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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 9.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


Der Pascha nickte, und wie er die Flaschen betrachtete, welche so unscheinbar aussahen, da schmolz alle Härte auf seinem Gesicht; alles, was ihn im Augenblicke bekümmerte, verblaßte, und seine Züge verklärte ein Zug rührender Begeisterung. „Probire sie, Heinrich!“ sprach er; „wenn wir Zwei uns nicht betrogen haben, dann schlummern Wunder in diesen Gefäßen; ich wüßte nicht, was ich dem Recept noch zufügen sollte. Die Welt wird uns segnen. Das große Geheimniß des beschleunigten Stoffwechsels, der Massenausscheidung durch die momentan verzehnfachte Nerventhätigkeit, das wird die Unterschrift unter eine neue Zeitstufe unserer Therapie sein, und alle die kleinen Mittel, die mineralischen Bindemittelchen für den gefährlichen desorganisirten Stoff und die unzulänglichen Narkotica werden belächelt werden und in die Rumpelkammer wandern. Ich habe jeden Bestandtheil, der in diesen Flaschen enthalten ist, an meinem Leibe probirt, und ich schwöre auf die Wirkung.“

„Ich beneide Dich um Vieles, Karl, aber um diese Idee am meisten,“ sagte der Doctor aufrichtig. „Laß die Flaschen hier! Die Zeit wird nichts davon verderben; ich werde die Probe machen, sobald ich zurückgekehrt sein werde.“ Er schloß die Flaschen in einen Kommodenkasten, zog einen leichten Sommerrock an und griff zum Hute.

Auf der Straße draußen trennten sich die Beiden.

Die Luft war noch immer stechend heiß, und das Sonnenlicht färbte, wo es hintraf, tief gelb. Ueber dem Pflaster schwirrten hier und da kleine Staubwirbel empor wie neckische Kobolde, und einmal schlug ein nicht gehörig befestigter Fensterladen mit Heftigkeit so dicht vor Karl Hornemann zu, daß dieser aus seinen Gedanken aufschrak und zum Himmel aufsah, wo die weißlichen Wolkenballen eines Gewitters eben über die Dächer heraufschwebten.

Er verließe das Trottoir und ging auf dem Fahrwege weiter, indem er seine Schritte beschleunigte. „Ich fürchte, ich fürchte!“ murmelte er. „Wenn mir diese Erfahrung erspart bliebe, wenn ich mich doch täuschte, ich wollte die Vorsehung preisen.“

Und das Herz Karl Hornemann's, welches so weich und voller Liebe war, that ihm weh, wenn er an die Schwester dachte, die seine innigste Vertraute war, der er keinen Gedanken oder Plan verhehlte, welcher ihn beschäftigte, und auf die jetzt der Schatten seiner trüben Vermuthungen fiel. War es möglich, daß sie doch hinter seinem Rücken ein heimliches Spiel spielen konnte, daß sie im Stande war, ihn zu verlassen um Urban's willen? „Freilich, sie ist heißblütig und willenskräftig,“ so antwortete er sich selber; „Liebe ohne Glück – wer sie kennt, der weiß, wie schwer ihr zu entsagen ist.“ Und der wunderliche Kauz seufzte und blinzelte mit den Augen, in welche der böse Wind den Staub trieb. „Ich hoffe, daß ich nicht zu spät komme; ich will sie doch schützen vor sich selber, wenn ich es vermag.“

Er ging über den alten Markt, auf dem ein paar Obsthändlerinnen mit flatternden Kleidern in der Eile ihre Früchte zusammenräumten, und weiter den Canal hinunter. Das Wasser drunten flimmerte, denn der Wind staute die Wellen zurück, und es sah dunkel aus von den Wolken, die über ihm zogen. Die Straßen verfinsterten sich rasch; die Sturmgeister wühlten in den Gewittermassen und schleuderten Fetzen davon zur Seite. Endlich war er beim Hause der Mutter angelangt, welche er im Laden stehend fand. „Es ist gut, daß Du kommst, Karl,“ sagte sie; „ich bin allein zu Hause, und es muß doch Jemand hinauf gehen und nach den Fenstern sehen. Emilie ist ausgegangen.“

„Lassen Sie die Fenster, Mutter, und sagen Sie mir, wohin sie gegangen ist!“ antwortete Karl Hornemann und sah so verstört aus, daß es die alte Frau bemerken mußte.

„Was ist Dir, daß Du so hastig fragst? Sie wollte nur zu Anna in den Wiedenhof hinüber springen.“

„Bleiben Sie noch einen Augenblick!“ meinte der Pascha. „Ich muß jedenfalls wissen, ob sie drüben ist.“ Und fort war er. Er kam über den Steg hinüber in das Hôtel und stieß im Hausflure auf den Wirth. „Ist Emilie hier, Vater Schoner?“ fragte er. „Sie soll zu Ihrer Anna gegangen sein.“

„Ich weiß es nicht, Karl; Sie müssen hinauf gehen und die Weibsleute fragen.“

Karl Hornemann eilte die Treppe hinauf; er nahm immer zwei Stufen auf einmal, und der Wirth blickte ihm erstaunt nach. Ein paar Minuten später kam er wieder herunter, noch eilfertiger als vorher.

„Haben Sie die Mädchen gefunden?“ fragte der alte Schoner.

„Gleich!“ erwiderte der Pascha und rannte, ohne ihn anzusehen, vorüber. Ueber den Steg mußte er langsam gehen, und man sah ihm die Ungeduld dabei an. Dicke Tropfen standen auf seiner Stirn, als er auf's Neue vor seine Mutter trat, und doch zauderte er das zu sagen, was er zu sagen gekommen, und stand da, an den Lippen nagend und mit unruhigen Augen. „Mutter,“ [142] sprach er endlich entschlossen, „wir müssen gehen Emilie suchen; noch ist es nicht zu spät. Ich fürchte, sie ist im Begriffe einen dummen Streich zu machen. Eben komme ich von Urban, und ich kann mich dem Verdachte nicht verschließen, daß die Beiden vor der Ausführung eines Fluchtplanes stehen.“

„Karl, Du irrst; Du mußt Dich irren,“ stammelte die alte Frau und sank schreckensblaß auf einen Stuhl. „Das kann Emilie nicht thun.“

„Täuschen Sie sich nicht, Mutter! Sie hat einen so unbeugsamen Willen wie – Sie, und sie verfügt außerdem über den Trotz der Jugend. Wie ich sie kenne, setzt sie durch, was sie sich vorgenommen. Wie dem aber auch sei, wir wollen thun, was wir können, um sie zurückzuhalten, wenn ich wirklich Recht habe. Sie ist bis vor einer Viertelstunde im Wiedenhofe gewesen, jetzt ist sie verschwunden sammt der Anna. Ich hätte es gern allein auf mich genommen, aber – Mutter – ich kann keinen Zwang auf sie ausüben; sie hat Gewalt über mich, und ich bin schwach, wenn ich sie sehe. Ich will sie in Ihre Hand geben.“

Frau Hornemann nahm seine beiden Hände und drückte sie krampfhaft. „Sie dürfen nicht fliehen – hörst Du, Karl?“ sagte sie mit bebenden Lippen. „Ihr wißt Alle nicht, wieviel mir daran liegt. Ich muß sie wenigstens erst sprechen. Wenn Du weißt, wo sie sich aufhält, dann flehe ich Dich an, mein Sohn, führe mich zu ihr!“

Der Pascha fuhr sich über die Augen. „Ich habe einen Gedanken. Finden wir sie indessen da nicht, wo ich sie vermuthe, dann beginnen die Schwierigkeiten. Einer von uns müßte zum Bahnhof gehen, der Andere die Landstraße zum Rhein hinunter und aufsuchen und abwarten, ob ein Wagen sie etwa bringt. Wenn mich das Loos trifft, ihr allein zu begegnen, Mutter, dann will ich um Ihretwillen versuchen, ob ich ihrem Zauber trotzen kann. Ich denke wohl, daß sie sich im Rottmann’schen Hause über dem Wiedenhofe drüben befindet. – Man kann auf einem heimlichen Wege von diesem aus zu den alten Rottmanns hinüber gelangen,“ fügte er zögernd hinzu. „Gehen Sie über die Kaiserbrücke und nehmen Sie einen Schirm mit! Leicht könnte Sie der Regen überraschen.“

Er half der alten Frau einen Mantel umthun, den sie mit fiebernder Hast aus der Stube geholt, worauf sie, undeutliche Worte murmelnd, ihre Tuchmütze aufsetzte und plötzlich, den Schirm in der Hand, an ihm vorübereilte. Er selber verließ unmittelbar nach ihr das Haus und befand sich bald wieder im Hôtel, treppauf laufend und ein paar Corridors durchmessend bis in einen düstern Eckverschlag hinein, in welchem Holz und Torf aufgeschichtet lagen. Hier nahm er einen Schlüssel aus der Tasche, und – seltsam – in diesem düstern Winkel barg sich irgendwo ein klägliches Nichts von einer Thür, welche die hohe Gestalt des Pascha gebückt durchkroch und hinter sich in’s Schloß warf, nachdem er den Schlüssel herausgezogen. Von dem Raume aus, in welchem er jetzt stand, war die Thür fast vollkommen unsichtbar.

Er befand sich in der „Schlucht“, dem Saale, welchen wir bereits kennen. Oede standen die langen Tische und Bänke; ein paar alte Flaschen und halbverbrannte Kerzen ragten darauf; die Hälfte der Jalousien war geschlossen, und in dem niedrigen Raume mit der räucherigen, balkendurchsetzten Decke herrschte ein abendliches Halbdunkel. Der Regen schlug bereits nieder, und über den Saal hin grollten die ersten Donnerschläge. Er schritt quer hindurch zu der Fallthür, und hier bückte er sich plötzlich: dort lag eine rosa Bandschleife, die er einst seiner Schwester geschenkt hatte.

Karl Hornemann hob sie auf und war plötzlich ruhig geworden. Er besah die Schleife und setzte sich mit ihr auf eine der Bänke.

„Arme Milli,“ sagte er leise. „So hatte ich doch Recht mit meiner Ahnung.“ Und „arme Milli!“ dachte er weiter; „ich mußte Dir einen Strich durch Dein erträumtes Glück machen. Vielleicht ist es unrecht von mir gewesen; es ist möglich, daß ich der Mutter mehr Aufregung mit dieser Entdeckung verursacht habe, als wenn ich ihr die gelungene Flucht gemeldet hätte. Wer weiß, ob Du glücklicher wirst unter ihren Plänen, als Du an Urban’s Seite geworden wärest. Das Glück besteht in der Einbildung; wir sind glücklich, so lange wir an das Glück glauben. Warum nehmen wir Dir dasjenige, welches Du genossen haben würdest, auch wenn es nur kurz gewesen wäre? Wer weiß, ob nicht seine Summe hingereicht haben würde, Dich hinterher ein Leben voll Enttäuschungen tragen zu lassen? Es ist oft unschuldiger, Jemandem ein halb genossenes Glück in Trümmer zu schlagen, als ihn abzuhalten vom Sturze in ein Unglück, das er als Glück träumt. Ich bin grausam mit Dir, und ich habe nicht einmal den Trost der Ueberzeugung, daß ich recht daran thue, es zu sein.“

Er horchte, ob er in der Nähe das Rollen eines Wagens vernähme, aber die Donner in den Wolken über ihm rollten und knatterten, und der Regen schlug so dicht und heftig an die Fenster, daß er nicht wußte, ob es Täuschung sei oder nicht, als er wirklich etwas Aehnliches zu vernehmen glaubte. Der Mann, der einen Barrikadenkampf kaltblütig geleitet haben würde, besaß nicht den Muth, um die Diele zu heben und hinabzusteigen, so gern er gewußt hätte, wie es im Nebenhause aussah. Er saß still auf der Bank und blickte auf die rosa Schleife, auf welche dann und wann der grelle Schein eines Blitzes fiel. –

Milli Hornemann befand sich wirklich im Rottmann’schen Hause drüben, und sie hatte mit dem Arzte die Flucht verabredet, schriftlich, durch Vermittelung ihrer Jugendgespielin Anna, der Wirthstochter aus dem Wiedenhofe. Stückweise, mit soviel Consequenz wie Vorsicht, hatte sie die nöthigste Garderobe in das Hôtel gebracht, und die schmucke, rothwangige Anna hatte dieselbe im Hochgefühle der Verantwortlichkeit zu den alten Rottmanns hinüber befördert. Die beiden Alten waren einstige langjährige Dienstleute des Wiedenhofes und bewohnten das Haus, welches dem Wiedenhofwirthe gehörte, zu mäßigem Miethzinse. Dem zufolge gab es nichts, was sie der kleinen Anna abgeschlagen haben würden; sie hatten die Sachen in Verwahrung genommen, welche zu einem sehr lustigen Geheimnisse gehörten, wie die schlaue Wirthstochter ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut, und diese Versicherung hätte die Mitwirkung Rottmann’s allein schon unter allen Umständen gesichert, dem nichts über ein Geheimniß ging. Er hatte sich das Lesen angewöhnt und verschlang in Gemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin jene zerlesenen kleinen Leihbibliothekbücher, welche die Firma Spieß und Kramer in Nordhausen der Welt geschenkt, und er fand nichts unbegreiflicher, als daß es in der Wirklichkeit so ganz anders zuging, als zwischen diesen abgerissenen Buchdeckeln. Man hätte keinen passenderen Wächter für den Zugang zur „Schlucht“ finden können als ihn.

Es war heute Niemand in dem Rottmann’schen Hause anwesend außer den Mädchen; die Alten hatten sich, dem Wunsche des Wirthstöchterchens entsprechend, auf einen Nachmittagsausflug in die Umgegend begeben. So saßen denn die Beiden allein in dem engen Zimmerchen, in welchem einst das Licht des alten Rottmann gebrannt hatte, als der Doctor gekommen war, um den Club zu retten. Emilie war völlig reisefertig; sie hatte den „Helgoländer“ jener Zeit auf, welcher den ganzen Kopf umschloß, und ein sommerliches Mousselinkleid an mit einer leichten Mantille darüber, und aus den Aermelpuffen quoll der volle Arm, zur Hälfte mit dem hohen Filetgeflechte des Handschuhs umsponnen. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, und ihre Augen leuchteten unruhig wie im Fieber. Die kleine runde Anna, welche auf dem hohen Koffer vor ihr Platz genommen, erschöpfte sich in tröstlicher Zusprache, aber die schöne, stolze Freundin hörte wenig von dem, was sie sagte; sie lauschte auf das Geräusch der nahen Straßen, auf das Rädergerassel, welches so verschiedenartig klang, bald dumpf und schwer, bald spitz und hell, und dann wieder so glatt und so flüchtig, und keiner von all den Wagen, deren Lauf sie im Geiste verfolgt hatte seit einer Stunde schon, hatte in die Louisenstraße einbiegen wollen. Das Gewitter war heraufgezogen, und als es zu donnern begann, wurde auch die kleine Anna still, denn sie litt an Gewitterfurcht; nur wenn eine Staubwehe gleich prickelnden Nadelspitzen an das Fenster schlug, sagte sie seufzend: „Das wird eine schöne Fahrt geben.“

Kurz nachher sprang Emilie plötzlich empor. In wenigen Augenblicken rollte ein geschlossener Wagen vor die Thür, und Urban stieg heraus; man konnte hören, wie er mit dem Kutscher sprach, dann trat er herein und lachte, wie das schöne Mädchenantlitz ihn, kaum erkennbar in dem Wetterdunkel, aus der Tiefe des Helgoländers anblickte. Er sah nicht die holde Mischung von Liebe, Scham und vornehmer Festigkeit in ihren Zügen. Er [143] faßte ihre Hände und fragte bittenden Tones: „Liebes Herz, wie soll ich den Weg in diese Umzäunung von Mousselin und Pappe finden?“ und als sie in süßer Verwirrung die Bänder des Helgoländers löste und den Hut zurückschob, umschlang er sie, und sein Kuß brannte auf ihren Lippen. Dann erst reichte er Anna mit einem scherzenden Dankesworte die Hand. „Und nun rasch!“ wandte er sich zu Emilie um; „zwischen Lipp' und Bechersrand –“

Er kam nicht weiter, denn die kleine Anna that einen Schrei wie ein Mensch, der ein Gespenst sieht, und blickte nach dem Fenster. Es war nicht der Blitz, der eben Straße und Zimmer erhellte, was sie erschreckt hatte; die Thüren gingen auf und herein trat blaß und geisterhaft – Frau Hornemann.

