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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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[641]
Der böse Nachbar
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Am Ende des Corridors führte eine breite schöne Steintreppe mit kunstreichem Eisengeländer in die Höhe. Oben auf dem Vorplatze schloß das Mädchen eine hohe Flügelthür auf, und der Fremde trat in einen Vorsaal, in welchem offenstehende Thüren nach rechts wie nach links in eine Enfilade von dunkelnden, schon von der anbrechenden Dämmerung erfüllten Gemächern blicken ließen. Sie waren meublirt, wie die Wohnräume einer wohlhabenden Adelsfamilie zu sein pflegen, Alles ein wenig veraltet und noch mehr bestäubt, verschossen, vernachlässigt. An den Wänden hingen Oelbilder, Portraits, Landschaften; am Ende der Reihe rechts befand sich ein die ganze Breite des Gebäudes einnehmender Saal mit Fenstern nach zwei Seiten, mit Krystalllüstre und krystallenen Wandleuchtern, in der Mitte der dunkelrothen Wandflächen mit Statuetten geschmückt, die sich weißleuchtend von dem dunklen Grunde abhoben; auch die Decke war mit weißen Stuckfiguren verziert – der Raum war augenscheinlich der Festsaal des Hauses.

Der junge Mann schritt quer durch den Raum auf die Nische zu, welche in der der Eingangsthür gegenüberliegenden Längenwand angebracht war, auf die weißleuchtende Statue, welche in dieser Nische auf kniehohem Postamente von dunklem Marmor stand … er blieb vor ihr stehen und stieß ein leises unwilliges „Ah!“ aus, es schien ihn etwas in hohem Grade betroffen zu machen. Er streckte den Arm aus und fuhr mit der Hand über die Schulter der Statue … dann stieß er mit der Fußspitze an den Sockel; dieser klapperte – der dunkle Marmor war nur hohles Holz. Mit einem Tone zorniger Entrüstung rief der Fremde dem Mädchen, das ihm gefolgt war, über die Schulter zu:

„Wo ist die Statue? Das hier ist ja ein elender Gypsabguß … wo ist die Statue hingekommen …?“

„Ich habe nie etwas Anderes hier gesehen!“ versetzte das Mädchen verwundert.

„Nie etwas Anderes gesehen? So mögen alle Wetter drein schlagen!“ rief der junge Mann im höchsten Zorne aus … „an die Stelle des wundervollen Marmorbildes dieses schäbige Ding … reiß’ das nächste Fenster auf … das Fenster auf, sag’ ich … zum Teufel mit dem Plunder!“

Das Mädchen stand tief erschrocken vor dem plötzlichen grenzenlosen Zorn des Fremden; sie sah regungslos, wie er das Bild mit beiden Händen an den Armen ergriff, es zum nächsten Fenster schleppte und dieses aufriß. Dann stieß sie einen Schrei aus und stürzte, wie um Hülfe herbeizurufen, davon, quer durch den Saal und die nächsten Gemächer … wie wildzornig der Fremde das Bild durch das Fenster warf, sah sie nicht mehr, aber sie hörte den heftigen Krach, mit welchem es draußen an der Seite des Gebäudes unten aus dem Boden ankam und in tausend Stücke zerschellte.

Zornige Verwünschungen zwischen den Zähnen murmelnd, ging der junge Mann zurück; er schritt durch die Zimmerreihe, durch welche er gekommen; vom Treppenvorplatz her hörte er eilige schwere Schritte ihm entgegenkommen, und als er in die nächste Thür trat, stand ein großgewachsener, breitschultriger Mann in einem grauen Jagdrock und mit einem Strohhut auf dem Kopfe vor ihm, der ihn mit einem Tone, in welchem Betroffenheit und Zorn sich in eigenthümlicher Weise mischten, anschrie: „Herr, wer sind Sie, was machen Sie denn hier?“

„Wer ich bin, können Sie sich ungefähr vorstellen,“ sagte der junge Mann hochmüthig und scharf – „Sie sind der Administrator?“

„Der bin ich, und Sie sind der Baron Horst?“

Der Baron Horst beantwortete diese Frage nicht, er versetzte nur: „Folgen Sie mir in die Zimmer meines Vaters … lassen Sie Lichter dahin bringen, wir werden länger miteinander zu reden haben.“

Er schritt voran in die andere Zimmerreihe links von dem Treppenvorraum, und hier warf er sich bequem in einen Lehnstuhl, der neben einem großen Tische mit dunkler Marmorplatte stand.

„Erklären Sie mir vor allen Dingen.“ sagte er hier, „wo ist die kostbare Marmorstatue der Flora?“

Der Administrator stand vor ihm – der Mann mit dem kräftig geschnittenen, aber gewinnenden, intelligenten Gesicht, das ein dunkler Vollbart umrahmte, sah mit gerunzelten Brauen scharf auf ihn nieder; dann glätteten sich diese Brauen, er nahm ruhig in einem gegenüberstehenden Stuhle Platz und sagte: „Herr Baron, ich fürchte, wenn wir in diesem Tone einsetzen, so kommen wir nicht zu einer ordentlichen Harmonie, die doch Ihnen ebenso wünschenswerth sein möchte, wie mir. Schlagen wir die Stimmgabel deshalb noch einmal an. Ich heiße Sie herzlich willkommen im Hause Ihrer Väter, auf Ihrem Erbe, das ich Ihnen selbst zu überliefern habe. Ich habe es von dem Augenblicke an, wo es Ihr Vormundschaftsgericht mir übergab, als ehrlicher Mann nach bestem Wissen und Gewissen verwaltet. Als Sie nach Ihrer Eltern Tode in ein österreichisches Cadetteninstitut gegeben wurden und die Behörde mich zum Administrator Ihres ganz verschuldeten und sequestrirten Erbes einsetzte, da glaubte man, daß es kaum jemals in Ihre Hände kommen und daß es mehr als ein Menschenalter [642] dauern würde, bis die Schulden abgetragen seien. Seitdem sind achtzehn Jahre verflossen … Sie waren damals acht Jahre und zählen jetzt sechsundzwanzig …“

„Es ist wahr,“ sagte der junge Baron milder und wie einem überlegenen Wesen sich beugend, „ich war in der That sehr überrascht durch die unverhoffte Nachricht des Gerichts, daß ich kommen und mein Erbe übernehmen könne …“

„Ohne die Rentenablösungen, die uns so viel Geld brachten, und ohne die unerwartete Erbschaft von Ihrem Vetter in Schlesien wäre es freilich nicht möglich gewesen … aber trotzdem,“ fuhr der Administrator selbstbewußt fort, „darf ich sagen, daß ohne meine ehrliche, umsichtige und rastlose Ausbeutung der Hülfsquellen, welche Ihre Besitzungen darboten, das Ziel nicht so rasch erreicht worden wäre, und so habe ich denn freilich einigen Anspruch – nicht auf Ihren Dank, Herr Baron, den ich nicht verlange, aber auf eine andere Art des Verkehrs!“

Der junge Mann sah den Redenden groß und offen an; er schien zu fühlen, daß er mit dem Tone, den er angeschlagen, ein Unrecht begangen, und ganz bereit, es gut zu machen, entgegnete er: „Ich bin aber durchaus nicht gewillt, mich dem Danke zu entziehen, mein lieber Herr! Glauben Sie das nicht – ich weiß auch sehr wohl, daß ich, ohne Ihre fortdauernde Hülfe bei der Verwaltung meiner Herrschaft zu finden, für die nächste Zeit in großer Verlegenheit sein würde. Aber ich gestehe Ihnen, daß der erste Eintritt in mein Vaterhaus mir einen unangenehmen Eindruck gemacht hat. Ich bin etwas von einem Kunst-Dilettanten … ich habe meines Vaters Interesse für die Plastik geerbt, und so war mir lebhaft in der Erinnerung der große Werth geblieben, den mein Vater auf seine farnesische Flora setzte, auf die Marmorstatue, die er einst in Italien erstanden, die er hütete wie seinen Augapfel. Wenn ich in den langen Jahren, die ich in der Fremde zubrachte, mich meiner Heimath erinnerte, so trat mir dies weißglänzende schöne Bild entgegen wie eine Art von waltender Hausgottheit, wie ein schützender Genius des Orts – Sie wissen, welche Rolle in unserer Seele solch’ ein Ding, das sich tief der kindlichen Phantasie eingeprägt hat, spielen kann – und nun ist das schöne Bild verschwunden, ich finde einen wahren Plunder an seiner Stelle… wo ist es? wohin ist es gerathen?“

Wäre die Dämmerung nicht schon so stark eingebrochen, Baron Horst, der bei diesen Worten in die Züge des Mannes vor ihm blickte, hatte wahrnehmen müssen, daß diese Züge sich leise verfärbt hatten, während er sprach, daß sich wieder tiefe Falten in die Stirn des Administrators gruben und seine Blicke einen etwas scheuen und unsteten Ausdruck einnahmen.

„Wenn ich nicht irre,“ versetzte er ein wenig zögernd und mit dem Tone eines Mannes, der sein Gedächtniß anstrengt, „wenn ich nicht irre, ist das Bild verkauft, schon vor Jahren, Sie wissen vielleicht nicht, daß das Gericht für gut befunden hat, manches Werthvolle, was nicht zum Fideicommiß gehörte, z. B. das Silberzeug Ihrer Eltern, verkaufen zu lassen; die Statue wird mit verkauft sein … es wird sich bei den alten Rechnungen eine Notiz darüber finden … es war mir unbekannt, daß Sie so großen Werth darauf legten … daß Sie selbst die Kunst treiben … und ich meine,“ setzte er lächelnd hinzu, „Sie können ja jetzt solche alte Kunstsachen wieder kaufen, so viel Sie wollen … von der Erbschaft des Vetters in Schlesien und den Renten des letzten halben Jahres, die schon Ihnen zu gute kommen, liegt eine ganz hübsche Summe für Sie bei Gericht deponirt … Sie brauchen sich nur zu melden, um sie ausgeantwortet zu bekommen, sie muß etwas wie dreißigtausend Thaler sein …“

„Mit Geld allein sind solche Kunstschätze nicht zu erlangen, mein lieber Administrator,“ fiel Horst ein … „daß die Flora mir geraubt, vielleicht für einen Spottpreis an irgend einen Althändler losgeschlagen ist, bleibt mir ein bitterer Tropfen in die Freude dieses Tages, der ein so wichtiger und bedeutungsvoller in meinem Leben ist … sehen Sie ja die Rechnungen nach, damit ich erfahre, wohin die Statue gekommen ist!“

„Gern, Herr Baron.“

„Schon morgen, ich bitte darum …“

„Wollen Sie sich jetzt nicht gefallen lassen, eine Erfrischung unten bei mir einzunehmen, bis das Abendessen bereitet ist…?“

„Das will ich mit Vergnügen,“ sagte Horst, „ich habe, wie Sie sagen, dreißigtausend Thaler auf dem Gericht liegen und bin doch so hungrig und durstig, wie ein armer Student … ich habe mein letztes Geldstück am Thor der Stadt, wo ich zu Mittag gegessen, an einen Bettler gegeben und bin eingezogen in die Pforten meines Ahnensitzes ohne einen Heller in der Tasche!“

Der Administrator lachte und entgegnete: „Mein Gott, weshalb schrieben Sie mir nicht?“

„Weil ich Sie nicht kannte, nicht wußte, ob ich Geld fordern könne … so mußt’ ich die ganze Reise mit den Ersparnissen meiner österreichischen Oberlieutenantsgage machen.“

„Ich kann Ihnen den Inhalt der ganzen Rentcasse zur Disposition stellen,“ sagte der Rentmeister.

