Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1877
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[93]

No. 6.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)


6.

Wer den Wein schüttelt, der rüttelt auch die Hefe auf.

Es geht eine Sage, und die Schiffer erinnern sich ihrer, wenn sie die Einöde von Meer und Himmel um sich haben. Ruhig liegt die See um das Schiff her, zum Verzweifeln ruhig; es ist Windstille, und die Segel hängen schlaff von den Masten nieder. Da regt sich's eines Tages in der Ferne und furcht mit langer, blauer Flosse das Wasser: der Haifisch. Näher und näher kommen die Ungethüme; die Kugeln pfeifen um ihre Leiber, aber keine trifft sie; die trügliche Angelkette mit der Lockspeise rollt nieder, aber sie beißen nicht an. Um das regungslose Schiff schwimmen sie mit den beweglichen Zähnen und den gierigen, tückischen, lauernden Augen. Die wetterharten Theerjacken aber auf dem Verdecke gehen mit verständnißvoll ernsten Blicken an einander vorüber, denn sie wissen, was das zu bedeuten hat.

Es wird Sturm kommen, und es wird Leichen geben auf dem Schiffe. Der Haifisch weiß es, und sie wissen es jetzt auch.

Wenn die großen Stürme der Weltgeschichte drohen, dann kommen die Haifische. Sie regen sich und tauchen auf, da und dort. Sie haben einen Instinct, der ihnen sagt, daß etwas in Gefahr ist zusammenzubrechen, und sie begehren nach Beute. Ob es wenig ist, was der Sturm für sie vom Deck fegen wird, oder ob das ganze Schiff zerschellen wird und die Wogen ihnen ein ganzes Festmahl zuschleudern werden – gleichviel. Sie rüsten sich.

Es war in der Morgenfrühe des nächsten Tages. Im Kesselhause der Baumwollspinnerei von Seyboldt und Compagnie waren die beiden Heizer, Abraham Fenner und Sebulon Trimpop, soeben damit fertig geworden, den nöthigen Kohlenvorrath aus der Kelleröffnung heraufzuschaffen. In einer Ecke aufgeschichtet lag das „schwarze Gold“, und Sebulon Trimpop stieß die Schaufel mit kühnem Schwunge in den Haufen hinein, während sein ihn fast um Kopfeslänge überragender Gefährte die Fallthür schloß, welche zu den Vorräthen unter der Erde hinabführte.

Die Sonne war schon aufgegangen, und durch etliche neu eingesetzte Scheiben der eisendurchgitterten Fabrikfenster, die sonst von Staub und Alter blind waren, konnte man den lichtdurchflutheten Morgenhimmel sehen. Sonst war es noch frisch in dem nach Westen zu gelegenen Raume; das Metall der Kessel, der Kalk der Wände und das Steinpflaster des Bodens hauchte eine fühlbare Kühle aus.

Sebulon zog ein buntes, baumwollenes Taschentuch aus dem blauen Kittel, der die Arbeiterbekleidung der Gegend bildet, und wickelte mit listigem Gesicht eine gefüllte Flasche heraus. Er entkorkte sie vorsichtig und that ein paar Züge aus derselben.

Der lange Abraham lehnte sich an den Ofen und sprach melancholisch: „Du wirst Dich noch um den Dienst trinken, Sebulon; ich warne Dich immer, aber Du hörst nicht eher, bis es zu spät sein wird. Der Alte kann's nun einmal nicht leiden.“ Dabei schielte er mit einiger Verlegenheit im Gesicht nach der Flasche hinüber.

„Ja, er hat uns neulich erst wieder eine Rede darüber gehalten, wie gottlos es wäre, etwas Geistiges zu genießen, ausgenommen wenn man krank wäre. Aber es ist früh am Tage und mich friert, und das macht mich allemal krank. Uebrigens laufen so viele Leute durch unsres Herrgotts Arme, die Geistiges zu sich nehmen, daß es so schändlich nicht sein kann. Und weil nunmehr die einzige Zeit ist, wo uns Niemand sieht, so wollen wir in Gottes Namen diesen Rest hinunterschlucken, Abraham.“

Er reichte die Flasche hinüber, worauf Fenner kopfschüttelnd seinen Standort verließ und dem gegebenen Beispiele folgte. „Es ist doch Sünde,“ seufzte er, sich den Bart wischend, während Trimpop die Flasche wieder einwickelte und in den Kittel steckte; „denn wir müssen thun, was der Alte sagt; weß Brod ich esse, deß Lied ich singe.“

„Ich werde ihm etwas pfeifen,“ bemerkte Sebulon verwegen, indem er die Eisenthür des Kesselofens aufhob und zu dem aufgeschichteten Brennholz schritt. „Meine Arbeit verkaufe ich ihm; das andre geht ihn von Rechtswegen nichts an. Wer heißt ihn alle Morgen mit meiner Seele Kirche zu halten und den Segen darüber zu sprechen?“ Und er warf ärgerlich ein paar schwere Holzscheite in den Schlund des Ofens.

„Das kann Deiner Seele wahrhaftig nichts schaden, Sebulon. Rede nur nicht so gottlos! Schwerenoth,“ fuhr er plötzlich leiser fort, „da ist ja schon der Herr Bandmüller. Mach' schnell, sonst giebt's was.“

In der That blickte das struppige Gesicht des Herrn Bandmüller durch eine der hellen Scheiben, er kam aber nicht in das Kesselhaus, sondern stieg die Treppe empor. Zehn Minuten später prasselte die Gluth, und der Zugwind heulte und brummte in dem Flammenschlunde hinter der Eisenthür, und spärliche Aschenfunken rieselten durch die Roststäbe in den Behälter. Bald nachher kamen auch die ersten Arbeiter, und es wurde lebendig auf Gang und Treppe neben dem Kesselhause.

[94] Die Beiden waren einige Zeit ruhig. Endlich blickte Trimpop auf. „Abraham!“

„Was meinst Du, Sebulon?“

„Das will ich Dir rasch noch sagen, ehe wir hinauf in's Gebet gehen.“ Trimpop nahm die Mütze vom Kopfe und bearbeitete sie mit der flachen Hand, während er weiter sprach: „Ich habe so meine eigenen Gedanken, wenn ich die da draußen kommen höre. Beinahe zweihundert Männer und Weiber sind wir, und ich will in diesem Kessel sieden, wenn der Alte nicht allein so viel verdient, wie wir andern zusammen, die vom Comptoir drüben mitgerechnet. Nun frage ich: arbeitet der Alte so viel, wie wir zusammengenommen? Nein, sage ich mir, nicht so viel wie Einer. Und doch ist er ein reicher Mann, und wir sind arme Teufel. Darin steckt keine Moral.“ Er setzte die Mütze wieder auf, riß die Schiebthür vor seiner Hölle seitwärts, warf Kohlen hinein und störte die Gluth auf.

Der lange Abraham bedachte sich. „Das soll alles sein,“ bemerkte er endlich kopfschüttelnd. „Aber ich sage nur das Eine dawider: Keiner von uns kann die Maschinen bezahlen und eine Fabrik bauen, wie der Herr Commerzienrath. Wenn aber Einer das nicht kann, so kann er auch nicht das verdienen, wie der Alte. Und das ist meine Moral.“

„Oho!“ sagte Trimpop eifrig; „das ist nun so eine Ansicht. Ich möchte aber wohl wissen, woher der Alte das Geld genommen hat, um die Fabrik herzustellen und alle Möglichkeiten anzuschaffen. Es giebt Leute, die haben seine Mutter noch gekannt, wie sie hier herum auf die Dörfer ging Gänse kaufen und ihn als Jungen im Korbe auf dem Rücken sitzen gehabt hat. Ausgenommen ein paar lumpige hundert Thaler hat er alles von den Arbeitern verdient, und je mehr er verdient hat, desto mehr hat er angeschafft und desto mehr Arbeiter konnte er gebrauchen.“

Das stille Läuten einer Glocke unterbrach ihn, aber er machte eine unwillig abwehrende Bewegung und fuhr rascher fort: „Ich arbeite jetzt an die fünfzehn Jahre bei ihm; zu Anfang war er noch nicht fromm wie nachher. Ich will nun annehmen, daß er jedes Jahr hundert Arbeiter gehabt hat, und zwanzigtausend Thaler hat er doch jedes Jahr verdient; das giebt pro Mann zweihundert Thaler, macht gering gerechnet auf die fünfzehn Jahre dreitausend Thaler, was er mir schuldig –“

Das 'ist' blieb ihm in der Kehle stecken, denn die Thür vom Gange her öffnete sich, und Abraham Fenner ließ die Schaufel fallen und stammelte. „Guten Morgen, Herr Commerzienrath!“ Auf der Schwelle stand ein kleiner, schmächtiger, schon stark ergrauter Herr in schwarzem Anzuge und blickte sie mit ernsthaft strafenden Augen an. Ein paar modische Vatermörder, welche aus einer hohen, steifen Binde hervorwuchsen, rahmten das gelblich blasse, magere, völlig glatte Gesicht ein. Er stand in gebückter Haltung, und seine Hände schlossen sich um ein dickes Buch.

Das war der „Alte“, wie die Leute ihn nannten, der Commerzienrath, der Chef der Firma Seyboldt und Compagnie.

„Wir wollten eben gehen, Herr Commerzienrath,“ sagte Trimpop eilig, der sich wieder gefaßt hatte.

„Es wird Zeit, daß Er das Schwatzen läßt,“ war die scharfe Antwort. „Fenner, ich höre von Herrn Doctor Urban, daß es mit dem Arme Seines Neffen Zillesen besser geht, und der Herr Pastor rühmt seine Gottergebenheit in dem Leiden, welches sein leichtsinniges Umgehen mit der Maschine ihm bereitet hat. Nachher kann Er in das Comptoir gehen und sich Zillesen's Wochenlohn auszahlen lassen, und dann wende Er sich an das Fräulein von der Herberge oder an meine Tochter; man wird Ihm drüben etwas zur Stärkung für den jungen Menschen reichen.“

„Gottes Lohn, Herr Commerzienrath!“ sagte gerührt der lange Abraham.

„Der Gottesfürchtige ist nie ohne Freunde, merke Er sich das, Fenner.“ Und mit den Mienen eines vollkommenen Selbstherrschers drehte sich der Fabrikherr in der Thür um und stieg in die oberen Fabrikräume hinauf. Die beiden Heizer folgten ihm.

Das Fabrikpersonal war in einem Saale versammelt, und die Beiden mischten sich nach ihrem Eintritt rasch unter die Uebrigen, denn der Commerzienrath stand schon auf seinem Katheder, hatte sein Buch aufschlagen und überflog mit ein paar heimlichen Blicken die Versammlung. Es waren zumeist Männer in der blauen Blouse; weiter hinten standen auch Frauen und Mädchen.

„Alleluja!“ begann der Fabrikherr mit trocknem Tone. „Wohl dem, der den Herrn fürchtet, der große Lust hat zu seinen Geboten! Deß Nachkommenschaft wird gewaltig sein auf Erden; das Geschlecht der Frommen wird gesegnet sein. Reichthum und die Fülle wird in ihrem Hause sein, und ihre Gerechtigkeit bleibet ewiglich. Wohl dem, der barmherzig ist und gerne leihet und richtet seine Sache aus, daß er Niemand Unrecht thut, denn er wird ewig bleiben; der Gerechte wird nimmermehr vergessen. Wenn eine Plage kommen will, so fürchtet er sich nicht; sein Herz hofft unverzagt auf den Herrn. Er streuet aus und giebt den Armen; seine Gerechtigkeit bleibt ewiglich; sein Horn wird erhöhet mit Ehren. Der Gottlose“ – hier hob sich die Stimme des Lesenden – „wird es sehen, und es wird ihn verdrießen; seine Zähne wird er zusammenbeißen und vergehen, denn was die Gottlosen gern wollen, das ist verloren. Amen!“

Der Fabrikant richtete sich empor und schwieg einen Moment. Die Blousenmänner vor ihm hatten mit vollkommener Ruhe zugehört, wenige mit dem Ausdrucke wirklicher Andacht im Gesichte, die meisten mit dem Gleichmuthe der Gewöhnung. Nur als der Commerzienrath die letzten Worte mit Betonung sprach, blickte eines und das andre Gesicht empor.

Aber wie ein Schlag ging es durch die Versammlung, als Jener, statt die Leute, wie sonst zumeist nach dem Amen, zu ihrer Arbeit zu entlassen, stehen blieb und wie überlegend in die gegenüberliegende Zimmerecke starrte. Endlich ließ er die Blicke mit Absichtlichkeit da und dort in der Versammlung haften und begann von Neuem zu sprechen.

„Es geht ein finstrer Geist durch unsre Zeit, den Ihr wohl kennen werdet, und es ist meine Pflicht, Euch vor ihm zu warnen. Ein finstrer Geist, ein Geist des Aufruhrs und der frechen Begehrlichkeit. Er schleicht durch die Stätten der Arbeit, welche redlich nährt, und durch die Hütten der Armuth wie ein brüllender Löwe, der sucht, welche er verschlinge. Er verpestet die Seelen, welche ihm verfallen, mit dem Gifthauche der Hölle, denn der Geist ist der Geist des Thieres aus dem Abgrunde. Die ihm angehören, treibt ein Gelüst, zu ernten, was sie nicht gesäet haben, ein Gelüst nach des Nächsten Hab und Gut. Sie schielen wie das wilde Wüstenthier nach Raub, und sie sprechen das Wort Blutvergießen, ohne zu schaudern. Sie sind die Unersättlichen; die Eigel hat zwo Töchter: Bringe her! Bringe her! – wie die Schrift sagt. Nichts ist ihnen mehr heilig, selbst nicht die Krone des Gesalbten auf dem Throne. Sie jauchzen um ein goldenes Kalb, das sie Freiheit und Licht nennen, und binden sich zwiefach mit Ketten der Finsterniß. Ich warne Euch, daß Ihr nicht Raum gebet dem Unheiligen, wie ein Vater seine Kinder warnet. Sollte Jemand unter Euch sein, der getrunken hat von dem Gifte, der reinige sich und lasse ab von seinem Wandel. Denn jene gottlosen Leute werden im Verderben endigen, und der Gerechte fürchtet sie nicht. Sie werden Wind säen und Sturm ernten; denn was die Gottlosen gern wollen, das ist verloren. Amen!“

Es war nicht möglich zu erkennen, welchen Eindruck diese hart und hastig, mit klangloser Stimme gesprochenen Worte auf die Zuhörer machten. Die anfängliche lebhafte Bewegung hatte sich nach den ersten Worten wieder gelegt. Die Männer hielten die Augen zu Boden geschlagen, und wo einer der schmalen, dürftig aussehenden Mädchenköpfe im Hintergrunde sich regte, verrieth er höchstens Gleichgültigkeit und Langeweile. Nur die Blicke des Herrn Bandmüller, welcher allein neben dem Katheder, das Gesicht den Arbeitern zugekehrt, stand, flackerten unruhig und lauernd zwischen den Reihen der Leute umher.

Der Commerzienrath hatte das Buch zugeschlagen und das Katheder verlassen. Ein heftiges Geräusch, das jetzt unter den Männern entstand, veranlasse ihn, sich in der Thür noch einmal umzuwenden. Ein Mann, halb geschoben von den Andern, trat heraus, eine kräftige Figur mit tiefen Brauen und düstern Augen darunter, den dicken Kopf voll kurzen schwarzen Haares.