Einen Augenblick war Alles still. Draußen plätscherte der Regen, und ein neuer Blitz mischte sich in den Donnerschlag des früheren. Es hätte nicht heimlicher zugehen können im Zimmer, wenn das himmlische Feuer die pochenden Herzen darinnen gelähmt hätte für immer. Dann barg die erschrockene Anna ihr Gesicht unter der Schürze, und der Doctor umfaßte die halb ohnmächtige Emilie und blickte zugleich mit Ingrimm und Ueberraschung auf die unerwartete Erscheinung. Er war nicht gewohnt, einer Verlegenheit zu unterliegen. „Ich vermuthe, Madame,“ sagte er rauh, „Sie sind gekommen, um Ihrer Tochter Lebewohl zu sagen. Vielleicht haben Sie gar ein Wort mütterlichen Segens für uns.“

Die alte Frau würdigte ihn keines Blickes. Sie ging auf die Gruppe zu, bis sie in das glühende Gesicht Emiliens sehen konnte, in welchem die Augen geschlossen waren, als ob sie leugnen wollten, was sie erblickt hatten. „Meine Tochter,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „ich will Dich nicht hindern zu thun, was Dein Herz begehrt. Ich bitte Dich nur um Eines: mir auf eine Viertelstunde noch in Dein Vaterhaus zu folgen; ich habe Dir etwas zu sagen. Nachher steht es Dir frei wieder hierher zu gehen und zu vergessen, daß Du einst eine Mutter hattest.“

Das junge Mädchen richtete sich auf und sah den Doctor mit irren Augen an. „Laß mich gehen, Heinrich!“ sprach sie halblaut und wand sich von ihm los. „Ich komme wieder.“

„Meinethalben,“ meinte dieser. „Du kannst den Wagen benutzen, und ich erwarte Dich.“ Er legte die Hände auf dem Rücken zusammen und trat an das Fenster.

„Ich werde gehen,“ sagte Frau Hornemann. „Du kannst bis auf die Brücke fahren, meine Tochter.“

„Nein, Mutter, ich begleite Dich,“ entgegnete diese hastig.

„So komm!“ war die Antwort.

Beide verließen das Zimmer. Die alte Frau öffnete den Regenschirm, aber er schwankte in ihrer Hand und gewährte ihr und der neben ihr schreitenden Tochter wenig Schutz. Sie wanderten im Gewittergusse wie mechanisch den Weg, welcher von der anderen Seite auf den Canal führte, unmittelbar an den Steg und hinüber in das alte verschnörkelte Haus mit der Doppelthür. Ueber ihnen tobte das Wetter; im Canal schoß das Wasser in gelben Strudeln dahin, und es war ein Wunder, daß sie ohne Schwindel über den schlüpfrigen Steg gelangten.

In der Stube hinter den Laden saßen die beiden Frauen, und keine achtete es, daß das Regenwasser an ihren Kleidern hinunterfloß und kleine Wasserpfützen auf den Dielen bildete. Frau Hornemann hatte sofort nach ihrem Eintritt einen Schrank aufgeschlossen und Papiere durcheinander herausgeworfen, bis sie ein schmales blaues Buch gefunden, das sie auf den Tisch vor ihre Tochter gelegt. Dann erst hatte sie Platz genommen.

Sie strich ein paar Mal über ihr Gesicht, um die Tropfen davon zur wischen; es waren keine Thränentropfen, denn ihre Augen glühten trocken; es war von dem Regen, der es besprüht hatte.

„Meine Tochter, ich will Dir einen Theil von dem Geheimnisse unseres Lebens enthüllen, von dem ich zu Niemandem, selbst zu Karl nicht, gesprochen habe. Wir sind nicht wohlhabend zurückgeblieben, als Dein Vater starb, und Du sollst auch wissen, woran er starb: am gebrochenen Herzen. Ich sage Dir das wie alles Uebrige in der Hoffnung, daß Du es ebenso in Dir begraben wirst, wie ich es seither gethan. Freude soll man den Menschen offenbaren, aber den Jammer in sich verschließen. Dein Vater war ein guter Mann, aber schwach und nicht praktisch, und es gab einen Menschen, einen rothhaarigen Judas, den er irgendwo auf einer Reise kennen gelernt hatte und der sein Vertrauen zu erschleichen gewußt. Er brachte ihn mit, und es war vergebens, daß ich ihn warnte. Du weißt, daß wir eine kleine Wattenfabrik besaßen, und sie nährte uns gut, bis dieser Teufel in Menschengestalt unser Haus betrat. Er setzte Deinem Vater Ideen in den Kopf von Geschäftserweiterung und goldenen Bergen von Verdienst, bis ihn dieser in das Geschäft aufnahm, als Reisenden, wie ich Thörichte glaubte, in Wahrheit aber zugleich durch heimlichen Contract als Compagnon. Mir verbarg er das, denn er wußte, daß ich Alles gethan haben würde, um es zu verhindern, und er hatte auch später nicht den Muth, es mir zu gestehen, als wir dem Rande des Abgrundes zueilten. Anfangs mehrten sich die Bestellungen, dann ließen sie wieder nach. Und nun kam das Schreckliche. Das Ungeheuer muß schon bald begonnen haben, unterwegs unsere Gelder zu vergeuden, die er von Kunden erhob, und andere, welche er bei Bankhäusern gegen Wechsel auf unser Geschäft entnahm. Da kam er eines Tages hier an und redete von einer wunderbaren Erfindung, von Maschinen, welche das feinste Product in erstaunlich kurzer Zeit liefern sollten. Ich bat Deinen Vater fußfällig, mit Thränen – damals konnte ich noch weinen, meine Tochter – sich nicht auf solche Wagnisse einzulassen, aber der Gleißner behielt Recht, als er von dem beschränkten Mißtrauen der Weiber gegen Neuerungen sprach. Die Maschinen kamen, und sie kosteten enormes Geld, und selbst Dein Vater mußte bald eingestehen, daß sie nicht viel mehr werth waren als unsere alten. Wie es zuging, daß nun die Kunden zusehends abnahmen – ich weiß es nicht. Der Segen war von uns gewichen. Nur aus des Vaters sorgenvollem Gesicht habe ich gemerkt, daß ihm die furchtbaren Wechsel zugegangen waren, welche unseren Ruin bedeuteten. Der saubere Compagnon war auf einer Reise verschwunden, unser Vermögen erschöpft; vergebens versuchten wir einen eingeschränkten Betrieb und legten selber mit Hand an in der Fabrik. Da kränkelte Dein Vater, und es nahm ein rasches Ende mit ihm. Jener Mensch“ – und die alte Frau schrie und schlug in ausbrechender Leidenschaftlichkeit mit der Faust auf den Tisch – „jener Mensch hat ihn gemordet. Und kaum war Dein Vater todt, meine Tochter, da kamen noch eine Zahl von Wechseln zum Vorschein, welche eine himmelschreiende Summe von Schulden bezeichneten, die ich – ich zahlen sollte.“

Die Sprecherin schwieg einen Moment und zerdrückte das Taschentuch in ihrer Hand, während sie zu überlegen schien, wie sie das Weitere ausdrücken sollte.

„Die Wechsel waren in der Hand eines Mannes – der mich haßte, der sie benutzt hat, um mich zu demüthigen, so tief, so jammervoll –“ die Stimme der alten Frau versagte, und sie hielt sich eine Weile die Augen zu und murmelte: „ich kann es nicht sagen; ich bringe es nicht über die Lippen. – Ich habe alles erduldet, um Euere Ehre vor der Welt zu retten,“ fuhr sie endlich fort; „ich durfte den Erlös für die Maschinen behalten, um ein kleines Geschäft anzufangen, und unser Unglück blieb Geheimniß, selbst für Deinen Bruder, der damals schon herangewachsen war. Er hat nie begreifen können, warum ich mich immer geweigert habe, das Rechnungswesen an ihn abzugeben. Er wußte nicht und sollte es nie erfahren, daß ich alle Ersparnisse hinwegtrug, um den heimlichen Flecken von unserm Namen zu tilgen. Mit meiner Kraft wollte ich uns rein waschen. Und was ich nebenbei auf mich genommen habe, das weiß, außer meinem Peiniger, nur Gott und ich; die Peitschenhiebe, die den Rücken eines armen Sclaven zerfleischen, sind eine Wohlthat dagegen. Manches Jahr ziehe ich in diesem Joche; mein Haar ist grau geworden, mein Sinn versteinert; sich habe mich an Herzweh und schlaflose Nächte gewöhnt, und doch ist es so wenig, was ich mit meinen Opfern erreicht habe, und ich muß dieses elende Dasein weiter leben, bis es verlischt. Eine Hoffnung hatte ich, eine einzige. Du hast vielleicht gewähnt, ich sei eine eigensinnige, herzlose alte Frau, daß ich darauf bestand, Franz Zehren solle Dein Gatte werden. Ich habe aber dabei an das Eine gedacht: daß er die Mittel besitzt, mir den Frieden zu geben, und daß er um Deinetwillen jedes Opfer bringen würde. Es war eigennützig von mir, aber – ich kann nicht anders.“

Frau Hornemann war mit ihren Eröffnungen zu Ende und trocknete sich die Stirn. Mit dumpfer Stimme, die nur [144] zuweilen ein auflodernder Affect heller färbte, hatte sie gesprochen, von Zeit zu Zeit erstickt durch das Dröhnen der Gewitterschläge und mit dem Auge blinzelnd, wenn der Blitzschein über die alten Möbel fuhr. Es rieselte und plätscherte auf der Straße wie eine Sündfluth, während sie das Büchelchen auf dem Tische aufschlug. Sie wollte es eben der Tochter hinlegen, als ihr Blick auf einen Namenszug fiel, der sie plötzlich veranlaßte, es wieder zu schließen.

Emilie hatte wie im Traume gesessen und zugehört; sie schien völlig theilnahmlos und starrte vor sich nieder. Unheimlich stumm saßen die beiden Frauen noch eine Weile; das junge Mädchen schauerte ein paar Mal zusammen in der nassen leichten Kleidung. Endlich kam Bewegung in den starren, schönen Körper, und sie sagte tonlos: „Ich werde Zehren heirathen, Mutter.“

„Gott segne Dich, meine Tochter! Jetzt danke ich Karl doppelt, daß er mir den Weg in das Rottmann’sche Haus gezeigt.“

„Karl? Das hat Karl gethan?“ fuhr Emilie in tiefer Bitterkeit heraus. „Der liebe, treue Karl! Ich will keinen Brautstand, Mutter. Wir müssen so bald wie möglich heirathen, und ganz heimlich; wenn ich erst seine Frau bin, dann ist Alles abgeschnitten, Alles – Alles –“

Sie glitt vom Sopha auf die Kniee nieder und brach in einen Strom von Thränen aus, indem sie das Gesicht zwischen die verschränkten Arme in das Polster barg. „Gott, Gott,“ schluchzte sie, „warum hast Du mir das gethan?“ –

Der Doctor Urban wartete eine Stunde, dann ließ er die Droschke zu seiner Wohnung zurückfahren, um die Sachen wieder abzuliefern. „Kommen Sie nur mit, Anna!“ sagte er. Und die Beiden gingen den Umweg zum Eingange des Hôtels auf der Canalstraße, aber der Doctor warf keinen Blick auf das Haus gegenüber, bis er droben im Gastzimmer war. Dort setzte er sich in's Fenster und spähte in bittrem Unmuthe und Grolle, bis der Regen aufhörte und das Gewitter sich verzog. Allein er konnte an keinem Fenster der Hornemann'schen Wohnung ein Gesicht wahrnehmen. Zuletzt ging er nach Hause. Kurz darauf kam Karl Hornemann in das Zimmer und fragte nach Anna; sie sprachen ein paar Minuten zusammen, und die arme kleine Anna war tiefroth vor Scham. Dann ging auch der Pascha.

Drüben wollte er sein Zimmer aufsuchen, ohne die Frauen zu sehen, aber als er in die Nähe von Emiliens Stube kam, trat ihm diese aus der Thür entgegen. „Bist Du es, Karl?“ fragte sie mit müder Stimme. „Ich wollte Dir nur sagen, daß ich Franz Zehren heirathen werde und daß Du mich – verloren hast, Karl.“

In seinem Gesichte zuckte es wunderlich. „Hier ist Deine Schleife, Milli,“ sagte er weich. Sie nahm die Schleife, ohne ihn anzusehen, und der Pascha starrte ihr mit trübem Kopfschütteln nach, als sie hinter der Thür verschwand.




10.


Das tägliche Leben im alten Eckhause auf der Canalstraße nahm seit dem entscheidungsschweren Tage einen ziemlich unerfreulichen Charakter an. Milli Hornemann war eine Fremde geworden. Sie erschien nicht mehr, wie sonst wohl in der letzten Zeit, zerstreut, unthätig, leidenschaftlich heftig und wieder verweint. Gleichmäßig ernst und wortkarg widmete sie sich mit der peinlichsten Sorgfalt häuslichen Pflichten, fragte und antwortete, wenn sie mußte, ohne sichtliches Ausweichen, aber auch ohne irgend welches erkennbare Interesse. Es kam dann und wann vor, daß sie lächelte, aber ihr Lächeln hatte etwas Automatenhaftes, Seelenloses und verschwand plötzlich ohne Uebergang in dem eintönigen Grau ihrer gewöhnlichen Stimmung. Ihre Mutter versuchte wohl, von ihr Wünsche in Bezug auf eine Aussteuer zu erfahren, aber vergeblich; sie nahm ohne Aeußerung einer Freude oder Mißbilligung hin, was die Mutter oder der Bruder besorgten. Als eine Näherin in’s Haus genommen wurde, veranlaßte sie, daß dieselbe oben auf ihrem Zimmer arbeitete, und setzte sich in jeder freien Minute, die sie erübrigen konnte, zu ihr, um ihr zu helfen. Sie brachte auch die Abende mit Nähen zu und verriegelte, sobald sie allein war, die Thür. Sie wandelte wie ein Schatten über den frischen Gräbern ihrer Wünsche. – –

Zehren war noch vierzehn Tage nach der zu seinen Gunsten eingetretenen Wendung unterwegs; endlich theilte er Karl Hornemann mit, daß er im Begriffe stehe zurückzukehren. Er hatte noch keine Ahnung von dem, was geschehen war; die Zeilen athmeten das heroische Feuer der Entsagung, untermischt mit ergreifenden unwillkürlichen Herzenslauten einer tiefen Leidenschaft, und schlossen mit der Bitte an den Freund, die Mutter so vorzubereiten, daß es nur seiner warmen Fürsprache bedürfe, um sie der Verbindung Emiliens mit dem Doctor günstig zu stimmen. Der Pascha gab der Schwester den Brief zu lesen, ohne ein Wort hinzuzufügen, und sie nahm das Schreiben etwas verwundert. Ueber dem Lesen erblaßte sie und verließ, mit dem Blatte in der Hand, die Stube.

Als sie den Bruder später wiedersah, gab sie ihm den Brief zurück und sagte kühl: „Es ist unnütz, jetzt noch Maskerade zu spielen; ich werde seine Gattin werden auch ohne solche Gaukeleien.“

Der Pascha erwiderte ruhig: „Ich verpfände meine Ehre dafür, daß nicht ein einziges Wort in diesen Zeilen erheuchelt ist.“

Sie sah ihn groß an und wandte sich schweigend ab. Kurz nachher äußerte sie gegen ihre Mutter den Wunsch, die nächste Zeit in der Stille der „Erlenfuhrt“ bei einer alten Tante zuzubringen; dort wollte sie auch mit Zehren zum ersten Male wieder zusammentreffen, fern von den alten Verhältnissen. Die Mutter, welche von dem Wechsel der Umgebung und dem Einfluß einer ländlich friedlichen Natur Günstiges hoffte, und froh war, Emilie überhaupt einen Wunsch gewähren zu können, sagte ohne Zögern zu, und einen Tag später schon trug der Wagen diese die Thalkrümme des Flusses entlang, an welchem in einer Entfernung von kaum zwei Stunden die einsame Erlenfuhrt lag.

Schmerzlicher, als er äußerlich zeigte, litt Karl Hornemann unter der Entfremdung und Kälte, welche die trotzige Schwester ihm seit dem vereitelten Fluchtversuche bewies. Nicht ein leises Zeichen deutete ihm an, daß diese Mauer, welche sie gegen ihn zog, ein mühsam künstliches Werk sei, eine Coulisse, welche die hinter ihr weiter lodernde Liebe einst in plötzlichem Ansturm zerstören könnte. Und doch war es unmöglich, daß die frühere Innigkeit ihrer Beziehungen zu dem Bruder mit einem Schlage auf den Gefrierpunkt hinabgesunken war. Der Pascha machte keine Annäherungsversuche, denn er kannte die Willensstärke seiner Schwester zu gut, um zu wissen, daß vorläufig an ihrer Haltung ihm gegenüber nichts zu erschüttern war. Aber er hatte sich weniger in der Gewalt als sie; mehr als einmal ertappte er sich auf dem Wege zu ihrem Zimmer, wenn ihn eine Idee, eine Nachricht lebhaft beschäftigte, bis er sich rechtzeitig besann und wie beschämt umkehrte. Dann saß er in seiner Stube zwischen Briefen, Rechnungen, Waarenproben und den Apparaten seiner Privatliebhabereien, und das Herz that ihm weh, als ob ihm etwas Liebes gestorben wäre.