Beide erhoben sich nun und begaben sich nach unten in das Wohnzimmer des Administrators.

„Und nun,“ sagte Horst, indem er sich hier auf dem harten Roßhaarkanapee lang ausstreckte, „müssen Sie mir vor allen Dingen von einer bezaubernden jungen Dame erzählen, welche ich in Schloß Falkenrieth gesehen und gesprochen habe.“

Allmer, so hieß der Administrator, wandte bei diesen Worten sehr lebhaft sein Gesicht dem jungen Manne zu, ohne zu antworten.

„So viel ich mich entsinne,“ fuhr Horst fort, „lebt nur eine Gutsbesitzerfamilie hier in der Nähe, ein Herr von Schollbeck … ist es nicht so?“

Allmer wandte sich ab und trat an den Klingelzug in der Ecke, um nach Licht zu schellen.

„Hat Herr von Schollbeck Töchter, so war die schöne Dame ohne Zweifel ein Fräulein von Schollbeck … sie ist bildhübsch, gescheidt, beredt, ich war ganz bezaubert von ihrer Erscheinung, als ich sie völlig unvermuthet in dem Salon auf Falkenrieth vor mir erblickte.“

„Also Fräulein Eugenie hat bereits Ihre Eroberung gemacht?“ versetzte jetzt Allmer mit einem Tone kühlen Spotts.

„Erzählen Sie mir von ihr …“

„Ich will Ihre Illusionen nicht stören, Herr Baron – hier kommt Speise und Trank, und dem sollen Sie sich jetzt in völliger Gemüthsruhe hingeben.“




4.

Es waren einige Tage verflossen, die Horst dazu angewandt hatte, sich in seinem großen und schönen Besitzthum zu orientiren, das ihm, dem armen Oberlieutenant, so unvermutheter Weise zurückgegeben war, während er es vielleicht noch für ein halbes Jahrhundert hinaus sich entzogen geglaubt und demgemäß sich in seinen fernen steierischen und italienischen Standquartieren nicht das Allermindeste darum gekümmert hatte.

Wir finden ihn wieder in der nächsten Stadt, welche der Sitz eines Kreisgerichts ist, und eben neben seinem Administrator die Stufen des Gerichtsgebäudes niederschreitend, einem offenen leichten Jagdwagen zu, der, mit zwei hübschen Braunen bespannt, vor dem Gebäude hält. Ein Diener trägt ihnen schwere graue Leinensäcke nach, die hinten im Wagen niedergelegt werden.

„Seltsam,“ sagt der junge Mann, „daß sich auch da oben in den Gerichtsacten keine Notiz über den Verkauf der Flora findet.“

„Es sind noch viele ältere reponirte Acten da,“ versetzte der Administrator, „wenn Sie befehlen, werde ich darum einmal eine besondere Reise hierher machen und einen ganzen Tag daran wenden, in den alten Papieren nachzusuchen.“

„Thun Sie das ja, Herr Allmer,“ entgegnete der junge Mann, „und jetzt kommen Sie mit mir zum Notar …“

„Dahin müssen Sie schon allein gehen, Herr Baron,“ antwortete der Administrator ein wenig barsch, „ich bleibe bei den Geldsäcken zurück.“

„Die Geldsäcke werden schon gehütet werden von Kutscher und Knecht … bei der Verhandlung mit dem Notar habe ich Sie nöthig …“

Allmer schüttelte den Kopf. „Sie werden schon fertig werden, Sie geben einfach Ihr Gebot, und damit ist die Sache abgemacht; alles Andere ordnet der Notar.“

„Aber wenn man in solchen Geschäften so unerfahren ist…“

„Ich kann Ihnen nicht helfen … ich gehe vom Wagen nicht fort,“ versetzte Allmer mit einer fast groben Bestimmtheit und sich abwendend.

„Mißbilligen Sie vielleicht meine Absicht?“

„Nicht im geringsten … ich hab’s Ihnen ja gesagt, Herr [643] Baron, daß Sie die Gelegenheit, Falkenrieth zu bekommen, nicht fahren lassen dürften … der Wald, der dazu gehört, arrondirt Ihre Herrschaft zu gut… und da drüben das Haus mit den Glasscherben im grauen Bewurf ist das des Notars … es sind also nur zwei Schritte … Sie werden den Herrn zu Hause finden.“

Baron Horst wandte sich dem bezeichneten Hause zu; während er quer über den Platz schritt, blickte ihm Allmer mit einem Gesichte nach, in welchem etwas wie Spott und schadenfrohe Befriedigung lag, es war ein flüchtiges Mienenspiel, das rasch wieder verschwand und dem gewöhnlichen sehr ernsten Ausdruck des männlich schönen Gesichtes Platz machte.

Der junge Mann hatte unterdeß das Haus erreicht und stand nach wenigen Augenblicken im Bureau des Rechtsanwalts und Notars, eines durch seine goldene Brille ihn mit scharfen Blicken fixirenden Herrn, der auch fortfuhr, ihn schweigend zu fixiren, als Horst ihm gesagt hatte, daß er zu ihm komme, weil der Herr Rechtsanwalt mit dem Verkauf des Schlößchens Falkenrieth und seines Zubehörs beauftragt sei.

Der Rechtsmann wandte sich endlich und holte ein Actenfascikel herbei.

„Kommen Sie in eigenem Namen oder im Auftrag?“ fragte er dann.

„In eigenem Namen, und dieser Name ist Baron Horst.“

Der Anwalt betrachtete den jungen Mann noch einmal und diesmal über seine Brille her noch schärfer als zuvor. Es war, als ob er mit dem mißtrauischen Spürsinn, womit Kleinstädter Leute ansehen, die in ihre Nachbarschaft gerathen, fragen wollte: Weß Geistes Kind bist Du, und wie wirst Du Dich zu uns stellen, und wirst Du Deine Herrschaft dahin bringen, wohin Dein schuldenmachender Herr Papa sie gebracht hat, oder ein ordentlicher Wirth sein?

„Ich bin mit dem Verkauf beauftragt, und hier ist die Liste der Bedingungen … die Summe, unter welche ich nicht hinabgehen soll, ist 12,000 Thaler … 10,000 sind von anderer Seite geboten.“

„Darf ich mir den Katasterauszug erbitten, um die Morgenzahl zu sehen?“ versetzte Horst, über das Heft der Bedingungen gleichgültig wegblickend.

Der Anwalt suchte das Blatt, welches den Katasterauszug enthielt, und Horst sagte nun: „Ich gebe 12,000 Thaler … ich werde Ihnen das Geld sogleich bringen!“

Der Anwalt blickte ihn noch einmal an, diesmal, als wolle er sagen: „Du bist auf dem rechten Wege, in den Fußstapfen des Papas!“ Er erwiderte mit einem etwas kaustischen Ton lakonisch: „So werde ich den Vertrag niederschreiben; setzen sich der Herr Baron!“

Dann zog er die Klingel und befahl der eintretenden Magd: „Ruf’ Sie zwei Zeugen herbei.“

Der Rechtsanwalt begann nun zu schreiben, die Zeugen traten ein. Horst verließ das Haus, um von seinem Wagen die Summe von 12,000 Thalern wieder abpacken und durch den Diener zum Notar hinübertransportiren zu lassen. Nach einer halben Stunde war die Sache so weit gediehen, daß der Baron seine Unterschrift unter den Act setzen konnte…

„In einigen Tagen,“ sagte der Rechtsmann, „werde ich Ihnen eine Ausfertigung sammt allen nöthigen Beilagen übersenden.“

Horst ging … Falkenrieth war sein. Er fühlte eine große Befriedigung bei dem Gedanken, daß die hübsche Schöpfung im stillen Gebirgsthal ihm gehöre, und eine noch größere bei dem, daß er der jungen Dame, die er dort gesehen, sagen könne, es sei sein – als Antwort auf ihr spöttisches: „Sie werden Falkenrieth auch nicht theurer machen!“

„Ich will morgen zu Schollbeck’s hinüberreiten und dort meinen Besuch machen,“ sprach er, als er neben dem Administrator auf dem Jagdwagen saß und mit ihm wieder heimfuhr.

Allmer machte ein eigenthümliches Gesicht.

„Wollen Sie es wagen?“ sagte er kalt lächelnd.

„Wagen? Weshalb nicht? Der alte Baron hat mich sicherlich längst erwartet!“

„Schwerlich,“ versetzte Allmer gedehnt; „oder wenn er es hat, so hat er auch schon eine Ausflucht erdacht, sich Ihrem Besuche zu entziehen. Er liebt keine fremden Gesichter, am wenigsten die von jungen Herren.“

„Und was stößt ihn ab in den Gesichtern junger Herren?“

„Die Möglichkeit seiner Tochter zu gefallen. Jedenfalls wird er seine Tochter eingesperrt halten, wenn Sie kommen. An der Thür werden Sie den spitzbübischen Vetter finden, der Sie zum Hause wieder hinauscomplimentirt – ich würde mir den Weg ersparen an Ihrer Stelle!“

„Das werde ich nicht … ich interessire mich, ganz aufrichtig gesagt, sehr lebhaft für seine Tochter Eugenie …“

„In dem Fräulein würden Sie nichts finden als eine wilde und sehr hochmüthige Hummel; Sie würden dem Vetter, der von Kindesbeinen an mit ihr verlobt ist, viel Glück zu der Partie wünschen…“

„Vielleicht … vielleicht auch nicht! Also dieser Vetter, den Sie als einen so spitzbübischen Menschen schildern, soll Eugenie Schollbeck durchaus heirathen, und jeder andere junge Mann …“

„Wird unerbittlich ferngehalten, weil der alte Griesgram nicht will, daß seine Tochter Gefallen finde an einem Manne, welcher sie dem Vater entführen würde; Fräulein Eugenie ist dazu verurtheilt, bei dem alten Manne ihr Leben lang auszuhalten, und der Vetter ist deshalb als ihr Bräutigam auserkoren, weil er sich diese Bedingung, für immer im Hause und unter dem Commando des alten Bösewichts zu bleiben, gefallen läßt … was ließe der sich nicht gefallen!“

„Ich bin doch sehr gespannt auf die ganze Familie,“ sagte Horst und ließ dann das Gespräch fallen. Das, was Allmer ihm von der Unzugänglichkeit seiner Gutsnachbarn gesagt, hatte natürlich sein Verlangen, das junge Mädchen, das ihm einen so tiefen Eindruck bei der ersten Begegnung gemacht, wiederzusehen, nur gesteigert. Er versank in Sinnen und Träumen.

„Und was treibt denn der alte eigensinnige Mann in seiner Einsamkeit?“ fragte er nach einer langen Zeit aus seinen Träumen auffahrend.