Bei seinem Anblicke verfinsterte sich das Gesicht des Fabrikherrn. „Was haben Sie noch unter meinen Leuten hier zu schaffen, Herr Kotelmann?“ fuhr er zornig heraus, und sein gelblicher Teint röthete sich ein wenig. „Was thut dieser Mann in meiner Fabrik, Herr Bandmüller?“

Der Letztere zuckte die Achseln: „Ich bemerke ihn diesen Augenblick erst,“ sagte Bandmüller.

„Ich wollte Sie nur fragen, ob ich nicht wieder bleiben [95] kann, Herr Commerzienrath,“ begann der Arbeiter verlegen „Wenn mir auch einmal so ein Fluch herausfährt, das ist nur so, wie wenn ich husten muß. Ich denke mir meiner Seele nichts dabei und will mir's auch abgewöhnen, blos nicht mit einem Male. Denn kein Mensch kriegt das fertig. Und man will doch leben, und es ist überall wenig Arbeit jetzund.“

„Sie sind ein unverbesserlicher Mensch, Herr Kotelmann, und kennen die Fabrikgesetze. Ich gestatte keine Abweichung von denselben, und Sie werden sich entfernen.“ Ein Wink mit der Hand, und der Commerzienrath verließ den Saal.

Ein paar der Arbeiter murrten vernehmlich; die düstern Augen des Abgewiesenen wandten sich auf Bandmüller, der hinter der Tribüne hervorkam und mit gedämpfter Stimme sagte: „Melden Sie sich unter Mittag in meiner Wohnung, Kotelmann, und gehen Sie jetzt!“ Dann schnellte der Fabrikleiter von Seyboldt und Compagnie zur Seite und sprang auf das Katheder. „Die Weiber an die Arbeit, vorwärts! Die Riemen eingelegt und nach den Kesseln gesehen! Wer von den Männern nicht nothwendig zu thun hat, wartet einen Augenblick.“ Ein Wink des Auges hielt Sebulon Trimpop zurück, während Fenner und einige Arbeiter mit den Weibern und Mädchen hinausströmten. Plötzlich schlug Bandmüller die Thür zu, schüttelte grimmig seine Mähne und kehrte auf die Tribüne zurück.

„Jungen,“ sagte er, und seine Augen funkelten häßlich, „jetzt will ich Euch noch eine Andacht halten.“ Und den Ton des Commerzienrathes nachahmend, begann er:

„Alleluja! Wohl dem, der fromm ist, denn die andern Frommen helfen ihm; die Dummheit muß sich unterstützen, damit sie nicht ausstirbt auf der Welt. Wohl dem, der zu pressen und zu scharren versteht, denn baar Geld lacht, und für Geld ist alles zu haben auf der Welt. Die Diener des Mammons nehmen zu auf Erden, und der Himmel segnet sie, daß ihre Häuser stehen wie der Thurm zu Babel und ihre Betten so weich sind wie das Nest der jungen Eidergänse. Sie fahren in Carossen, und ihre Keller sind voll theurer Weine; sie schlemmen und prassen und legen dennoch auf Zinsen, denn wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu. Wenn eine Plage kommen will, so fürchten sie sich nicht, denn die liebe Polizei ist nur für kleine Diebe da, den großen aber putzt sie die Stiefel und sorgt, daß sie ihren Raub in sicheren Papieren unterbringen können. Und sie schauen ihres Herzens Lust an den Sclaven, die ihnen säen, wo sie ernten, und die nicht frei werden, weil das Lumpenpack nur so viel bekommt, daß es nicht zu verhungern braucht. Amen!

Es geht ein Geist durch diese Welt, ein Geist der Freiheit und des Gerichts. Die Sclaven rütteln an ihren Ketten wie der Hofhund, wenn er den Freßnapf wittert, und wer vernünftig ist, der hilft die Stunde der Erlösung und des großen Tausches vorbereiten. Die Geldsäcke aber werden heulen und Zeter schreien, denn die Kinder des Teufels werden sie auspressen wie die Citronen. Amen!

Nun, Ihr Narren, wie gefällt Euch das?“ sagte Herr Bandmüller mit cynischem Lachen. „Wer Muth hat, der hebe die Hand auf!“

Die Arbeiter sahen einander mit verdutzten Gesichtern an; ein paar machten wirklich den Versuch, die Hand zu erheben, ließen sie aber rasch wieder sinken. Ein kleiner, verschmitzt aussehender Spinner trat keck vor und sagte: „Sie wollen blos einen Witz machen, Herr Bandmüller, und zusehen, wer sich verräth. Sie sind ja die rechte Hand des Herrn Commerzienrathes.

„Haha!“ lachte Herr Bandmüller gezwungen auf. „Ihr seid pfiffiger, als ich gedacht habe, und das ist Euer Glück. Aber ich habe doch so ein paar gesehen, die nicht ganz sicher sind. Kettenbrink mag einmal hier bleiben. Ihr andern geht an die Arbeit!“

Kettenbrink, ein hagerer, etwas hektisch aussehender Mensch, war leichenblaß geworden; er gehörte zu denjenigen, welche die Hand erhoben hatten. Die Uebrigen blickten mit Bedauern auf ihn und entfernten sich rasch.

Bandmüller stieg vom Katheder herunter und ging auf den in tausend Aengsten Schwebenden zu. Er weidete sich an dem Anblicke des Menschen. „Ich werde Sie der Polizei überliefern, Kettenbrink – wissen Sie das? Man wird Sie in's Zuchthaus stecken. Was meinen Sie dazu?“

Der Mann verlor den Kopf vollends und fiel in die Kniee. „Herr Bandmüller,“ jammerte er, „machen Sie meine Familie nicht unglücklich!“

Bandmüller rieb sich die Hände. „So gestehen Sie mir auf der Stelle, wer in der Fabrik so denkt, wie ich da oben gesprochen habe! Dann will ich Sie laufen lassen, und ich werde sorgen, daß Niemand von Ihrem Bekenntnisse erfährt.“

Kettenbrink plapperte in der Angst eine Reihe Namen her, bis Bandmüller plötzlich sein Notizbuch zog und sagte: „Langsam, einen nach dem andern! worauf jener mit zitternder Stimme etwa zwanzig Namen dictirte.

„Mehr nicht?“ donnerte Bandmüller.

„Machen Sie mit mir, was Sie wollen! Ich weiß keine weiter.“

Der Fabrikleiter verzog triumphirend den Mund, klappte sein Notizbuch zusammen und ließ es wieder in die Tasche gleiten. „Sie können jetzt zu den Andern gehen, Kettenbrink! Wenn Sie gefragt werden, was mit Ihnen geschehen ist, so bemerken Sie, daß ich Sie gewarnt hätte.“

Der Erlöste flog empor und eilte hinaus, wie Einer, der heil aus einer Löwenhöhle entronnen. Bandmüller blickte ihm höhnisch nach. „Diesen verrätherischen Schuft werde ich aus dem Spiele lassen. Ein Anfang wäre gewonnen, aber man muß vorsichtig sein. Ein Umsturz muß kommen; Lärm muß es geben wie Anno dreiundneunzig; wir wollen die Welt auf den Kopf stellen, und die zahmen Dummköpfe im Wiedenhofe sollen die Knochen vom Braten nagen.“

So sprach Herr Bandmüller mit sich selber und schritt, in Gedanken versunken, einige Male auf und nieder, den Bart glättend und durch das buschige Haar wühlend. Bevor er die Arbeitsräume betrat, hielt er vor der Thür noch einmal an.

„Wenn ich wüßte, daß mir der Alte die Tochter gäbe, – es könnte anders kommen. Ich muß ihn noch mehr ängstigen; er muß an keine Rettung glauben, außer der, die ich verspreche,“ murmelte er, und dann schnippte er mit den Fingern. „Er hält viel auf mich, und dem Muthigen gehört die Welt. Ein reizendes kleines Persönchen! Und einst war der Vater ein so armer Teufel wie ich.“



7.


Inzwischen hatte der Commerzienrath Seyboldt nach der Lection, welche er den Arbeitern ertheilt, die Fabrik verlassen und war über den Hof in sein Arbeitszimmer gegangen. Er hatte sich dabei ungewöhnlich aufgeregt gefühlt. Seinem ganzen Naturell nach war er Aufregungen sehr ausgesetzt, aber er hatte dann selten so unbehagliche Empfindungen gehabt wie heute. Auf der Treppe war er Toni begegnet; sie hatte ihren Strohhut am Arme hängen gehabt und war singend die Stufen herab geflogen, um in den Garten zu gehen. Vor dem Commerzienrathe hatte sie eingehalten, um nach einem raschen Kusse unbekümmert weiter zu huschen wie ein flüchtiger Sonnenstrahl. Der Commerzienrath war ein zärtlicher Vater, aber er hatte im Augenblicke dieser Begegnung ganz besonders den Drang empfunden, sie wieder mit sich hinaufzunehmen und in seiner Nähe zu halten.

Er hatte in seinem Zimmer die grünen Rouleaux herunter gelassen, denn die Sonne schien in die Fenster, und nun saß er im grünen Lichtdämmer und trank eine Tasse Chocolade, und seine Gedanken bewegten sich in der nämlichen Richtung weiter, welche sie die Morgenstunden über verfolgt hatten.

„Ich denke wohl, daß ich einigen Eindruck gemacht habe,“ sagte er bei sich. „Es ist zwar möglich, daß Bandmüller übertrieben hat, wiewohl er sonst ein scharfes Auge hat und vertrauenswürdig ist; indeß man thut doch gut, vorzubeugen. Gott sei Dank, ich säe auf einen gut zubereiteten Boden; die Leute sind an die zwei wichtigsten Dinge gewöhnt, an das Wort Gottes und an Gehorsam. Des Menschen Herz ist freilich ein unzuverlässiges Ding. Aber nein, es ist kaum denkbar. Wer an das Wort Gottes gewöhnt ist, der wird kein Sansculotte. Im Hauche der Kirchenluft verdorrt das communistische Unkraut.“

Der Commerzienrath gehörte einer Classe von Leuten an, welche man mit Unrecht Heuchler zu nennen pflegt, weil ihre Religion wenig an ihrem Wesen geändert hat. Ihm war die Religion das unentbehrliche Gängelband, ohne welches die Menschheit [96] in den Staub fällt, und der Calvinismus diejenige Form, in deren Eigenthümlichkeit sein Denken und Fühlen sich hineingebildet hatte. Die Luft, die diesen altkirchlichen Bau durchwehte, athmete er ein wie ein Parfüm; er forderte gewöhnlich von seinem Kopfe, daß er glaube, und von seinem Herzen, daß es empfände, wie die Tradition es verlangte, aber er hörte zuweilen auf zu fordern, und dann war er er selbst.

Er trank den letzten Schluck aus seiner Tasse und lehnte sich in den Rohrsessel zurück. Eine eigenthümliche Müdigkeit überkam ihn, und es war ihm, als verdunkle sich die Luft, und als er in leisem Schrecken vor sich hin griff, stieß er die Tasse um, ohne sie gesehen zu haben. Er richtete sich jäh empor und empfand plötzlich einen heftigen Stich in der rechten Seite; von diesem Moment an wurde es zwar wieder ein wenig heller vor seinen Augen; aber alle Linien schwammen flimmernd durcheinander. Es war ihm unmöglich, den Umrissen auch nur eines Gegenstandes scharf zu folgen.

„Ewige Barmherzigkeit,“ ächzte der Commerzienrath, „soll das mein letztes Stündlein sein? Ich will nicht sterben, in dieser gefährlichen Zeit am allerwenigsten. Ich habe ja ein Kind, und das ist noch so jung.“

Er tastete mit bebenden Händen nach der Stelle, wo die Klingel lag, und schellte heftig.

„Ich habe es immer gesagt,“ fuhr er mit fieberhafter Angst fort, „und Urban wollte es nicht glauben. Nun nehme er den Glauben in die Hand, wenn er kommt! Ich fürchte, es ist ein Schlaganfall.“ Als er nahende Schritte vernahm, klammerte er sich an die Umgitterung des Schreibtisches, um sich eine feste Haltung zu geben, und wandte der Thür den Rücken, um sein Gesicht zu verbergen. An der Frage nach seinen Wünschen hörte er, daß es das Stubenmädchen war, welches eintrat.

„Sagen Sie dem Johannes, daß er auf der Stelle den Doctor Urban zu mir bittet!“ sprach er so fest wie möglich. „Ich hätte dringend nöthig mit ihm zu reden.“

Kaum war das Mädchen hinaus, so brach seine künstliche Haltung zusammen. Er empfand wieder den Schmerz in der Seite und schwankte stöhnend ein Stück in die Stube hinein, kehrte aber dann um und sank gekrümmt in den Lehnstuhl, das Gesicht geröthet, helle Tropfen auf der Stirn. Er lockerte sich hastig die Halsbinde und brauchte die doppelte Zeit dazu, die er sonst nöthig hatte.

„Richte mich noch nicht, himmlische Barmherzigkeit!“ murmelte er wie mechanisch; „ich habe deinen Namen hochgehalten unter einem gottlosen Geschlecht, aber ich bin noch nicht reif zur Ernte –“ die folgenden Worte verloren sich in beständigem Aechzen. Er machte noch einmal Anstalten nach der Klingel zu greifen, gab die Absicht wieder auf und schellte endlich doch. Das Mädchen, welches in den Hof gegangen war, mußte ihn auch gehört haben, denn sie erschien nach einiger Zeit, und der Commerzienrath bestellte ein Glas Wasser.

Er hatte sich wieder zusammengerafft, und als die Thür sich geschlossen hatte, sagte er mit einiger Festigkeit. „Ich darf keine Scene wieder aufführen, wie damals, als ich sie Alle herberufen, um sie Abschied von mir nehmen zu lassen, und ich doch zu ängstlich gewesen war. Verwünschte Farce, die! – Mein Auge ist trübe, und wie das Herz klopft! Vielleicht bin ich auch diesmal zu ängstlich, und es geht vorüber. Wenn nur Urban bald käme!“

Wieder war es ruhig im Zimmer; der Commerzienrath trocknete sich den Schweiß von der Stirn. Man hörte die Fliegen summen und von einem entfernten Zimmer her die gellenden Touren eines Canarienvogels.

Aber der Commerzienrath vernahm auch noch etwas Anderes, und das waren zwei Menschenstimmen, die vom Hofe heraufklangen, diejenige Toni's und eine andere, welche dem gebückt Dasitzenden plötzlich Leben einflößte. Er stürzte nach der Thür hin und schob mit zitternden Fingern den Riegel vor.

„Nimmermehr,“ sagte er mit jammerndem Tone; „sie wäre die Letzte, die mich in diesem Zustande sehen sollte. Nur ihr diesen Triumph nicht! Ich werde nicht sterben, und ich darf nicht sterben, denn es wäre ihre Erlösung und wahrscheinlich die Erfüllung ihrer Gebete. Sie wird Gott auf den Knieen anflehen jeden Abend, daß der Karl Seyboldt den Morgen nicht erlebe. Aber ich habe sie noch nicht genug gedemüthigt, und sie darf nicht sehen, daß der Feind des Lebens seine Krallen in mein Fleisch geschlagen hat. Hier – hier –“ und er preßte die Hand fest in die rechte Seite und biß die Lippen zusammen und setzte sich wieder in den Stuhl.

Er horchte, wie die silberne Stimme Toni's näher und näher kam, und seine Augen glänzten fieberisch und unsicher. „Nehmen Sie gefälligst einen Augenblick Platz, Frau Hornemann! Ich denke wohl, Papa wird noch nicht wieder ausgegangen sein.“

Es klinkte an der Thür, aber sie ging nicht auf und wich auch dem stärksten Drucke nicht.

Der Kranke rührte sich nicht.

„Papa, hast Du Dich eingeschlossen?“

Keine Antwort. Die Lippen des Commerzienrathes drinnen bewegten sich unhörbar.

