weiß, was uns die Zukunft bringt! –
Ertöne hellen Schalles,
Du Lied, das jedes Herz durchdringt,
Du ‚Deutschland über alles!‘“

Als dann dieses Lied in mächtigen Tönen erklungen war, brachte Regierungsrath Fischer aus Gera dem Ausschuß zur Errichtung des Denkmals, besonders dessen Vorstand, dem Herzog von Ratibor, den Dank für seine Mühe dar; seine Rede endigte mit einem Hoch auf das deutsche Vaterland. Gotthold Kreyenberg entbot einen dichterischen „Gruß Westfalens“,[11] das einst in Korvey dem ruhelos umherwandernden Dichter eine Heimstätte hätte bieten dürfen. Darauf begab man sich an den Strand hinunter, zur Grundsteinlegung selbst. Unsere Abbildung, welche nach Photographien von G. Friederichs in Helgoland gezeichnet ist, hält den Augenblick fest, wie Rittershaus mit fröhlichem Taufspruch für das werdende Werk eine Flasche Rheinwein auf dem Grundstein zerschlägt, denn, sprach er:

„Zwischen Frankreich und dem Böhmerwald,
Da wachsen Unsre Reben!
Grüß’ mein Lieb am grünen Rhein,
Grüß’ mir meinen kühlen Wein!
Nur in Deutschland, nur in Deutschland,
Da will ich ewig leben!“ -
Der Dichter, der sich mit seinem Sang
Die Heimath in allen Herzen errang,
Deß Lied der Deutschen jeder kennt,
Wird ihm errichtet ein Monument,
Da thun’s nicht Hammerschläge allein –
Ich taufe den Grundstein mit deutschem Wein!“ - -

Wenn der nächste Sommer wiederkehrt und neue Gäste nach Helgoland führt, dann wird das Denkmal wohl vollendet sein, dann wird das Bild des für sein Volk begeisterten Dichters auf die deutsche Nordsee schauen von jener Insel aus, auf der jetzt auch die deutsche Flagge weht. L.





Eine neue Straßenreklame
Nach einer Zeichnung A. Greiner.

Eine „dickhäutige“ Reklame. Es giebt nichts Neues unter der Sonne; vor Jahrtausenden haben die Griechen bei der Belagerung Trojas ihre Helden in den hohlen Bauch eines hölzernen Pferdes gesetzt, um so den Sieg über ihre Feinde herbeizuführen, heute setzt man im erfinderischen Paris einen wohlverborgenen Mann in das Innere eines fahrbaren Elefanten, der durch seinen Rüssel mit Federkraft getriebene Ankündigungszettel nach allen Seiten verstreut, um durch diese geheimnißvolle Dickhäuterei alle andern Mitbewerber auf dem Gebiet der Reklame zu besiegen und zu vernichten. Es ist nur schade, daß unsere gegenwärtige Thierwelt nicht noch größere Kolosse aufzuweisen hat als den Elefanten. Wenn das Mammuth sich nicht bloß eines vorsintfluthlichen Daseins zu erfreuen gehabt hätte, sondern noch lebend in Urwäldern und zoologischen Gärten anzutreffen wäre – welch schöne Aufgabe wäre es da, den Reklame-Elefanten durch ein Reklame-Mammuth zu übertrumpfen! Doch vielleicht erbarmt sich irgend ein würdiger Nachfolger Barnums dieses Mangels und stellt aus dem fossilen Skelett eines Mammuths das Urbild wieder her, zum Besten der Schlachten im Dienst der Großmacht „Reklame“. Und wenn auch dieses Ziel erreicht wäre, dann könnte man von den Vierfüßlern zu den Fischen übergehen und der Nase des Walfisches statt einer Wassersäule einen Strom von Anzeigen entsteigen lassen. „Dickhäutig“ blieben diese neuen Arten von Reklame ja immer noch.




Das Bildniß des Goldschmieds Morett. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die Augsburger Malerfamilie Holbein hat die deutsche Kunst mit Meisterwerken der verschiedensten Art bereichert, vor allem Hans Holbein der Jüngere, der im Jahre 1497 zu Augsburg geboren wurde, aber in wechselndem Aufenthalt seine künstlerische Thätigkeit in Basel und England entfaltete. Neben seinen Madonnenbildern haben hauptsächlich seine Porträts den Ruhm des Künstlers für seine Zeitgenossen wie für die Bewunderung späterer Jahrhunderte begründet. Diese Porträts zeichnen sich aus durch Naturwahrheit, durch schlichte, edle Auffassung wie durch eine vollendete Behandlung. Als das am besten gelungene wird von vielen das Bildniß des Goldschmieds Hubert Morett bezeichnet, das sich in der Dresdener Galerie befindet und in unserer Kunstbeilage nach dem Original wiedergegeben ist. In der That zeigt das Porträt mit den energischen Zügen, den festblickenden Augen und dem entschlossenen Mund eine Kraft und Lebenswahrheit, die im Verein mit der sorgfältigen feinen Behandlung aller Einzelheiten Holbeins Kunst aufs glänzendste beweist.




manicula Hierzu Kunstbeilage XI: Das Bildniß des Goldschmieds Morett. Von Hans Holbein dem Jüngeren.