„Was er treibt? … er hockt bei seinen Alterthümern, seinen Kunstsachen und schreibt gutes Papier zu Schanden mit Abhandlungen über alte Römerstraßen, Heidenwälle, Hünenringe und dergleichen Unsinn …“

„Also Kunstsammlungen besitzt er … in der That, ich besinne mich, als Kind in seinem Hause curiose alte Töpfe gesehen zu haben, in merkwürdigen altfränkischen Schränken, auch alte Bilder…“

„Es ist altes Gerümpel, Alles, was er hat, und dennoch hat er viel Geld dafür weggeworfen, so viel, daß er in Schulden steckt und die ganze Wirthschaft den Krebsgang geht…“

„Altes Gerümpel?“ dachte Horst bei diesen Worten seines Administrators, „es thut nichts, wenn der Mann Kunstsinn hat, so werde ich ihn mir schon zugänglich machen!“

Nach einer Stunde raschen Fahrens hielt der Jagdwagen auf dem Hofe von Haus Horst; der junge Baron sprang leicht und behende hinaus, während Allmer langsamer folgte.

„In die Rentcasse mit dem Gelde,“ sagte Horst; „wenn Sie es weggeschlossen haben, Allmer, so kommen Sie zu mir herauf. Da mir nun gerichtlich meine Herrschaft übergeben ist, so wollen wir gleich den Contract niederschreiben, wonach Sie noch für die nächsten Jahre meine Verwaltung fortführen.“

„Für heute Abend hab’ ich nicht Zeit dazu,“ versetzte Allmer, sich mit den Geldsäcken hinten im Wagen beschäftigend, „ich muß sogleich in’s Feld hinausreiten und nachsehen, wie weit die Leute mit dem Getreidemähen gekommen sind.“

„Das hat Zeit …“

„Wenn ich nicht heute Abend nachsehe, wie viel sie vor sich gebracht haben, so thun sie morgen den geschlagenen langen Tag nichts!“

„Nun, wie Sie wollen,“ versetzte Horst, die Treppe hinaufschreitend, und fügte bei sich hinzu: „Der Mann hat einen fürchterlichen Diensteifer … es scheint eine Perle von einem Administrator zu sein, aber ich möchte wissen, ob er gegen alle Leute so grob ist, oder nur seinen Herrn auf diese Weise auszeichnet!“

Er betrat die Zimmer, die er seit seiner Ankunft für sich herrichten lassen, in denen er seine unterdeß angelangten Sachen untergebracht hatte und wo er sich jetzt ermüdet in einem Sessel ausstreckte. Nach einer Weile fand er das Alleinsein in den leeren Gemächern ziemlich drückend. Er ließ sich Erfrischungen bringen, und als er etwas davon zu sich genommen, sprang er auf und sagte:

[644] „Werde ich denn den Winter hindurch hier bleiben können?

… Es wäre grauenhaft, diese Einsamkeit! Ich werde nach Wien gehen müssen und dort recht ernstlich Kunststudien treiben, modelliren, Thon kneten – und … das alte Junggesellen- und Wirthshausleben weiter treiben! Als ob ich nicht auch das so recht herzlich satt hätte! Es ist seltsam, aber seit ich in diesem alten Hause bin, mein’ ich, ich habe just Alles, Alles in der Welt recht herzlich satt … es fehlt mir etwas – der Himmel weiß was – am Ende ist es die Statue, die schöne Flora, die man mir geraubt hat, obwohl ich nicht weiß, warum ich in diesem Augenblick solch’ eine marmorne Schönheit sehr amüsant finden sollte, eine lebendige wäre mir lieber … ja, eine lebendige Schönheit, die mir zum Herzen redete wie eine marmorne, nur mit rothen Lippen und warmem Odem … eine Schönheit, wie dieses Mädchen von Falkenrieth, diese Eugenie, die mir’s angethan hat … und das so gründlich wie es möglich ist!“

Er verschränkte die Arme auf der Brust und blickte eine Weile in Gedanken verloren auf den Boden. Dann nahm er Hut und Handschuhe wieder und ging hinaus, um sich das Pferd satteln zu lassen, das er sich zu seinem Gebrauch ausgesucht, bis er ein besseres zu erwerben Gelegenheit gefunden, und bestieg es, um Allmer zu folgen.

Allmer war bisher seine einzige Gesellschaft gewesen, der ruhige gesetzte Mann, der so wenig Zuvorkommendes gegen ihn hatte, zog ihn doch an. Er hatte begonnen sich an ihn zu gewöhnen, sich von ihm leiten zu lassen in seinen Geschäftsangelegenheiten; wie magnetisch von der Aussicht auf Unterhaltung mit Allmer gezogen ritt er ihm nach.

Als er das kleine Dorf, welches zu seiner Besitzung gehörte, hinter sich gelassen hatte, sah er rechts weithin ausgedehnt die Getreideflur liegen, auf welcher in der Entfernung Schnitter mit Mähen und Weiber mit Garbenbinden beschäftigt waren. Er ritt langsam über die Stoppelfelder, bis er die Gruppen erreicht hatte. Allmer war nicht bei ihnen.

„Er war eben hier,“ gab einer der Arbeiter auf Horst’s Frage nach ihm Bescheid, „aber er ist gleich dort hinaus weiter, geritten, auf Schollbeck zu.“

„Nach Haus Schollbeck?“ wiederholte Horst ein wenig überrascht. Dann setzte er hinzu: „Wohinaus der Weg dahin?“

Der Arbeiter beschrieb den Weg, und Horst ließ sein Pferd demselben folgen. Nach kurzer Zeit hatte er die Ackerflur hinter sich und kam an das Ufer eines kleinen Bergflusses, der einen schmalen dünnen Wasserfaden durch ein breites trockenes Felsbett rinnen ließ, im Winter und Frühjahr wahrscheinlich ein wilder rauschender Gesell, jetzt, in den trockenen Sommermonaten dem Anschein nach kaum tief genug, um eine tüchtige Forelle zu verbergen. Rechts und links stiegen niedrige Hügelwände auf, die mit Lärchentannen bedeckt waren.

Forellen mußte das Gewässer aber doch ernähren, oder wenigstens irgend eine andere des Nachstellens werthe Fischart, denn Horst sah nach einer Weile einen jungen Mann in Hemdsärmeln mit einer langen Angelruthe am Ufer sitzen. Freilich war da, wo der junge Mann saß, ein kleiner Mühlteich angelegt; drüben am andern Ufer, das mit einer nackten niedrigen Felswand hier ein wenig zurücktrat, war die Mühle errichtet, ein dunkles kleines Bauwerk aus braungrauem Stein mit einem schwarzen Schieferdach darauf; dunkle Tannen, die auf der Höhe drüben standen, lugten dem Müller in den Schornstein.

(Fortsetzung folgt.)




Land und Leute.
Nr. 16. Aus der Sommerfrische im bairischen Hochlande.
Von Ludwig Steub.

Vom mächtigen Inn, von der Thierseer Ache, von der friedlichen Leitzach eingefangen, dehnt sich im südlichen Baiern ein Alpenstock aus, den ein behaglicher Wanderer in vier Tagen kaum umgehen möchte. Dieser Alpenstock ist reich an Waldungen und an offenen Triften. Die Sennhütten sind kaum abzuzählen und die Zahl der Rinder ist Legion. Wo du gehst und stehst, begleitet dich das Geläute der Almenglocken, die melodisch hinschallen über Berg und Thal. Die Pfade ziehen entweder in leichter Steigung am rauschenden Bache empor und sind dann meist steinig, von Felswänden überragt, von Ahorn und Buchen beschattet, oder sie gehen über sonnige Weiden, die sich oft ganz sanft und glatt dahinlegen, reich geschmückt mit schönster Alpenflora und umgeben von dunklem Hochwalde – mitunter so still und einsam, so feierlich, als wehte noch der Geist der alten germanischen Waldheiligthümer über sie hin. Dieses Zusammenspiel aller Elemente schöner Gebirgslandschaft bringt oft wundervolle Wirkungen hervor, zumal da sich mitunter gar herrliche Blicke in andre Bergketten hinüber oder in die Ebene hinaus aufthun. Obgleich diese Alpenlandschaft meistentheils mild ist, die Wege selten beschwerlich, die Schauer der Gletscherwelt gar nicht vorhanden sind, so zeigen sich doch einige Ungethüme, die daselbst auffahren und welche, obwohl rauh und wild, doch sich zu großer Beliebtheit emporgeschwungen haben. Es sind dies z. B. der vielbesungene Wendelstein, der die Gegend von Aibling und von Rosenheim beherrscht und sehr oft bestiegen wird; der Brinnstein in der Audorfer Gegend, der allmählich mehr und mehr Besuch erhält und von Vielen, was den Glanz der Aussicht betrifft, dem Wendelsteine vorgezogen wird, so wie noch andere minder erhebliche Häupter.

In diesem Hochlande liegt weder Flecken noch Dorf, auch kaum eine Kirche, sondern nur hin und wieder eine kleine Bergkapelle, aber an seinem Rande finden sich viele schöne und wohlhabende Ortschaften. An der Abendseite z. B. liegt das idyllische Baierisch-Zell, wo in alten Zeiten ein kleines Kloster, das die Wildniß zu bezwingen gegründet, später aber nach Scheiern verlegt wurde; Fischbachau in dem stillen Thal der Leitzach, gleichfalls eine Stelle alter Andacht, mit der weitbekannten Wallfahrt am Biebenstein, ein kleiner, aber schön gelegener Ort, wo viele Jahre lang der gute alte Förster eine fröhliche Gastfreundschaft übte und das Einerl seine wunderschönen Almenlieder sang.

Viel lebendiger, als diese geräuschlosen Thäler, sind im Sommer die Dörfer, welche am Fuße des besagten Bergstocks, dem Inn entlang liegen. Die Eisenbahn, die an ihnen vorüber nach Innsbruck zieht, trägt zu dem regeren Verkehre mächtig bei. Ueberdies winken verschiedene Reize, die nicht gerade ganz von der Landschaft abhängen. Gern fliegt der Baier, der etwa zu Rosenheim oder Aibling Haus hält, auf einen Nachmittag in’s Tirol hinein, um sich zu Kufstein oder in der nahegelegenen Klause einmal eine gute Stunde beim tiroler Wein zu spendiren – gern schließt sich der Sommerfrischgast, der von München gekommen, dem heitern Unternehmen an. Auch die Verpflegung in den tirolischen Grenzorten wird sehr gerühmt, und man trifft Manchen an, der die schönen Forellen, die leckern Spielhähne und den edlen Gemsenbraten, so er dort genossen, nicht mehr vergessen kann. Für Andere liegt eine mächtige Anziehung in den Bauertheatern, welche hier am Grenzsaume Baierns und Tirols von beiden Nationen mit gleicher Vorliebe betrieben werden. Nicht mit Unrecht giebt man jenem von Kiefersfelden in Baiern den Vorzug, sowohl was Talent der Spielenden als Glanz der Ausstattung betrifft. Aber auch die tirolischen Dörfer Niederndorf und Erl wetteiferten heuer rühmlich mit ihren stammverwandten Nebenbuhlern. Es ist bekannt, daß die Stücke alle in den Ritterzeiten spielen müssen und daß sie von den Bauern selbst verfertigt werden. Einen großen Namen als Theaterdichter hatte der Kohlenbrenner Joseph Schmalz, der vor dreißig Jahren gestorben ist und viele dramatische Arbeiten hinterlassen hat. Seine Schule scheint noch immer fortzublühen, obgleich es uns schwer fiele, einen seiner Nachfolger namhaft zu machen. Gewöhnlich wird nur im Sommer gespielt und nur an Sonn- oder Feiertagen. Man giebt dann ein und dasselbe Stück vom Mai an bis Johannis und läßt hierauf ein zweites folgen, welches wiederholt wird bis zum Ende der Saison. So gab man während des letzten Sommers im tirolischen Niederndorf anfangs: „Die Grafen von Hohenstein, oder: Die Sclaven in Aegypten“; nach diesem aber: „Graf Ubald von Treuenstein, oder: Der Rächer am Todtensarge“, jedes ein „Ritterschauspiel in fünf Acten mit

[645]

Die Fronleichnamsprocession in Brannenburg.
Nach der Natur gezeichnet von Theodor Pixis.