In ihrer Gegenwart war er solchen Zerstreutheiten weniger ausgesetzt; ihre erzwungene Schweigsamkeit hatte etwas Lähmendes für ihre Umgebung. War er daheim, so empfand er den Trieb auszugehen und der drückenden Luft, welche überall in dem alten Hause lag, zu entfliehen, und kaum war er draußen, so trieb es ihn mit unbezwinglicher Sehnsucht wieder in ihre Nähe. Es war fast etwas Bräutliches in dieser Liebe zu der schönen Schwester. Er besaß ein Miniaturbild von ihr, welches freilich weder die feine, reizvolle Ausmeißelung ihrer Züge und die wunderbare Zartheit ihrer Farben, noch die eigenthümliche Mischung von herber Kraft und gedämpftem Feuer vollkommen wiedergab, von welcher die braunen Augen unter den hochgewölbten Brauen sprachen. Aber er setzte sich davor, und sein Herz wallte über, und seine Selbstanklagen erdrückten eine innere Stimme, welche behaupten wollte, daß er dennoch recht gehandelt habe. Er war wirklich ein Schwärmer, der Volkstribun aus dem Wiedenhofe.

(Fortsetzung folgt.)



[145]

Bei Hochwürden zu Tische.
Nach seinem Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Ed. Grützner.

[146]
Steppengestalten.
Erinnerungen aus meinem Wanderleben von F. Sch.
II.


Das Dorf mochte kaum mehr als etwa dreißig Häuser, respective Hütten zählen, denn die Benennung „Haus“ verdiente wohl keines der mit Stroh gedeckten und aus Lehmwänden bestehenden Gebäude. Das stattlichste derselben und deshalb für meine Unterkunft erwählte befand sich fast in der Mitte des Fleckens und war nach Landesbrauch von einem Hofe umgeben, dessen Raum den ganzen Grundbesitz mancher unserer Keuschler an Flächeninhalt überbot. Nachdem wir uns, mit Händen und Füßen stoßend und schiebend, durch eine hier nächtigende Heerde langgehörnter Wiederkäuer einen Weg gebahnt, wurde ich von meinem Diener, der mich hier erwartete, in eine der Stuben des Hauses geführt.

Dieselbe zeigte die bei wohlhabenden Bauern übliche Einrichtung: Tisch und Stühle von Eichenholz und die blumige Truhe, das hoch aufgerichtete Bett. Sie unterschied sich von der anderer Bauernstuben nur durch eine ungewöhnliche Reinlichkeit und Nettigkeit. Während ich noch die nöthigsten Toilette-Requisiten aus dem Koffer kramte, wurde die Thür geöffnet, und mich umwendend, erkannte ich zu meiner nicht geringen Ueberraschung in der eintretenden jugendlich üppigen Gestalt die schöne Tänzerin des verfolgten Lajos, noch erhitzt und hastig athmend vom Tanze und der darauf folgenden Flucht, dabei aber blaß und offenbar angstvoll aufgeregt. Diese Aufregung ließ sie wahrscheinlich auch mein Erstaunen bei ihrem Anblicke nicht bemerken. Nach freundlichem Gruße begann sie alsbald den Tisch zu decken, wobei sie jedoch wiederholt innehielt, um zum offenen Fenster zu treten und aufmerksam hinauszublicken.

Jetzt, wo ich die ländliche Schöne in der Nähe betrachten konnte, wurde mir die gewaltige Leidenschaft der beiden Freunde und ihre Entzweiung ganz begreiflich, denn selten sah ich einen kräftigeren und zugleich geschmeidigeren Wuchs, selten auch regelmäßigere und feinere Züge, deren Schönheit jetzt durch den Ausdruck von Trauer und Melancholie noch edler erschien als vorher. Meine lebhaft angeregte Phantasie begann alsbald alle die charakteristischen Gestalten, welche der Zufall mir an diesem Abende vorgeführt, unter einander zu verbinden, und ich hatte eben die ersten, meiner Meinung nach höchst effectvollen Capitel eines Romans daraus gesponnen, als ein köstlich duftendes Paprikahuhn, von meiner schönen Hauswirthin auf den Tisch gestellt, ein rasches „Ende“ meines dichtenden Phantasirens herbeiführte.

Jetzt trat auch der weißhaarige Mann, welchen ich in der Schenke gesehen, mit einem mächtigen Weinkruge ein und setzte sich zu mir, nachdem er mich mit ungewöhnlicher Herzlichkeit begrüßt hatte. Sein Erscheinen überraschte mich nicht mehr, da ich schon während der Scene in der Schenke in ihm den Vater Ilka’s, Lajos’ schöner Tänzerin, vermuthet hatte, doch war ich über die Bestätigung um so erfreuter, als ich nun hoffen durfte, Genaueres und Sichereres als die Resultate meiner Combination zu erfahren. Diese Hoffnung verwirklichte sich in der That, denn der alte Herr war mir, wahrscheinlich durch den Csikos, schon günstig gestimmt, dankte mir auch in warmen Ausdrücken für meine „Diskretion“ und meinte auf meine Frage, aus welcher Ursache Lajos von den Gensd’armen verfolgt werde, es wäre eigentlich eine zu traurige Geschichte, um sie einem werthen Gaste zu erzählen, da ich mich aber für den armen Lajos interessire und meine Theilnahme schon bewiesen, so wolle er mir gern mittheilen, was er selbst wisse.

Das magyarische Volk besitzt bekanntlich die Gabe der Beredsamkeit in hohem Grade, und es ist gar nichts so Seltenes, daß Landleute ihren Gedanken so fließend Ausdruck zu verleihen wissen, wie etwa ein Professor, der einen Vortrag in seinem Fache hält. Diese Gabe nun war auch meinem Wirthe eigen, und indem ich seine Worte zu wiederholen versuche, bedauere ich den eigenthümlichen Reiz nicht wiedergeben zu können, den der alte Herr durch den charakteristischen Wechsel der Betonung, der Mienen und Geberden zu erzielen wußte.

„Wie gesagt, bester Herr,“ begann er, „es ist eine traurige Geschichte, und Gott weiß, wie sie noch enden wird. Ilka ist mein einziges Kind, war immer mein Stolz, meine Freude und – ich darf es wohl sagen – das schönste Mädchen im Dorfe und der ganzen Umgegend. Wer mir je gesagt hätte, daß meine Tochter das Weib eines ‚armen Burschen‘ sein werde, dem hätte ich in’s Gesicht gelacht. Und doch war es so, vielleicht als Strafe für den Hochmuth, mit dem mich die wachsende Schönheit meines Lieblings erfüllte. Ihr könnt denken, lieber Herr, daß es dem Mädchen nicht an Bewerbern fehlte. Ich ließ ihm die Wahl, denn ich wollte mein einziges Kind glücklich wissen, und ich hätte den ärmsten Schwiegersohn willkommen geheißen, wäre er nur ein rechtschaffener Mensch gewesen. Ich glaubte auch lange, daß Josi, der Csikos, ein hübscher, flinker, kräftiger Bursche, alleiniger Hahn im Korbe sei; so oft er auf seinem gelben Rößlein dahergejagt kam wie ein jäher Windstoß, rötheten sich Ilka’s Wangen, lief sie in den Keller nach einem frischen Trunke für den erhitzten Burschen; doch Mädchensinn ist noch flüchtiger als ein Windstoß, und als sie den Josi zu den Husaren nahmen, da nistete sich ein Anderer in ihr Herz, der freilich noch hübscher, flinker und kräftiger war. Das war meines Schwägers Sohn Lajos, ein Bursche, Herr, der mit den Pferden um die Wette lief und dem im Ringen Keiner gewachsen war, selbst der Josi nicht. War auch sonst nichts an ihm auszusetzen, er verstand die Wirthschaft und arbeitete für Zwei, aber einen Fehler hatte er doch: zu ducken wußte er sich nicht und klein beizugeben, wenn es die Klugheit erforderte. ‚Biegen oder Brechen‘ hieß es bei ihm; er trug auch den Kopf immer hoch, als wär’ er zum Herrn geboren, und das wurde sein und unser Unglück.

Lajos hatte eine hübsche Schwester, die den Sommer über auf der Tanya (Meierei) hauste. Der junge Graf, der Sohn unseres gnädigen Herrn, jagte fast jeden Tag in jener Gegend, und wenn er müde und durstig war, kehrte er bei Lajos’ Schwester ein.

Eines Tages aber führte dieser Holz aus dem Tannenwalde herein, und da traf er mit dem jungen Herrn zusammen. Was damals auf der Tanya vorging, weiß Niemand, für den aber, der Lajos kennt, ist’s nicht schwer zu errathen. Genug, als er mit der Holzfuhr hereinkam, warteten schon die Panduren auf ihn (die Gensd’armen bekamen wir erst ein Jahr später) und führten ihn nach dem Herrenhof hinüber. Ich war gerade bei Lajos’ Vater und blieb bei ihm, nachdem sie den Jungen fortgeführt, denn mir ahnte nichts Gutes.

Nach einer Stunde etwa kam er wieder, aber Herrgott in welchem Zustande! Nie, Herr, werde ich den Anblick vergessen, würde ich auch hundert Jahre alt. Bleich wie der Tod, die Lippen blutig gebissen, die Augen aus dem Kopfe gequollen, die starken Arme schlaff hängen lassend, den Körper wie gebrochen vorbeugend, mit den Zähnen wie im Fieber klappernd, so stand er vor uns, wortlos, blöde, ein Jammerbild an Leib und Seele.

Schluchzend fiel ihm der Vater um den Hals, und wahrlich, Herr, es fehlte nicht viel, so hätte auch ich geweint wie ein Kind. Denn so gern ich auch den Josi hatte, der Lajos war doch mein und unser Aller Stolz geworden, und wenn er auf seinem Leiterwagen hoch aufgerichtet und stramm wie eine Tanne stand und die wildesten Pferde spielend lenkte, da lachte uns Allen das Herz im Leibe, denn in ihm sahen wir die Verkörperung jener ungebrochenen Manneskraft, die uns in harter Frohnarbeit Aufgewachsenen versagt geblieben. Und jetzt, was hatte eine einzige Stunde aus dem Riesenjungen gemacht! Dennoch fragten weder der Vater noch ich, was geschehen, und auch er schwieg und setzte sich still in eine Ecke der Stube, um unbeweglich, stumm, wie geistesabwesend vor sich hinzustarren. Wir wußten ja, was geschehen. Sie hatten ihn eben geschlagen, so lange geschlagen, bis sie glaubten, daß er genug habe für sein Leben. Nun freilich, damit irrten sie; sein junger Leib hielt mehr aus, als sie dachten, und wie ein Heubaum um so mächtiger emporschnellt, je stärker er niedergebunden war, so ging es mit seiner Leibeskraft, aber – es war doch nicht mehr derselbe Lajos. Er, der sonst froh und [147] übermüthig wie ein junges Füllen den ganzen lieben Tag sang, pfiff und scherzte, ging nun finster schweigend umher, und Niemand sah ihn mehr lächeln seit jener Stunde im Herrenhofe.

Vierzehn Tage darauf geschah es, daß das Herrenhaus niederbrannte. Es war eine stürmische Nacht. Vom Feuerlärm geweckt, eilten wir vom Dorfe zur Hülfeleistung. Zu retten war allerdings nicht viel, denn es fehlte an Wasser, doch thaten wir, was möglich war. Auch Lajos war mitgekommen, statt jedoch Hand anzulegen, blieb er mitten im Herrenhofe stehen und sah mit verschränkten Armen in die prasselnden Flammen. Ich wollte ihn warnen, doch schon hatte ihn der junge Graf bemerkt und den Knechten einen Wink gegeben. Und nun sahen ich und Alle vom Dorfe, was wir noch nie gesehen und nicht so bald wiedersehen werden. Die Bursche mußten wohl Lajos’ Stärke schon erprobt haben, denn ihrer Vier warfen sich zugleich auf ihn, und packten ihn gleich Fanghunden an Händen und Füßen. Doch wie ein nasser Hund die Wassertropfen, so schüttelte Lajos die Knechte nach allen Richtungen von sich, sprang mit einem Riesensatze über die Hofmauer und verschwand in der Dunkelheit, aus der nur noch ein gellendes Hohngelächter zu uns herscholl. Der junge Graf sandte dem Verschwundenen einen langen Fluch nach, die erstaunten Knechte aber und Mancher der Unsern bekreuzten sich, denn sie meinten nicht anders, als Lajos habe den Teufel im Leibe.

Bei der darauf folgenden Untersuchung sagten mehrere Knechte des Grafen eidlich aus, sie hätten Lajos eine Stunde vor dem Brande um den Herrenhof herumschleichen gesehen. Diese Aussage und sein Verhalten während des Feuers gaben Grund genug, ihn für den Brandleger zu halten, und da man seiner nicht habhaft werden konnte, wurde einstweilen sein alter Vater als vermeintlicher Mitwisser in den Kerker geworfen, wo der alte, schon herabgekümmerte Mann nach wenigen Wochen das Zeitliche segnete.

Fast zu gleicher Zeit verschwand auch Lajos’ Schwester spurlos aus der Tanya, doch giebt es Leute, welche sie seither in Pest wie eine Gräfin gekleidet gesehen haben wollen. Das gab dem armen Lajos den Rest. Seitdem war kein vernünftiges Wort mehr mit ihm zu sprechen. Ich machte ihm den Vorschlag, mein Hab und Gut hier zu verkaufen, und mit ihm und Ilka auszuwandern, denn auch mir war durch all dies das Leben im Orte verleidet. Er aber schüttelte finster den Kopf und ballte die Faust gegen Himmel, und das blieb die einzige Antwort, die ich aus ihm herausbrachte. Es war, als hätten sie ihm Zunge und Herz aus dem Leibe gerissen. Nun, bald hörte man auch schlimme Dinge von ihm; ob sie wahr sind – wer weiß es? Die Noth trieb ihn nicht dazu, denn was er zum Leben braucht und noch etwas mehr, bekommt er von mir, aber aus ihm ist, wie gesagt, nichts heraus zu bringen, und Niemand kann in des Menschen Herz sehen. So viel aber ist gewiß, daß Bauerngut sicher vor ihm ist, und darum liebt man ihn im Dorfe wie immer, ja ich glaube jetzt noch mehr; giebt es doch Wenige unter uns, die unter der Willkür und Härte unserer Herrschaft drüben nicht schon den Rücken gekrümmt und die Faust im Sacke geballt hätten, Wenige, die nicht gerne schon gethan hätten, was Lajos, wie sie meinen, that, fehlte ihnen nicht der Muth dazu.

Der Herr Pfarrer meint allerdings, Gewalt und Trotz gegen die Obrigkeit seien die schlimmste Sünde, schlimmer noch als Diebstahl und Raub, denn sie bewiesen ein unbußfertiges Herz und Christus der Herr habe, obschon ein Gott, ohne Trotz und Auflehnung Unrecht erduldet, und sogar unschuldig den Tod erlitten. Na, der Herr Pfarrer muß wohl Recht haben, aber trotzdem fährt mir bisweilen die Frage durch den Kopf, ob es nicht längst besser stände um uns, wäre Jeder immer so muthig und unbekümmert um die Folgen für das Recht eingestanden, wie Lajos in der Tanya; nun, es ist eine dumme Frage, denn nicht Jeder hat das Zeug dazu, er aber, der es hatte, muß es bitter genug büßen. Ein Trost freilich ist ihm geblieben: mein armes Kind hängt mehr denn je an ihm; Schmerzenskinder sind ja den Weibern immer am meisten in’s Herz gewachsen, und was mich betrifft, Herr, so denke ich, der liebe Gott, der nach seinem Rechte richtet, wird ihr und auch einem alten Manne verzeihen, daß sie einen armen Burschen nicht verstoßen konnten, weil ihn eine böse Stunde vielleicht zum – Räuber machte.“

Der Alte hatte die letzten Worte kaum hörbar und mit schmerzlich bebender Stimme gesprochen und saß nun schweigend da, das weiße Haupt tief herabgebeugt. Mich aber hatte die Erzählung des braven Mannes weit mehr ergriffen und empört, als ich mir merken ließ. Nicht daß derlei Vorkommnisse in Ungarn etwas Ungewöhnliches gewesen wären – im Gegentheil, ich wußte, daß wie noch heute, so damals trotz neuer Freiheit, Constitution, Volksrechte etc. in den Comitaten nach Herzenslust fortgeprügelt worden war, allein noch nie war ein solcher Fall mir mit allen seinen Folgen so nahe gerückt, noch nie hatte ich Gelegenheit gehabt, durch eigenen Augenschein die Thaten jener vielgerühmten Träger politischer Freiheit, der Magnaten, mit ihren Parlamentsreden zu vergleichen, die von nationaler Eitelkeit und Selbstüberhebung strotzten und in welchen die „Freiheit“ als höchstes Gut der ungarischen Nation eine stehende Phrase bildete. Noch nie erkannte ich so deutlich, wie schmachvoll dieses arme Volk, das für die gepriesene nationale Freiheit Gut und Blut geopfert, von seinen eigenen Führern betrogen und mißhandelt wird.