Inhalt: Ein Götzenbild. Roman von Marie Bernhard (3. Fortsetzung). S. 649. – Herbst. S. 649. – Die Grundsteinlegung zum Denkmal von Hoffmanns von Fallersleben auf Helgoland. Bild. S. 653. – Zum Gedächtnis Mozarts. Von Rudolph Genèe. S. 655. Mit Abbildungen S. 655, 656, 657 und 658. – Die mohammedanischen Fakire und ihre „Wunder“. Von Dr. A. Ullrich. S. 659. – Mit dem Strom. Bild. S. 660 und 661. – Denksprüche. Von D. Sanders. S. 665. – Das Los des Schönen. Erzählung aus dem achtzehnten Jahrhundert. Von Stefanie Kayser (3. Fortsetzung). S. 665. Mit Abbildungen 666 und 667. – Blätter und Blüthen: Die Grundsteinlegung zum Denkmal Hoffmanns von Fallersleben auf Helgoland. S. 668 (Zu dem Bilde S. 653.) – Eine „dickhäutige“ Reklame. Mit Abbildung. S. 668. – Das Bildniß des Goldschmieds Morett. S. 668. (Zu unserer Kunstbeilage.)



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Dieses Bild, weitaus das beste unter allen vorhandenen, ist nach einem kleinen kostbaren Medaillon-Relief gefertigt, welches Mozart im Jahre 1788 seiner Frau Constanze schenkte, die es als Gürtelschmuck trug. Das überaus zarte Relief, aus einer Komposition von Wachs und Gips, hat eine dunkle Stahleinfassung. Es kam von Mozarts Witwe in den Besitz ihres ältesten Sohnes Karl Mozart, welcher als Beamter in Mailand lebte und daselbst 1859 verstorben ist. Aus seiner Hand erhielt es 1857 Frau v. Grünhof, welche als ehemals ausgezeichnete Sängerin mit ihren Eltern in Mailand lebte und dem Sohne Mozarts viel aus den Opern seines Vaters vorgesungen hatte, wofür ihr dieser durch jenes kostbare Geschenk dankte. Er fügte eine schriftliche Versicherung bei, daß dieses Porträt „unter allen ohne Ausnahme der vielen und verschiedenartigen Abbildungen seines Vaters als die vollkommen ähnlichste von seinen sämmtlichen Angehörigen und Bekannten sowohl, als auch von ihm selbst anerkannt war.“
  2. Die vollständige Partitur der „Zauberflöte“, von Mozarts eigener Hand geschrieben, befindet sich in der Musikabtheilung der Berliner königlichen Bibliothek. Es ist ein makellos erhaltener Band von 224 Blättern in Querfolio.
  3. Das hölzerne Häuschen wurde in neuerer Zeit von der Stadt Salzburg erworben, dorthin verbracht und auf dem Kapuzinerberg aufgestellt.
  4. Das Porträt ist in Mozarts letztem Lebensjahr von seinem Schwager, dem Hofschauspieler Lange, gemalt worden, aber unvollendet geblieben, wie das Original im Salzburger Mozartmuseum zeigt und auch auf unserer Darstellung zu erkennen ist. Es ist nur eine dilettantische Arbeit, da jedoch auf den Kopf ersichtliche Sorgfalt verwendet wurde, so läßt sich annehmen, daß es in den Hauptformen des Kopfes getreu ist wenn auch der Gesichtsausdruck etwas Fremdes hat.
  5. Wir erinnern hier an den Standpunkt, den die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1887, Nr. 36, in dieser Frage eingenommen hat. Die Red.
  6. Jeder gute Muselmann besitzt seinen Rosenkranz, von dem er sich niemals trennt und dessen Kügelchen – 33, 66 oder 99 an Zahl – er beim Beten und Anrufen seiner Heiligen durch die Finger gleiten läßt.
  7. Persisch Der = Thor, Thür, wisch = Bettler; also Derwisch = einer, der an den Thüren bettelt.
  8. Kurz und annähernd durch „Kette der Weisen“ zu übersetzen.
  9. Die letzte griechische Philosophenschule, deren letzte Anhänger im 3. Jahrhundert n. Chr. lebten.
  10. Daher der uralte Volksglaube an den Wärwolf, d. i. einen Menschen, der nachts in Wolfsgestalt umherirrt.
  11. Die Gedichte von Rittershaus und Kreyenberg sind mit der Rede des Regierungsrathes Fischer in einem Heftchen vereinigt und zum Besten des Denkmals herausgegeben worden. Möge diese Festgabe offene Thüren finden!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Urthel