„Ach,“ sagte das junge Mädchen bedauernd, „es scheint, daß er doch nicht hier ist. Sie müssen schon verzeihen, liebe Frau Hornemann. Aber vielleicht, daß er in der Fabrik ist, oder im Comptoir; lassen Sie uns einen Versuch machen! Wenn wir ihn nirgends finden, schicken Sie vielleicht Milli den Nachmittag einmal her, damit Sie sich den Gang ersparen.“

Es war wirklich Frau Hornemann, die bei dem grauen Plaschfauteuil stand, im eng schließenden Stoffhute, der über der Stirn mit künstlichen weißen Rosen untersetzt war, das türkisch gemusterte Tuch umgeschlagen und ein Ledertäschchen in der Hand. Der Zug von Hochmuth und Kälte im Gesicht, mit dem sie in's Zimmer getreten, war gewichen, als Toni die Ueberzeugung aussprach, daß ihr Vater abwesend sei, und hatte einer sichtlichen Abspannung Platz gemacht. Aber bei der letzten Bemerkung des jungen Mädchens kräuselten sich ihre schmalen Lippen in spöttischer Bitterkeit, und sie sagte: „Der Herr Vater haben es lieber, wenn ich selbst komme. Ich besuche ihn ohnehin nicht oft genug.“

„O liebe Frau Hornemann, dann sollten Sie auch etwas ablegen und ein Weilchen mit mir vorlieb nehmen,“ rief Toni und sah die alte Frau mit ihrem bezaubernden Lächeln so unschuldig an wie ein bittendes Kind. „Verzeihen Sie meiner Theilnahme die Frage, ob Sie etwas beunruhigt? Kann ich den Vater in irgend einer Sache mit bitten, Ihnen zu helfen? Ich glaube, Sie sehen ein wenig unzufrieden aus, und ich hatte gemeint, Sie müßten in lauter Mutterfreude schwimmen. Aber erst will ich Ihnen selber helfen. Nicht wahr, Sie setzen sich zu mir und warten, bis der Vater kommt?“ Und sie ging zu Frau Hornemann und bückte sich rasch, um ihr die Schleife der Hutbänder zu lösen. Aber diese trat zurück und wehrte so bestimmt ab, daß sie einhielt.

„Es wäre das erste Mal, mein Kind, daß ich als Gast in diesen Mauern säße. Bemühen Sie sich nicht! Ich werde sofort gehen.“

Toni sah sie befremdet an. „Ich sollte eigentlich beleidigt sein,“ schmollte sie. „Das sagen Sie so, als wäre Ihnen von unserer Seite etwas zu Leide geschehen, was Sie uns gar nicht verzeihen könnten.“

Ueber das Antlitz der alten Frau flog es wie Gluth, und in ihren Augen blitzte es feucht wie Vorahnung zorniger Thränen. Sie schien etwas sagen zu wollen, was sie unterdrückte, und endlich raffte sie sich mit jener Selbstbeherrschung zusammen, welche ihr ganzes Wesen ausprägte und die eine Vergangenheit sie gelehrt haben mochte, welche sich mit tiefen Runen in ihre Züge eingezeichnet hatte. Sie ging zu Toni und sah ihr mit unverhohlener Rührung in die Augen.

„Gott segne Sie, mein liebes Kind! Wo ein Engel ist, da ist immer Himmelsluft um ihn, und wenn er mitten durch die Hölle flöge. Für Ihr schönes junges Herz ist die Welt eine Schaubühne, auf der lauter Lustspiele aufgeführt werden von muntern Acteurs; Sie sehen die Kleider glänzen und die weiß- und rothgeschminkten Menschen und die gemalte Leinwand und glauben, das sei Alles, was sie Leben nennen. Gott bewahre Ihnen diesen Glauben und lasse Sie nie hinter dem Glanze das Dunkel sehen und das Elend, den Zank und Hader und die Täuschungen!“ Sie hielt einen Augenblick inne. „Sie verstehen mich nicht, mein Kind,“ sagte sie dann; „man muß es gesehen haben, um es zu begreifen, und ich will Ihr liebes junges Herz nicht schwer machen mit Räthseln. Wenn Sie Ihren Vater fänden, wäre es mir recht sehr lieb; ich möchte den Martergang nicht gern wiederholen.“

(Fortsetzung folgt.)
[97]

„Deß’ freut sich das entmenschte Paar.“
Originalzeichnung von C. Kronberger.

[98]
Der Spiritismus vor dem Gerichtshofe der Wissenschaft.


II.

Hätten wir es nun im Spiritismus nur mit den bisher besprochenen Betrügern und Betrogenen zu thun, so würde ein ernsteres Eingehen auf diese Materie kaum lohnen, aber es begegnen uns innerhalb dieser Gesellschaft noch Individuen und Thatsachen, die nicht in die oben genannte Rubrik gehören und die man bisher in allen Ausführungen gegen den Spiritismus fast geflissentlich zu besprechen vermieden hat. Aber gerade diese sind von der allergrößten Wichtigkeit und verdienen eine ganz besonders genaue Prüfung. Wir meinen die wirklich ehrlichen und ehrenhaften Medien. Unmöglich scheinende Sachen, ausgeführt von Leuten, deren Ehrlichkeit über jeden Zweifel erhaben ist – wer sollte da nicht stutzen und befremdet sich fragen, ob denn der Spiritismus wirklich so gar keine Beachtung verdiene?

Ich kenne drei solcher Medien, die zweifellos ebenso wenig im Stande sind, Andere zu täuschen, wie einer bewußten Selbsttäuschung zu unterliegen; namentlich Eines dieser drei habe ich hierbei im Auge; es ist ein wissenschaftlich gebildeter, logisch denkender und vorurtheilsfreier Mann, für dessen Ehrenhaftigkeit ich unbedingt einstehe. Dieser Mann, ein sogenanntes „schreibendes Medium“, hat oft genug in meiner Gegenwart Verkehr mit den „Geistern“ gepflogen und dabei Resultate zu Tage gefördert, die seiner gewöhnlichen Denkweise, seinen gewöhnlichen geistigen Fähigkeiten entschieden weit überlegen waren und die deshalb – so müßte man doch ohne gründlichere Prüfung annehmen – nicht von ihm herrühren konnten, sondern von einem ihm überlegenen, von ihm getrennten Wesen, also einem „freien Geiste“ zu stammen schienen. Der Mann nimmt einen Bleistift und weißes Papier zur Hand; plötzlich krümmt und windet sich die Bleifeder, preßt sich wie selbstthätig in die zum Schreiben geschlossene Hand und beginnt, bald langsam, bald in fliegender Hast, auf dem Papiere zu schreiben, oft unzusammenhängende Wörter, unsinnige Sätze, oft nur Striche und allerlei Schnörkel, aber auch sehr oft überraschend logische und im elegantesten Styl gehaltene Antworten auf gestellte Fragen – Logik und Styl in einer den gewöhnlichen Fähigkeiten des Mediums sehr überlegenen Weise.

Der Mann versichert – und man darf ihm, wie bereits bemerkt, auf’s Wort glauben – daß die Feder ohne sein willkürliches Zuthun schreibe, daß er unmittelbar vorher erst wisse, was er schreiben werde, gleichsam als dictire es ihm Jemand, oder noch richtiger ausgedrückt, als setze sich in seinem Centralorgane[WS 1] ein fremder Wille fest, der nun an Stelle seines eigenen Willens die Bewegung der Arm- und Handmuskeln übernehme und das Schreiben bewerkstellige.

Spiritistisch ist der Vorgang sehr einfach zu erklären: der fremde freie Geist setzt sich durch sein „Perisprit“[1] mit dem des Mediums in Verbindung und theilt dann seine Ideen dem Verständnißvermögen des Mediums mit, welch letzteres nun durch seine Organe diese Ideen in gewohnter Weise zum Ausdrucke bringt. Es klingt wunderbar, aber wir haben einen natürlichen Weg, uns das Vorkommen dieser glaubwürdigen Medien zu erklären, die im „inspirirten“ Zustande etwas zu leisten vermögen, dessen sie im gewöhnlichen Leben nicht fähig sind; wir brauchen uns in dem bewunderungswürdigen Haushalte des menschlichen Organismus nur etwas näher umzusehen.

Die Fähigkeit des Menschen, zu denken, geistig zu arbeiten, ist eine gesetzmäßig vollkommen geordnete und an ein bestimmtes Organ im Körper, das Gehirn, gebundene; das bestreitet heute Niemand mehr, der von dem körperlichen und geistigen Leben des Menschen überhaupt etwas weiß, auch derjenige nicht, der an eine vom Körper gesonderte menschliche Seele glaubt. Letzterer weicht nur darin von unserer Anschauung ab (derjenigen nämlich, daß die geistigen Fähigkeiten lediglich eine Eigenschaft des Gehirns seien), daß er annimmt, die Seele bediene sich des ihr untergeordneten Gehirnes als eines Organes, durch das sie ihren Willen und ihre Eigenschaften kundgiebt, – und diese Abweichung in der Anschauung ist für unsere Erörterung, bei der wir nur die geistigen Fähigkeiten an sich im Auge haben, unerheblich; es ist im vorliegenden Falle gleichgültig, woher die geistigen Fähigkeiten des Menschen stammen, ob von einer gesonderten Seele oder von dem körperlichen Gehirne; wichtig für uns ist nur, daß diese Fähigkeiten als solche existiren, daß sie mithin in verschiedener Kraftfülle bei verschiedenen Individuen gefunden werden und bei ein und demselben Individuum einer (momentanen oder bleibenden) Steigerung und Verminderung fähig sind. Wichtig ist ferner, daß diese geistigen Fähigkeiten, wenn auch erheblich gesteigert, doch deshalb immerhin menschliche Fähigkeiten bleiben, und von größter Wichtigkeit endlich der zweifellos feststehende Umstand, daß sie nicht nur normal, sondern auch abnorm, krankhaft, gesteigert werden können. Untersuchen wir nun einmal, ob wir innerhalb der so mannigfachen krankhaften Erscheinungen am menschlichen Organismus nicht auch solche finden, die den oben erwähnten scheinbar überirdischen Leistungen wahrhaft ehrlicher „Medien“ analog sind, ob nicht vielleicht gar die „mediale Kraft“ eine ganz bestimmt gekennzeichnete Erkrankungsform des menschlichen Geistes ist.

Wir kennen in der Medicin eine ganz genau charakterisirte und begrenzte Krankheit, die chorea major, auch „Chorea der Deutschen“ (chorea Germanorum) oder „großer Veitstanz“ genannt; diese Krankheit kennzeichnet sich (in ihrem generellen Ganzen aufgefaßt) durch ihr Auftreten in Paroxysmen von verschiedener Zeitdauer, während welcher Anfälle das Bewußtsein der Kranken aufgehoben ist, obgleich sie es der Außenwelt gegenüber zu besitzen scheinen, weil sie scheinbar ganz zweckmäßige Handlungen ausführen; nach dem Aufhören des Anfalls weiß der Kranke absolut nichts von dem, was er während desselben gethan hat, wogegen er in einem zweiten sich dessen sofort bewußt wird. Während der Anfälle sind die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kranken in ganz abnormer und manchmal fast unbegreiflicher Weise gesteigert, wie wir dies an einigen aus dem Leben genommenen Fällen darthun wollen.

So beobachtete man einen Fall von chorea major, bei einem Knaben, der an verschiedenen Functionsstörungen und selbst Lähmungen litt und dabei während der Anfälle eine ganz unglaubliche Steigerung des Muskel- und Gleichgewichtsgefühls entwickelte. Er sprang z. B. vom Boden des Zimmers, auf einen Tisch, von diesem auf einen hohen Schrank, von letzterem über die ganze Breite des Zimmers hinweg auf den Ofen u. s. f., und all dies mit einer Sicherheit und Behendigkeit, die man einem Menschen nie zutrauen würde und die auch der kranke Knabe in seiner anfallfreien Zeit nie besaß; außer der Zeit der Anfälle war das Kind jedem andern in Bezug auf körperliche Geschicklichkeit gleich und wollte nie glauben, daß es derartige halsbrecherische Sprünge vollführt habe. Auch geistig führte der Knabe ein wahres Doppelleben: er erinnerte sich dessen, was er wachend gethan hatte, nur in einem wieder wachen Zustande, und dessen, was er während eines Anfalles vorgenommen hatte, wieder nur während eines andern solchen; er setzte ein Spiel fort im zweiten Anfalle, das er im ersten begonnen hatte; er versteckte Spielzeug während eines Anfalls, konnte es im normalen Zustande tagelang nicht finden, verfiel dann wieder in einen Paroxysmus und holte es sofort aus dem Verstecke hervor etc. – Der Zustand ging dann in ein permanentes Traumleben über, die Sprech- und Schlingmuskeln waren gelähmt, derart, daß der Knabe stumm und unfähig, auch nur den Speichel zu schlucken, Jahre lang umherging, während welcher Zeit er mit Hülfe der Schlundsonde gefüttert werden mußte. Endlich schaffte ihn seine Mutter zu dem bekannten „Wunderzuaven“ nach Paris, der es durch rein geistige Behandlung und lediglich durch den Einfluß seiner imponirenden Persönlichkeit dahin brachte, daß der Knabe nach dem dritten Besuche plötzlich ausrief: „Mama, ich kann sprechen.“ Von diesem Augenblicke an war und blieb er geheilt, aus dem springenden Knaben wurde ein gesetzter Mann, der im Vollbesitze seiner geistigen und körperlichen Kräfte jetzt noch in einer größern Stadt Badens wohnt oder wenigstens vor einigen Jahren dort gewohnt hat.

Wie in diesem Falle während der Paroxysmen – aber auch mir während derselben – das Muskelgefühl abnorm gesteigert war, so beobachtete man bei andern Kranken derselben Gattung eine krankhafte Steigerung der Sinnesthätigkeit und aller andern, durch dieselbe geweckten geistigen Fähigkeiten, aber [99] ebenfalls nur während der Paroxysmen, nie in der freien Zeit zwischen denselben, und ohne daß die Kranken von dieser ihrer gesteigerten geistigen Thätigkeit gewußt hätten.

So wissen wir von einer Kranken, die im vierten Stocke eines Hauses untergebracht war und stets in demselben Augenblicke, wenn der behandelnde Arzt unten das Haus betrat, oben zu ihrer Umgebung sagte: „Jetzt kommt der Arzt.“ Letzterer wollte um jeden Preis das Zustandekommen dieses räthselhaften Vorganges ergründen; er dachte, die Kranke habe sich die Zeit seines Kommens gemerkt, und wechselte die Stunde seines Besuches – umsonst! Da die Kranke auch sonst in ihren Paroxysmen sehr scharf hörte, dachte er, der rollende Wagen verrathe seine Ankunft, und kam stets zu Fuße – vergebens! Die im Bette liegende Kranke kündigte ihn oben an, nachdem er die ersten Stufen der ersten Treppe erstiegen hatte. Endlich zog er beim Eintritte in das Haus die Schuhe aus und ging in Strümpfen die Treppen hinauf, und von da ab hörten die Prophezeiungen mit einem Schlage auf. Die Kranke hatte mit Hülfe ihres durch ihr Leiden enorm geschärften Gehöres den vier Stock niedriger erschallenden Tritt des Arztes erkannt.