War aber das Volk nicht, zum Theil wenigstens, selbst schuld, indem es aus Indolenz, jener dem Landmann so häufig eigenen geistigen und physischen Trägheit, sein Recht unvertheidigt preisgab? In manchen Fällen gewiß, und um zu erfahren, ob dies auch hier der Fall sei, fragte ich den alten Herrn, nachdem er wieder ruhiger geworden, weshalb Lajos und dessen Vater, falls Ersterer an dem Ausbruche jenes Brandes schuldlos war, nicht den Schutz der höhern Behörden in Anspruch genommen hätten. Der Alte lächelte trübe.

„Ja, ja,“ sagte er, „wüßte ich nicht, daß der Herr ein Deutscher ist, diese Frage würde es verrathen – es ist eine deutsche Frage. Wohl möglich,“ fuhr er dann nach einigem Nachdenken fort, „daß jetzt, wo wir ja auch deutsche Beamte im Lande haben, ein solcher Schritt Erfolg hätte;[1] denn obschon unsere Herren über Vergewaltigung durch die Fremdherrschaft, über Tyrannei und Willkür schreien und das unverständige Volk gegen die Deutschen hetzen, so wissen ich und mit mir noch viele Andere doch recht gut, daß wir Bauern jetzt besser daran sind und froh sein könnten, wenn uns diese Fremdherrschaft erhalten bliebe. Sagen darf man das freilich nicht, denn die Leute, die von der Gnade der Herren leben, würden uns als Landesverräthern ohne Umstände den rothen Hahn aufs Dach setzen. Damals aber war unser Herr Graf noch Stuhlrichter, sein Schwager Oberstuhlrichter und Beide hatten in Pest viele gute Freunde; nun, Herr, da wäre es dem Lajos und seinem Vater wohl nicht anders ergangen als den Schafen, die sich beim Bären über den großen Appetit des Wolfes beklagten.“

Der Alte hatte Recht, und fast nur mechanisch fragte ich: „Was aber soll daraus werden?“ Denn im Grunde war es mir klar genug, was daraus werden mußte.

„Was daraus werden soll?“ wiederholte der Alte mit traurigem Kopfnicken, „so fragte auch ich mich jeden Tag seit jener Unglücksstunde in der Tanya, heute aber fragte ich den Lajos selbst, als er wieder wie vom Himmel gefallen in’s Dorf hereinstürmte und mein Kind zum Tanze führte, und nun weiß ich’s, was daraus werden wird. Er wartet auf Einen, der seit jenem Brande in der Ferne ist, in Paris oder sonst wo; mit diesem hat er noch ein Wort zu sprechen, so sagt er, seines Vaters und seiner Schwester wegen, dann will er mit uns fort in ein fernes Land, um dort Weib und Kind redlich mit seiner Hände Arbeit zu ernähren. Daß Gott erbarm’, hetzen sie ihn doch jetzt schon, daß er kaum mehr zu Athem kommt, und vielleicht ist das Holz schon geschlagen, das mein armes Kind, bevor es wieder ein ehrlich Weib geworden, zur Wittwe eines – Gehängten machen soll.“

Bei diesen Worten übermannte den Greis der Schmerz; stöhnend schlug er die Hände vor das Gesicht. Solchem Jammer gegenüber gab es weder Trost noch Rath. Schweigend blickte ich durch das offene Fenster hinaus in die friedliche stille Nacht. Ja, so stille war es rings umher, daß das Zirpen der Heimchen von den nahen Feldern her deutlich zu vernehmen war; allmählich aber mischte sich in das anheimelnde Gefiedel der kleinen Musikanten [148] noch ein anderes Geräusch, regelmäßig tappend und klingend, zugleich, erst ganz leise und undeutlich, daß es fast war wie das Ticken einer Taschenuhr und das Geläute ferner, ferner Glöckchen. Doch immer näher kam es heran, und nun horchte der Greis erschreckt auf, und ein nervöses Zittern überlief die mehr von Kummer als von Alter gebeugte Gestalt. Ihm war die Natur dieses tactmäßigen Geräusches offenbar wohlbekannt; sachte erhob er sich, legte die Finger bedeutungsvoll auf die bebenden Lippen und verließ lautlos die Stube.

Das Tappen und Klingen war jetzt so nahe gekommen, daß auch ich den tactmäßigen Schritt bespornter Männer erkannte. Es waren zweifellos die Verfolger Lajos’, welche, wie Josi vorausgesagt, die von ihm angegebene Richtung des Flüchtlings als die unwahrscheinlichste zuletzt eingeschlagen hatten. Warum aber war der Alte so ängstlich, da der Verfolgte dank des Signales doch einen genügenden Vorsprung hatte, um sich in Sicherheit zu bringen? Ich war an’s Fenster getreten und sah jetzt die zwei Gensd’armen, wie sie ruhigen gemessenen Schrittes in den Hof schritten. Sie mochten, nach der seit jenem Signalrufe verflossenen Zeit zu urtheilen, wohl schon das ganze Dorf durchsucht haben, überzeugt, daß das von Soldaten besetzte Haus des Alten sich am wenigsten zu einem Verstecke für den Flüchtigen eigne. In der That verließen sie auch nach einigen mit meinem Diener gewechselten Worten den Hofraum wieder und näherten sich nun den nur wenige Schritte vom Hause entfernten Heuschobern. Diese bildeten wie in allen Dörfern Ungarns, wo sämmtliche Heuvorräthe im Freien aufgeschichtet werden, einen ganzen Complex von regelrecht und sorgfältig aufgethürmten Haufen, an Form und Größe ansehnlichen Gebäuden ähnlich, zwischen welchen meist nur schmale Gänge den Durchlaß gestatteten. Durch diese schritten jetzt die Gensd’armen, indem sie von Zeit zu Zeit ihre Säbel bis zum Griffe in die compacten Heumassen stießen. Und sonderbar, so oft ich den blanken Stahl in den dunkeln Wänden verschwinden sah, zuckte ich zusammen, als erwartete ich den Schrei eines zu Tode Getroffenen zu vernehmen. Allein es blieb Alles still, und als die spornklirrenden Tritte der Männer wieder von dem Grillenconcerte übertönt wurden, athmete ich erleichtert auf.

Der Mond stand jetzt senkrecht über dem stillen, einsamen Haidedorfe, und sein silberweißes Licht verlieh den ärmlichen Hütten und Scheunen wie jedem Halme auf den kleinen Wiesen- und Felderflächen und darüber hinaus der ganzen grauen, öden Steppe einen Schimmer von märchenhafter Pracht. Der Anblick dieser tiefsten, heiligsten Frieden athmenden Nachtlandschaft bildete einen so scharfen Contrast zu dem, was ich eben erlebt und vernommen, daß mir die Betrachtung derselben, statt wie sonst heitere Beruhigung zu gewähren, die klagenden Worte des Dichters in’s Gedächtniß rief:

„Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.“

Ja, obschon selbst unberührt, zitterte das Weh des Greises doch so lebhaft in meinem Gemüthe nach, daß ich in die düsterste Stimmung gerieth und sich mir immer mehr die Ueberzeugung aufdrängte, der Mensch sei wirklich das unglücklichste Geschöpf und sein Leben nichts als eine Kette kleiner und großer Leiden. Während ich aber noch so pessimistisch philosophirend das lichtüberfluthete Steppenbild schaute, vernahm ich ein leises Schieben und Knistern gerade über meinem Kopfe, und aufblickend sah ich, wie sich, von unsichtbarer Hand dirigirt, ein langes Brett vom Firste des Hauses dem nächsten Heuschober zu bewegte. Zugleich ließ sich ein girrender Laut vernehmen, täuschend ähnlich dem zärtlichen Rufe der Turteltaube, und nun öffnete sich wie durch Zaubermacht der Giebel des Heugebäudes, auf dem das vorgeschobene Brettende ruhte, zu einer geräumigen Wölbung als Eingang einer tief eingeschnittenen Höhle. Nun wurde ein kleiner Fuß auf der improvisirten Brücke sichtbar, und darauf sah ich zu meinem Schrecken Ilka langsam und vorsichtig die gefährliche Bahn betreten, den linken Arm zur Erhaltung der Balance ausstreckend, mit der Rechten einen umfangreichen mit Lebensmitteln gefüllten Korb tragend.

Mit angehaltenem Athem verfolgte ich jede Bewegung der anmuthigen, jugendfrischen Gestalt; schon hatte sie den Heuschober erreicht, da schwankte das Brett; ein leiser Schrei entfuhr den Lippen der kühnen Ilka – aber aus der Tiefe der Wölbung tauchte ein Arm empor, umschlang die Wankende fest und sicher und zog sie in die Höhle. Der Schall eines kräftigen Kusses, und darauf die zärtlich geflüsterten Worte „mein liebes Weib“ drangen an mein Ohr, dann verschwand das Brett; die Wölbung schloß sich, und im nächsten Augenblicke schimmerte der Giebel des Heuhauses unter den hellen Strahlen des Mondes so harmlos und unverfänglich wie alle übrigen.

All das war so rasch vor sich gegangen, daß es mir fast schien, als wäre das Ganze nur ein Traumbild oder die Wirkung meiner erhitzten Phantasie gewesen.

Noch unten dem Eindrucke des eben Erschauten begab ich mich zu Bett, und siehe, was die friedliche Mondlandschaft nicht vermochte, das that nun das Geheimniß des Heuschobers allen düstern Nebenumständen zum Trotze. Noch bevor ich entschlummerte, war meine pessimistische Stimmung der tröstlichen Gewißheit gewichen, daß der Mensch denn doch nicht für das Leid geboren, daß das Leben kein unabwendbarer Fluch für ihn sei. Nein, Geschöpfe, welchen die Natur einen so unergründlichen Schatz von Liebe und Barmherzigkeit in das Herz gelegt, wie dieses edelmüthige Weib eben bewies, Geschöpfe, denen die Natur ein so lebensfreudiges Gemüth zur Mitgift gab, daß sie, gleich diesem Paare, unter Todesschauern, hart am Rande des Abgrundes die köstlichsten Blumen menschlichen Glückes zu pflücken vermögen, sind nicht zum Unglücke geschaffen, und nur ein krankes, verdüstertes Menschengehirn konnte so finstern Aberwitz zu eigner und zur Qual Andrer aushecken.




Der Sokrates der Neuzeit.


Am einundzwanzigsten Februar waren es zweihundert Jahre, daß Baruch Spinoza seine irdische Laufbahn beschlossen hat. Er gehört zu jenen Entschlafenen, die nicht gestorben sind, deren Geist noch bewegend und urkräftig in unsere Tage strahlt. Von ihm kann man auch mit größerem Rechte, als von manchem Anderen sagen, daß er einer der Bestverehrten und Bestgehaßten gewesen sei. Denn wie er, so war kaum jemals ein Sterblicher zugleich verdammt und hochgeachtet, zugleich gemieden und aufgesucht, verabscheut und bewundert, bei Lebzeiten wie nach dem Tode. „Ich erinnere mich noch gar wohl,“ sagt Goethe, „welche Beruhigung und Klarheit über mich gekommen, als ich die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen Mannes durchblättert; ich ergab mich dieser Lectüre und glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich erblickt zu haben.“ Lichtenberg behauptet, Spinoza habe den größten Gedanken gedacht, der je in eines Menschen Kopf gekommen ist. Feuerbach schwärmt von diesem „erhabenen, gedankenhellen Charakter“; Berthold Auerbach stellt ihn auf die oberste Stufe ethischen Lebens als „Charaktergenie“. Hamann hingegen findet nicht genug scharfe und bittere Worte, um die Gottlosigkeit des Spinozismus und seines Urhebers zu bezeichnen. Und Franz von Baader tadelt seinen Freund Schelling darüber, daß dieser noch immer nicht „von dem dürren Magister Spinoza“ loskommen könne. Die Frommen gar empfanden einen innerlichen Schauder, wenn der Name Spinoza’s über ihre Lippen kam; dennoch fand Schleiermacher in seinen Lehren „tiefe Frömmigkeit“ und Hegel behauptete sogar: „Es giebt keine reinere und erhabenere Moral, als die Spinoza’s.“

Muß schon bei so seltsam sich widersprechenden Urtheilen ein Sporn der Neugierde uns antreiben, Näheres über Leben und Charakter, Denken und Schaffen dieses Mannes zu erfahren, so wird hier unsere Wißbegier noch durch den Umstand gesteigert, daß jener heiße Meinungskampf nicht über einen Mächtigen in angesehener Stellung entbrannte, sondern über einen schlichten, kindlich-sanftmüthigen und einsamen Denker in ärmlicher Dachstube.

Spinoza war ein Philosoph durch die innerste Bestimmung seiner Natur, ein „glücklicher Genius“, in dessen Geiste, so abgeschlossen er auch von dem Getriebe der Welt lebte, die ewigen Gesetze der Weltordnung sich klar und sonnenhell spiegelten, ein [149] Weltweiser, der mit der Weisheit nicht blos liebäugelte, sondern sie zum heiligsten Lebensberufe erkor. Nicht wie ein Geschäft hat er die Philosophie betrieben, mit seinen Ueberzeugungen, seinem Leben und Thun hat er sie in völligen Einklang gebracht. So steht er vor uns als ein gefesteter, nach innen wie nach außen ebenmäßiger Charakter, der Sokrates der Neuzeit. Obgleich aber seine Moral, sowohl die, welche er lehrte, wie die, welche er selbst zur festen Richtschnur seines Daseins machte, von den besten Männern für die „reinste und erhabenste“ gehalten wurde, so war dennoch der Name Spinoza’s bei Mit- und Nachwelt als der eines „Religionsschänders“ und „Gottesleugners“ verpönt. Ein ganzes Jahrhundert nach seinem Tode war er sammt seinen Schriften sogar vergessen und verschollen, bis ihn der gewaltige Scharfsinn unseres großen Lessing von Neuem entdeckte und sich das Verdienst erwarb, wieder nachdrücklich auf die eminente Geistesgröße des verfehmten Denkers und auf den Werth seiner Werke hingewiesen zu haben. Seitdem ist die Anzahl der Schriften über diesen Philosophen und über die von ihm ausgegangene Richtung in der Philosophie (den Spinozismus) derart angewachsen, daß man beinahe von einer Spinoza-Literatur sprechen könnte.

Trotz aller Verketzerung war Spinoza ein echter Sohn seiner Zeit, obschon aber die geistige Strömung seines Zeitalters um Kopfeslänge hinausragend. Es war dies die Zeit, wo eine neue Ideenwelt von den knechtischen Anschauungen des Mittelalters sich losrang, die Epoche der Reformation und ihrer Gedankengährung, das erste Aufathmen des modernen Freiheitsgeistes, der alte Bande sprengte und neue Maßstäbe der Prüfung an alles Bestehende legte. Namentlich das eigene Vaterland Spinoza’s gab damals das kühnste Beispiel eines heldenmüthigen Abschüttelns aller politischen und religiösen Fesseln. Der Freiheitskampf der Niederlande, jenes „anziehende Capitel der Weltgeschichte“, wie es noch Goethe und Schillerr zu dichterischem Schaffen begeisterte, hatte sicher auch den nachfolgenden Geschlechtern die Erbschaft des Freimuths hinterlassen. In Holland herrschte seit seiner schwer errungenen Unabhängigkeit wie in keinem andern Staate jener Zeit umfassende Religionsfreiheit, Anerkennung und Vollberechtigung aller Religionen. Das Land hatte unter Spaniens Joch die schwere Hand des Glaubensfanatismus fühlen gelernt; es wählte den guten Theil, als es zum Freihafen aller verfolgten Meinungen und Religionen sich erhob und auch den der portugiesischen Inquisition entronnenen Juden eine Sicherheit gewährende Zufluchtsstätte bot. Aus einer solchen eingewanderten portugiesisch-jüdischen Familie war Benedict von Spinoza – mit seinem jüdischen Namen hieß er Baruch – am 24. November 1632 geboren worden. Seine Vorfahren in der frühern Heimath scheinen zu den vornehmen Geschlechtern gehört zu haben, seine nach Amsterdam geflüchteten Eltern jedoch nahmen hier keine besonders hervorragende Stellung ein. Sein Vater war ein Kaufmann von geringem Vermögen, der aber dennoch seinem vielversprechenden Sohne eine gründliche, obzwar zunächst auf’s Hebräische und Talmudische gerichtete Bildung in der gutorganisirten Lehranstalt der dortigen israelitischen Gemeinde angedeihen ließ. Die von allem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Juden erzogen damals ihre Kinder zumeist nur für ihr inneres Gemeindeleben. Die Begabtesten wurden für das einzig erreichbare öffentliche Ehrenamt eines Rabbiners erzogen.