[646] Gesang und Musik“. Die Theaterzettel der Bühne zu Niederndorf sind noch in alter Weise geschrieben und zwar mit all den orthographischen Kennzeichen einer ländlichen Feder; die strebsamen Histrionen von Erl dagegen ließen sich die ihrigen auf gelbes Papier nicht unzierlich drucken. Darauf ist zu lesen, daß sich die Theatergesellschaft entschlossen habe, heuer aufzuführen: „Mangolf von Rottenburg, oder: Der Kampf um Mitternacht. Ein großes Ritterschauspiel mit Geister- und Schlachtenvorstellungen, auch Musik und Gesang in fünf Aufzügen.“ Der Anfang war auf zwei Uhr Nachmittag festgesetzt; die Dauer auf vierthalb Stunden.

Auch historische Merkwürdigkeiten sind hier viele zu finden, aus der Römerzeit und aus dem Mittelalter. Ein gar wunderbares Oertlein ist das alte Neubeuern, ein räthselhafter Flecken. Es liegt auf der rechten Seite des Inns, fast außerhalb des Verkehrs der Menschenwelt, denn die Landstraße nach Tirol zieht sich auf der linken Seite dem Strom entlang und die junge Eisenbahn befolgt dieselbe Richtung. Früherhin gingen oft Jahre vorüber, ehe den einsamen Bewohnern ein fremdes Menschengesicht entgegentrat, wenn es nicht etwa ein wandernder Scheerenschleifer oder ein versprengter Handwerksbursche gewesen. Jetzt treibt der mächtige Trieb der Sommerfrischler, sich gegenseitig auszuweichen, wohl auch hin und wieder einen Culturmenschen in das öde Nest.

Der alten Veste Neubeuern gegenüber, am linken lebendigen Ufer des Stroms, erhebt sich das alte Schloß von Brannenburg und das gleichnamige Dorf. Ersteres, das schon mancherlei Herren gesehen, ging vor etwa zwanzig Jahren durch Kauf an den italienische Marchese Pallavicini über, der sich hier so sehr gefiel, daß er eine glänzende Erneuerung der alten Burg zu unternehmen beschloß und diese auch fast zum Ziele führte, bis allerlei Verdrießlichkeiten mit den Eingeborenen ihm den Besitz verleideten, so daß er ihn jüngst an eine württembergische Gesellschaft veräußerte, welche eine wissenschaftliche Ausbeutung der schönen dazu gehörigen Wälder vorhaben soll – eine Absicht, die nicht Jedermann zu Gefallen ist, am wenigsten den Malern, denen jetzt oft der Gegenstand ihrer Baumstudien fast unter dem Pinsel weggehauen wird.

Dieses Brannenburg genießt schon seit Jahrzehnten den Ruf einer besonderen Annehmlichkeit. Die sanfte Erhebung, auf welcher es erbaut ist, gewährt den meisten der zierlichen Häuser eine malerische Lage, die schönen dichtbelaubten Baumgruppen verleihen dem Orte im Sommer lieblichen Schatten, und die mancherlei Ausflüge, die sich von hier aus unternehmen lassen, erheitern das Leben der Sommerfrischler. Auch ein Wirthshaus steht in dem Dorfe, das von langen Jahren her als gut und wohlfeil bekannt ist und deshalb schon viele berühmte und unberühmte Leute unter seinem Dache gesehen hat. Vor allen haben die Münchner Maler daselbst, wie früher auf Frauenchiemsee, gleichsam eine Gerechtigkeit, das gastliche Haus als ihr eigenes zu betrachten und darin ihr fröhliches Wesen zu treiben nach Herzenslust. Davon werden wir erst am Schlusse noch Einiges erzählen dürfen.

In diesem Dorfe ging nun eine gar lebhafte und malerische Scene vor, gerad’ als wir heuer dort einrückten, dieselbe Scene, welche die kunstreiche Hand des Herrn Theodor Pixis für die Gartenlaube gezeichnet hat. Es war eben Fronleichnamstag und wir kamen just recht, die große Procession an uns vorübergehen zu sehen, bekanntlich die höchst gefeierte der katholischen Christenheit. Sie fällt immer auf den Donnerstag nach dem Dreifaltigkeitssonntag, entweder in die letzte Hälfte des Mai oder in die erste des Juni, also in die Zeit, wo das Jahr am schönsten ist. Am Vorabend schon eilt die Jugend des Dorfes in die üppigen Fluren hinaus und pflückt die Blumen des Frühlings, um sie auf den Pfad zu streuen, den das „hochwürdige Gut“ in der Hand des frommen Kirchenhirten dahinwandeln wird. Auch der Birkenwald muß seine jungen Sprossen hergeben, um das hohe Fest zu schmücken. Mit den laubigen, wehenden Bäumen werden die Wände der Pfarrkirche und die Häuser verziert, an welchen der Zug vorübergeht. Auf dem Lande ziehen diese Processionen durch Feld und Wald, über Berg und Thal auf längst bestimmten Steigen, über welche schon die Processionen der Urväter geschritten. Von Alters her sind denn auch in jeder Gemeinde vier Orte ausgezeichnet, wo die wandernde Andacht sich zur Ruhe setzt und etwas auspustet. Solche Orte nennt man Evangelien, und es werden dieselben an diesem Tage mit tragbaren Feldaltären zum Gottesdienste zierlich zugerichtet. Meist ist es eine alte Linde oder ein anderer ehrwürdiger Baum, in dessen Schatten das Evangelium celebrirt wird. Das Gewicht der Sache liegt aber darin, daß der Herr Pfarrer, in seinem schönsten Ornate, nachdem sich der Zug gestellt hat und das Volk auf den Knieen liegt, vom Feldaltare herab ein Stück aus dem Evangelium, z. B. den Stammbaum Jesu Christi, singend vorträgt. Alles lauscht den feierlichen lateinischen Klängen, und wenn sie zu Ende, ertönen die Böller, die Blechmusik fällt ein, die Rauchfässer hauchen ihre wohlriechenden Dämpfe aus. Der Gebirgsschützenhauptmann, dessen Compagnie heute in höchster Gala ausgerückt, läßt sein kriegerisches Commando erschallen, und so wallt der lange Zug dahin bis zum nächsten Evangelium und zwar immer mit lautem, wenn auch gedankenlosem Gebete und mit hellem Gesange der Schuljugend und der ländlichen Bassisten, die der Lehrer im Hymnenvortrag eingeübt.

Hoch darüber wehen im Winde die Kirchenfahnen, kleine, meist rothe Wimpel an himmelhohen bemalten Stangen, welche zu tragen, wenn die Luft nur etwas bewegt, eine wahre Herculesarbeit für die rüstigsten Leute der Gemeinde ist. In vielen Dörfern besteht auch unter dem Vorsitz des Kaplans ein Jungfernbund, dessen Gelübde aber für die Genossinnen nicht sehr drückend sind. Es versteht sich von selbst, daß an solchen Tagen auch der Jungfernbund in die Erscheinung tritt und zwar in seiner ganzen Lieblichkeit. Die Mädchen tragen dann im blonden Haare duftende Blumenkränze und sind sämmtlich in die Farbe der Unschuld gekleidet. Sie gehen paarweise mit gesenkten Augen, etwa einen Lilienstengel in der Hand, vor dem hochwürdigen Gute einher. Den kräftigsten unter diesen Jungfrauen wird auch die Ehre zu Theil, die Heiligenbilder zu tragen.

Auf jedem Altar in der Kirche – es sind deren gewöhnlich drei – steht nämlich Jahr aus Jahr ein ein hölzernes Bild, welches an solchen Tagen herabgenommen, auf eine Tragbahre gesetzt und so den zarten Schultern der weiblichen Jugend überantwortet wird. Am herrlichsten prangen die Bilder der Gottesmutter, welche in ihrer prächtigsten Feiertagstoilette, mit Seidendamast in Goldbrocat geputzt, über den Häuptern der tragenden Mädchen majestätisch einherschwebt.

Alles dieses aber, was wir bisher beschrieben, zusammengefaßt, ergiebt eine Augenweide, deren Reiz sich selbst der eingefleischteste Ketzer nicht entziehen kann; viel eher wird er zugestehen, daß eine solche Procession für eine Alpenlandschaft die farbigste Staffage ist, die sich erdenken läßt.

Es war ein prächtiges Bild, das sich uns bot. Vor uns zunächst der Kirchthurm und die Vorhalle des Gotteshauses, diesen gegenüber aber die Fenster und die hohen Mauern des Schlosses. In der Ferne glänzt der Inn und über diesem erhebt sich als eine Veste aus dem Mittelalter das Schloß von Neubeuern und der weithin gesehene Römerthurm. Aus der Dorfkirche tritt soeben unter dem Baldachin der ehrenwerthe Herr Pfarrer, im goldenen Rauchmantel, der das hochwürdige Gut, eine goldene Monstranz mit der heiligen Hostie, weihevoll in beiden Händen hält. Vor ihm geht ein andrer Diener der Kirche, der ein Crucifix trägt. Um ihn herum reihen sich die sittsamsten Knaben des Dorfes, heute im weißen Chorhemde, wohl geübt, das Rauchfaß zu schwingen, die Klingel zu schellen und lateinisch zu ministriren. Das Publicum ist, mit einer später zu besprechenden Ausnahme, nur ein andächtiges. Doch sind die Männlein und die Weiblein, die hier betend umherstehen und auf die Kniee gesunken, meist herzugewandertes, mitunter auch fremdes Volk; denn die Eingebornen erscheinen an solchen Tagen möglichst vollzählig unter den Bittgängern, um dadurch die Länge und die Pracht des Aufzugs zu vermehren. Der würdige Landmann, der dort oben mit gebeugtem Haupte seiner Andacht pflegt, ist also sicherlich ein Bergbauer, der seinen entlegenen Hof in der Höhe am dämmernden Morgen verlassen hat und voll hausväterlichen Pflichtgefühls bald wieder zu seinen Kleinen zurückkehren will, obgleich es sich öfter ereignet, daß er vor der offenen Thür des Wirthshauses seine guten Vorsätze wieder vergißt und der harrenden Gattin erst am späten Abend in rosigster Sonntagslaune in die Arme sinkt. Der erwachsene Sohn, der zu seiner Seite steht, bleibt vielleicht noch etwas länger an jenem freudenreichen Orte, dem er der großen Entfernung halber nur so selten seine Aufmerksamkeit bezeigen kann; leicht möglich, daß er nicht [647] mehr ganz unbehelligt herauskommt, denn da sich die Gegensätze bekanntlich gern berühren, so hat man schon oft die Erfahrung gemacht, daß die Jugend am Abend desto rauflustiger ist, je andächtiger sie am Morgen gewesen. Von der jungfräulichen Tochter, die in seidenem Kopftuche hinter Beiden steht, wollen wir nur das Beste denken. Wenn sie diesem Gedanken entspricht, so trinkt sie vielleicht nur ein frisches Seidel und geht dann rüstig voraus, um die Mutter bei Zeiten zu verständigen, daß ihre Lieben noch im Wirthshaus sitzen.