In andern Fällen sind die rein geistigen Vorgänge, die Erinnerung, das Gedächtniß, die Vorstellungs-, Urtheils- und Combinationskraft ebenso erheblich gesteigert, wie bei den soeben beschriebenen Kranken das Muskelgefühl und das Gehör, aber immer nur während der Anfälle, nie außer der Zeit derselben, und immer derart, daß die Kranken ihrer Umgebung bei vollem Bewußtsein scheinen, während sie selbst keine Ahnung von dem haben, was sie thun. So hat man Leute aus den ungebildeten Ständen beobachtet, die während ihrer Anfälle Gedichte und Lieder – oft mit großem, ihnen sonst gar nicht geläufigem Pathos – hersagten, welche sie lange Zeit vorher gehört und in ihrem gesunden Leben vollständig vergessen hatten, Andere, die in ihrem krankhaften Zustande Gedichte machten, wozu sie sonst nicht befähigt waren, Leute, die sich plötzlich fremder Sprachen wieder erinnerten und bedienten, die sie in ihrer Jugend gelernt und seitdem ganz vergessen hatten.

Wir kennen also eine Krankheit, die sich dadurch auszeichnet, daß sie die Geistesthätigkeit der von ihr befallenen Individuen in so hohem Grade steigert, daß die Kranken ein ganz anderes, höheres Leben zu führen scheinen. Die Empfindlichkeit der Haut und das Muskelgefühl ist sehr erhöht; die Sinne und die Urtheilskraft sind in einem hohen Grade geschärft, das Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen ist in einem Maße vorhanden, wie es im gesunden Zustande bei denselben Individuen nie auftritt, und damit ist das Zustandekommen all der Wunderdinge erklärt, die wir bei (ehrlichen, wirklichen) Somnambulen, Nachtwandlern, Hellsehern u. dergl. zu beobachten Gelegenheit haben. Wir wissen, daß diese Krankheit vorwiegend bei Frauen auftritt, da das schöne Geschlecht bekanntlich weniger im Stande ist, durch den logischen Gedanken die Irrfahrten der Phantasie zu zügeln, unter den Frauen namentlich bei solchen, die bleichsüchtig sind und deren Phantasie auf Kosten des logischen Denkens entwickelt ist. Wir wissen ferner, daß auch das Beispiel sehr viel zur Entstehung der Krankheit beiträgt; man sprach früher sogar von einem „psychischen Contagium“. Wir brauchen zur Constatirung dieser „geistigen Ansteckungskraft“ nur die mittelalterliche „Tanzwuth“ zu nennen, welche ganze Städte ergriff, die wahren Epidemien von allerlei nervösen Krankheiten, welche in Mädchen-Pensionaten beobachtet wurden, in denen eine Schülerin hysterisch oder sonstwie nervös erkrankte, und die bekannte Thatsache endlich, daß eine ganze Gesellschaft zu gähnen beginnt, sobald ein Mitglied derselben den Reigen eröffnet.

Wie bei allen nervösen Krankheiten beobachten wir auch beim großen Veitstanze nur selten die ganz reinen Formen, sondern finden in denselben meistens auch Complicationen mit andern nervösen Erkrankungen, namentlich mit der Hysterie, die sich vor Allem dadurch von der Chorea major unterscheidet, daß die Kranken sich dessen, was sie thun, bewußt sind. In solchen Fällen nun, die gleichsam in der Mitte zwischen großem Veitstanze und Hysterie liegen, finden wir bedeutende Steigerungen der körperlichen und geistigen Fähigkeiten (daneben allerlei Störungen innerhalb des großen, den ganzen Organismus umfassenden Nervengebietes), bei ganz aufgehobenem, oder nur verdunkeltem, oder endlich ganz freiem Bewußtsein – in allen diesen drei Fällen aber scheint letzteres in den Augen der Umgebung vollkommen vorhanden zu sein. Es ist dies das unterscheidende Kennzeichen von andern nervösen Erkrankungen (Katalepsie, Epilepsie), bei denen die Kranken das Bewußtsein ebenfalls verlieren, es aber auch für die Umgebung sofort sichtbar verloren haben.

Wenn wir nun die hervorragenden Leistungen der wirklich ehrlichen und an ihren höhern Beruf glaubenden Medien näher betrachten, diese Leistungen, welche in der That die gewöhnliche geistige Capacität des Betreffenden weit überragen, so sind wir in der Lage, dieselben nicht mehr überirdischen Wesen zuschreiben zu müssen, sondern können sie uns auf rein wissenschaftlichem Wege viel natürlicher erklären: Die „mediale Kraft“ ist nichts weiter als ein Anfall von großem Veitstanze in reiner oder mit Hysterie und sonstigen nervösen Erscheinungen complicirter Form. Die Steigerung der geistigen Fähigkeiten bis zu einem überirdisch erscheinenden Grade ist nichts Anderes als ein hervorragendes Symptom dieser der medicinischen Welt wohlbekannten Erkrankung; daß das Medium von dem, was es schreibt, oder in seinem somnambulen Zustande spricht, singt oder sonstwie vollführt, nichts weiß, daß es ihm selbst scheint, als gingen alle diese Manifestationen nicht von ihm, sondern von einem andern Wesen aus, dürfen wir ihm auf's Wort glauben; daß die Umgebung von den das Normale so weit übersteigenden Leistungen frappirt ist und „Wunder zu rufen beginnt, ist ebenfalls sehr leicht erklärlich. Auch das „Erwerben der medialen Kraft“, richtig: die Erkrankung an Chorea major, ist auf Grund der oben kurz erwähnten Ursachen dieser Krankheit leicht zu verstehen: Es lernt Jemand den Spiritismus in seiner schwindelhaften oder krankhaften Gestalt kennen, ohne daß ihm aber diese beiden Grundeigenschaften zum Bewußtsein kommen; die Sache interessirt ihn; er liest den „Zauberstab“, die vielen Werke von Allan Kardec und Andern; er kommt in spiritistische Gesellschaft, und stets neue Proben von der Wunderkraft der Geister werden ihm zu Theil; eine rationelle Erklärung des Spiritismus ist ihm unbekannt, und mit der vornehmen Abfertigung: „Es ist Alles Schwindel“ kann er sich, als in der That nicht zutreffend, nicht begnügen. Seine Phantasie ist erhitzt (und ich gestehe, daß ich selbst nur mit größter Mühe dem sinnverwirrenden Einflusse der spiritistischen Literatur widerstehen konnte, als ich dieselbe zum Zwecke eingehenderer Studien über diese interessante Frage durchnahm), und nicht nur seine Phantasie wird erregt, sondern auch sein ethisches, sittliches Gefühl, sein moralisches Denken, denn die Spiritisten lehren eine neue Religion, die alle Menschen unter dem Schutze Gottes, ohne Unterschied des Bekenntnisses, umfaßt (ich mache darauf aufmerksam, daß ich von den ehrlichen und gebildeten Spiritisten spreche); er giebt sich dieser Lehre um so eher und lieber hin, als er in der Confessionalität seiner ererbten Religion eine die Ethik verletzende Schranke erblickt und eine auf rein logischer Grundlage, auf nur vernunftgemäßem Denken beruhende ethische Sittenlehre heute noch nicht bekannt ist; er zweifelt nach allen Richtungen hin an der Berechtigung seiner bisherigen Denkweise, und da er sich und seinen eigenen Erlebnissen mehr zu trauen berechtigt ist, als denen Anderer, so versucht er, ob er nicht durch eigene Erwerbung der „medialen Kraft“ allen seinen Zweifeln ein Ende machen könnte – er hegt den lebhaftesten Wunsch, selbst Medium zu werden.

Das kann er nur, wenn er die zu diesem Behufe von den Geistern getroffenen Anordnungen befolgt. Er schließt sich also täglich eine Stunde ein, „erhebt seine Seele zu Gott“, verbannt alle andern Gedanken aus seinem Geiste und concentrirt sein ganzes Dichten und Trachten auf den einen Wunsch: den Geistern als Mittelsperson zu dienen. Ist es ein Wunder, wenn nach solchen wochen- und monatelang fortgesetzten Uebungen der Betreffende die Annäherung der Geister zu verspüren meint? Wahrlich nicht!

Wenn wir nunmehr den Spiritismus in seiner Gesammtheit betrachten, so finden wir in den ihn vermittelnden Medien folgende Classen vertreten:

Erstens: einfache Betrüger, die den Schwindel mit vollem Bewußtsein in Scene setzen, um Geld oder Anerkennung und eine gewisse Wichtigkeit zu erringen.

Zweitens: rein hysterische Personen, die sich des Schwindels zum Theile nur bewußt sind und ihn in Folge einer krankhaften Anregung verüben, der sie nicht widerstehen können und welche die Hysterie so scharf charakterisirt, und [100] Drittens endlich: Personen, welche an mehr oder minder scharf ausgesprochenem großem Veitstanze leiden und die Resultate dieser Erkrankung in gutem Glauben an deren überirdischen Ursprung produciren.

In eine dieser drei Kategorien konnte ich noch jedes Medium einreihen, das mir je bekannt geworden, und es sind deren wahrlich eine ganz erkleckliche Anzahl. Nun werden uns jedoch die Spiritisten entgegnen, daß wir ihnen auf diese Weise jede Möglichkeit eines Beweises benehmen, da wir die körperlichen, materiellen „Wunderthaten“ zu Taschenspielerkünsten stempeln und die rein geistigen, scheinbar überirdischen Kundgebungen als ehrlich anerkannter Medien in das Gebiet der krankhaften Erscheinungen verweisen. Wie soll da ein vollgültiger Beweis von Seiten des Spiritismus erbracht werden?

Ganz einfach und lediglich auf dem Boden der spiritistischen Lehre selbst. Diese behauptet, daß der „freie Geist“ mit Hülfe seines Perisprit sich mit jeder andern, incarnirten Seele in Verbindung setzen könne, wie er dies ja auch thun muß, um durch ein Medium mit der irdischen Welt in Verkehr zu treten, und auf diesem Wege könnten die Geister einen unangreifbaren Beweis für ihre Existenz liefern, wenn sie nur wollten, da diese Fähigkeit sie scharf trennt von dem, was ein in der oben angegebenen Weise erkrankter Mensch vollbringen kann.

Wir wollen dies sofort und in wenigen Worten darthun. Ein Mensch, dessen gesammte geistige Fähigkeiten krankhaft gesteigert sind, kann Sachen vollführen, Urtheile und logische Folgerungen produciren, die weit über seinen normalen Fähigkeiten stehen, aber selbstverständlich kann er nie und nimmer im Stande sein, etwas zu thun, was innerhalb seiner menschlichen Fähigkeiten, und seien dieselben noch so enorm gesteigert, überhaupt nicht mehr Platz finden kann, und darin unterscheidet sich die krankhafte Erscheinung scharf von Demjenigen, was ein „freier Geist“ nach spiritistischer Lehre zu leisten vermag und leisten muß, um überhaupt mit der Welt in Verkehr treten zu können. Erläutern wir dies durch ein Beispiel. Wenn mir irgend ein Geist durch irgend ein Medium der Welt drei Fragen beantworten kann, die ich, ohne sie auszusprechen, an ihn stelle, oder wenn er drei Sätze oder auch nur einen niederschreiben will, den ich in meinem Geiste formulire oder den ich selbst – um den Gegnern jeden Einwand zu benehmen – in einer Chiffreschrift zu Papier bringen will, deren Schlüssel ich versiegelt hinzufüge, dann würde ich mich beugen und die Existenz der Geister sammt der Berechtigung des Spiritismus ohne Weiteres anerkennen. Damit wäre ein durchaus zwingender Beweis erbracht, denn kein Mensch, sei dessen geistige Capacität noch so enorm gesteigert, ist im Stande, Derartiges zu leisten, dem „freien Geiste“ dagegen ist es ungemein leicht, es zu thun, da er sich nur durch sein Perisprit mit meiner Seele in Verbindung zu setzen braucht, um sofort und wortgetreu zu wissen, was ich denke.

Die Spiritisten können es uns nicht verübeln, wenn wir uns so lange an unsre Naturbeobachtungen halten, so lange uns mit der natürlichen Erklärung begnügen wie dieser so kinderleichte Beweis nicht erbracht worden ist. Ueberzeugend ist der thatsächliche Beweis, wie wir genügend ausgeführt haben, nur dann, wenn er vollkommen außerhalb des Bereiches menschlicher (normaler oder abnorm gesteigerter) Fähigkeit liegt und gleichzeitig innerhalb der zugestandenen Fähigkeiten eines „freien Geistes“; bis aber ein solcher Beweis erbracht ist, darf man keinem Denkenden zumuthen, die positiven Erfahrungen der Wissenschaft aufzugeben zu Gunsten von unbewiesenen, nur als solche behaupteten und gläubig hingenommenen Thatsachen.

Damit wäre der Spirtismus genügend klar gestellt und unsere specielle Aufgabe eigentlich gelöst, aber wir können nicht umhin, auf eine bedeutsame, tiefernste Lehre hinzuweisen, die wir aus dem Auftreten und der ganz colossalen Verbreitung des Spiritismus ziehen müssen. Wie ist es nur möglich, so fragen wir uns, daß diese dem logischen Denken so verderbliche Lehre in unserm materialistischen Zeitalter so sehr viele Anhänger zu erwerben vermochte? Im Mittelalter war die allgemeine Bildung eine verschwindend kleine, und da konnte das Beispiel einzelner „Verzückten“ ganze Provinzen zur Nachahmung bringen und in die „Tanzwuth“ versetzen. Aber diese gereiften, nüchternen Männer von heute in England und Amerika, in Belgien und Frankreich, diese Männer der Wissenschaft, der Forschung? Wie konnte der Spiritismus solche Anhänger gewinnen?

Die Frage ist hochinteressant und die Antwort von höchster Wichtigkeit: weil das ethische Bedürfniß in jedem gutentwickelten Menschen ein sehr reges ist, weil dieses Bedürfniß in den von den Forschungen der Wissenschaft so sehr erschütterter geoffenbarten Religionen keine Befriedigung mehr findet. und weil endlich das freie Denken erst bis zu dem Punkte gekommen ist, den Glauben verdrängt zu haben, aber an dessen Stelle bisher noch keine bessere, logische, positive Grundlage zu einer rein menschlichen Ethik aufzufinden vermocht hat. Weil die Wissenschaft die Philosophie Demjenigen, der sie ängstlich fragt: „Wo finde ich jetzt den mir nothwendigen moralischen Halt, da Du die geoffenbarte Religion ihres göttlichen Ursprunges entkleidet hast? Wie willst Du mir logisch beweisen, was Gut und was Schlecht ist, da ich es nicht mehr ungeprüft glauben soll?“ - weil die Wissenschaft, sagen wir, bisher die Antwort auf diese so sehr berechtigte Frage noch schuldig geblieben ist, weil wir noch keine durchaus einheitliche, unabhängige und naturalistische Ethik kennen, und weil wir uns noch in dem Uebergangsstadium zwischen Glauben und Denken befinden und unter den Folgen desselben leiden. Da ist es nur natürlich, wenn so Mancher, der den ihm notwendigen moralischen Halt im Glauben nicht mehr und in der Wissenschaft noch nicht finden kann, einer Lehre sich in die Arme wirft und sie mit hoher Begeisterung umfaßt, die ihm diesen moralischen Halt wieder gewährt, indem sie ihm in die unendliche Versammlung der in uneingeschränkter Liebe sich begegnenden Geister aufnimmt.

Es ist die Pflicht aller Denkenden, die Dauer der nothwendigen Uebergangsepoche so viel wie möglich abzukürzen und an Stelle des nicht mehr genügenden gläubigen Haltes einen auf dem logischen Denken beruhenden ausfindig zu machen, nicht bei der zersetzenden Kritik, der Negirung des Alten stehen zu bleiben, sondern um die Begründung eines besseren Neuen sich rastlos zu bemühen.