Der Talmud, in dessen besondrer Verehrung und Erforschung der junge Baruch aufwuchs, ist ein eigenartiges Studium, ein sehr dunkler Schacht, in den man tief hinabgestiegen sein muß, um edles Metall herauffördern zu können. Auf der Oberfläche sieht man da nichts als werthloses Gestein und Gerölle, und von Hunderten, die über den Talmud schreiben, hat ihn vielleicht Einer tiefer erfaßt, von Hunderten, die auf ihn schimpfen, hat kein Einziger eine Zeile in ihm gelesen. Der Talmud ist noch heute der großen Welt gegenüber ein Buch mit sieben Siegeln und wird es wohl noch lange bleiben, weil seine tiefere Kenntniß wegen der Knappheit der Ausdrucksweise und des fremdartigen Idioms, besonders aber wegen der ureigenen, bald schwerfällig fortschreitenden, bald kurz nur andeutenden Methode eine ganz besondere Hingabe und Jahre hindurch den angestrengtesten, ausschließlich nur diesem Studium gewidmeten Fleiß erfordert. Verschrobene Menschen macht dieses Talmudstudium allerdings noch verschrobener, aber für geisteshelle Köpfe hat es sich meistens, wegen der Vielseitigkeit des logisch bearbeiteten Stoffes aus den entlegensten Gebieten und den verschiedensten Zeiten, als ein Gedankenwecker und Geisteshebel von ganz besonderer Kraft erwiesen. Die fromme Scheu vor der Göttlichkeit der heiligen Schrift, die darin angeregt wird, hat unser Baruch allmählich abgeschüttelt, aber die Geistesschärfe und Begriffsklarheit, das Erbtheil diesem Studiums, blieb ihm durch’s ganze Leben eigen und hat jedenfalls bedeutend dazu beigetragen, ihn zum vielbewunderten Denker zu machen.

Allerdings damals, als er zu den Füßen seiner frommen Talmudlehrer saß, trübte noch kein Wölkchen religiösen Zweifels des Lehrens und Lernens selige Freude. Die Lehrer fühlten sich mehr als belohnt durch dieses Schülers ungewöhnliche Fortschritte, der Schüler aber war gehoben durch seinen wachsenden Scharfsinn, den schwierigsten Stoff eben so klar wie tief zu durchdringen. Nur ab und zu soll eine überraschende, an Ketzerei streifende Frage des fünfzehnjährigen Knaben seine Lehrer stutzig gemacht haben, aber die gewaltige Gährung in seinem Innern begann erst, als er über das begrenzte Wissensziel dieser Umgebung hinaus in mathematische und physikalische Studien, die zur Zeit in hoher Blüthe standen, wie in die Schriften neuerer und älterer Philosophen, namentlich des jüdisch-mittelalterlichen Maimonides etc., sich vertiefte. Zum Theologen von seinen Eltern bestimmt, hatte ihn noch während seiner eifrigen theologischen Studien ein jüdischer Schriftsteller aus dem zwölften Jahrhundert, ein heller Kopf von tiefem Forschergeiste, Ebn Esra, wegen seiner freisinnigen Ideen ganz besonders angezogen und doch wieder abgestoßen durch die Art, wie er den offenbarsten Ketzereien das Gepräge der Frömmigkeit zu geben verstand. Diese Bemäntelung mißfiel unserm jugendlichen Freigeist, obgleich er seine Seele von den freien Gedanken mächtig ergriffen fühlte. Indem er aber vom Baume der Erkenntniß pflückte, trieb es ihn nun immer weiter weg aus dem Paradiese der Glaubenstreue. Ein unbezwinglicher Reiz stachelte ihn, halb freie, halb verstohlene Blicke in andere Wissenszweige zu thun.

Hierzu aber mußte er zunächst die damalige Literatursprache, die lateinische, gründlich erlernten. Er nahm bei einem deutschen Philologen Privatstunden und vervollkommnete sodann sein classisches Wissen, wie seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse bei einem berühmten Arzte und gründlichen Kenner des römisch-griechischen Alterthums, Franz van den Ende. Dieser stand in dem Rufe, auf den Geist seiner zahlreichen Schüler nicht nur durch die Feinheiten der classischen Sprachen, sondern auch durch den Samen des Unglaubens zu wirken. Van den Ende war ein vielseitiger Gelehrter, ein Weltmann und kirchenfeindlicher Freigeist, sein Haus ein Sammelpunkt zahlreicher lernbegieriger Jünglinge und Männer. Vielleicht war es nicht einzig und allein sein reiches Wissen und die tüchtige Lehrkraft, welche Viele an sein Haus fesselten. Er hatte auch eine ungewöhnlich kenntnißreiche Tochter, die ihn, so oft seine ärztliche Berufspflicht ihn vom Hause abrief, in gewandter Weise vertrat. Clara Maria unterrichtete die Jünglinge ebenso geschickt in der Musik wie in lateinischer Stylübung, und obgleich kein weltlicher Blick und Gedanke während des Unterrichts den erforderlichen Ernst unterbrach, sollen doch mit der Zeit lebhafte Regungen anderer Art die Lehrerin sowohl als zwei ihrer Schüler ergriffen haben. Unser streng jüdisch erzogener Philosoph wagte sich wohl anfangs kaum einzugestehen, daß es Liebe sei, die ihn so unwiderstehlich an Blick und Wesen der katholischen Maria gefesselt hielt. Im Uebrigen beweist der höchst elegante neulateinische Styl in allen seinen Werken, daß er bei Erlernung dieser Sprache nicht allzu viel Zeit auf den Liebesrausch verwendet haben kann. Es bestehen sogar Zweifel, ob er überhaupt jemals wirklich eine andere Liebe gefühlt, als die Liebe zur Philosophie.

Das Haus van Ende’s, wo er noch mit andern strebsamen Freunden verkehrte, ist der Rubicon gewesen, wo er den entscheidenden Schritt vom tiefwurzelnden Glauben seiner Kindheit in das freie Gebiet der Vernunftanschauung gethan. Von dieser Höhe ist er nur noch als Gegner in das Lager seiner streng orthodoxen Amsterdamer Glaubensgenossen zurückgekehrt. Seine Eltern und frommen Angehörigen gewahrten bald mit Schmerz den allmählichen Umschlag seiner Gesinnung und seiner Lebensweise, und je höher die Erwartungen in Bezug auf ihn gestiegen waren, desto erbitterter war man jetzt allgemein in seinem israelischen Kreise, als man ihn seine reichen Gaben und Kenntnisse zu einem [150] Rütteln an der väterlichen Religion verwenden sah. Harte Kämpfe müssen zu jener Zeit sein Inneres bestürmt haben. Hier ein traulich-inniger Verwandtenkreis, dort ein wissenschaftlicher Freundescirkel, hier frische Jugendeindrücke, dort blasse, abstrakte Anschauungen; es kämpfte Gemüth gegen Verstand, Herz gegen Kopf, und vielleicht auch die Liebe gegen Brauch und Herkommen. Aber auch aus ihm sprach’s entschieden: „Ich kann nicht anders.“ Ein Apostel kalter, speculativer Vernunft sollte er werden, und je tiefer und kühner sich seine Gedanken entfalteten, um so schärfer und schroffer sonderten sich seine neugewonnenen von den hergebrachten Anschauungen.

Solch einen Weg aber konnte er nicht betreten, ohne schwere Prüfungen, harte Angriffe seiner Angehörigen und Glaubensgenossen wider sich heraufzubeschwören. Wohin er auch kam, zu seinen Lehrern, zu den Verwandten und Freunden seines elterlichen Hauses, überall dröhnte ihm jetzt bereits das verhängnißvolle Wort „Abtrünniger!“ „Ketzer!“ „Verräther!“ entgegen. In seinem Herzen fühlte er alle jene Fäden reißen, die ihn bisher mit einer Umgebung verbunden hatten, welche ihn nicht verstand und nicht verstehen mochte. Seinem durch und durch offenen und consequenten Charakter blieb eben jede Verstellung fremd. In Spinoza’s Leben und Schriften blieben Klarheit und Wahrheit die leitenden Gesetze. Als wahr stellte er nur das hin; was dem Denken als völlig, als mathematisch bewiesen und ohne Widerspruch sich ergab. Dies aber erklärte er als unumstößlich und über allem Irrthum erhaben, ohne sich irgendwie an Rücksichten, an alte Gewohnheiten und ererbte Gefühle zu stoßen. Was er that, das that er offen und frei, und was er nicht anerkannte, das bekannte er auch niemals mit den Lippen.

Darin war er ganz anderen Schlages als sein ketzerischer Vorgänger Uriel Acosta; dieser wollte persönlich ungebunden, frei von allen Satzungen sich bewegen und doch als vollberechtigtes Mitglied mitten in der Gemeinschaft der Religionsgenossen verbleiben. Unsre Gegenwart denkt darüber ganz ebenso und fragt: warum sollte man dies nicht dürfen? Damals aber war eine solche Toleranz noch nicht an der Tagesordnung; damals mußte jeder Einzelne in Reih und Glied einer Kirchengemeinschaft stehen und alle üblichen Pflichten derselben erfüllen. Selbst das freie Holland duldete eine solche von aller Confession losgebundene Freiheit nicht. Ein öffentliches Aergerniß in dieser Hinsicht zog unfehlbar den Kirchenbann mit den schädlichsten Folgen auch für das bürgerliche Leben nach sich. Auch die neu constituirte jüdische Gemeinde Amsterdams gelüstete es nach diesem Nimbus eines straffen Kirchenregiments. Oder wollten vielleicht diese so gastfreundlich aufgenommenen Flüchtlinge der christlichen Welt nur zeigen, daß auch sie in ihrer Mitte nicht gleichgültig duldeten, was von aller Welt als „Gottlosigkeit“ bezeichnet wurde? Uriel Acosta war verzweifelt, als er in Folge des über ihn verhängten Anathems von Allen gemieden ward, und er wurde noch mehr gereizt und verbittert nachher, als er mit dem Unglauben im Herzen, um seine bürgerlichen Verhältnisse zu bessern, zum Scheine widerrufen und Buße geheuchelt hatte. Unter Groll, Verbissenheit, Zerrissenheit und stetem Aufruhr seines Innern härmte er sich ab und nahm sich schließlich das Leben.

Und gewiß, es gehört ein starker, heldenhafter und ruhiger Geist dazu, alle früheren Beziehungen eines herzlichen Familienlebens freiwillig zu durchschneiden und in einsamer Denkerarbeit der Welt den Rücken zu kehren. Ein so gearteter Geist war Spinoza. So wie er einmal mit den religiösen Anschauungen seiner Zeit gebrochen hatte, konnte er auch nichts mehr gegen seine Ueberzeugung bekennen oder äußerlich thun. Zum Scheine und aus Nützlichkeitsgründen schwanken und widerrufen, wie Acosta, oder gar mit der alten Religionspartei liebäugeln und doch in Wort und Schrift die Fundamente derselben erschüttern, wie sein Meister Cartesius, das widerstrebte Spinoza’s geradem Wesen. So verzweifelte er denn auch nicht kleinmüthig, als das erwartete Ungewitter sich endlich über seinem Haupte zusammenzog. Furchtlos trat er hin vor das religiöse Tribunal, welches ihn zu Vertheidigung oder Widerruf vor sich forderte; unerschrocken legte er seine Ansichten dar. Zu diesem Zwecke verfaßte er eine besondere Vertheidigungsschrift, welche wahrscheinlich in sein später so berühmt gewordenes und vielgeschmähtes Werk, den „Theologisch-politischen Tractat“, verflochten ist, worin in der Hauptsache dargethan wird, daß die Freiheit zu philosophiren, unbeschadet des Glaubens und auch des Friedens im Staate, nicht blos gestattet werden könne, sondern daß ihre Entziehung sogar das Gemeinwohl schädige. Dies zu beweisen, unterwarf er die Bibel, speciell die Prophetie, die Wunder, die Gesetze und Lehren einer gründlichen Untersuchung. Als gewissenhafter Mensch wollte er in seinem durch theologischen Hader ohnehin schon genugsam aufgeregten Vaterlande auch vor der Außenwelt – denn Spinoza hatte sich bereits einen ausgebreiteten Ruf erworben – sein Denken und Thun rechtfertigen und besonders seine oft gethane Aeußerung verfechten: „In einem freien Staate müsse einem Jeden erlaubt sein, zu denken, was er wolle, und zu sagen, was er denke.“

Nachdem aber endlich über den „unverbesserlichen Abtrünnigen“ der Bann in aller Form ausgesprochen war, sollte er noch alle Bitterkeiten eines Geächteten und Ausgestoßenen durchkosten, bis es ihm vergönnt war, von aller Welt zurückgezogen, nur der stillen Weltbetrachtung zu leben. Weder eine Verkennung seines unbestechlichen Charakters, als ihm eine bedeutende Pension angeboten wurde, falls er seine spitze, gegen die Glaubenssatzungen gerichtete Feder mäßigte, noch der glücklicher Weise fehlgegangene Dolchstoß eines tollen Fanatikers, noch eine Anklage beim Magistrate gegen den „Gotteslästerer“, die zu seiner Verweisung aus der Stadt führte – keinerlei Drang und Verfolgung konnte ihn wankelmüthig machen. Dergleichen Ausbrüche menschlicher Leidenschaften, Haß, Zorn, wie alle widrigen Affekte ertrug er ohne Gereiztheit, ohne Abscheu und Bedauern; in seiner erhabenen Anschauungsweise betrachtete er dieselben nicht einmal als Fehler der menschlichen Natur, sondern als Eigenschaften, welche zu ihr so gehören, wie Hitze, Kälte, Sturm und Donner zur Natur der Luft, Bewegungen, die unangenehm, aber doch nothwendig sind und bestimmte Ursachen haben. Erhabene Anschauung – würdig eines Weisen, ähnlich dem bekannten Ausrufe des Sokrates: „Nach Ungewitter Regenschauer!“

Ob er auch ebenso ruhig die verschmähte Liebe hingenommen? Oder ob seine Liebe zu Van Ende’s gelehrter Tochter überhaupt, wie schon angedeutet, geschichtlich nicht stichhaltig ist? Es wird wenigstens erzählt: ein angesehener Jüngling, Namens Kerkering, aus einem Lübeck’schen Patriziergeschlechte, habe durch einen Perlenschmuck von bedeutendem Werthe das Herz dieser von Spinoza lediglich ihres lebhaften Geistes wegen heißgeliebten Clara Maria mit Erfolg für sich eingenommen. Auch sie hatte wohl längere Zeit eine tiefe Neigung für den hochbegabten Philosophen empfunden, der auch äußerlich wohlgestaltet war und mit seiner bräunlichen portugiesischen Gesichtsfarbe, mit seinen feinen Zügen, dem gekräuselten glänzend schwarzen Haar und dem lebhaften Blitzen seiner kleinen schwarzen Augen einen sehr angenehmen Eindruck machte. Aber bei der ernsten Wahl eines Lebensgefährten gab das Mädchen Kerkering den Vorzug; denn dieser war sehr reich und Spinoza nur sehr geistreich, aber arm; ernährte er sich doch durch das Schleifen optischer Gläser. Mag er, geleitet durch seine eifrigen mathematisch-physikalischen Studien oder durch die bedeutenden Entdeckungen jener Zeit mittelst des Fernrohres, oder aus sonstiger Vorliebe gerade für dieses Handwerk sich bestimmt haben, so war es doch überhaupt sein fester Vorsatz, nur von der Arbeit der eigenen Hände zu leben. Alle Unterstützungsanerbietungen seitens mehrerer sehr begüterter Freunde wies er standhaft zurück. Bei seiner überaus mäßigen Lebensweise in dem ländlichen Aufenthalte bei Amsterdam und später in Rhynburg bedurfte es der Ausübung jenes Handwerks nur während weniger Stunden des Tages. Er sehnte sich nur nach Unabhängigkeit und stiller Abgeschlossenheit. Seine Wirthsleute staunten über solche genügsame, mit so Wenigem zufriedene Natur, besonders da sie tagtäglich sehr hohe Herren bei ihm ein- und ausgehen sahen. Er pflegte zu bemerken: „Die Natur ist mit Wenigem zufrieden, und wenn sie es nicht ist, bin ich es dennoch.“ Als er bei einem Bankerotte zweihundert Gulden verloren, sagte er gleichgültig: „Um diesen Preis erwerbe ich mir Gleichmuth.“ Einst besuchte ihn der Staatsrath und Großpensionarius Jan de Witt, der bekannte Märtyrer der Freiheit, das Opfer des blindwüthenden Pöbels. Spinoza studirte mit Diesem Mathematik. De Witt traf den Freund in einem ärmlichen Hausrocke; erstaunt darüber, bot er ihm sogleich hülfbereit Unterstützung an. Lächelnd lehnte jedoch Spinoza dies mit den Worten ab: „Es wäre unvernünftig, ein kostbares Gewand um ein so geringes Ding zu legen.“