Die andern schönen Beterinnen sind ebenfalls von der Alm herabgekommen, verrichten ihr Gebet für sich und mischen sich nicht unter die Gemeinde. Wahrscheinlich sind auch etliche Tirolerinnen darunter, die dem bessern Verdienste nach in das menschenarme, aber sattsam nährende Baierland gezogen, um da als christliche Dienstboten ihre Laufbahn zu eröffnen, die sich mitunter durch eine fröhliche Hochzeit abschließt. Die zierliche Gestalt, welche zur Seite kniet, mit dem Spitzhut, der mit goldenen Schnüren umzogen ist, und dem reichen Haargeflechte, ist, wir kennen sie wohl, das liebliche Walperl, des früheren Wirthes Töchterlein, welches von Manchen, außer den Reizen der Landschaft, auch für einen kleinen Magnet der Brannenburger Gegend angesehen wird. Sie ist zwar nicht von der Alm gekommen, hat sich aber wohl sonst ein wenig verspätet und giebt sich jetzt keine Mühe mehr, sich in die Procession zu drängen. Die beiden Mädchen auf der andern Seite scheinen dagegen wieder Sennerinnen zu sein, ein derber, gutmüthiger, mitunter etwas leichtfertiger Schlag, der zu Gesang und Tanz und Liebe fast noch mehr aufgelegt ist, als zum Beten, Fasten und Almosengeben.

Nicht fern von dieser, doch geschieden durch eine trennende Wand von blühenden Büschen und dadurch gleichsam als ein Wesen aus anderen Sphären charakterisirt, lauert Freund Maler, in seinem leichten Reise-Costum ein sehr glücklicher Gegensatz zu dem Bäuerlein, das in seinem zopfigen Feiertagsrock auf der anderen Seite steht. Des Malers Ausdruck hat etwas Herrschendes und Imponirendes, womit wir nicht sagen wollen, daß er für sanftere Gefühle ganz unempfänglich wäre. Seine Augen sind dem schönen Walperl zugewendet, ob auch sein Herz es ist, das müssen wir im Zweifel lassen. Seinen Bleistift führt er mit nerviger Hand, der, wie es scheint, nur kräftige Gestalten entquellen können. Wir würden gern einen Blick in sein Album werfen, wenn es erlaubt wäre, ihn jetzt zu stören. Wir würden gewiß nur Schönes darin finden. Hut, Gesicht und der Bart dazu bezeichnen deutlich eine unabhängige, geniale Richtung auf politischem, wie auf artistischein Felde. Sicherlich noch Großes dürfen wir von ihm erwarten. (Um allen Mißverständnissen vorzubeugen, müssen wir gleichwohl urkundlich machen, daß der hier dargestellte Kunstjünger mit dem Zeichner des Bildes nicht zusammenfällt.)

Brannenburgs städtische Insassen, die in schönen Sommern sehr zahlreich sind, theilt man nach dortigem Schema in Maler und Luftschnapper. Letztere sind solche, welche, etwa der Kanzlei oder dem Comptoir entflohen, sich lediglich in den gesunden Lüften des Hochlands gütlich thun und an dem lustigen Leben der Maler freundlich Theil nehmen wollen. Misanthropischen Leuten ist der Aufenthalt im hiesigen Orte mit nichten zu empfehlen, denn die Landschafter und die Historiker treiben hier gar arge Narretheien und führen mitunter einen so absonderlichen Lärm auf, daß der traurige Griesgram in seinem einsamen Bettlein vor Mitternacht oft kein Auge zudrücken kann. Besser also, wenn er mit oder ohne Entsagung seinen Weltschmerz vergißt und bei ihren heiteren Spielen selber eine entsprechende Rolle übernimmt. Hier giebt’s gesellige Scherze, Mummereien, Maskeraden aller Art. Nicht leicht kommt ein einigermaßen bedeutendes Licht aus der Künstler- oder sonstigen Welt in’s Dorf, es würde denn in allegorischer Weise und mit Gedichten, Gesang und Trinksprüchen empfangen. Kommt es aus Berlin, so tritt eine schöne Frau als Borussia angethan vor ihn hin und übergiebt ihn weinend, aber mit Segenssprüchen ihrer entlegenen Schwester Bavaria. Zieht die Berühmtheit wieder ab, so tritt Frau Bavaria auf und händigt sie mit bittern Abschiedsthränen ihrer Schwester Borussia aus oder, wenn sie nach Rom abreist, ihrer geliebten Freundin Italia, welche sie wohl Acht auf ihn zu haben bittet. Bei schlechtem Wetter und wenn die Abende länger werden, bietet der Tanzplatz im Wirthshause Raum zu allerlei Lustbarkeiten. Heute ist maskirtes Caroussel, morgen Circus, wobei die gewandtesten Reitkünstler, als Monsieur Renz oder Monsieur Carré verkleidet, auf einem hölzernen Pegasus die halsbrechendsten Wagstücke vollziehen. Zum Lohne für die Wackeren fängt dann der Wirth auf seiner Geige zu spielen an – „bis knisternd strömt Feuer um Saiten und Hand“ – und sofort fällt auch ein benachbartes Clavier ein, und der entzückte Hörer fühlt sich plötzlich von den Schwingungen einer ländlichen Tanzmusik getragen und gehoben, welche bald Alles ihrem Zauber unterthänig macht.

Es versteht sich, daß an schönen Tagen namentlich die Luftschnapper aus dem Dorfe ziehen, um in der herrlichen Umgebung Ausflüge zu unternehmen oder die winkenden Berghäupter zu erklimmen. Wohin diese Züge gehen, das wollen wir nicht weiter ausführen. Einige Orte haben wir schon berührt – alle können wir nicht erwähnen. Nur damit er nicht geflissentlich vergessen scheine, wollen wir noch des nahen Petersbergs gedenken, einer waldigen Felsenspitze, auf welcher ein uraltes Münsterlein und ein Priesterhaus stehen, wo man gut erquickt wird und viele Meilen weit in’s Land hinausschaut. Auch zum „Tatzebauern“ am Audorfer Berg sind’s nur dritthalb Stunden, und es führt ein sehr angenehmer Pfad dahin, bald sanft ansteigend im Waldschatten, bald über die friedliche Einsamkeit der grünen Triften. Unter dem Schild des Tatzebauern haust der alte Schweinsteiger, ein demüthiger Freund der deutschen Wissenschaft und ihrer Pfleger, sonst licenzirter Bierschenk und Hofbesitzer, dessen seltsame Schicksale schon Manchen, der nicht an alle Möglichkeiten gewöhnt ist, überrascht haben sollen. Ihm zuerst in der ganzen Nation kam einst der Gedanke, ob man sich nicht ein Verdienst erwerben könnte, wenn man müde Wanderer und Pilger auf einem vielbetretenen Bergwege mit Speise und Trank ergötzte. Dieser Gedanke, der in der Schweiz schon etliche tausend Mal durchgeführt ist, kam aber unsern Leuten so in die Quere, daß sie dem kühnen Denker einen Schabernack nach dem andern spielten und ihm allmählich fast das Leben verleideten. Indessen haben sich jetzt die Gebildeten durch ganz Deutschland im Geiste um den wackern Dulder geschaart, und sein herrlich gelegenes Häuslein ist stets besetzt von wandernden Gelehrten, Dichtern und andern Edlen, die sehr gern an seinem Rheinwein nippen und seinen Amsbacher Schinken anerkennend zusprechen. Das Fremdenbuch, das er aufgelegt, weist schon manchen namhaften Pilger auf und darf vielleicht in kurzer Zeit selbst kulturhistorische Wichtigkeit in Anspruch nehmen.

Wenn sich nun früh am Tage die guten Gesellen zu Brannenburg nisten, und mit den Frauen und Jungfrauen, mit dem Alpenstock in der Hand und dem reichgefüllten Proviantranzen auf dem Rücken, sich vor der Herberge sammeln, dann ist ein schwerer Moment für den jungen Maler gekommen, der voll der besten Vorsätze so eben aufgestanden ist und mit seinem Malkasten und seinem ungeheuren Parapluie z. B. auf die Schwarzlack emporsteigen will, um dort die interessanten Waldstudien abzuschließen, die während der letzten Regentage so schmerzlich liegen geblieben. Wenn nämlich der Maler im Vorbeigehen stehen bleibt und die fröhlichen Luftschnapper betrachtet und die heiteren Frauen und die lachenden, schäkernden Fräulein, und wie sie sich alle auf die hohen Astenhöfe freuen oder auf den Riesenkopf mit seiner unermeßlichen Aussicht, dann wird ihm wind und weh um’s Herz und es beginnt ein Seelenkampf, zwar von der peinlichsten Art, der aber doch gewöhnlich einen guten Ausgang nimmt. „Ach ja,“ pflegt dann der Jüngling mit seinen guten Vorsätzen zu lispeln, „die schönen Tage sind so selten hier zu Lande, und Wälder finden sich wohl immer wieder“ – und wenn er dieses einige Male leise gelispelt, überreicht er Malkasten und Parapluie der Kellnerin zum Aufheben, bis er wieder komme, und dann giebt er der Gesellschaft erröthend zu erkennen, daß er sich auch ein bischen anschließen werde, worauf ihn dann diese Beifall klatschend als ihren Genossen aufnimmt. Und so lassen wir sie denn ziehen im Frieden und freuen uns, wenn sie am Abend jubelnd über den wonnigen Tag vom Berg herunter wieder heimkehren.



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Das Freitagsgebet des Sultans.

Auf jeder Culturstufe und unter jeder Zone ist es ein und dieselbe Erscheinung, daß die Gekrönten dieser Welt die öffentlichen Acte ihres Cultus mit der ausgesuchtesten Pracht umgeben, im grellsten Widerstreit mit dem schönen Winke: „Und wenn Du beten willst, so gehe in Dein Kämmerlein einsam und schließ die Thür hinter Dir zu etc.“ – Die Geschlechter der Gekrönten beharren auf dieser vereinten Schaustellung ihres irdischen Glanzes und ihrer kirchlichen Frömmigkeit wie auf einem ganz besondern Recht und Vorzug der Krone, ja mit einer Pünktlichkeit, als ob ein geheimnißvoller Glaube an ein geheimes Bündniß der himmlischen und der irdischen Weltregierung darüber walte, als ob eine Garantie der Throne mit ihr verbunden sei. So ist’s im Abendlande, und so zeigt uns dasselbe bunte Religions-Ceremonienbild auch das Morgenland.