Auf Grund des Obigen ist die Stellung der Wissenschaft zum Spiritismus die: wir dürfen nicht Alles in ihm als beabsichtigten Schwindel von uns weisen, sondern müssen Vieles daran anerkennen als Product eines irregeleiteten Denkens und daraus folgender wirklicher nervöser Erkrankung. Unsere Verachtung den Betrügern, unser Mitleid den Kranken und unser bestes Streben der Klärung einer Frage, die in dem Uebergangscharakter unserer Zeit wurzelt und an der Möglichkeit des Ueberhandnehmens dieser Krankheit in sonst gebildeten Kreisen die größte Schuld trägt!

Dr. Wilh. Loewenthal.





Cornelius Vanderbilt, der amerikanische Dampfkönig.
Von Udo Brachvogel.
New-York, am 6. Januar 1877.

Es war ein merkwürdiges Leben und ein kaum minder merkwürdiges Sterben, das vorgestern in den Vormittagsstunden in dem Hause Nr. 14 des New-Yorker Washington-Platzes seinen Abschluß fand. Ueber achtzig Jahre hatte jenes gewährt, über acht Monate dieses. Und in beiden hatte sich der Held als eine Art Gigant, oder richtiger als ein Gigant seiner Art bewährt. Der Tod hätte wohl verzweifeln können, seiner Herr zu werden; so stark, so entschieden war der Widerstand gewesen, den dieser Lebenskämpfer von Erz dem Erzfeinde alles Lebens geleistet hat. An ein halbes Dutzend Mal war des seltenen Mannes endliche Niederwerfung fälschlich verkündet worden, aber nur, damit sie, als sie zuletzt wirklich erfolgte, zuerst von Niemanden geglaubt werden sollte. Schon im vorigen August lag der nun wirklich Abgeschiedene, von Allen außer von sich selbst hoffnungslos aufgegeben, zwei Wochen lang auf dem Krankenbette. Und doch sollte das von ihm dem Tode aufgegebene Lebensräthsel noch volle fünf Monate auf die endliche Auflösung warten lassen. Konnte er sie schon [101] nicht gänzlich verweigern, so hat er doch wenigstens das alte Jahr auf dem Kampfplatze ausgetrotzt, hat er doch erst unter den Klängen der Neujahrsglocken die Hand sinken lassen, um drei Tage später die Waffen ganz zu strecken

Es war um zehn Uhr dreißig Minuten des Vormittags des 4. Januar, daß Commodore Cornelius Vanderbilt seinen letzten Athemzug that. Umringt von einem kleinen Volke von Familienangehörigen, Söhnen, Töchtern, Enkeln und Urenkeln, starb er, nachdem er selbst während der letzten Tage keinen Zweifel mehr genährt hatte, daß es nun keinen Widerstand mehr gebe. Ein außerordentlicher Mann ist mit ihm dahin gegangen und, eng mit ihm verwachsen, ein außerordentlicher Erfolg. Das neuweltliche Dampf-Magnatenthum hat in ihm seinen Typus gefunden. Noch vor fünfzehn Monaten ein Mitglied der großen amerikanischen Krösus-Dreizahl, deren andere Zugehörige William B. Astor und Alexander T. Stewart waren, hat er jetzt, als der Letzte von ihnen, den Schauplatz geräumt. Der Grundbesitz, das kaufmännische Geschäft und der Dampf nebst seiner Filiale, der Börse, waren in dieser Dreizahl verkörpert. Jetzt lebt sie nur noch in der Geschichte, welcher nicht nur die Vollbringungen des Krieges, der Politik, der Kunst und der Wissenschaft, sondern auch die Großthaten des Erwerbes, die Triumphe der Geldmacht angehören.

Astor starb im November 1875, Stewart im April 1876, Vanderbilt im Januar 1877. Alle haben Erben hinterlassen, Keiner einen Erben – wie sehr sie auch, ganz im Widerspruch mit dem demokratischen Geist der socialen und staatlichen Institutionen der Union, letztwillig beflissen gewesen sind, ihre ungeheuren Besitzanhäufungen möglichst unberührt fortbestehen und fortarbeiten zu lassen. Jeder von ihnen war eine Merkwürdigkeit, aber der Letztgestorbene war unbedingt die größte. Astor hatte bereits Millionen und Milliarden von seinem Vater überkommen. Seine ganze Kunst bestand darin, das naturgemäße Wachsthum derselben in jeder Art zu fördern. Er soll darum nicht verkleinert werden. Die Geschichte von der Auflösung und Zerstörung großer Vermögen, welche in ihrer Art nicht minder interessant ist, als jene vom Erwerb der nämlichen Vermögen, lehrt, daß auch dies eine Kunst sei. Aber schließlich ist es doch nur etwas Passives, was wir an den Vertretern dieser Kunst anerkennen. Stewart hingegen war schöpferisch. Aber abgesehen davon, daß er es doch zuvörderst in der mitgebrachten Rüstung einer gründlichen europäischen Geistesbildung war, er war es auch nur auf einem Felde, auf welchem es schon Hunderte und Tausende vor ihm gewesen, aus dem des einfachen Umsatzgeschäftes von Waaren. Vanderbilt war ein Schöpfer im ganzen Sinne des Wortes. Ein physisches Meisterstück der Natur, begann er mit nichts, als mit der Kraft von ein paar jugendlichen Athletenarmen und einem Gehirn, das groß genug war, sich selbst zu schulen. Aber eine Elementarkraft, wie er war, schloß er ein Bündniß mit der großen elementaren Neuerung seiner, unserer Zeit, mit dem Dampf und wuchs mit ihm und in ihn hinein. Was Wunder, daß er auch mit Dampf wuchs und daß derselbe Mann, der als junger Bursche auf kleinem Nachen einzelne Passagiere zwischen Staten-Island und New-York beförderte, als Mann und Greis auf seinen Dampfern und Bahnlinien tagtäglich Tausende „über des Meeres und der Länder weiteste Strecken“ sendete! Was Wunder, daß jetzt selbst die vorsichtigsten Schätzer seiner Schätze den Enthisiasten, welche durchaus von einem Nachlaß von hundert Millionen phantasiren wollen, doch mindestens deren achtzig zugestehen müssen!

Der Dampf war wie gemacht für Cornelius Vanderbilt und er wie gemacht für den Dampf. Er wußte Alles von ihm. Von der Pike auf hatte er sich in seinem Dienst empor gearbeitet. Er verstand es aber ebenso gut, einen Kessel zu heizen, wie eine Steamerflotte zu commandiren, und unter seinen Locomotiven war er zu Hause, wie in der Wallstreet, dem großen Börsen-Zauberdistricte New-Yorks. Als Dampfbootscapitain begann er den großen Abschnitt seiner Laufbahn. Als Eisenbahnmonarch schloß er ihn ab. Zu Meer und zu Land ist er selbstherrlich gewesen. Auf jenem hat er im Ganzen achtunddreißig Dampfer gebaut und commandirt. Daher sein Titel „Commodore“. Auf diesem nannte er – ohne besondern Titel zu führen – im Augenblicke, da er starb, das stolzeste Eisenbahneigenthum sein, welches je einem einzelnen Manne geeignet hat. Dabei ist es das beste und solideste im ganzen Bereiche der Vereinigten Staaten.[2]

Achtzig Millionen Dollars – die Summe der Arbeit eines einzigen Menschenlebens! Freilich eines Menschenlebens, das weit das Doppelte von dem umfaßte, was man gewöhnlich ein Menschenleben nennt. Von seinem sechszehnten Jahre an hat Vanderbilt auf eigne Faust, von seinem achtzehnten an mit eigenem Capitale gearbeitet. Seine ersten tausend Dollars verdiente er mit zwei Kähnen, die er selber über die Bay von New-York ruderte, die ersten Dreißigtausend als Capitain der Jerseydampferlinie. Das Alles noch im ersten Viertel dieses Jahrhunderts. Dann führte er eigne Schiffe. Sein erstes Debut in Eisenbahnactien in Wallstreet datirt kaum noch in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts zurück. Aber wie schnell reckte sich der Debutant auch hier zum ersten Helden, zum Löwen empor, neben dem alles Andre zur Katze herabsank! Seitdem wuchs sein Vermögen in jeder Stunde – und jetzt, da er gestorben, streiten sie sich, wie gesagt, darum, ob es hundert Millionen waren, welche der Name Cornelius Vanderbilt in der letzten Stunde seines Trägers repräsentierte, oder nur – achtzig Millionen.

Cornelius Vanderbilt ist zweiundachtzig Jahre, sieben Monate und acht Tage alt geworden. Langlebigkeit und reckenhafte Körperartung sind in seiner von Holland herstammenden Familie erblich. Der Vater war Farmer auf dem die innere Bay von New-York gegen den Ocean abschließenden Staten-Island, und dort, in der Nähe von Stapleton, wurde am 27. Mai 1794 der nachmalige Commodore geboren. Für seine Erziehung war nur wenig, wenn überhaupt etwas geschehen, als er, noch im frühesten Jünglingsalter den Kampf mit dem Leben aufnehmend, jenes berühmte Fährboot zwischen Staten-Island und New-York hin und her zu rudern begann, dessen Preis – hundert Dollars – er durch Bestellung eines Ackerfeldes von seiner Mutter verdient hatte. Es war das im Jahre 1810, und der junge Vanderbilt war es, der die erste regelmäßige Verbindung zwischen der Manhattan-[3] und der fernabliegenden Staten-Insel herstellte, welche jetzt durch eine zweifache Linie mächtiger Dampffähren zu Stadt und Vorstadt gemacht worden sind. Während des Krieges mit England, 1812, betrieb er sein Geschäft bereits auf größerm Fuße. Er besaß zwei Pyroguen – bekanntlich aus einem ausgehöhlten Baumstamme bestehende Indianerkähne - und einen Antheil an einem dritten solchen Fahrzeuge, sodaß er bei dem damaligen Weltverkehr auf der Bay von New-York schon in jener Zeit eine Art Größe auf ihren Gewässern war. 1813 heirathete der Neunzehnjährige seine um ein Jahr jüngere Base Sophy G. Johnson von Port Richmond auf Staten-Island. Bis vor acht Jahren war sie die Genossin seines Lebens und in früheren Jahren die kräftigste Stütze seiner Unternehmungen und Vollbringungen. Sie hat ihm dreizehn Kinder geboren, neun Töchter und vier Söhne, und als sie ihm nach nahezu fünfundfünfzigjähriger Ehe starb, konnte er wohl sagen, daß dies der herbste Schlag seines Lebens gewesen.

Die kleine Boots-Flotte, die Vanderbilt im Jahre 1813 besaß, vermehrte sich rasch. Als er dreiundzwanzig Jahre zählte, nannte er bereits ein Vermögen von neuntausend Dollars – zu jenen Zeiten ein ungleich größerer Besitz, als diese Summe heutigen Tages ist – sein eigen. Mit dem Dampfe, seinem großen Lebens-Verbündeten, kam er zuerst 1817 in Beziehung. Es war Thomas Gibbons von New-York, welchem er bei dem Baue des ersten Flußdampfers half, der zwischen New-York und New-Brunswick im Staate New-Jersey den Raritan-Fluß befuhr und von dem er mit einem Jahresgehalt von tausend Dollars als Capitain angestellt wurde. Bald wurde aus dem einen Dampfer eine ganze Dampferlinie, über welche sieben Jahre später Vanderbilt bereits als Hauptinteressent neben Gibbons gebot. Und in dieser Eigenschaft focht er auch seinen ersten großen Concurrenzkrieg. Er war gegen das mit einem Privilegium in den New-Yorker Gewässern ausgerüstete Unternehmen der Livingstone-Fulton-Compagnie gerichtet und ging durch alle Gerichtsinstanzen, um 1824 mit einem glänzenden Siege Vanderbilt’s zu enden. [102] Dieser Erfolg setzte ihn in den Stand, seine Dampferlinie, mit New-York als Stapelplatz, zu einer Blüthe zu bringen, in der sie schließlich einen jährlichen Reinertrag von vierzigtausend Dollars abwarf.

1829 trennte er sich von Gibbons und begann aus eigner Kraft einen allgemeinen Kampf gegen alle bestehenden Linien, dessen Haupt-Taktik in der Herstellung besserer Schiffe, regelmäßigeren Betriebes und billigerer Beförderung bestand. So gewann er allmählich die Herrschaft auf dem Hudson, auf dem Delaware, im Long-Island-Sund und auf den Linien New-York-Boston und New-York-Philadelphia, bis er 1851 sein größtes Unternehmen, die Nicaragua-Linie zwischen New-York und Californien, in’s Leben rief. Noch großartiger war der Plan einer transatlantischen Steamer-Verbindung, für welche er den Pracht-Dampfer „Vanderbilt“ im Werthe von 800,000 Dollars baute. Der Ausbruch des Bürgerkrieges ließ das Project nicht zur Ausführung gelangen. Der bereits viele Millionen werthe Commodore aber machte die beste Miene zum bösen Spiel. Er hüllte sich in die Toga des Patrioten und machte seinen dampfenden Namensvetter der Unions-Regierung zum Geschenk, die ihm dann freilich nicht nur den Dank der Nation ausdrückte, sondern ihn auch in jenen schwierigen Zeiten in seinen riesigen Unternehmungen nach Kräften Vorschub leistete.

Die Rheder-Laufbahn des Commodores (dieser Commodore-Titel war kein officieller, sondern nur ein dem Befehlshaber friedlicher Flotten gewissermaßen von Volks Gnaden ertheilter) fand 1864 ihren Abschluß, in welchem Jahre er dem ihm so getreuen feuchten Elemente untreu wurde und sich ganz dem die Welt aus Schienen verbindenden und erobernden Dampf in die Arme warf. Er war fast fünfzig Jahre hindurch Erbauer und Eigenthümer von einundzwanzig größern und siebenzehn kleinern Dampfern gewesen und hatte im Ganzen über ein Geschwader von sechsundsechszig Fahrzeugen geboten. Ein Vermögen, das auf vierzig Millionen geschätzt wurde, war der Ertrag dieser maritimen Thätigkeit eines halben Jahrhunderts.

Es war bereits in der Mitte der vierziger Jahre gewesen, daß Vanderbilt zuerst seine erfolggewohnte Hand auf die Eisenbahn-Speculation gelegt hatte. Aber erst Ende der fünfziger Jahre sollten die Blinden der New-Yorker Wall-Street anfangen seinen Schritt zu kennen, wenn auch meistens freilich zu spät, um sich demselben, wie ein kleinerer Heertroß dem Gange eines napoleonischen Siegers, anzuschließen. Er begann mit den beiden Linien der New-York - Harlem und der New-York - New-Haven Bahn. Und es ist eine beständige Reihe von Gerichts-, Börsen- und Concurrenz-Kämpfen der heftigsten Art, welche seitdem seine Laufbahn als Eisenbahnkönig bis zu dem Moment, da er die Augen schloß, bezeichnet hat.

Das große Harlem-Actien-Manöver, welches Wallstreet im Jahre 1864 entsetzte und entzückte, war es, welches dem Commodore nicht nur Millionen eintrug, sondern auch ein zweifelhaftes Unternehmen in ganz kurzer Zeit zu einem höchst werthvollen machte. Seine wahre Großthat auf diesem Gebiete aber bleibt die Consolidirung der Hudson-River- und der New-York-Centralbahn, durch welche er den nördlichsten der vier großen Schienenheerwege schuf, welche die Ackerbau-Staaten des Mississippithales mit der atlantischen Küste verbinden. Daß er in dieser wichtigen Bahnlinie zugleich eine Musterbahn herstellte, war nur ein Beweis mehr für den Geist, welcher diesen Mann in jedem Geschäftsbeginnen beseelte und ihn bei aller Rücksichtslosigkeit und Härte nie vergessen ließ, daß nur dem wirklich Gediegenen ein einmal erkämpfter Erfolg gewahrt werden kann. Seitdem hat der Commodore dem nahezu ausschließlichen Eigenthume dieser großen New-Yorker Linie maßgebende Antheile an verschiedenen westlichen und südlichen Linien hinzuzufügen verstanden, sodaß er im Augenblicke seines Todes über eine Strecke von nahezu tausend Meilen gebot und zur Zeit nur die große Pennsylvania-Bahncorporation aus dem amerikanischen Continente ein ausgedehnteres Schienennetz beherrscht, als dieser einzelne Mann.