Trotz seines ungesunden Körpers blieb er beharrlich in ununterbrochener Thätigkeit; Lebensfreuden im gewöhnlichen Sinne [151] des Wortes drangen fast gar nicht in seine engumfriedete Einsamkeit. Erheiterung quoll ihm einzig aus der ungetrübten Gemüthsruhe. Freudenstrahlen waren ihm nur die Strahlen der wachsenden Erkenntniß. Solch’ ein mäßiges, kampf- und entsagungsvolles Dasein war ihm mit der Zeit so sehr zum Grundsatz geworden, daß es ihm von dem Wesen eines aufrichtig strebenden Philosophen untrennbar schien. Einem gelehrten Freunde, der verschiedene philosophische Fragen an ihn gerichtet, antwortete er: „Ich muß Sie noch darauf aufmerksam machen, daß all’ dies Ihr fortwährendes Nachdenken und die höchste Beharrlichkeit des Geistes und des Willens erfordert; dazu ist vor Allem nothwendig, sich eine bestimmte Lebensweise und Lebensart vorzuschreiben.“

Und in dieser Abgeschiedenheit und beschaulichen Ruhe dachte er himmelstürmende Gedanken, rüttelte er an allen Säulen der bestehenden Weltordnung, untersuchte ihre Tragpfeiler und verwarf viele als morsch und wurmstichig; da reihte er seine knappen Begriffsbestimmungen, Voraussetzungen, Lehrsätze und Beweise in mathematischer Methode und Sicherheit aneinander und fügte diese Steine zu kühnem Baue zusammen; da dachte er über das Weltall oder, was bei ihm dasselbe ist, über Gott; denn Gott und Weltall sind bei Spinoza in ihrem innersten Wesen nicht getrennt, sondern Eins; die Welt ist in Gott; Gott oder die eine untheilbare „Substanz“ ist ihm die innere Ursache alles dessen, was da ist, die Welt aber die Selbstdarstellung Gottes; Materie und Geist, die schroffsten Scheidewände des Materialisten und Idealisten, hat er als in einander greifend aufgefaßt und, wie Keiner vor ihm, innig miteinander verschmolzen –; da stellte er tiefeinschneidende Untersuchungen an über Religion und Moral, über Staat und Politik; hier schrieb er ein System der Ethik, welches die Welt halb in Staunen, halb in Angst versetzte. Alle hergebrachten Ansichten von Tugend, Recht, Liebe und Frömmigkeit verwarf er, verwarf Alles, was man gewöhnlich unter gut und böse, recht und schlecht, schön und häßlich verstand, und sprach doch voll Entzückung von der höchsten Erkenntniß und Liebe zu Gott. Die gewöhnliche Vorstellung von einem persönlichen Gotte verwarf er freilich, und doch galt ihm die Gottheit als erhabener Zielpunkt alles Lebens, Liebens und Strebens. Er verwarf die Willensfreiheit, und doch regiert kein Zufall und macht den Menschen zum blinden Werkzeug eines blinden Fatums. Ueberall durchzieht das All, die Gottheit mit eingeschlossen, eine strenge, ewige Gesetzlichkeit, und dennoch kann der Mensch frei und groß sein – durch Erkenntniß und Liebe.

Gewiß, er war nicht blos ein großer, sondern auch ein ganzer Mann, dieser Spinoza. Seinem kühnen Pantheismus, dessen Kernpunkte wir eben kurz andeuteten, hat er zunächst Gestalt und Bedeutung verliehen – durch seine eigene ihr entsprechende Lebensführung. Er bewies der Welt, daß ein Denker wahrhaft frei denken, die hergebrachten Anschauungen von Gott und Welt, Geist und Stoff, Natur, Recht, Tugend und Willensfreiheit anders auffassen, ja sogar gewaltig daran rütteln und dabei doch ein durch und durch reiner, edler und sittenfester Charakter bleiben könne.

Sowohl dieser letztere Umstand wie die Klarheit, Schärfe und der mathematisch geordnete Aufbau der Gedanken haben dem Spinozismus die größten Geister erobert, nicht blos einen Lessing, Goethe, Schelling, sondern auch heute noch eine beträchtliche Anzahl hervorragender Naturforscher. Anfangs freilich hatte die Eigenartigkeit seines Philosophirens vielfach kein rechtes Verständniß gefunden; Anfragen in Menge wurden an ihn gerichtet, welche er sämmtlich mit stets nachsichtiger Freundlichkeit und seltener Geduld beantwortete.

Betrachtet man nun aber die praktische Seite seiner Lehre, so ist diese nicht zu verwirklichen, außer etwa innerhalb einer Gemeinde von lauter sittenrein lebenden Weisen. Ein ganzes Volk mit spinozistisch-pantheistischer Weltanschauung würde auf die Dauer lebensunfähig sein. Nur die harmlose Natur und lautere Gesinnungsweise eines Spinoza konnte sich über die Gemeingefährlichkeit solcher Weltanschauung in ihren praktischen Folgen und Wirkungen täuschen. Wie aber hätte eine noch glaubenseifrige Zeit, in welcher man um die nichtssagendsten Dogmen heftig stritt und darüber in getrennte Secten auseinanderging, wie hätte eine solche Zeit nicht in leidenschaftlichem Zorne gegen einen Philosophen entbrennen sollen, der mit einem scharfen Luftzuge das Lebenslicht aller bestehenden Religionen auszublasen suchte? Spinoza hat, wie schon gesagt, diesen Eifer verstanden, ihn deshalb auch geschont und jedes directe Aergerniß zu vermeiden gesucht, wie er z. B. der Uebertragung seines theologischen Tractats aus dem Lateinischen in’s Holländische sich widersetzte. Kaum begreiflich ist es daher, daß er gerade seinen Stammesgenossen die Anwendung der damals ganz alltäglichen Achterklärung nicht verzeihen konnte.

Mancher Ausdruck dieser Gereiztheit mag indeß auf Rechnung seiner Krankheit zu schreiben sein, welche ihn frühzeitig altern ließ. Die Hälfte seiner Lebenszeit war sein Körper mit der Schwindsucht behaftet, und wohl nur seiner genügsamen Lebensweise und stillen Zurückgezogenheit – von 1664 an in Voorburg und im Haag – verdankte er die Verlängerung seines Daseins und die rüstige geistige Spannkraft. Sein berühmt gewordener Name gestattete es ihm jedoch nicht, so abgeschieden zu bleiben, wie er es wünschte; es fehlte, wie wir gesehen haben, nicht an häufigen Besuchen von Freunden und namentlich Seitens der fremden Wißbegierigen, die den Meister nicht blos aus seinen Schriften, sondern auch persönlich zu kennen wünschten. Von solchen, wie von den Männern, die schriftlich mit ihm in wissenschaftlichem Verkehre standen, namentlich von seinem reichen Schüler Simon de Fries, ward ihm nach wie vor häufig und in der schonendsten Weise reichliche Unterstützung und wesentliche Verbesserung seiner materiellen Verhältnisse angeboten, consequent aber und oft mit sarkastischen Bemerkungen wies er dergleichen Anträge zurück. Simon de Fries, der unverheirathet geblieben, wollte ihn sogar zum Gesammterben einsetzen. Er schlug dies aber beharrlich aus und bat Simon, seine Brüder nicht zu benachtheiligen. Sein Sinn war nicht auf Erdengüter, nicht auf Geld und nicht auf Ruhm gerichtet; er hatte auch nicht den Ehrgeiz, eine philosophische Schule zu stiften; sein denkendes Leben und Forschen gab seinem Gemüthe volle Befriedigung.

Eine ordentliche Professur in Heidelberg, damals für einen Israeliten ein noch nicht Dagewesenes, welche der Kurfürst von der Pfalz ihm freundlich antragen ließ, schlug er in peinlichster Redlichkeit höflich aus, weil er „nicht wüßte, wie er nach seiner Ueberzeugung offen philosophiren und vortragen solle, ohne Anstoß zu geben.“ Auch glaubte er in der Fortbildung der Philosophie, seiner heiligsten Lebensaufgabe, durch ein öffentliches Lehramt behindert zu werden.

Seine Werke (die „Ethik“ ist nach seinem Tode ohne volle Nennung des Namens, blos unter B. d. S. von seinem bewährten Freunde, dem Arzt Ludwig Meyer, herausgegeben worden) haben schon bei seinen Lebzeiten und unmittelbar nach seinem Tode einen heftigen Sturm der Philosophen und Theologen hervorgerufen. Doch bald ruhten auch diese Werke, wie ihr vielgeschmähter Verfasser, geächtet im Grabe der Vergessenheit, bis ein volles Jahrhundert danach ein erneueter wissenschaftlicher Sturm sie an’s helle Tageslicht zog. Gewiß wäre da über Sinn und Verständniß seiner speculativen Ergebnisse nicht so viel gelehrte Debatte und oft so leidenschaftliche Fehde entstanden, wenn es Spinoza durch eine längere Lebensfrist gegönnt gewesen wäre, seine Ansichten selbst zu erklären. Er ist aber zu früh dem Leben entrissen worden. In seinem fünfundvierzigsten Lebensjahre, am 21. Februar 1677, starb er, wie er gelebt hatte, sanft und still. Einer seiner eigenen Aussprüche (Schluß der Ethik) dürfte seine Persönlichkeit uns am kürzesten in’s Gedächtniß prägen: „Alles Hohe ist ebenso schwer wie selten.“

M. Dessauer.




Meine erste Seereise.
Erlebtes von Otto Günther.
II.

Jan Maat ist ein eigener Kauz; er schwärmt für „’nen Lütten“, und ehe er ihn weg hat, wird’s ihm auch schwer seine Zärtlichkeit zu verbergen – er mag ihn gar zu gern leiden, nachher aber, da ist ihm eigentlich gar nichts daran gelegen gewesen, und wenigsten schneidet er ein Gesicht, als hätte er Tinte geschluckt. Erst wird das Glas an die Nase geführt, erst mit dem rechten, dann mit [152] dem linken Nasenloche, zuletzt mit beiden, der süße Duft eingesogen, und dann langsam, langsam mit verklärtem Gesichte und halbgeschlossenem Auge der wärmende Trank hinuntergegossen; darnach aber ein Stöhnen und Räuspern, als wäre die schwerste Arbeit verrichtet worden, und ein ganz unmotivirtes Interesse für alles Andere, nur nicht für den Capitain und seine Flasche. Mehr als einen giebt’s ja doch auf keinen Fall.

Mahlzeit bei hohem Seegange.

Die scheidende Sonne des vergangenen Tages hatte noch mit ihren letzten Strahlen die weiße Fläche der in Leinwand gehüllten Masten warm beleuchtet – der kalt und grau heraufdämmernde Morgen traf uns mit kahlen Masten und Raaen, und unter Sturmsegeln im Schneesturme beiliegend. Fünf Tage hielt dieses Wetter an; schon nach den ersten vierundzwanzig Stunden waren sämmtliche Kleidungsstücke durchnäßt, trotz Seestiefel, Oelrock und Südwester, und von da an gab es nur triefende Kleider, wenn man aus der gleichfalls durchnäßten Coje heraus mußte zur Wache.

Der Capitain observirend (Höhe der Sonne messend).

Je eine Hälfte der Mannschaft hat die Wache und muß während derselben unter allen Umständen an Deck bleiben und Raaen und Segel bedienen, je nachdem eine Aenderung in der Richtung des Windes oder in seiner Stärke dies erheischt; die andere Hälfte, die „Freiwache“, darf sich von ihrer gehabten Anstrengung ausruhen, oder muß nothwendige Arbeiten verrichten und auch, wenn die Kräfte der Wache nicht mehr ausreichen, dieser helfen. Von vier Stunden zu vier Stunden, Tag und Nacht, wechselt der Wachdienst gleichförmig ab, oft viele Monate lang hintereinander, ohne die willkommene Unterbrechung eines Aufenthaltes im Hafen, und noch öfter muß der Matrose dabei wochenlang die Wohlthat trockener Kleider entbehren. Ein schweres Leben, das Seemannsleben, und bei Gott ein genügsames! Ohne Murren werden dort Anstrengungen und Strapazen als Alltägliches ertragen, wie sie das Landleben ähnlich nur als Außerordentliches mit sich bringt, und die in demselben gebotenen Genüsse sind meist negativer Natur, oder derartig, daß sie der Landbewohner gewiß kaum als solche anerkennt: im Hafen darf der Matrose die ganze Nacht durch schlafen, statt wie in See vier oder acht Stunden derselben schwer auf Deck oder in der Takelage arbeiten zu müssen; eine doppelte Ration Trinkwasser läßt oft die gedrückteste Stimmung in eine fröhliche und übermüthige umschlagen. Bei alledem geht der Humor selten aus, und oft genug geben unter drohenden Umständen die eigenthümlichen Scenen Anlaß zur hellsten und harmlosesten Heiterkeit.

Es ist Mittag, das Wetter ist noch dasselbe und sieht noch gar nicht nach Aufklären aus; schwer stampft das Schiff in die anstürmende See; tief holt es erst nach der einen, dann nach der andern Seite hin über.

Da kommt der Koch aus der Küche hervor, um den Eimer mit dicken Erbsen zur Mahlzeit in den Roof, in die Behausung der Mannschaft zu tragen, wo zwölf hungrige Mägen sehnsüchtig warten. Sie sind heute etwas sehr dick gerathen, die Erbsen, und machen ihrem Namen gar zu viel Ehre, aber bei dem wüthenden Hin- und Hertoben des Schiffes ging das Umrühren schlecht; Neptun jedoch weiß Rath für seine hungrigen Lieblinge – schwab! setzt der weiße Kamm einer heranrollenden Welle über die Schanzkleidung und spült aufschäumend in den nun dünnen Erbsbrei; er war auch wahrhaftig zu dick und zu heiß gewesen, und das Bischen Salz mehr ist nur gesund. Drinnen im Roofe wird mit williger Kelle die dünne, kalte und versalzene Mahlzeit vertheilt, und – „wenn’s auch nicht gut schmeckt, es füllt doch den Magen,“ denkt Jeder. Aber „wenn ich's nur erst drin hätt’!“ denkt auch Jeder. Mit dem Rücken gegen die Cojenwand gestemmt, auf der Backskiste sitzend und die Hacken fest in das Deck getreten, sitzt die heißhungrige Gesellschaft da; eine Hand balancirt den vollen Napf; die andere schwingt den Löffel; das Messer für das zähe Salzfleisch halten die krampfhaft zusammengepreßten Kniee. Mit langsam hin und her wiegendem Oberkörper sucht Jeder den ziemlich regelmäßigen Bewegungen des Schiffes zu folgen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; jetzt machen die an Backbord [153] Sitzenden alle zugleich eine höfliche, tiefe Verbeugung; gleich darauf erwidern die an Steuerbord Löffelnden ebenso devot und gemessen das unbeabsichtigte Compliment; fortwährendes Neigen und Beugen und größte Stille, denn Reden hält unnöthig auf.

Grot Jochen auf der Nachtwache.

Aber die „Clara“ ist ein schabernak’sches Ding; „zaust Dich der Sturm so, so willst Du Deine Hähnchen auch etwas rupfen,“ denkt sie und nimmt eine anrollende gewaltige Woge zum willkommenen Vorwande, um sich mit unvorhergesehenem Rucke tief auf die Seite zu werfen. Lautes Geschrei und Gelächter im Roofe; so tiefes Ueberholen war nicht vorgesehen; polternd stürzen die Backskisten durcheinander. Der schießt mit dem Kopfe voraus und dem Gegenüber in die Magengrube. Jener rutscht mit dem Gesäße von der Kiste auf das Deck, streckt die Beine in die Höhe und schießt beim Zurückrollen des Schiffes hintenüber Kobold. „Holl fast, hock fast!“ lacht Alles durcheinander; hier hat Einer sich selbst Gesicht und Bart in dicken Erbsen gebadet, dort Einer seinen Nachbarn mit Breiumschlag versehen; die verschüttete Mahlzeit bedeckt den Boden. Hin ist hin, und eine zweite Ration giebt’s nicht. Da hilft nichts, als den Leibgurt zwei Löcher fester zu schnallen und ein Stück Hartbrod als Ersatz zu knabbern. Die „Clara“ schüttelt sich in hellem Uebermuthe über den gelungenen Streich, daß ihr die Schaumlocken um den schlanken Bug fliegen; sie ist eben ein neckisches Ding, und Frauenzimmern ist nie über den Weg zu trauen. – Endlich, am sechsten Tage klärte sich das Wetter auf; die Sonne zeigte sich als blasse Scheibe hinter den Wolken; der Wind wurde nördlich, und wir konnten Curs auf den Canal zu legen.