Der Koran schreibt den Gläubigen nicht nur vor, an jedem Tage zu den festgesetzten Stunden die üblichen Gebete zu verrichten, sondern gebietet ihnen auch, an jedem Freitage in einem Gotteshause öffentlich zu beten. Diesem Gebote gewissenhaft nachzukommen, lassen sich die Sultane – schon des Beispiels halber – ganz besonders angelegen sein. Die Geschichte erzählt, daß Sultan Mahmud I. auf dem Rückwege von der Moschee nach dem Serail gestorben sei. Goethe’s Mutter antwortete auf eine Einladung, die sie kurz vor ihrem Tode erhielt, sie bedaure recht sehr, nicht kommen zu können, „sie habe zu sterben“. Sultan Mahmud hatte zwar ebenfalls zu sterben, als der Muezzin an jenem Freitag vom Minaret zum Gebete rief; aber er nahm seine letzten Kräfte zusammen, ließ die Todtenblässe seines Gesichtes mit rother Schminke bedecken und sich auf’s Pferd heben.

Was der Sultan die Woche über thut und treibt, erfährt in Constantinopel Niemand; in welche Moschee er aber am Freitag reitet, um öffentlich sein Gebet zu verrichten, und zu welcher Stunde dies geschieht, das weiß jedes Kind. Vielleicht ist die Reihenfolge der Moscheen eine festgesetzte, die sich regelmäßig wiederholt, oder die Kunde wird absichtlich vom Serail aus verbreitet; denn der Sultan, der sonst unerreichbar ist, muß einmal in der Woche ein Lebenszeichen von sich geben und den Glanz seiner Majestät vor den Augen der Muselmänner leuchten lassen. Der Fremde erhält dadurch Gelegenheit, den Beherrscher der Gläubigen von Angesicht zu Angesicht zu schauen, was sonst sehr schwierig ist.

Während unsers Aufenthaltes in Constantinopel – im Juni dieses Jahres – bewohnte der Sultan seinen Kiosk, d. h. sein Landhaus, „an dem süßen Gewässer von Europa“. Mit dieser Benennung wird ein von Bäumen beschattetes Flüßchen bezeichnet, das durch einen von grünen Hügeln eingefaßten Wiesengrund dem salzigen Wasser des „goldenen Horns“ zufließt und zwar so, daß das goldene Horn das Delta des Flüßchens bildet. In nächster Nähe von jenem Kiosk liegt eine Moschee, die „Moschee des süßen Gewässers“. Da wir nun am ersten Freitage unsers Aufenthaltes in Constantinopel von den Lohndienern erfuhren, daß der Sultan „um sechs Uhr türkisch“ in diese Moschee zum Gebet gehen werde, und außerdem wußten, daß die Türkinnen – die bei ihren Ausfahrten niemals von ihren Gebietern begleitet werden – an den Freitagen im Monat Juni das süße Gewässer von Europa zu Tausenden besuchen, um dort spazieren – zu sitzen, so beschlossen wir, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen und uns zur Schau des Padischas und seiner schönen Unterthaninnen um zwölf Uhr dort einzufinden. Der Weg dahin ist ein ziemlich langer und wird im Kaik zurückgelegt.

Das Kaik ist ein sehr elegantes, hinten und vorn spitz zulaufendes behendes Boot, das braun gebeizt, mit Schnitzwerk und vergoldeten Schnörkeln verziert und so schmal ist, daß es umschlägt, wenn man beim Einsteigen nicht genau in die Mitte tritt oder beim Aussteigen es nicht von der Mitte aus verläßt. Der Fahrgast sitzt auf dem Boden, mit dem Gesicht nach der Spitze gewendet. Hat man Platz genommen, so muß man sich ganz still halten, denn das Kaik ist empfindlich wie eine Goldwage und geräth bei der geringsten Bewegung in’s Schwanken. Die ruhige, gravitätische Haltung der Türken, welche an die starre Bewegungslosigkeit heidnischer Götzenbilder streift, paßt also vortrefflich zu den Eigenschaften des Kaiks.

Hinter dem Herrn oder Fahrgast auf einer Erhöhung kauert der Diener mit untergeschlagenen Beinen; vor ihm auf Querbänken sitzen die Ruderer, in der Regel einer hinter dem andern, Jeder zwei Ruder führend. Hohe Würdenträger bedienen sich breiterer Kaiken, in denen immer zwei Ruderer, jeder ein Ruder führend, nebeneinander Platz haben; doch ist es nicht einem Jeden erlaubt, dergleichen größere Fahrzeuge zu halten, da die Schildwachen an den Ufern vor solchen Kaiken „Honneurs“ machen müssen.

Je mehr sich das goldene Horn verengte, je näher rückten die Kaiks, die zahllos durch das Wasser stechen, aneinander. Das war für uns höchst willkommen; setzte es uns doch in den Stand, die bunten Gestalten in ihnen recht genau in Augenschein zu nehmen. Da fuhren Minister und Paschas in den mit reicher Goldstickerei verzierten schwarzen Reform-Ueberröcken. Ein buntes Zeltdach, ehemals ausschließliches Privilegium der Kaiken des Sultans, schützt sie gegen die Sonnenstrahlen. Hinter ihnen kauert der Pfeifenstopfer, stets ein junger, schöner und sehr vertrauter Diener, um dessen Gunst sich ein Jeder bewirbt, der vom Herrn irgend etwas zu erringen wünscht. Die zahlreichen Ruderer, sonnverbrannte Anmuten von herkulischer Kraft und Gestalt, je zwei und zwei auf einer Bank, tragen Hemden von einem dünnen Seidenzeuge mit Atlasstreifen, und weite, bis an’s Knie reichende Leinwandhosen. Der Pascha, den rothen Fez auf dem Kopf, raucht gravitätisch die lange Pfeife, mit dem Mundstück von undurchsichtigem Bernstein. Einer von ihnen, in militärischer Uniform, dictirte seinen Secretairen, die ehrerbietig vor ihm hockten und eifrig schrieben. Alle Spitzen der Militär- und Civil-Verwaltung müssen den Sultan in die Moschee begleiten.

Aber die Kaiken waren es nicht allein, welche dem süßen Gewässer Schaulustige zuführten; an den Ufern entlang plätscherten kleine Dampfschiffe und pfiffen sich Passagiere zusammen, während große Barken schwerfällig einherkrochen wie Schildkröten auf dem Lande. Eine stattliche Fregatte, in der Mitte des goldenen Horns beim Marine-Ministerium vor Anker liegend, beherrschte mit ihren drei Reihen Kanonen das Gewimmel um sie her, und ihr rother Wimpel mit dem Halbmond und dem darüber schwebenden Stern schien ein dem Bilde aufgedrücktes Fürstensiegel.

Endlich zeigt sich im blauen Seewasser ein trüber grauer Streifen; es ist das „süße Gewässer von Europa“, ein zahmes Flüßchen, in dessen Mündung wir einbiegen und unsere Fahrt stromauf fortsetzen bis in die Nähe einer Brücke, bei welcher wir an’s Land steigen.

An beiden Ufern dieses süßen Gewässers herrscht das regste Leben. Im Schatten der Bäume breiten Sklavinnen Teppiche aus, und die vornehmen Türkinnen lassen sich darauf nieder, während ihre Kinder umherspringen. Wo der Schatten nicht ausreicht, werden bunte Stoffe über die Zweige der Bäume geworfen; denn die Sonne meint es nur zu gut, und die Türkinnen lieben es nicht, ihren Teint zu exponiren. Je näher der Brücke, je enger rücken die Gruppen aneinander, zuletzt sitzen die Schönen in mehreren Reihen fast Schulter an Schulter gedrängt. Wagen von grauen, wunderlich aufgeschirrten Ochsen gezogen – sogenannte Arabas – führen Bewohnerinnen der Umgegend heran, ihre Gebieter folgen ihnen zu Pferde, deren Zügel, wenn sie absteigen, nachkeuchende Diener in Empfang nehmen. Damit es aber an nichts mangele, erscheinen auch noch vier bulgarische Musikanten in Schafpelzen, die ein wunderliches Concert aufführen. Der eine spielt den Dudelsack, der andere die Flöte und der dritte die Gusla, eine Art Geige mit drei Saiten, während der vierte eine kleine dumpfklingende Trommel schlägt. Was sie vortragen, hat weder Melodie noch Rhythmus; die Türkinnen scheinen aber dennoch davon erbaut, denn die Kinder werden fleißig mit kleinen Gaben an die Bulgaren abgeschickt?

Doch wir hatten nicht Zeit, das vor uns entfaltete und immer reicher werdende Bild lange zu betrachten; es galt zur Moschee zu gelangen und den Sultan zu sehen. Wir gingen daher über die Brücke und gelangten, einer hohen Mauer folgend und uns durch ein zahlreich versammeltes männliches Publicum drängend, an ein geöffnetes, von Soldaten besetztes Portal. Es führte in einen großen Hofraum, in dessen Mitten wir die Moschee, viele fränkische [649] Zuschauer und Zuschauerinnen und eine starke Cavallerie- und Infanterie-Abtheilung, sowie eine Menge kostbar aufgezäumter Pferde erblickten, auf denen vornehme Würdenträger hergeritten waren. Die Schildwachen in Constantinopel halten Niemand auf, der – ohne sie eines Blickes zu würdigen – mit der Miene der Sicherheit einherschreitet. Diese Miene nahmen wir an, drangen glücklich vor bis zur Moschee und erreichten einen sehr günstigen, freilich aber auch äußerst sonnigen Standpunkt.

Vor uns lag ein breites Thor, welches in den Garten und zum Kiosk des Sultans führte. Durch dieses Thor mußte der Beherrscher der Gläubigen eintreten und den ganzen Raum bis zum Eingange in die Moschee durchschreiten. Da wir kaum zwanzig Schritt von dem Eingange entfernt standen, so konnten wir darauf rechnen, unsere Schaulust gehörig befriedigt zu sehen.

Die Moschee an dem süßen Gewässer ist ein kleines, weiß abgetünchtes, viereckiges Gebäude mit zwei ziemlich niedrigen Minarets. Der Eingang für den Sultan besteht aus einem bescheidenen, von zwei Säulen getragenen Porticus aus weißem Marmor, von dessen Fußboden zu beiden Seiten Stufen hinabführen und der so hoch ist, daß er einem Reiter bis an den Steigbügel reicht. Ein schwarzer „Läufer“, d. h. ein schmaler Teppich, kreuzte die weiße Marmorplatte des Porticus und war bestimmt, den Fuß des Sultans gegen die Berührung mit dem kalten Stein zu schützen; aber nur den Fuß des Sultans, keines Andern, denn er allein hat als Groß-Khan der Tatarei das Vorrecht des schwarzen Teppichs.

Es war zwölf Uhr, die Sonne brannte heftig, die Zuschauer mehrten sich; viele wohlbeleibte Türken mit Fez und großen goldenen Epaulettes fanden sich ein; der Sultan erschien nicht. Da spannten unsere Damen, um sich vor den glühenden Sonnenstrahlen zu schützen, die Sonnenschirme auf. Sogleich wurde ihnen aber von den Türken bedeutet, in der Nähe des Sultans dürfe Niemand einen Sonnenschirm öffnen, ja es müsse sogar ein Jeder, der an einem Kiosk des Sultans vorübergeht, den Schirm schließen, selbst wenn sich der Beherrscher der Gläubigen auch nicht in dem Kiosk befinde; denn der Sonnenschirm sei ein ausschließliches Privilegium des Sultans.