Ein öffentlicher Charakter in anderm Sinne als in dem eines Dampfer- und Eisenbahnmonarchen ist Cornelius Vanderbilt nie gewesen. Er war der personificirte Geschäftsegoismus, der rechnende und berechnende Geist, dem das Gute und Rechte stets nur als Ziffer, als solche aber auch volle Geltung hatte. Auch als öffentlicher Wohltäter hat er sich darauf beschränkt, der Civilisation und der Menschheit in seiner Weise zu dienen. Eine besondre Anstrengung der Oeffentlichkeit gegenüber machte er durch die oben erwähnte Schenkung des Dampfers „Vanderbilt“ an die Unionsregierung, eine zweite durch Gründung des „Vanderbilt-Seminary“ zu Nashville (Tennessee), das er ursprünglich mit siebenhundertfünfzigtausend Dollars dotirte, im Laufe der Zeit aber mit weitern reichlichen Geschenken bedachte. Beide Male werden wohl praktische Rücksichten den Ausschlag gegeben haben. In seinem Testament hat er seinen ältesten Sohn, William H. Vanderbilt, zum Universalerben eingesetzt. Die Familienlegate betragen etwas über fünfzehn, nach andern Mittheilungen aber siebenzehn Millionen. Unter denjenigen Personen, welche Vanderbilt außer seinen Familiengliedern bedacht hat, werden sein Arzt mit 10,000, sein Pastor mit 20,000 Dollars genannt.

Von wohltätigen Stiftungen oder Dotationen, mit Ausnahme einer für ein Asyl im Dienste verwundeter und erwerbslos unfähig gemachter Eisenbahnangestellter, hat das Testament des Nabob nichts zu melden gehabt. In beiden Punkten – dieser Enterbung der Oeffentlichkeit sowohl wie in dem Versuche, das Vermögen majoratsartig zusammenzuhalten – entspricht dieser letzte Wille Vanderbilt’s genau dem seiner beiden großen „Vorsterber“ Astor und Stewart. Wie man hört, beabsichtigen übrigens die Schwiegersöhne Vanderbilt’s , welche mit dem Testamente sehr unzufrieden sind, dasselbe umzustoßen.

Das Leichenbegängniß des Dampfmonarchen fand Sonntag, den 7. Januar, dem Wunsche des Geschiedenen entsprechend, in einfacher Weise statt. Auf dem kleinen Kirchhofe von New-York auf Staten Island ist er – in zwiefach heimischer Erde – beigesetzt worden. Welch ein Leben, welch eine Laufbahn, welche canaanitische Ernte von Erfolg zwischen jener ersten Fahrt im eignen Ruderboote von Staten Island nach New-York und dieser letzten Rückfahrt von seiner „Metropole“ nach dem freundlichen Eilande, auf dem dieses Wunder eines modernen Mannes geboren und jetzt zur ewigen Ruhe gebettet worden!




Meine erste Seereise.
Erlebtes von Otto Günther.
I.

„Das sollen aber auch wahrhaftig die letzten Ohrfeigen gewesen sein, die mir der Ordinarius eben gegeben hat, Mutter. Ich gehe nicht wieder hin, in die Schule – es wird sich schon ein Anderer für den letzten Platz finden.“

Mit diesen Worten stürmte ich, damals in der Blüthe meiner Flegeljahre und ein sogenannter „gesunder Junge“, entrüstet in das Zimmer, warf die Schulmappe in die Ecke und stellte mich, beide Hände in den Hosentaschen, trotzig meiner Mutter gegenüber. „Entweder schreibst Du jetzt gleich an Onkel Christian, daß er mir eine Stelle als Schiffsjunge verschafft, oder ich reiße aus und versuche mein Glück allein.“

Die gute Alte war immer nur zu schwach gegen mich Unband gewesen. Obgleich ich ihr durch viele dumme, aber nie schlechte Streiche manchen Kummer bereitet hatte, war ich doch ihr steter Verzug und hatte namentlich seit dem Tode meines Vaters stets meinen Willen gegen den ihrigen durchgesetzt. So auch diesmal! Nach vielen Einwänden, wie ich sie schon unzählige Male von ihr gehört und nie geachtet hatte, verstand sie sich endlich tränenden Auges dazu, den Brief zu schreiben und abzuschicken. Mein Onkel war Heuerbas in Hamburg und hatte als solcher das Geschäft, den Matrosen, die sich auf ein Schiff zu einer Reise verdingen wollten, geeignete Stellen zu verschaffen, d. h. sie zu verheuern. Der sollte mir nun einen Platz als Junge auf einem der zahlreichen von dort auslaufenden Schiffe besorgen, und ich konnte bei ihm sicher sein, gut untergebracht zu werden. – Schon nach wenigen Tagen lief die Antwort ein. „Ich sollte nur kommen,“ schrieb er, „die Brigg ‚Clara‘ ginge mit Stückgütern nach Rio, und der Capitain, ein guter Bekannter von ihm, wolle mich mitnehmen.“ – Wer war froher als ich! Nächtelang hatte ich schon von nichts Anderem geträumt, sah mich schon mit schwarzen

[103] Mohren und braunen Indianern, Apfelsinen essend, unter Palmen spazieren und hatte kaum ein Auge für die stille Bekümmerniß meiner guten Mutter. Meine Siebensachen waren schnell gepackt – die See-Ausrüstung konnte doch erst in Hamburg beschafft werden –, und so sah mich schon der nächste Morgen aus meiner Vaterstadt scheiden, leichten Herzens, denn hinter mir lag das dumpfe und enge Zimmer der Quarta, in dem ich nur lustig sein konnte, wenn es galt, die Lehrer zu foppen, und vor mir lag die ganze weite Welt offen da.

Meine Mutter begleitete mich nach Hamburg, half noch mit sorglicher Hand bei der Beschaffung meiner Ausrüstung und trat dann nach schwerem Abschiede die Rückreise nach S. an. Mit beklommenem Herzen sah ich sie scheiden; zum ersten Male dämmerte mir damals die Erkenntniß auf, was es heißt, eine Mutter, eine Heimath zu besitzen.

Mein Schmerz währte jedoch nicht lange. Die Eindrücke der großen Seestadt und meine leicht erregbare Phantasie halfen mir darüber fort. Und wie stolz war ich auf meine See-Ausrüstung! Das „beste Päckchen“, die blaue Jacke, das rothe Hemd und die glanztuchene Mütze sahen auch gar zu flott aus. Aber nun erst der ölduftende Südwester, die thranigen Seestiefel, die mir bis hoch auf die Lenden reichten – sie schienen mir für meine Toilette schon ganz unentbehrlich, und erregte ich, so angethan, eine stete, mir aber damals unerklärliche Heiterkeit bei den Matrosen unten am Hafen, bei denen ich mich bald angefreundet hatte. In der That mußte ich so einen höchst komischen Anblick gewähren, denn damals noch ein Knirps, konnte ich die Last der auf Zuwachs berechneten Stiefel kaum schleppen und trug den Südwester, nach Mützenart, mit dem langen Rückenschirme nach vorn bis ich später an Bord eines Bessern belehrt wurde.

Dieses mein erstes Seemannsleben an Land war nur von kurzer Dauer; nach wenigen Tagen wurde ich angewiesen, an Bord der „Clara“ zu gehen, die segelfertig sei. Da lag sie vor mir, die schmucke „Clara“, als ich in einem gemietheten Boote die weite Strecke stromabwärts bis zum Ankerplatze des Schiffes zurücklegte; zierlich und sauber vom Flaggenknopfe bis zur Wasserlinie, mit scharfem Bug und schlanken Masten, war sie als das schnellste und beste Schiff im ganzen Hafen bekannt.

„‚S ist ein sauber Ding, die ‚Clara‘,“ schmunzelte mein Bootführer beifällig, das Boot mit starken Ruderschlägen vorwärts treibend, „wenn ich noch 'mal auf See ginge, möcht‘ ich's mit keiner andern thun, als mit der ‚Clara‘.“

Wie stolz machte mich das damals schon, obgleich ich noch gar nichts vom Seewesen verstand und ihre guten Eigenschaften noch nicht zu würdigen wußte! Aber das Gefühl der Zugehörigkeit erhob mich – es war ja nun auch „meine Clara“. Mühsam und abwechselnd für den Verlust des rechten oder linken Seestiefels fürchtend, klomm ich die Jacobsleiter in die Höhe, die aber nicht in den Himmel, sondern an der Schiffsseite hinauf auf das Deck führt. Niemand empfing mich dort; das Deck war leer. Mein Onkel hatte mich instruirt, daß der Capitain in einem auf dem Deck stehenden Häuschen wohne und daß ich mich bei dem gleich anzumelden habe. Richtig! da stand ja solch ein Häuschen, und schnell stolpere ich über Tauwerk und Fässer hinweg darauf zu. An der geöffneten Thür saß ein Mann in Hemdärmeln – für mich der Capitain; allerdings machte seine Beschäftigung mich stutzig – er schälte Kartoffeln – aber wie durfte ich mir merken lassen, daß ich das anstößig fand! Da hätt‘ ich‘s ja gleich mit dem Herrn Capitain verdorben. Ich schwenkte also meinen Südwester am falschen Ende, schleppte meinen linken Seestiefel zu höflicher Verbeugung etwas zurück: „Herr Capitain, Onkel Christian läßt schön grüßen,“ platzte ich heraus, „und läßt sagen, er hätte mich nicht eher an Bord geschickt, weil ich beim Laden doch blos im Wege gewesen wäre; ich wär‘ noch zu dumm.“

„Dien Onkel Krischahn is‘n kloken Mann, lütt Stäwelknecht,“ plattdeutschte der vermeintliche Capitain, auf mein Pedal vergnügt herabgrinsend; „dat Du man sihr dämlich büst, dat mark ick nu ok; lop glickst na dat anner End‘! Doa in dat letzte Hus sit ok so'n ollen grisen Kirl – dat 's de Kock; säg em, he sall ruth kamen un sick sine Kartüffel‘ alleen pellen! Ick hew keen Tid dortau as dien Captain.“

Ich stürze nach dem andern Ende des Schiffes, um meine erste Obliegenheit so schnell wie möglich zu erfüllen; da stand wahrhaftig auch ein Häuschen und am geöffneten Fenster saß ein Mann und rauchte. „Koch, Du sollst schnell zum Capitain kommen und Dir Deine Kartoffeln allein schälen,“ rief ich ihm zu, „aber schnell – er hat keine Zeit mehr.“

Der vermeintliche Koch sah mich erst verwundert an und lachte dann laut. „Wie heißt Du, mein Junge?“

Ich nannte meinen Namen.

„Dann bist Du der neue Junge, den mir der Heuerbas schickt?“

Ich bejahte verdutzt.

„So laß Dir ein für alle Mal gesagt sein, daß Du an Bord 'hinten' und 'vorn' ebenso wenig verwechseln darfst, wie den Capitain mit dem Koch. – Aber laß nur!“ fügte er gutmüthig hinzu, als er meine verzweifelte Miene sah, „Du wirst Dich mit der Zeit schon zurecht finden, und dem Koch werd‘ ich seine Dummheiten austreiben.“

Dieses mein erstes Debüt an Bord der „Clara“ trug mir den Namen „lütt Stäwelknecht – kleiner Stiefelknecht“ ein, den ich auch behielt, so lange ich dort an Bord blieb. Ich fand mich bald in den neuen Verhältnissen zurecht, die für den Landbewohner geradezu eine unbekannte Welt bilden; ich lernte, daß man, mit dem Gesicht nach vorn stehend, die rechte Seite des Schiffes Steuerbord, die linke Backbord nennt, daß „luvward“ die Seite ist, von der der Wind herkommt, und daß er von da nach „Lee“ geht, daß das Steuer „Ruder“ genannt wird und der dort befindliche Theil des Deckes, das Achterdeck, ein geheiligter Raum ist. Nur das Gewirr der zahllosen „Enden“, wie die Seemannssprache Taue und Stricke getauft hat, machte mir das entsetzlichste Kopfzerbrechen, und mein Erstaunen war groß, als ich hörte, daß man „Wanten“ und „Mars“ sagt, statt „Strickleiter“ und „Mastkorb“. Beide Worte waren mir immer so seemännisch vorgekommen, und ich hatte sie oft gebraucht, um meinen Schulcameraden eine besondere Meinung von meinen Kenntnissen des Seewesens beizubringen. Sofort nach meiner Ankunft wurde ich einem Voll-Matrosen der Besatzung, einem alten, wettergegerbten Seebären, zur Beaufsichtigung und Ausbildung überwiesen.

Jochen Schütt, an Bord „grot Jochen“ genannt, weil er über sechs Fuß hoch in seinen Schuhen stand, hat mir nie etwas nachgesehen und mich später oft abgestraft, aber er vertheidigte mich auch stets gegen die Foppereien und Thätlichkeiten der übrigen Mannschaft, die nur zu sehr geneigt war, den „lütten Stäwelknecht“ als junge Landratte zu necken und zu malträtiren. Wir wurden sehr gute Freunde. Allerdings schien auch „grot Jochen“ von dieser seiner neuen Aufgabe, mich zu erziehen, wenig erbaut; ohne ein Wort zu sagen, schob er mich in fühlbarster Weise vor sich her auf das Verdeck, hing mir eine Theerpütze um den Hals – einen kleinen mit Theer gefüllten Eimer – und wies mich an, „das Vorgeschirr zu labsalben“, indem er nach dem Klüverbaum hinauswies. Gesagt, gethan. Ohne viel über „Vorgeschirr“ und „labsalben“ nachzudenken, fand ich die Erklärung für meine Arbeit in dem Wink nach dem Klüverbaum, in dem mir in die Hand gedrückten Pinsel und dem schwarzen Inhalt der Theerpütze. Ich kroch also über das Bugspriet hinaus und begann munter das glänzend sauber geschrapte Holz gründlich einzutheeren. „Schade,“ dachte ich bei mir, „weiß wie es war, sah's doch viel sauberer aus.“

„Ist denn der Junge rein des Teufels, Jochen?“ hörte ich plötzlich hinter mir die Stimme des Capitains; „statt bloß die Enden und Ketten einzutheeren, salbt der Teufelsbraten ja den Klüverbaum selbst ein, den der Zimmermann erst heute morgen mühsam blitzblank geschrapt.“ Ich fiel vor Schreck fast von dem verunzierten Klüverbaum herunter in's Wasser, in demselben Augenblick packte mich aber schon Jochen's Riesenfaust im Genicke: „Täuw, ick will Di dat Labsalben lihren!“ damit schüttelte er mich so gewaltig, daß die Theerpütze an meinem Halse mir rechts und links um die Ohren schlug, ihren zähen Inhalt über Haare und Gesicht entleerte und ich so selbst gelabsalbt wurde; er schien mich durch Anschauungsunterricht praktisch erziehen zu wollen. Da half kein Maulspitzen – mit meinem Taschenmesser mußte ich den nur zu dick aufgetragenen Theer wieder fortschrapen, bis das Holz in alter Weiße glänzte; drei volle Stunden brauchte ich, um den angerichteten Schaden wieder gut zu machen, drei volle Stunden mit dem Bauche auf dem harten Klüverbaum liegend, Augen und Nase fast vom Theer verklebt; vier Stunden mit dem Gefäß auf der Schulbank wären mir damals schon lieber gewesen.