Mannschaft beim Abendbrod (Thee).

Aber wo befanden wir uns? Das Unwetter hatte uns fast sechs Tage lang in der Nordsee hin- und hergetrieben; der bedeckte Himmel hatte eine astronomische Beobachtung zur sicheren Bestimmung des Schiffsortes unmöglich gemacht, und nach unserer Schätzung mußten wir ziemlich nahe der englischen Küste sein; da galt es aufzupassen.

Der Capitain kam sofort mit seinem Sextanten an Deck, als ihm gemeldet wurde, die Sonne scheine herauskommen zu wollen, und richtig, da war sie. Allerdings ließ sie nur eine Minute lang ihre ersehnten Strahlen auf die regenschweren Segel, auf das nasse Deck fallen, aber die kurze Zeit hatte ihm genügt, um mit geübter Hand mehrmals ihre Höhe über dem Horizont zu messen, und für die Messung den Stand des Chronometers zu notiren. Aus so gemessener Sonnenhöhe wird durch astronomische Berechnung die genaue Zeit des Ortes, an dem sich das Schiff befindet, bestimmt; der am Bord befindliche Chronometer zeigt dagegen stets die in demselben Augenblick für Greenwich geltende Zeit. Durch Vergleichung dieser Zeiten, der für den Ort des Schiffes mit der in demselben Augenblick für die Stadt Greenwich geltenden, erhält man den Unterschied beider, und dieser Zeitunterschied, aus dem Zeitmaß in Bogenmaß übertragen (24 Stunden sind gleich 360°), ergiebt die geographische Länge des Schiffsortes, da die Länge in der Nautik von Greenwich aus gerechnet wird. Die Bestimmung der geographischen Breite des Schiffsortes ergiebt sich bedeutend einfacher durch Messen der Höhe der Sonne im Mittag und Berücksichtigung ihrer gleichzeitigen Declination. Beide Größen, geographische Länge und Breite, in die Seekarte exact eingetragen, ergeben nun genau und sicher den Standpunkt des Schiffes, und von diesem Punkt aus wird nach dem Compaß der zu nehmende Curs bestimmt und von dem am Ruder stehenden Mann genau gesteuert. So ungefähr erklärte mir der Capitain damals sein geheimnißvolles und später täglich wiederholtes Thun, als er nach geschehener Berechnung an Deck kam und dem Matrosen am Ruder den Curs zurief; ich verstand seine Erklärung damals nicht, und kam mir auch später das in der Rechnung mystisch waltende natürliche sinus und cosinus verzweifelt unnatürlich vor.

Die „Clara“ schien jetzt nachholen zu wollen, was wir versäumt; wie ein Renner warf sie sich mit scharfem Kiel in die schäumenden Wellen, die machtlos hinter uns her rollten. Bald waren wir im Canal; vorbei zogen die steilen Kreidefelsen von South Foreland, vorbei die immergrüne Insel Wight, vorbei der wogenumschäumte Leuchtthurm von Eddystone. Schon am dreizehnten Tage unserer Cursreise hatten wir die spanische See im Rücken.

„Dat is dat irste Mal, dat ick hier drög’ dörchkamen doh,“ meinte Grot Jochen, „de span’sche See is sünst grad as baben dat Skagerrack.“

„Dat Skagerrack un Kattegat
de maken den Schäper de Hosen nat,“

summte er vor sich hin, und übernahm den Ausguck auf dem Vordeck, denn wir sollten während der beginnenden Abendwache die spanische Küste, Cap Finisterre, in Sicht bekommen. Das Wetter war herrlich; die lauen Aprilnächte, die unvergleichliche Pracht des Sternenhimmels zeigten die südlichere Breite. Ich schob mir ein Bündel Tauwerk als Kopfkissen zurecht und legte mich hin, meinen Gedanken nachhängend. Aus dem Roof drangen fröhliche Stimmen und Gesang; die Mannschaft saß beim Abendbrod und genoß in dem vom Schein der Lampe gemüthlich erhellten Raum ihren Thee; schwermüthig zogen von dort die Klänge heimathlicher Lieder über das Wasser; allmählich verstummte der Gesang und bald wurde es still. Der Wind war eingeschlafen, [154] die See glatt. Langsam stieg der Mond herauf und goß helles Licht und tief dunkle Schatten über das Deck. Jochen stand unweit von mir und lehnte träumend an der Regeling.

Nie schweift der Gedanke williger, verlangender in die Heimath zurück, als in der lauen sternklaren Nacht der südlichen Zone; leise rauschend schlagen die Segel lose an den Mast; träumend wiegt sich das Schiff in der leichten Dünung, und vom Bug flüstert das Wasser einschläfernd herauf; da zieht das Bild der Heimath leise vorüber; ich sehe sie sitzen im traulichen Zimmer, die theure Mutter; ihr müdes Auge ist tief auf die Arbeit gesenkt; die wohlbekannte Lampe spendet ihr freundliches Licht. Jetzt sinken die Hände ihr in den Schooß; sinnend blickt sie vor sich hin – denkt sie an mich? –

Plötzlich werde ich aufgestört aus meinem Traum. Heftiges Schnauben und Prusten klingt aus dem Wasser herauf; hellleuchtende Streifen ziehen mit Blitzesschnelle durch die See, bald hier, bald dorthin, bis sie sich endlich unter dem Bug sammeln. Delphine sind’s, eine ganze Heerde, die in der Stille der Nacht ihr geräuschvolles Spiel treiben. Schnell ergreife ich die stets bereite Harpune, des Augenblicks gewärtig, wo einer der flinken Gesellen sich dem Wurfe bietet; da jagen sie weiter heran, ein hellglänzender Fleck im dunklen Wasser. Unter mir ist mein Ziel, und zischend saust der Speer hernieder. Hurrah! das Eisen sitzt. Alles wird munter auf Deck und eilt herbei, den wild um sich schlagenden und widerstrebenden Burschen an Bord zu holen; Hand über Hand wird die Wurfleine eingeholt, und bald liegt er matt an Deck, fett und prall und über sechs Fuß lang, eine willkommene Abwechselung neben dem harten Salzfleisch.

Der Capitain war während der Abendwache an Deck geblieben. Jetzt, da Finisterre feuerklar in Sicht, ging er beruhigt in seine Cajüte. „Peters,“ wandte er sich in der Thür noch einmal um zu dem am Ruder stehenden Obersteuermann, „Peters, achte gut auf dieses Faß mit Regenwasser! Der Junge hat’s mir in den letzten Tagen mühsam gesammelt – ich will morgen früh darin baden.“ Damit verschwand er.

Süßwasser ist an Bord ein seltener Artikel; nur zum Trinken und Kochen wird es in kleinen Rationen täglich vertheilt; zum Waschen und Reinigen des Körpers giebt es nur Salzwasser, und das auf der Haut getrocknete Salz beißt und juckt, wenn nicht mit Süßwasser hin und wieder nachgespült wird. Ein Bad im Regenwasser ist daher eine ersehnte, aber für die Mannschaft nur in den regenreichen Calmen zu erreichende Erfrischung. In anderen Breiten genießt der Capitain sie für Alle.

Peters schielt nach denn Fasse. Es war nicht groß – man konnte nur gerade darin sitzen, aber – Süßwasser zum Baden!“ denkt Peters; „der Alte kann’s ja morgen nicht merken, ob schon Einer darin gesessen, und Einer ist Keiner.“ Die Gelegenheit ist zu verführerisch. Behutsam trägt er das Faß neben das Ruder, denn das darf nicht verlassen werden. Ruck, ruck, fliegen die Kleider vom Leibe, und im nächsten Augenblicke hockt Peters behaglich schnaufend im Fasse, aus dem heraus sein langer Arm das Ruder dreht; hin und wieder nur taucht sein dürrer nackter Leib aus dem dunkeln Fasse auf. Peters sieht nach dem Compasse, ob die „Clara“ noch auf dem Curse liegt. Es ist gar zu schön und wohlig – er sitzt seine Stunde am Ruder im Fasse ab.

Als der Untersteuermann Link unsern Peters ablöst, findet er ihn, unschuldig, als ob gar kein Regenwasser auf der Welt wäre, wie gewöhnlich am Ruder stehend. Mit größter Wichtigkeit übergiebt Peters an Link den zu steuernden Curs und macht ihn ganz zuletzt, als hätte er’s fast vergessen, auf das wieder abseits stehende Faß aufmerksam, das vor dem Umfallen oder Auslaufen sorgfältig zu bewahren sei; der Capitain wolle morgen früh darin baden. Peters geht nach vorn und legt sich stillvergnügt schlafen; Link bleibt am Ruder zurück; er schielt nach denn Fasse. Dasselbe dringende Bedürfniß nach Erfrischung, dieselbe Reflexion – und nach einer Minute regiert auch er das Ruder aus der Regentonne.

Am andern Morgen in aller Frühe erscheint der Capitain auf Deck; die Luft in der dumpfen und stickigen Coje war entsetzlich drückend und heiß gewesen. Da ist solch ein Bad im frischen Regenwasser doch eine herrliche Erquickung! Es sieht zwar etwas dunkel aus, das Wasser, aber das Segel war ja getheert, in dem es aufgefangen wurde, da kann ja das Wasser nicht so ganz klar bleiben. Ah – das erfrischt! „Ha, welche Lust Capitain zu sein!“ singt er vergnügt vor sich hin und steigt als Dritter aus der Tonne.

Wenn der gestrenge Herr geahnt hätte, daß sein Süßwasserbad schon so ausgiebig benutzt worden, es würde wahrscheinlich zu sehr heftigen Erklärungen gekommen sein.




Die Blinde der Tauben.


Der Vögel Zwitschern und ihr süßes Singen
Wird Deinem todten Ohr nicht mehr erklingen,
Doch siehst Du, wenn der Frühling naht, sein Walten,
Wie Knospen dann zu Blumen sich gestalten.

5
Du hörst nicht mehr die Dir vertrauten Töne

Der Sprache, doch Du siehst in seiner Schöne
Der Kinder Antlitz, siehst die kleinen reinen,
Die Kinderaugen wie sie lächeln, weinen.

Der Rede Sinn geht spurlos Dir vorüber,

10
Doch wird Dein heit’rer Blick darum nicht trüber;

Wenn scharf und schneidig harte Worte fallen,
Du ahnst den Inhalt nicht und sie – verhallen.

Du hörst es nicht, wenn ungerechter Tadel
Verunglimpft Deiner Seele reinen Adel;

15
Du hörst es nicht, das unheilvolle Rügen,

Das heuchelnd lobt, wenn fromm die Mienen trügen.

Und hat ein tiefes Weh Dein Herz erschüttert,
Das jede Lebensfreude Dir verbittert,
Dann schaust Du aufwärts, Sonne, Mond und Sterne,

20
Sie leuchten Trost aus ahnungsreicher Ferne.


Und wenn der Schlaf umfängt der Augen Lider,
Du weißt, der Morgenstrahl durchdringt sie wieder
Zu neuem Schaun der schaffenden Gestalten,
Die, Deinem Blick gehorchend, um Dich walten.

25
Ich – bin erblindet, kann nur in mich schauen

Mit meines Geistes Augen – Nacht und Grauen
Ist um mich, und ich sehe nicht die Lieben,
Die Wen’gen, die von Vielen mir geblieben;

Ich sehe nicht der Morgenröthe Leuchten,

30
Seh’ nicht demant’nen Thau die Flur befeuchten,

Seh’ nicht, wie Blumen ihm entgegenbeben,
Durch seinen Kuß geweckt zu neuem Leben.

Ich sehe nicht der Sonne Strahlengluthen,
Nicht Mond, nicht Sterne in der Ströme Fluthen

35
Sich spiegeln, sehe nicht den Tag sich neigen,

Den Morgen nah’n in andachtsvollem Schweigen.

Und will der Schlaf die todten Augen schließen,
Da fühl’ ich bittre Unmuthsthränen fließen,
Und leises Flehen flüstert bang’ die Frage:

40
Ob nimmer mir ein Morgen wieder tage?


„Nein!“ - tönt es durch der Nacht lautlose Stille:
„Erst wenn sie sinkt, der Seele morsche Hülle,
Sinkt Deiner Augen Schleier; neues Leben
Wird Himmelsklarheit dem erlosch’nen geben.“

45
So hör’ ich, ach! die Geisterstimme flüstern,

Und schwärzer noch will sich der Blick umdüstern,
Denn wie er suchen mag, er wird nicht finden
Den Stab – o, schweres Loos der armen Blinden!

[155]
Vor einem Froschaquarium.


Es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß bei einigen Thiergattungen, hauptsächlich den Raubthieren, Fälle vorkommen, wo die Eltern (meistens aber das Männchen), sei es in einem plötzlichen Anfalle von Wuth und Gereiztheit, oder aus Hunger, ihre Jungen tödten und verzehren. Beispiele hierzu liefert uns die Naturgeschichte der Löwen, Tiger und Bären in genügender Menge. Ja, selbst unsere zahme Hauskatze läßt sich bisweilen auf solchen Grausamkeiten ertappen. Daß aber Thiere einer und derselben Gattung – und noch dazu die jüngern, unausgebildeten die ältern – überfallen und auffressen, nicht aus Mangel an den erforderlichen Nahrungsmitteln, sondern aus freien Stücken, solches habe ich noch in keinem naturgeschichtlichen Werke verzeichnet gefunden und hat auch, meines Wissens, noch Niemand beobachtet. Was werden nun meine freundlichen Leser und Leserinnen für Gesichter machen, wenn ich ihnen erzähle, daß ich den doch allgemein für harmlos gehaltenen Junker Grünrock, unsern gemeinen Teichfrosch, in seiner Uebergangsperiode als Quappe, bei derartigen blutigen Missethaten ertappt und genau beobachtet habe, daß nicht Mangel, sondern nur Blutgier ihn dazu verleitet? Ich lasse hier meine Beobachtungen folgen; vielleicht hat Jemand Aehnliches bemerkt und wird durch diesen Aufsatz veranlaßt, auch die Resultate seiner Untersuchungen bekannt zu machen, was mir nur angenehm sein kann, da dadurch unser Wissen und unsere Kenntniß in Betreff der Naturgeschichte dieser Thiere vermehrt wird.

Es war im Sommer des Jahres 1876. Ich lebte in der Nähe Moskaus bei einer deutschen Familie als Hauslehrer auf dem Lande. Von Natur ein großer Thierfreund, hatte ich es verstanden, auch bei meinen Zöglingen Interesse für das Leben und Treiben der Thiere zu erwecken. So baten mich denn an einem schönen Junitage die Knaben, ihnen ein kleines Aquarium herzurichten.

Gern war ich dazu bereit, und nachdem ein wenigstens für den ersten Anfang genügendes Glasgefäß gefunden worden war, machten wir uns aus den Weg zu einem nahe gelegener Teiche, um die ersten Insassen für unsere „Gründung“ einzufangen. An Ort und Stelle angelangt, ward bald eine Einbuchtung des Teiches entdeckt, an deren sonnendurchwärmten Wasser es förmlich von Froschquappen wimmelte. Ueber letztere Entdeckung war ich um so mehr erfreut, als sich mir auf diese Weise eine günstige Gelegenheit bot, meinen Schülern die verschiedenen Metamorphosen zu zeigen, die ein Frosch durchzumachen hat, ehe er als vollkommener Junker vom Sumpfe das nasse Element verlassen und auf dem Festlande der Fliegenjagd nachgehen kann.

Schnell hatten wir ein halbes Dutzend der länglichrunden, langgeschwänzten und in allen Farben schillernden Quappen erhascht und in’s Glas gebracht. Zufrieden mit dem ersten ergiebigen Fang, begaben wir uns nach Hause und suchten hier nun unsern Gefangenen ihren neuen Aufenthaltsort so angenehm wie möglich einzurichten. Es wurden auf den Boden des Glases zwei Zoll Sand geschüttet und dasselbe fast bis zum Rande mit Wasser gefüllt. Hineingesetzte Würmer, Fliegen und sonst allerlei kleine Wasserinsecten sollten ihnen den Tisch stets gedeckt erhalten und ein Brettchen das Festland vorstellen, falls es einem der zukünftigen Froschjünglinge beschieden sein sollte, sich bald einer Umwandlung zum Vollkommenen zu erfreuen.