Endlich ertönten Commandowörter, die Truppen präsentirten, die Musik schmetterte und in dem Portal uns gegenüber erschien der Sultan, er allein zu Pferde, seine Begleiter sämmtlich zu Fuß. Will der Sultan ausreiten, so werden ihm stets drei Pferde vorgeführt, von denen er sich eins aussucht. Diesmal war seine Wahl auf einen mehr stark als elegant gebauten Grauschimmel gefallen, der unter seiner vornehmen Last gemessen einherschritt.

Der Sultan Abdul Asis, ein schwarzbärtiger Herr in rothem Fez, trug die türkische Generals-Uniform, auf welcher zwei Diamantsterne blitzten. Er zählt dreißig und einige Jahre und ist der Bruder des vorigen Beherrschers der Gläubigen; denn es succedirt in Constantinopel nicht unbedingt der Sohn dem Vater, sondern stets der älteste Prinz des Hauses. Die Stirnen der anwesenden Türken neigten sich vor dem „Schatten Gottes“ bis zur Erde; aber weder von diesen Ehrfurchtsbezeigungen, noch von dem militärischen Gruße der Truppen nahm der Sultan auch nur die allergeringste Notiz. Er blickte weder rechts noch links und schien weder zu hören, noch zu sehen. Er achtete so wenig auf die ihn umgebende Menge, wie Jemand auf die Bäume achtet, der in tiefen Gedanken durch einen Wald reitet.

Sein Gefolge bildeten die Paschas, die Minister und die sonstigen höchsten Würdenträger des Reichs, lauter wohlgenährte Gestalten im Reform-Ueberrock, mit mehr oder minder Goldstickerei auf den Aermeln. Diener sah man nicht; sie stehen zu niedrig, um sich bei solchen Anlässen zeigen zu dürfen. Der ganze Zug war zu beiden Seiten von einer wandelnden Hecke, der Leibwache des Sultans, eingefaßt. Sie besteht aus je zehn schönen Jünglingen der reichsten und angesehensten Familien der verschiedenen Völker, welche unter dem türkischen Scepter leben. Wir bemerkten Aethiopier, Nubier, Aegypter, Beduinen, Araber, Drusen, Kurden, Arnauten, Bulgaren, Montenegriner etc. sämmtlich in ihren mit Gold, Silber, Sammet und Seide prangenden, buntfarbigen Nationaltrachten und mit den kostbarsten Waffen ausgerüstet. Nur die Edlen der Moldau und Walachei, sowie diejenigen Serbiens haben sich noch nicht dazu verstehen wollen, ihre Söhne zu Leibgardisten herzugeben; vielleicht werden aber die Wünsche des Sultans – wenigstens was die Moldau und die Walachei betrifft – durch Vermittelung des Fürsten Cusa erfüllt werden, den man bei seinem Aufenthalt in Constantinopel mit Aufmerksamkeiten überschüttet hat.

In der That, die jetzige Leibwache des Sultans ist allein eine Reise nach Constantinopel werth, denn wo fände man eine ähnliche Musterkarte von Menschenracen, Costümen und Waffen! Die Mannigfaltigkeit der Turbane, die Schneepracht der weißen Burnusse, die Wunderlichkeit der Fußbekleidungen lassen sich ebensowenig beschreiben, wie die vornehmen, unbekümmerten Mienen, die fremden dunklen Augen und die schlanken Urgestalten der edlen Jünglinge. Während wir diese Leibwache mit den Blicken verschlangen, ritt der Sultan langsam an uns vorüber, trat aus dem Bügel auf den schwarzen „Läufer“ und verschwand in der Moschee. Die hohen Würdenträger erstiegen die Stufen zu beiden Seiten des Porticus und folgten dem Sultan, das Betreten des schwarzen Teppichstreifens sorgfältig vermeidend. Zu gleicher Zeit formirten mehrere von den mit goldenen Epaulettes geschmückten Türken vor der Moschee einen Kreis und erhoben ein infernalisches Geheul, welches sie drei Mal wiederholten. Es war dies, wie man uns sagte, das übliche Lebehoch auf den Sultan. Kaum war es verhallt, so rief der Muezzin vom Minaret herab zum Gebet. Auf diesen Ruf begaben sich alle Rechtgläubigen in die Moschee, während es den Ungläubigen überlassen blieb, sich die Zeit bis zur Beendigung des Gebets zu vertreiben. Und es gebrach keineswegs an Unterhaltung. Die Moschee war nämlich so klein, daß sie die Zahl der anwesenden Türken nicht zu fassen vermochte. Die Ausgeschlossenen versammelten sich nun in Reihen vor den geöffneten Thüren, zogen Schuhe und Röcke aus, knieten auf diesen nieder und verrichteten darauf ihr Gebet mit dem üblichen Neigen und Beugen. Zu den Ausgeschlossenen gehörte beinahe die ganze Leibwache. Aber da das Sprüchwort „Jugend hat nicht Tugend“ im Orient eben so wahr ist wie im Occident, so fiel es fast keinem der schönen Jünglinge ein, sich in die Reihen der Knieenden zu drängen. Sie zogen es vor, unter den Zuschauern umherzulungern und sich die fremden Damen anzusehen, denen dies eben recht war. Die Ceremonie in der Moschee hatte ihr Ende erreicht, aber der Sultan blieb gleichwohl in derselben.

„Was zögert der Sultan?“ fragten wir.

„Er zieht sich um,“ lautete die Antwort.

„Für die kurze Strecke von der Moschee zum Kiosk?“

„Er kehrt nicht nach dem Kiosk zurück.“

„Wohin begiebt er sich?“

„Das wird sich finden.“

Wenn der Sultan seinen Aufenthalt wechselt, was gewöhnlich des Freitags nach dem Gebet zu geschehen pflegt, so bezeichnet er den neuen Kiosk nicht eher, als bis er zu Pferde steigt. Bei so bewandten Umständen kann von Vorbereitungen zum Empfange des Sultans nicht die Rede sein, ja der Beherrscher der Gläubigen findet in der neuen Residenz weder etwas zu essen, noch etwas zu trinken. Gleichwohl darf es ihm an nichts von dem gebrechen, woran er gewöhnt ist, sei es in Bezug auf Personen oder Sachen. Es bleibt daher für das lebende und todte Inventar eines aufgegebenen Landhauses nichts übrig, als dem Sultan in das neue zu folgen.

Nichts war uns erwünschter, als zu erfahren, daß Abdul Asis nach dem Gebet den Kiosk an dem süßen Gewässer verlassen und sich nach einem anderen, am Bosporus gelegenen Sommersitze begeben werde; da stand uns der Genuß bevor, sein ganzes Haus, den Harem nicht ausgenommen, an uns vorüberziehen zu sehen. Kein Gläubiger befand sich mehr in der Moschee, der Sultan aber kam nicht und kam nicht.

„Was macht der Sultan?“ fragten wir.

„Er trinkt Kaffee und raucht,“ lautete die Antwort.

Jetzt zeigte sich auf dem süßen Gewässer das reich vergoldete Kaik des Padischa. Es war mit dreißig Ruderern bemannt. Sie trugen den rothen Fez, das weißgelbliche, vorn offene Hemde von durchsichtigem Seidenzeuge, schneeweiße Pumphosen bis an’s Knie und rothe Schärpen um den Leib. Hinter dem Polstersitz des Sultans kauerte ein Neger mit einem großen Sonnenschirm von rothem Sammet.

Gleich darauf erschien Abdul Asis im Fez und dunklem Paletot, ohne jegliches Zeichen seiner hohen Würde, auf dem schwarzen Teppich in der Thür der Moschee. Die Paschas und Minister, unter ihnen auch Omer Pascha, welche sich nach dem Gebet der Thür gegenüber, abgesondert von den Zuschauern, aufgestellt hatten, [650] senkten die Stirn in den Staub; der Sultan aber nahm wiederum von nichts Notiz, was vor ihm geschah. Er stieg die wenigen Marmorstufen nach der Wasserseite hinab und ging gemessenen Schrittes auf das Kaik zu, ohne daß Jemand ihn begleitete. Als er einstieg, hielt ein Bootsmann das Kaik mit einem Haken, damit es nicht schwankte oder gar umschlüge; Niemand aber war ihm behilflich, denn die geheiligte Person des Beherrschers der Gläubigen darf nur von den höchsten Würdenträgern des ottomanischen Reiches – und zwar an der Fußspitze – berührt werden. Es geschieht dies alljährlich am Bairams Fest bei der Ceremonie des Fußkusses, nach welcher der Sultan einem Jeden, der ihm die Lippen auf den Fuß gedrückt hat, ein schönes Mädchen zum Geschenk macht.

Sobald der Sultan Platz genommen hatte, spannte der Neger den großen Sonnenschirm auf, die Ruderer tauchten die unten mit einem halbmondförmigen Einschnitt versehenen Ruder in’s süße Gewässer, und fort schoß das goldene Kaik dem goldenen Horne zu.

Kaum hatte der Sultan den Rücken gewendet, so trat die unbefangenste Gemüthlichkeit an die Stelle der strengen Etiquette. Aus der Moschee kommend, erschienen auf dem schwarzen, geheiligten Teppich plappernde Diener des Sultans, die seine Parade-Kleidungsstücke, Uniform, Weste, Hosen, Stiefeln und allerlei Cartons in äußerst nachlässiger Weise über und unter den Armen oder in den Händen trugen. Sie ließen die sämmtlichen Sachen auf die Erde fallen, nahmen sodann die Epaulettes und Brillantsterne von der Uniform und warfen sie in die Cartons, als wäre es altes Eisen, – endlich banden sie den ganzen Kram in Schnupftücher und gingen, die Bündel nachlässig schwenkend, in aller Heiterkeit davon.

Wir standen im Begriff, in ein höchst unmuselmännisches Gelächter über diese Naivetät auszubrechen, als unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge gelenkt wurde. Ein langer Zug von eleganten Wagen kam aus dem zum Kiosk des Sultans führenden Portale auf uns zu; – es waren die Damen des Harems, welche ihrem Gebieter zu Lande folgten.

Man kann sich denken, wie schnell wir der Moschee den Rücken wendeten und wie sehr wir uns durchdrängten, um so nahe wie möglich an die Wagenreihe zu kommen; denn wie wir bemerkten, fuhren die Schönen sämmtlich mit heruntergelassenen Fenstern.

In dem ersten, prächtig mit Silber beschlagenen und oben herum mit einer silbernen Galerie verzierten Wagen, der wie alle übrigen nur mit zwei Pferden bespannt war, saß die Sultanin. Zu dieser Würde und zu allen damit in Verbindung stehenden Vorrechten avancirt eine jede Harem-Schöne, die den Beherrscher der Gläubigen mit einem Kinde beschenkt, sei dies ein Knabe oder ein Mädchen. Sultan Abdul Asis besitzt an Kindern nur einen Sohn, folglich hat er auch nur eine Sultanin.