[104]

Mutter und Junge auf der Bahn.       Der Koch, Kartoffeln schälend in der Küche.       Nach schwerer Arbeit.       Der Junge den Klüverbaum malend (labsalbend).
Matrose und Junge auf dem Klüverbaum, das Segel festmachend.             Das Festmachen der Raasegel.


Aus „Lütt Stäwelknecht’s“ erster Seereise.
Originalzeichnungen von H. Egersdörfer.

[105] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [106] Ich übergehe all’ die Dummheiten, die ich in der erster Zeit aus Mangel an Sachkenntniß anrichtete und die mir derbe Knüffe von Jochen’s erziehender Hand eintrugen. Im Ganzen fand ich mich schnell zurecht und eignete mir des Seemannes ABC bald an.

Am andern Morgen in aller Frühe lichteten wir die Anker; erst wurden die Marssegel, dann die Untersegel, zuletzt Bram- und Oberbramsegel gesetzt, und von oben bis unten in weiße Leinwand gehüllt, flog die „Clara“, zierlich’ zur Seite geneigt, mit günstigem Winde und auslaufender Ebbe die Elbe hinunter. Die untergehende Sonne sah uns schon bei Helgoland – ein freundliches Bild. Fischerboote mit grün-weiß-rother Flagge umkreuzten uns dort, und im warmen Frühjahrssonnenschein leuchtete die seeumbrandete Insel zu uns herüber.

Grün ist der Rand;
Weiß ist der Strand;
Roth ist die Wand –
Das sind die Farben von Helgoland.

Wir standen mit vollen Segeln in die Nordsee hinein und hielten auf den englischen Canal zu; wie eine Gazelle flog die „Clara“ durch die blaue See, mit scharfem Bug die Wellen durchschneidend; so weit das Auge reichte, zeigte ein breiter weißer Schaumstreifen den zurückgelegten Weg. Mit Untergehen der Sonne änderte sich jedoch das Wetter; der bisher günstig und „raum“ von hinten wehende Wind „schralte“ weg und wurde conträr; die dicke Luft und eine im Südwesten drohende Wolkenbank deuteten an, daß schlechtes Wetter im Anzuge sei.

„Schmierige Luft, Cap’tain,“ brummte der Steuermann zu dem neben ihm auf der Luvseite des Achterdecks stehenden „Alten“. „Die Nordsee läßt keinen ungehudelt durch. Noch vor Nacht haben wir das Wetter auf dem Halse.“

Und so war’s; die Brise frischte mehr und mehr auf; in kurzen, heftigen Stößen wehte der Wind uns kalt in die Zähne; Masten und Stängen bogen sich knackend unter dem gewaltigen Drucke aller noch stehenden Segel, und schwer stieß das zitternde Schiff in die mißfarbene See.

„Müssen Segel bergen, Steuermann. Es wird der ‚Clara‘ zu viel, und das Barometer fällt noch immer. Weg mit den Bramsegeln! Untersegel fest und zwei Reefe in die Marssegel gesteckt!“

Aber zu spät. Brausend kam die Bö über das Wasser hergefegt; die Kuppen der Wellen abkämmend, trieb sie den in Staub verwandelten Gischt, eine undurchsichtige Wolke, mit rasender Schnelle auf uns zu.

„Alle Mann auf! Segel bergen und fest! Auf das Ruder! Hart auf!“ hallte der Nothruf.

Zu spät. Mit wüthendem Stoße hatte sich die Bö in die Segel geworfen; mit unwiderstehlicher Gewalt hielt sie die Brigg tief auf die Seite gepreßt; das Wasser kochte über die Leeverschanzung auf Deck. Wir drohten zu kentern. Gelang es nicht, den Bug des Schiffes vom Winde ab und die „Clara“ vor den Wind zu bringen, so stand uns das Schlimmste bevor. Da – ein Prasseln oben in der Takelage, ein donnerähnliches Geknatter: die Großbramstänge stürzte gebrochen von oben; das Großsegel war beim Bergen zerrissen und in Fetzen vom Sturme fortgeführt worden. Das hatte uns gerettet; der durch die noch unversehrt stehenden Segel des Fockmastes auf dem vorderen Theil des Schiffes lastende Ueberdruck, ließ die „Clara“ allmählich dem Ruder gehorchen und vom Winde abfallen; langsam richtete sich das Schiff wieder auf, mit wahnsinniger Schnelle vor dem Wetter her durch den Gischt schießend.

Jetzt ging es an die schwere Arbeit des Segelbeschlagens; von der würgenden Seekrankheit und dem Schreck ganz des guten Muthes und fast der Kräfte beraubt, mußten wir zuerst auf den Klüverbaum hinaus, das Klüversegel zu beschlagen; dann ging es hinauf in die Masten, zum Festmachen der Raasegel; Neptun ließ mich auch dort oben nicht in Frieden, sondern forderte ununterbrochen seine Opfer von mir. Mit dem Bauche auf der Raa liegend, die Füße in ein unter die Raa gespanntes Tau gestemmt, mit beiden Armen in das mit unglaublicher Kraft schlagende und sich sträubende Segel fassend, rangen wir oben mit dem Unwetter. Die Nacht war hereingebrochen; nicht mehr in einzelnen Böen, mit heulender Wuth und unverminderter Gewalt hatte jetzt der Sturm das Schiff überfallen. Schnee und Regen peitschten uns in das Gesicht, und weiße Wolken von Schaum und Gischt stürzten über das Deck weg und spritzten bis hinauf zu uns auf die Raaen.

„Vorwärts! Vorwärts! Fort mit den Segeln, oder sie gehen alle zum Teufel!“ klang die Stimme des Capitains vom Deck herauf durch den Sturm. Und immer wieder riß uns das Wetter das zusammengeraffte Segel aus den erstarrten Händen; immer von Neuem wurde die Arbeit wieder begonnen. Das Blut strömte aus den zerrissenen Nägeln; mit Fäusten und Zähnen konnte die schwere peitschende Leinwand nur Zoll für Zoll dem Sturme aus dem Rachen gerissen werden. Undurchdringliche, gähnende Finsterniß unter mir, das lähmende Gefühl der Todesgefahr in dem solcher Eindrücke ungewohnten Herzen, an dünnes Tauwerk geklammert vom Sturme umtost, und in sausendem Bogen sinnbetäubend hin- und hergeschleudert – dazu wie Geisterruf der heulende Schrei der mit den übrigen Segeln kämpfenden Matrosen, Eindrücke wie ich sie nie erlebt, nie für möglich gehalten, raubten mir allmählich die letzte Kraft. Arme und Füße versagten den Dienst, ich drohte herabzustürzen; „Täuw, mien Jung! För’t irste Mal büst nü woll taufreden,“ ließ sich zur rechten Zeit Jochen’s Stimme neben mir durch den Sturm vernehmen; seine starke Faust packte mich mit sicherem Griffe; er lud mich auf seine Schulter und trug mich abwärts in den Mars, wo er mich festband. „Süh so, lütt Stäwelknecht, nu schlap ut, bet ick baben (oben) farrig bün!“ Mit unverdrossenem Muthe stieg er wieder hinauf, um die erst halbgethane Arbeit zu vollenden. Schlafen! oben im Mars, von allen Schrecken des Wintersturmes umtobt, vom eisigen Schneetreiben fast erstarrt, und nur durch einen dünnen Strick davor gesichert, in die schwarze Nacht, in die See hinausgeschleudert zu werden! Später konnte ich es, und habe manche Stunde oben im Mars verträumt, aber in jener Nacht nicht.

Stundenlang lag ich so da, fast sinnlos; endlich, endlich kamen Jochen und die übrigen Matrosen zu mir herunter; „nu sünd wi farrig,“ damit lud er mich wieder auf seine Schulter, und durch die Nacht ging es die schwanken Wanten hinunter auf das sichere Verdeck. Als Jochen mich dort hinstellte, brach ich zusammen; es war zuviel gewesen für den Knaben.

Vier volle Stunden, in eisiger Nacht, in erstarrendem Schneetreiben und heulendem Sturme hatte dieser Kampf zwischen Himmel und Wasser gedauert. Auch grot Jochen und die andern Matrosen waren zum Tode erschöpft und vor Kälte erstarrt. Mit dickbauchiger Flasche trat der Capitain zwischen uns; „de Oll giwt’n Lütten ut,“ ging es durch die schmunzelnde triefende Gesellschaft, und im Vorgenuß der kommenden Belohnung wischte sich Jeder den Mund, ob der Anerkennung verlegen greinend und die bekannte Flasche beliebäugelnd.




Hohe Fluth.
Erzählung von Hans Warring.
(Fortsetzung.)


Diese Beobachtungen hatten in dem jungen Mädchen eine Gemüthsstimmung erzeugt, vor welcher sie selbst oft erschrak. Es hatte sich ein tiefer Groll ihrer bemächtigt, ein Groll, der sich in manchen Augenblicken bis zu leidenschaftlichem Hasse steigerte. Sie konnte nicht mehr unbefangen, wie sonst, die vielfachen Beweise der Großmuth, welche sie von Helene empfing, hinnehmen; sie hatte angefangen, das Mein und Dein strenge zu sondern. Auch an Helenens Wesen, das ihr früher als das Musterbild hoher Weiblichkeit erschienen war, hatte sie begonnen, den Maßstab nicht nur einer strengen, sondern, wie sie sich selbst gestehen mußte, böswilligen Kritik zu legen. Besonders aber war es Helenens Verhalten gegen den Arzt, das sie mit eifersüchtigem, grollendem Blicke überwachte. Während ihr angeborner Gerechtigkeitssinn anerkennen mußte, daß Helene sich stets gleich geblieben war in offener, herzlicher Zuneigung, legte sie ihr dennoch unlautere Motive unter. Sie nannte sie intriguant, berechnend und coquett, und es war gestern nicht zum ersten Male [107] geschehen, daß sie sich erlaubt hatte, ihrem ungerechten Grolle Ausdruck zu geben.

Alle diese Gedanken arbeiteten in ihrem Kopfe, als sie langsam dem Hause zuschritt. In dem unseligen Zwiespalte ihrer Gefühle drängte es sie, ihre Arme um den Hals Helenens zu schlingen und sie um Verzeihung zu bitten wegen ihrer gestrigen Heftigkeit. Dann aber fiel ihr ein, daß Doctor Simonis – wenn sie diesen Namen leise für sich aussprach, gab sie ihm stets einen andern Klang, als wenn es vor Andern geschah, und sie pflegte in diesem Falle vorher stets eine Pause eintreten zu lassen, und ihn dann auszusprechen, als fasse sie ihn mit Zangen an – es fiel ihr ein, daß Doctor Simonis Helene gegenüber Aufmerksamkeit und achtungsvollste Höflichkeit bewiesen, während er sich gegen sie selbst spöttisch und herausfordernd, ja, geradezu unhöflich gezeigt hatte, und bei diesem Gedanken erhielt der Geist des Trotzes wieder Oberhand in ihrem Köpfchen. So geschah es, daß sie mit umwölkter Stirn und finsterem Blicke vor ihrer Mutter erschien, während es nur eines Hauches bedurft hätte, sie mit Reuethränen zu deren Füßen zu führen. Bei ihrem Eintritte blickte Frau Helene von einem Briefe auf, in welchem sie eben gelesen. Sie erwiderte ihrer Tochter kühlen Morgengruß mit einem Neigen des Hauptes und sagte dann:

„Ich habe soeben einen Brief von meiner Mutter erhalten; sie meldet ihren Besuch auf morgen an und gedenkt bis zum Schlusse der Badesaison hier zu bleiben. Dann macht sie den Vorschlag, Dich im Herbste mit nach Berlin zu nehmen, um Dich dort einige Wintervergnügungen genießen zu lassen. Bis jetzt habe ich eine Trennung von Dir stets zurückgewiesen, allein in letzter Zeit habe ich einsehen gelernt, daß es das Beste sein dürfte, wenn Du für einige Zeit in ein andres Haus einträtest. Vielleicht wird ein zeitweiliges Entbehren der Heimath Dich deren Vorzüge besser erkennen lassen, wenn Du zurückkehrst.“

Die junge Frau hatte in ihrer gewöhnlichen ruhigen, milden Weise gesprochen. Sie hatte den Vorschlag der Trennung nicht etwa in der Absicht gethan, eine Verbannungsstrafe über die Schuldige zu verhängen, sondern in der richtigen Erkenntniß der Thatsache, daß Rosa aus ihr unbekannten Gründen der Aufenthalt in ihrem Hause weder angenehm noch dienlich sei – dennoch aber wirkten ihre Worte auf Rosa wie eine ihr angethane schwere Beleidigung. Ihre Lippen zuckten; sie schüttelte mit einer trotzigen Bewegung des Hauptes ihre Haare zurück und nahm schweigend ihren Platz am Frühstückstische ihrer Mutter gegenüber ein. Erst als sie nach beendeter Mahlzeit in ihr Zimmer gegangen war und ihren Hut vor dem Spiegel aufsetzte, um zum Baden zu gehen, erlaubte sie sich die Erleichterung der Thränen. Der Gedanke, von dem lieben Hause scheiden, die Menschen, die ihr die liebsten waren, Monate lang nicht sehen zu sollen, von dem kleinen Felix sich trennen zu müssen – dieser Gedanke war so bitter, daß sich ihr Schmerz in einem leidenschaftlichen Ausbruche kund that. Aber schnell faßte sie sich wieder. Niemand sollte sagen, daß sie leide, Niemand ahnen, daß ihr eine Trennung schwer fallen würde.

„Sie verdienen es nicht, daß ich sie liebe,“ sagte sie trotzig, während sie die Stufen zum Damenbade hinabstieg, „denn sie Alle sind Heuchler. Alle hintergehen mich und glauben, ich sei so einfältig, sie nicht zu durchschauen. Es ist lange schon beschlossene Sache gewesen, mich aus dem Hause zu entfernen – ich habe das schon lange geahnt. Ich will ihnen nicht zur Last fallen; ich will gehen und sie von meiner Gegenwart befreien. Aber nicht dahin, wohin sie mich schicken, werde ich gehen – nicht in das Haus jener Frau, die ich verabscheue – zu fremden Menschen will ich meine Zuflucht nehmen. O, daß ich sie Alle vergessen könnte, daß ich im Stande wäre, die Liebe zu ihnen aus meinem Herzen zu reißen!

Die Wehmuth übermannte sie wieder, und sie mußte sich abwenden, ihre feucht gewordenen Augen zu trocknen. Dann aber faßte sie sich gewaltsam. War das die Art, wie sie sich benehmen mußte, um alle Welt an ihre ungetrübte Heiterkeit, an ihr ungestörtes Glück glauben zu machen? – Noch einen Augenblick brauchte sie, um sich zu sammeln, dann sprang sie leichtfüßig die Stufen hinab und langte mit einem Jauchzen, von welchem keine der bereits versammelten Damen vermuthet hätte, daß es aus einer schmerzbewegten Brust kam, unten am Strande an.

„Welch' ein Bad werden wir heute haben!“ rief sie jubelnd aus, indem sie so dicht an die Fluth herantrat, daß der Schaum der brandenden Wellen ihre Füße und den Saum ihres Morgenkleides benetzte. „Welch' ein Bad! Das erste wahrhaft schöne in diesem Jahre. Warum aber stehn sie Alle noch so zweifelhaft da? Hat noch Niemand den Muth gehabt, als Erste das Bad zu beginnen? Nur einen Augenblick Geduld – ich werde sogleich bereit sein.“

Sie eilte in leichten Sprüngen über den Sand hin und verschwand hinter der Thür der Bretterbude, die von ihr und Helene zum An- und Ablegen der Badekleider benutzt wurde. Einige Augenblicke später erschien auch diese unten am Strande.