Es vergingen mehrere Tage, ohne daß sich eine irgend merkliche Veränderung an den Quappen hätte wahrnehmen lassen die hineingesetzten Thiere waren bald verzehrt und mußten durch neue ersetzt werden, bis endlich eines Morgens bei mehreren Quappen die Hinterfüße zum Vorscheine gekommen waren. Bis jetzt hatten die Thierchen entweder friedlich im Sande des Glases nebeneinander gelegen oder sie waren, munter im Wasser hin und her schießend, mit der Jagd auf die Würmer und Insecten beschäftigt. Nun aber trat plötzlich eine solche Veränderung in ihrem Benehmen ein, daß ich mich veranlaßt sah, sie genauer zu beobachten. Mit dem Hervorkommen der Hinterbeine schien in die Quappen ein böser Dämon gefahren zu sein. Alle ihnen gebotenen und bis heute freudig angenommenen Leckerbissen, fette Regenwürmer, schöne grüne Fliegen etc. verschmähend, schossen sie wüthend hinter den zwei noch beinlosen Geschwistern her und jagten die armen Geschöpfe fortwährend im Glase in die Runde, ihnen nicht einen Augenblick Ruhe gönnend.

Die unglücklichen Gehetzten suchten sich in den Sand einzuwühlen; sie machten alle möglichen und unmöglichen Wendungen und Schwimmkunststücke - Alles vergebens; die vier Verfolger waren ihnen stets auf den Fersen und zwangen sie immer von Neuem, ihr Heil in der Flucht zu suchen. Meinen Zöglingen machten die tollen Sprünge und Tänze, welche die Quappen im Wasser vollführten, natürlich viel Spaß und ließen sie hell auflachen. Ich ahnte aber nichts Gutes und hatte mich nicht getäuscht. Als am andern Morgen mein erster Gang zum Froschglase war, sahen meine Augen das Schreckliche, das unterdessen geschehen: eine der Quappen, welche sich schon der Hinterfüße zu erfreuen hatten, knabberte an einem Gegenstande, der auf der Oberfläche des Wassers schwamm, während die drei anderen träge auf dem Grunde lagen und die eine beinlose ängstlich hin und her schwamm. Wo war denn aber die andere geblieben? Sie war eben der oben schwimmende Gegenstand: ein Skelet, aufgezehrt von den eigenen stärkeren Brüdern, denen es gelungen war, sie nach langer, wüthender Hetze zu fangen und zu tödten.

Diesen Tag über schienen die Mörder sich von ihrer Anstrengung bei der Ausübung der bluthigen That zu erholen; alle lagen schließlich im Sande, und nur die Athembewegung verrieth noch, daß Leben in ihnen. Am nächstfolgenden Tage brachten die Knaben zwei große grüne und vollkommen ausgewachsene Laichfrösche nach Hause, und wir setzten sie zu den Quappen in’s Glas. Ich war äußerst neugierig zu sehen, was nun geschehen würde.

Eine Zeit lang saßen die beiden Quaker mit höchst ernster Miene auf dem Brettchen und schienen sich erst in dem neuen Aufenthaltsorte orientiren zu wollen. Darauf hüpfte der eine in’s Wasser und begann langsam und bedächtig umher zu schwimmen, was der andere nach einigen Augenblicken nachzuahmen für gut hielt, denn auch er versetzte sich mit kühnem Sprunge in’s nasse Element.

Jetzt wurde es auch aus dem Grunde des Glases lebendig. Wie mit Luft gefüllte Ballons, stiegen nach und nach die Quappen, nur mit dem Schwänzchen ganz unmerklich rudernd, vom Boden zur Oberfläche auf. Die einzige, noch nachgebliebene beinlose Quappe hatte dieses kaum bemerkt, als sie sich sofort in den Sand einzuwühlen begann. Doch statt, wie sie es wahrscheinlich gehofft, durch dieses Experiment den Augen der Mörder verborgen zu bleiben, lenkte sie vielmehr die Aufmerksamkeit derselben durch den aufsteigenden Sand auf sich und - sofort begann wieder die Hetze, jetzt noch viel bunter durcheinander, da die beiden Frösche, welche sich noch nicht ganz mit der neuen Oertlichkeit vertraut gemacht hatten, ängstlich hin und her sprangen, bald auf’s Brettchen, bald in’s Wasser, und schließlich auch noch zu tauchen begannen.

Einige Minuten hatte dieses tolle Durcheinander schon gedauert, da - eine plötzliche, stoßartige Bewegung zweier der Verfolger vom Boden des Glases nach oben - und beide hingen festgesogen am Halse des unglücklichen Opfers, der letzten beinlosen Quappe. Noch ein paar machtlose, schwache Zuckungen, und das überfallene, grausam gemordete Thier schwamm, den weißen Bauch nach oben, auf der Oberfläche des Wassers. Schnell waren auch die beiden andern Verfolger zur Hand, und alle Vier zehrten nun mit Wohlbehagen den eigenen Bruder in wenigen Stunden so weit auf, daß wieder nur das Skelet nachblieb. Die beiden großen Frösche saßen wieder auf dem Brettchen und schienen die ganze Geschichte nicht recht begreifen zu können; sie zwinkerten einander mit ihren großen, goldig geränderten Augen zu und athmeten so tief, daß der weiße Bauch mächtig auf- und niederwallte.

Ich mußte jetzt meine Beobachtungen auf mehrere Stunden unterbrechen, weil meine Pflicht mich abrief. Als ich dann wieder nach dem Stande der Dinge im Froschglase sah, war bereits von Neuem die ganze Gesellschaft in der höchsten Aufregung. Die Frechheit der Quappen suchte ihres Gleichen: sie jagten jetzt die großen, ausgewachsenen Frösche im Wasser umher, nur wurde diesmal die Jagd häufig von größeren Pausen unterbrochen, wenn [156] die beiden Grünröcke auf’s Brettchen flüchteten. Sobald sie aber wieder in’s Wasser hüpften, begann das Jagen von Neuem. Lange mühten sich die blutdürstigen Jäger vergeblich ab; das langbeinige Wild entsprang ihnen regelmäßig, wenn sie es schon erhascht zu haben glaubten. Da endlich (war es nun Instinct oder, wie ich annehmen zu müssen glaube, das Resultat einer reiflichen Erwägung der gemachten Erfahrungen, kurz gesagt, Verstand, das die Thiere leitete) änderten sie ihre Taktik. Zwei postirten sich unter dem Brettchen, und die beiden anderen begannen, sobald die Frösche sich im Wasser zeigten, die Treibjagd mit neuen Kräften. Wollten nun die Gehetzten Miene machen, aus dem feuchten Elemente zu entfliehen, so schossen sofort die beiden im Hinterhalte befindlichen Quappen hervor und scheuchten sie zurück. Dieses Manöver wurde so lange wiederholt, bis den beiden Fröschen augenscheinlich die Kräfte ausgingen und sie immer langsamer, immer matter sich bewegten, während die Quappen eine merkwürdige Zähigkeit und Ausdauer in der Verfolgung ihres Zieles zeigten. Noch ein paar schwache, mißlungene Versuche, auf’s Brettchen zu gelangen, ein letztes verzweifeltes Zappeln mit den Beinen - die blutgierigen Verfolger hingen am Halse des einen Frosches und hatten bald seinem Leben ein Ende gemacht, während der andre von mir, da mein Zweck erreicht war und weiter nichts zu beobachten blieb, aus dem Glase genommen und in Freiheit gesetzt wurde, wo er bald sich erholte und froh, der unheimlichen Gesellschaft entronnen zu sein, davonhüpfte.

Dies sind meine Beobachtungen, Beobachtungen, wie sie wohl noch kein anderer gemacht, und sollte vielleicht Jemand Aehnliches bei den Fröschen gesehen haben, so wäre es jedenfalls interessant zu erfahren, unter welchen Bedingungen dies geschehen ist. Ich muß noch einmal bemerken, daß die ganze Zeit über für reichliche Nahrung durch Würmer, Fliegen etc. gesorgt worden war und daß ja auch die Thiere die erste Zeit das ihnen gebotene Futter mit Appetit verzehrten, daß ferner diese Gier nach dem Fleische der eigenen Brüder sich erst zeigte, als die Thiere die Hinterfüße erhalten hatten. Merkwürdig ist noch der Umstand, daß die vier Quappen, als ihnen nun die Möglichkeit genommen war, auch fernerhin durch solchen Mord ihren Hunger zu befriedigen, dennoch keins von den zu ihnen hineingesetzten Thieren anrührten, sondern es vorzogen zu fasten, bis denn eines Morgens drei von ihnen todt auf dem Wasser schwammen; das vierte setzten wir wieder an den Teich, wo es jetzt höchst wahrscheinlich als stattlicher Frosch umherhüpft.

Was den Tod der letzterwähnten drei Quappen anbetrifft, so glaubten einige meiner Bekannten, denen ich diese Geschichte erzählte, daß derselbe durch Ersticken, das heißt dadurch herbeigeführt worden sei, daß ich das Wasser nicht häufig genug durch frisches ersetzt hätte, also Mangel an Sauerstoff in demselben eingetreten sei, wogegen ich bemerke, daß täglich eine sorgfältige Reinigung und Erneuerung des Wassers vorgenommen wurde.

Weiß Jemand dieses sonderbare Benehmen der Thiere zu erklären, so mögen diese Zeilen ihn veranlassen, auch einem weiteren Kreise sein Wissen mitzutheilen und so der Wissenschaft zu nützen, und ich glaube, daß wir noch lange nicht soviel wissen, daß wir nicht auch mit dem kleinsten Betrage zur Erweiterung unserer Kenntnisse auf dem Gebiete der Naturgeschichte zufrieden sein sollten.

C. Grevé.




Blätter und Blüthen.

Bei Hochwürden zu Tische. (Mit Abbildung Seite 145). Welcher Künstler hätte nicht sein Steckenpferd, das er mit Vorliebe reitet! Unser liebenswürdiger Genremaler Ed. Grützner hat, wie bekannt, das Leben der katholischen Geistlichkeit zu der eigentlichen Domäne seines Schaffens gemacht, und wir haben nicht verabsäumt, unsern Lesern manches dieser lebensvollen Gemälde zu reproduciren. Was die Grützner’schen Leistungen vor andern dieses Genres vortheilhaft auszeichnet, das ist im Gegensatze zu der absichtsvollen Satire in den Situationsbildern anderer Meister, denen der katholische Clerus hat Modell stehen müssen, eine gewisse harmlose Lebensfröhlichkeit, welche die Herren Caplane und Mönche bei den unschuldigen Freuden der Tafel und des Kellers aussucht und den poetisch angehauchten Darstellungen nur hier und da einen leisen Zug schelmisch lächelnder Ironie beimischt. Es ist eben nicht die mit Knütteln dreinschlagende Polemik eines polternden Pfaffenfressers, welche uns in den Grützner’schen Bildern entgegentritt, es ist ein in Linien und Farben sich gewissermaßen verstohlen aussprechender, ungemein feiner Sarkasmus, der ebenso wohl eine seltene psychologische Scharfsichtigkeit in den Details, wie den glücklichen Griff in der beziehungsvollen Wahl des Stoffes und dessen charakteristischer Gestaltung verräth. - Unser heutiges Bild, Grützner’s „Bei Hochwürden zu Tische“, spricht für ach selbst: Die hohe Geistlichkeit in lustiger Gesellschaft recht weltlich beim perlenden Rheinwein - und da ist sie ja auch, Hochwürdens jugendliche „Verwandte“, die unvermeidliche apostolische „Nichte“. Die Situation zeigt Leben in jeder Linie. Und wer könnte sie hier verkennen, die feine Ironie? Sie ist nicht vom Meister künstlich hineingelegt in sein Werk, sie ergiebt sich, Jedem greifbar, frei und ungezwungen aus der Situation selbst. Keiner von den vielen Hochwürden wird dem ewig heitern Grützner dieses Bildes wegen zürnen.


Unter dem Krummstab. Der zweite Theil der epischen Dichtung „Eine Römerfahrt“ von Johannes Nordmann ist unter dem vorstehenden Separattitel soeben erschienen und wird nicht verfehlen gleich seinem Vorgänger „Der Bauernkrieg in Oberösterreich“, Aufsehen zu machen. Er behandelt gleich diesem ein düsteres Thema, das alte Lied von dem Kampfe zwischen Finsterniß und Licht, von der Vergewaltigung der Vernunft und dem temporären Siege der fanatischen Dummheit. Auf seiner Fahrt nach Rom ist der Poet in das schöne Salzkammergut gelangt und rastet in St. Peter’s kühlem Keller, wo er sich beim Weine Kraft holt, die Schläfer auf dem alten Friedhofe gleich daneben zum Kreuzverhör zu citiren. In langen Geisterreihen stehlen sie sich der Beschwörung, unter ihnen der Schemen des Abtes Johannes von Staupitz, des Lutherfreundes, der ihm in wechselvollen Bildern den Glaubenskampf der Bauern schildert. Und diese Bilder nun entrollt der Dichter in aufgefrischten Farben vor den Augen der Mitwelt, die der Zeiten, aus denen sie stammen, leider fast vergessen hat. Kaleidoskopisch ziehen sie an uns vorüber in stetem Wechsel; der Faden, an welchen sie gereiht sind, hindert nicht den Sprung zur Seite, vorwärts und zurück, die Landschaft bietet nicht blos Gelegenheit zu schwungvollen Naturschilderungen, sondern auch hundert Anknüpfungspunkte für die Herbeiziehung von Menschen und Dingen. Den Mittelpunkt des Epos bildet die Vertreibung von dreißigtausend Protestanten aus dem Lande Salzburg unter dem fanatischen Erzbischofe Firmian im Jahre 1731. Die Gräuel, welche diese braven Leute um ihres Glaubens willen erdulden mußten sind vom Dichter mit glühendem Griffel geschildert; man fühlt, wie die poetische Gerechtigkeit einen Ausbruch sucht gegenüber solchem grausamen und thörichten Zelotenthum. Es klingt heute noch rührend und zum Mitweinen, das wehmüthige Wanderlied:

„Ich bin ein armer Exulant -
Also thu’ ich mich schreiben.
Man thut mich aus dem Vaterland
Um Gottes Wort vertreiben“

welches Nordmann geschickt im sein zürnendes Poem eingeflochten hat. Wäre bei der prächtigen Schilderung der Ausnahme, die den Vertriebenen in Deutschland geworden, nicht eine Erinnerung an „Hermann und Dorothea“ gerechtfertigt gewesen? Die Brücke zum nächsten Sange, welcher hoffentlich recht bald erscheinen wird, findet der Dichter in einer Apotheose des Walther von der Vogelweide, wobei es ihm mit Recht als eine Art Satyrspiel erscheint, daß aus dem Lande der Finsternis, Tirol, die Auferstehungslieder dieses gottbegnadeten deutschen Sängers klingen. Neben dem gedankenvollen Inhalte der Dichtung muß der Meisterschaft gedacht werden mit welcher der Verfasser die Sprache behandelt. Er hat das schwierige Versmaß der ottave rime gewählt, handhabt dasselbe aber trotz Ariost und Tasso; wenn ihm auch manchmal gewagte Neubildungen aushelfen müssen und hier und dort ein etwas wunderlicher Reim mit unterläuft, so will doch das wenig bedeuten gegenüber dem sonst unerschöpflichen Reichthum seiner Vorräthe. In dieser Beziehung muß das Epos ein bemerkenswerthes Kunstwerk genannt werden. Die eingeschalteten Balladen wirken erfolgreich als Ruhestationen, wie auch durch ihren Eigenwerth. Kurz, es darf das Nordmann’sche Gedicht allen Freunden einer tiefsinnig poetischen Lectüre und tüchtigen Gesinnung als eine beachtenswerthe Zeiterscheinung bestens empfohlen werden.


Bei Drucklegung des Artikel „Der Mann der Gegenwart (vorige Nummer) war weder dem Verfasser desselben noch uns bekannt daß Paul Lindau, wie inzwischen verlautet, eine Revue „Nord und Süd“ begründen und als kritisch-ästhetisches Blatt neben seinem „Gegenwart“ redigiren wird. Die Ueberschrift unseres Artikels dürfte somit bald nicht mehr ganz zutreffen.

D. Red.

  1. Ungarn stand damals unter dem Militärcommando des „Generalgouverneurs“ Erzherzog Albrecht, zu welcher Zeit die meisten, sowohl politischen, wie Justizämter mit deutsch-österreichischen Beamten besetzt waren, die, wie bekannt, nach dem sogenannten Ausgleiche ausnahmslos beseitigt wurden.