„Die See geht noch ungewöhnlich hoch; ich habe nicht erwartet, daß heute das Bad gestattet sein würde,“ sagte sie zu einer der harrenden Badefrauen.

„Innerhalb der Barrière ist der Grund untersucht und ganz sicher befunden worden,“ lautete die Antwort. „Es ist demnach keine Gefahr zu befürchten, wenn sich die Damen nicht zu weit hineinwagen.“

Trotz dieser Versicherung war die Meinung der Anwesenden getheilt. Einige faßten Muth und erklärten, sich fertig machen zu wollen, um Fräulein von Malwitz in die See zu folgen. Andere dagegen riethen von diesem Vorsatze ab und meinten, daß nur einer so geübten Schwimmerin, wie Rosa, heute das Bad gestattet sein sollte. So kam es, daß, als diese im Schwimmcostüm, wie ein kecker, junger Matrose aussehend, erschien, die Schaar der Badelustigen und Badebereiten nur sehr klein war und daß selbst von diesen die Meisten erklärten, noch abwarten zu wollen, mit welchem Erfolge Rosa gegen die Wogen kämpfen würde, ehe sie selbst das Wagniß beginnen wollten.

„Die Wellen rollen heute schwer vom Strande zurück; sie werden Dich gewaltsam seewärts ziehen,“ sagte Helene warnend.

„Wer Angst hat, mag doch hübsch im Trocknen bleiben!“ entgegnete Rosa mit leichtem Hohn.

„Du solltest Dir wenigstens den Gürtel mit der Leine anlegen lassen,“ rieth Helene.

„Ich bedarf dessen nicht; ich bin meiner sicher,“ lautete die kühle Antwort.

„Bitte, nimm den Gürtel meinetwegen – mir zur Beruhigung!“

Die junge Frau hatte sanft und dringlich gesprochen und war Rosa währenddessen leise näher getreten. Diese wandte sich jäh und heftig zu ihr um.

„Bemühe Dich nicht, eine Besorgniß zu heucheln, die Dir nicht von Herzen kommt!“ sagte sie leisen Tones, aber mit blitzenden Augen. „Es gelingt Dir doch nicht, mir die Ueberzeugung zu nehmen, daß die See Dir einen dankenswerthen Dienst leisten würde, wenn sie Dir den bösen Schein ersparte, mich bei fremden Leuten ein Unterkommen suchen zu lassen. Ich rathe Dir übrigens, hier nicht länger zu verweilen – der Doctor wird wahrscheinlich um diese Zeit seinen Besuch bei Felix machen – bitte, versäume denselben meinetwegen nicht!“

Sie wartete eine Entgegnung nicht ab, sondern sprang mit lautem Lachen, dem ein feines Ohr das Erzwungene wohl anmerken konnte, von ihr hinweg.

Helene blieb einen Augenblick regungslos stehen. Dahin war es also gekommen. Rosa hatte jedes Verständniß, jede Erinnerung für bewiesene Liebe und Güte verloren. Sie fühlte sich durch diese Wahrnehmung anfangs lief niedergebeugt, dann aber ging jeder andere Gedanke in dem Mitleid unter, das der Anblick des jungen Mädchens ihr einflößte. Mit einer Lustigkeit, die den Jammer ihres Herzens vor Helenens Augen nicht verbergen konnte, machte Rosa sich eben bereit, ganz allein, ohne Gefährtin zu baden. Sie wandte sich noch einmal um, die Zurückbleibenden der Feigheit und Treulosigkeit anzuklagen und sie in scherzhaft pathetischem Tone zu Reue und Besserung zu vermahnen. Ihre Worte hatten einen unerhofften Erfolg. Noch im letzten Augenblick gesellte sich ihr eine Gefährtin zu, die Tochter einer befreundeten Familie, Rosa's liebste Gespielin von frühester Kindheit an. Helene sah noch, wie beide geübte Schwimmerinnen sich rücklings einer eben heranbrausenden Welle entgegenwarfen und neben einander aus den Fluthen wieder auftauchten, dann wandte sie sich zum Gehen, da für ihren Geschmack und ihre Fertigkeit die Wellen heute zu hoch gingen.

[108] Sie erstieg die Stufen, die zu ihrem Garten emporführten. Es kreuzten sich so verschiedenartige Gedanken in ihrem Kopfe, daß sie sich danach sehnte, allein zu sein, um sie sammeln und ordnen zu können. Wie ein Blitz war ihr eben die Erkenntniß gekommen, was die Ursache von Rosa's verändertem Wesen sei. Mit plötzlicher Klarheit stand die Gewißheit vor ihr, daß Rosa den Arzt liebe, und daß sie, irre geleitet von ihrem freundschaftlichen Verhältniß, in dem Glauben befangen sei, in ihr eine glückliche Rivalin zu sehen.

„Das arme, thörichte Kind!“ sagte sie leise lächelnd vor sich hin – „das arme Kind, warum schenkt sie mir kein Vertrauen? Wie leicht hätte ich durch wenige Worte ihrem Kummer und ihrer Eifersucht ein Ende machen können! O, wenn ich es nur verstanden hätte, ihr herbes, sprödes Wesen dem Doctor gegenüber richtig zu deuten – vielleicht hätte ich dann schon eine Lösung herbeiführen können, die zwei liebe Menschen für's Leben glücklich gemacht hätte!

Mit diesen Gedanken beschäftigt, war sie oben im Garten angelangt, als sie schnelle feste Schritte den Weg daherkommen hörte. Im nächsten Augenblicke bog Doctor Simonis um die Hecke und stand heiter grüßend vor ihr.

„Guten Morgen, Frau Helene!“ sagte er, ihr die Hand reichend, „wie geht es heute mit Ihrem Kopfschmerz? Ich muß Bericht darüber an Gerhardt erstatten, der sich vermuthlich eine unruhige Nacht darüber gemacht hat. Denn schon heute mit dem Frühesten langte ein Billet von ihm an, mit der dringenden Bitte um Nachricht. – Sie erröthen, Frau Helene? Ei, ei, die Sache beginnt von beiden Seiten gefährlich auszusehen. Ein Erröthen – ein wirkliches mädchenhaftes Erröthen, wie ich es an Ihnen in all den Jahren, die ich als Freund Ihnen zur Seite stehe, nicht erlebt habe. Und was Schack anbelangt, so macht er alle unsere Illusionen in Betreff des Vergnügungs-Comités zu Schanden. Er erklärt, daß er mit Niemand Etwas zu thun haben wolle, ich solle ihm die Leute – mit einer einzigen Ausnahme natürlich – vom Halse halten. Er sei nicht in der Stimmung sich Unbequemlichkeiten aufzuerlegen um der Narrheiten Anderer willen. Kurz, sein Humor ist in's Menschenfeindliche umgeschlagen, immer mit der schon erwähnten einzigen Ausnahme. Denn was ihm bei Anderen eine Narrheit ist – das Amüsement – das scheint ihm in einem einzigen Falle eine wichtigen Sache zu sein. So macht er den Vorschlag, uns heute Nachmittag den Wagen zu schicken, um einen Ausflug nach dem reizend gelegenen Seebude, einem zu seinem Gute gehörigen Vorwerke, zu machen. Was sagen Sie dazu, Frau Helene?“

Ehe die junge Frau antworten konnte, tönte ein lang anhaltender, vielstimmiger Angstschrei vom Strande zu ihnen herauf. Helene erbleichte.

„Was war das?“ rief sie zitternd aus. „Da ist ein Unglück geschehen. Rosa – es ahnt mir – ist beim Baden tollkühn gewesen. O Doctor, eilen Sie, retten Sie sie! Ich werde Hülfe herbei rufen.“

Sie eilte dem Hause zu, während der Arzt behende die Strandtreppe hinabsprang. Unten empfing ihn ein erneuetes Jammergeschrei der Versammelten. Bei seinem Anblick stürzte die ganze Schaar der rathlosen Frauen ihm entgegen. Er wurde umringt und von hundert Stimmen zugleich um schleunige Hülfe und Rettung beschworen, während man in der Angst und Verwirrung ihm dennoch hindernd und jede freie Bewegung hemmend in den Weg trat. Mit einer kräftigen Armschwenkung, wie man sie dem rücksichtsvollen zartsinnigen Manne kaum zugetraut hätte, machte er sich frei und stürzte dem Strande zu. Hier war nicht zu zögern, wenn die Rettung nicht zu spät kommen sollte – mit dem ersten Blicke hatte er das erkannt. Hastig warf er den beengenden Rock von sich und eilte den schreienden Badefrauen zu Hülfe, die, bis an die Brust im Wasser stehend und selbst nur mühsam gegen den gewaltigen Anprall der Wogen ankämpfend, sich vergeblich bemühten, den über die Barrière hinaus Verschlagenen die Rettungsleine zuzuwerfen. Die beiden jungen Mädchen kämpften – das sah er sogleich – mit ungleichen Kräften. Er hatte Rosa gestern noch die Tochter von Rittern und Kriegern genannt; sie bewies jetzt, daß der Muth und die Kraft ihrer Vorfahren in ihr lebten. Die zurückrollenden Wogen rissen sie gewaltsam seewärts, aber kaum war ihr blonder Kopf aus einer über sie hinstürzenden Welle emporgetaucht, so sah man sie mit Muth und Besonnenheit danach ringen, der Barrière wieder näher zu kommen. Die Badekappe war ihr vom Haupte geglitten; ihr blondes Haar schwamm auf den grünglänzenden Wogen. Zuweilen war sie dem rettenden Taue schon so nahe, daß nur wenige Augenblicke hingereicht hätten, ihre sehnsüchtig ausgestreckte Hand dasselbe ergreifen zu lassen, aber erbarmungslos kamen die Wogen heran und fielen mit gleichmäßig sich hebendem und senkendem Geräusch auf den Strand nieder. Und mit jeder, die zurückrollte, wurde die Entfernung größer – Rosa's Bewegungen wurden schwächer und matter.

Während dieses harten Kampfes war Helene mit neuer Hülfe unten angelangt. Sie hatte den Bedienten nach dem Logirhause gesendet, und der Besitzer mit einer Schaar von Gästen war schleunigst zur Rettung herbeigeeilt. Vom Dorfe liefen auf die Schreckenskunde Fischer herzu; man lief hin und her mit Leinen und Stangen; Andere stürzten zu den Rettungsbooten. Doch schien es, als ob jede Hülfe zu spät kommen sollte. Rosa kämpfte zwar noch muthig fort, obgleich ihre Bewegungen unregelmäßig und unsicher wurden, ihre Gefährten aber schien den Kampf aufgegeben zu haben. Eine Woge rollte über sie fort, und die andere hob sie wieder in die Höhe. Man sah ihr bleiches Antlitz für einen Augenblick aus den grünen Wellen auftauchen – dann verschwand es wieder. Die unglückliche Mutter des jungen Mädchens stieß einen Schrei aus, der selbst das brandende Meer übertönte. Da tauchte aus den Fluthen noch einmal ein weißer Arm empor – dann rollte Welle um Welle heran, aber keine brachte ein Zeichen mit von dem jungen Leben, das augenscheinlich der Vernichtung anheimgefallen war.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.


Die Delinquenten-Tax-Verkaufliste, wie sie alljährlich in den amerikanischen Blättern als öffentliche Anzeige figurirt, ist eine der vielen amerikanischen Eigenthümlichkeiten. Es ist dies eine Liste der unbezahlt gebliebenen Steuern auf Grundeigentum, mit genauer Angabe der Eigenthümer, wobei noch eine kurze Frist zur Bezahlung erlaubt ist, widrigenfalls das nicht versteuerte Object um jeden Preis versteigert werden kann, was jedoch nicht immer geschieht. Eine solche Veröffentlichung ist freilich für den Betreffenden nicht immer angenehm und ehrenvoll. Dabei sind aber die Steuern in Amerika nach dem letzten Bürgerkriege so hoch, daß man sich in Deutschland davon keinen Begriff machen kann. So z. B. muß in Newark (im Staate New-Jersey) jede männliche mündige Person, gleichviel ob Bürger oder nicht, fünf bis sechs Dollars Steuern bezahlen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob der Betreffende Arbeit hat und etwas verdient oder nicht. Die Stadtbehörden haben das Recht, den Nichtzahler verhaften und ihn seine Schuld abarbeiten zu lassen, wenn dieses Recht auch nicht stricte, sondern nur in einzelnen Fällen ausgeübt wird.

D.



„Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung mittelst photographischer Darstellung“ (Leipzig, Otto Spamer) betitelt sich ein sowohl für Fachgelehrte, wie für Laien berechnetes Werk von Dr. S. Th. Stein, welches auf streng wissenschaftlichem Wege und doch in gemeinfaßlicher Form die praktische Verwerthung der Wirksamkeit des Lichtes nachzuweisen sucht und diese Aufgabe in erfreulicher Weise löst. Den sämmtlichen Zweigen der Naturwissenschaft wird in diesem Buche eine Fülle nützlicher Beobachtungen als dankenswerthe Handhabe für die verschiedensten technischen Ausführungen geboten. Der Fachgelehrte findet in dem mit zwölf phototypischen und chromolithographischen Tafeln und einer großen Anzahl von Textillustrationen ausgestatteten Werke ein werthvolles Nachschlagebuch, der Photograph richtige Nachweise für die Technik seiner Kunst und der gebildete Laie Anregung und Belehrung nach mehr als einer Seite der naturwissenschaftlichen Weltbetrachtung hin. Möge dem Werke eine Bahn in weite Leserkreise geöffnet werden!




Kleiner Briefkasten.


Ch. D. in L. Das Nathusius’sche Blatt haben wir empfangen und danken Ihnen für die angenehme Unterhaltung. – Die Brehm'schen Vorlesungen werden in unserem Journale besprochen werden, sobald der bekannte Reisende sie zum Abschluß gebracht haben wird.

Eine Neugierige. Der in Ihrem Schreiben erwähnte Autorname ist uns völlig unbekannt.

W. „Die Tochter des Pfarrers“, obwohl recht ansprechend erzählt, können wir nicht verwenden. Verfügen Sie gefälligst über das Manuscript.

A. Bertrand in Hamburg. Die reclamirte Novelle ist nicht in unsre Hände gelangt.

S. H., T. S., Johannes M., E. E. 20, Paul Seehr in Straßburg. Ungeeignet und bis zum Eingang Ihrer Adresse zurückgelegt.

W. Sp. in ? Ehe Sie über die Incorrectheiten Anderer aburtheilen, wollen Sie gefälligst für die eigene Correctheit sorgen! Briefe ohne Datum und Ortsangabe abzusenden, hat wohl zu keiner Zeit für besonders „correct“ gegolten.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Eine von den Spiritisten angenommene, materiell-ätherische Substanz, die im Leben die Seele mit dem Körper verbindet und erstere nach ihrem Abscheiden aus dem Körper in die Geisterwelt begleitet.
  2. Es besteht vornehmlich aus den beiden sich aneinander anschließenden Linien der Hudson-River- und der New-Vork-Centralbahn. Diese Linien bilden den nördlichsten der vier großen Schienenwege, die den Westen der Mississippi-Regionen mit der atlantischen Küste verbinden. Soweit Vanderbilt’s Besitz an ihnen in Betracht kommt, werden sie allein auf vierzig Millionen Dollars taxirt.
  3. New-York.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ceutralorgane