Der Wagen der Sultanin war von vielen schwarzen Harem-Wächtern umgeben, während die übrigen Wagen nur je von einem escortirt wurden. Die Wächter hielten sich jedoch so dicht um den Wagen, daß die Zuschauer auf beiden Seiten kaum vier Schritt von ihm entfernt standen. Wir konnten daher sowohl die Sultanin, als auch alle übrigen Damen so genau sehen, wie der Yachmak, jene Verhüllung, die vom Gesicht nur die Augen freiläßt, dies nur irgend gestattet.

Gewöhnlich besteht der Yachmak nur aus Musselin in mehreren Lagen übereinander, so daß der Blick nicht hindurchzudringen vermag; die Haremdamen trugen ihn aber von Flor, der – obwohl doppelt und dreifach – ihre Reize nicht nur nicht verbarg, sondern im Gegentheil noch erhöhte. Diese Flor-Yachmake sind eine Neuerung, welche sich unter der Regierung des vorigen Sultans eingeschlichen hat.

Abdul Medjid’s Herz war nämlich so groß, daß fünf- bis sechshundert Schöne Platz darin fanden. Wer die Hauptstadt erobert hat, der beherrscht das Land und er kann darin nach Belieben schalten und walten. Das Herz ist aber für den Menschen das, was die Hauptstadt für ein Land ist. Im unumschränkten Besitze des Herzens ihres Gebieters emancipirten sich die Haremschönen auf eine bisher unerhörte Weise. Sie legten sogar den Yachmak von doppeltem Musselin ab und vertauschten ihn gegen eine durchsichtige Umhüllung von einfachem Flor. In diesem Aufzuge – für die Rechtgläubigen ein unerhörter – fuhren sie in Constantinopel und Pera von einem Laden zum andern, um Einkäufe zu machen. Es stellte sich dabei heraus, daß sie diejenigen Artikel, welche sie suchten, immer nur bei schönen und jungen Kaufleuten, ganz besonders bei böhmischen Glashändlern, fanden.

Aber nicht nur in den unteren Schichten des Harems fanden die Neuerungen Anklang, sogar eine der Sultaninnen trat zur Fortschrittspartei über. Kein Tag verging, an welchem sie nicht einen schönen schlanken armenischen Kaufmann, der mit Seidenstoffen handelte, im Bazar besucht hätte und mit reichen Einkäufen in das Serail zurückgekehrt wäre.

In den Bazar, der aus lauter überwölbten Passagen besteht, kann man nicht hineinfahren; Wagen und Diener mußten daher vor der Thür warten, während die schöne Sultanin ihre Einkäufe machte. Die kostbarsten Waaren befinden sich aber nicht in den Läden des Bazars selbst, sondern hinter ihnen in kleinen traulichen Zimmern, zu welchen man durch ein dunkles Treppchen gelangt. Der Kaufmann läßt nun keinen Kunden von Distinction vor dem Ladentisch, im Bazar stehen, sondern nöthigt ihn stets in das kleine verschwiegene Hinterzimmer. Bei einer Sultanin verstand sich diese Auszeichnung von selbst. Sie wurde nicht müde, sich im Bazar einzufinden, – der Kaufmann ermangelte nicht, ihr beim Ersteigen des Treppchens behülflich zu sein; Beide waren völlig miteinander zufrieden. Aber –

„Befindet sich Einer vortrefflich und wohl,
Gleich will ihn der Nachbar peinigen.“

Eines Tages, als die schöne Sultanin wieder in den Bazar kommt, findet sie den Laden des schönen Armeniers zugenagelt. Sie fragt seine Nachbarn, diese senken statt der Antwort die Augen zur Erde. Eine bange Ahnung sagt ihr, daß sich hier etwas Entsetzliches zugetragen und daß der Sultan dem nicht fremd sein könne. Den Tod im Herzen, kehrt sie in das Serail zurück und flüchtet sich, des Aergsten gewärtig, mit einer getreuen Dienerin in den nächsten Kiosk.

Wer sie erwartet hatte, war Abdul Medjid. Er erscheint an der Thür des Kiosks und findet sie verschlossen.

„Mach’ auf!“ ruft er.

Keine Antwort.

„Fürchte nichts, ich bin von Deiner Unschuld überzeugt. Du hast nur unüberlegt gehandelt und wirst künftig auch den bösen Schein vermeiden.“

Die Sultanin begriff die Situation. Was mit dem schönen Armenier geschehen war, ließ sich nicht ändern. Nach seinem Schicksal forschen durfte sie nicht; war ihr doch überdies bekannt genug, in welcher Weise man die Bande zerreißt, die der Harem zuweilen trotz aller Wachsamkeit der Eunuchen mit der Außenwelt anknüpft. Sie schmollte viele Tage mit dem Sultan, weinte viele Nächte hindurch und ließ sich endlich durch dringendes Zureden ihrer Verwandten dahin bewegen, ihren Herrn und Gebieter wieder zu Gnaden anzunehmen.

Der Harem des gegenwärtigen Sultans ist bedeutend kleiner, als der seines Vorgängers, denn er füllte nur acht bis zehn Wagen, deren jeder vier Schöne enthielt. Der Sultan hat ihn aber nicht nur beschränkt in der Zahl, sondern auch in den usurpirten Freiheiten. Vor allen Dingen wurde den Damen verboten, Yachmaks von einfachem Flor zu tragen; sie haben den Flor daher verdoppelt. Hierdurch sind sie dem Befehle ihres Gebieters einigermaßen nachgekommen, ohne ihr Licht unter den Scheffel zu setzen.

Hinter dem Harem erschien der Sohn des Sultans in einem offenen Wagen, und ihm folgte der ganze Marstall seines Vaters. Die lange Reihe schöner Pferde wäre ein Götteranblick für den Kenner gewesen; aber auch der Nichtkenner fand seine Rechnung, ja sogar die Damen unserer Gesellschaft waren entzückt von dem, was wir sahen. Berittene Neger in den wunderbarsten Trachten führten jeder ein vollständig aufgezäumtes und gesatteltes Roß des Sultans als Handpferd. Theils mochten die edlen Thiere bei dem guten Futter zu ihrer geringen Arbeit schon an und für sich stallmuthig genug sein, theils wollte ein jeder Neger sich und seine Rosse vor den vielen Zuschauern so vortheilhaft wie möglich produciren, – genug, alle schnaubten und courbettirten, warfen die Köpfe und wieherten, daß es eine Lust war. Dabei setzte uns das mit Gold und Silber beschlagene und mit bunten Edelsteinen besetzte Zaumzeug nicht weniger in Erstaunen.

Nur selten befanden sich die Neger allein im Sattel; fast ein Jeder von ihnen war der glückliche Beschützer irgend eines animalischen Lieblings der Damen vor ihnen. Sie transportirten, ihnen sicher von den Sklavinnen auf die schwarze Seele gebunden, bunte [651] Vögel in Käfigen, kleine Affen an silbernen Kettchen, Eichhörnchen in Drehrollen, Hündchen von allen Racen. Der Sultan ist ein großer Liebhaber von Thieren, besonders von Katzen; wie sollten es da seine Damen nicht ebenfalls sein?

Doch wer malt unser Erstaunen, als sich aus dem mehrerwähnten Portal eine lange Procession von wohlgenährten Männern in weißleinenen Anzügen entwickelte, von denen ein jeder eine große, oben zugeschnürte, braunlederne Wulst auf dem Kopfe trug! Es waren die Köche und Zuckerbäcker des Sultans, die in runden, in der angegebenen Weise verpackten Körben die Speisen und Leckereien transportirten, die sie für den Sultan und sein ganzes Haus bereitet hatten und die nun, anstatt an dem süßen Gewässer, am Bosporus verzehrt werden sollten.

Gravitätisch und im Gefühl seiner Küchenwürde ging ein Koch und ein Zuckerbäcker hinter dem andern, und die Reihe wollte kein Ende nehmen, denn die Tafel eines Sultans will reich und mannigfaltig besetzt sein. Bald aber bog der Vorderste von dem Wege ab, den Harem und Marstall genommen hatten, um sich der Stelle zuzuwenden, wo der Sultan in das Kaik gestiegen war.

Hier hatten sich inzwischen viele Barken versammelt, in denen die weißen Männer Platz nahmen. Wir folgten ihnen zum Ufer und gewannen einen Blick auf den Fluß nach der Seite des Kiosk hinauf, wo es nicht minder Interessantes zu schauen gab, als auf dem Hofe der Moschee. Man war nämlich hier beschäftigt, alle Möbel und Einrichtungsgegenstände, an welche der Sultan und seine Schönen gewöhnt sind, in Barken zu schaffen und nachzutransportiren. Da leuchtete es von Polstern in Sammt und Seide, da blitzte es von vergoldeten Truhen und abenteuerlichen Koffern mit Email-Verzierungen, da funkelten Leibwaffen mit kostbaren Edelsteinen incrustirt; es leuchtete, blitzte und funkelte, bis die Barkenführer die ihnen anvertrauten Kostbarkeiten mit großen Wachstüchern überdeckten und den Blicken der Neugierigen entzogen.

Wir aber waren nach dem, was wir gesehen hatten, dergestalt blasirt, daß wir uns schwerlich gewundert hätten, wenn zum Finale auch noch die Moschee und der Kiosk des Sultans eingepackt und ihm nachgeschickt worden wären. Auch das wird kommen. Für die Sultane wären keine andern Häuser zweckmäßiger, als transportable.

So endete „das Freitagsgebet des Sultans“ für uns und wohl für die meisten der hier „Gläubigen“ mit einem sehr weltlichen Schauspiel. Und mehr ist ja das Ganze nicht, dort wie anderwärts. Ob Tempel, ob Moschee – der Vorsehung imponirt kein Paradedienst der Frömmigkeit, ob die Mächtigen ihn nur befehlen oder selber aufführen. Die goldenen Vorhänge am Kirchenthron von Byzanz zerriß der siegende Türke – trotz byzantinischer Andachtspracht – das Reich Osman’s wird nicht erhalten durch des Sultans Freitagsgebet, und keine Kirchenparade macht Dynastien unsterblich, deren Untergang von der ewigen Gerechtigkeit beschlossen ist.




„Wenn die Schwalben heimwärts ziehn.“
Ein Erinnerungsblatt aus dem vormärzlichen Schriftstellerleben, von Ferdinand Stolle.

Wer hat das Lied nicht schon gesungen oder singen hören und wer kennt heute noch den Dichter dieses und noch vieler andern schönen Lieder und wer spricht noch von ihm?

Es war gegen das Ende der zwanziger Jahre, als in der Mittagzeit eines schönen Sommertags aus dem Marterkasten eines der Dresdner Lohnkutscher, die damals in Leipzig im Birnenbaum, dem heutigen Hotel de Pologne, ihre Einkehr zu halten pflegten, ein junger Mann stieg und die mit einer Brille bewaffneten Augen die hohen Häuser der Hainstraße entlang schweifen ließ. Sein Alter mochte die mittleren Zwanziger erreicht haben. Die Figur gehörte mehr der kleinern Menschenausgabe an und war nichts weniger denn imponirend. Den besten Empfehlungsbrief aber trug der junge Mann auf seinem Antlitz, das geistreich, aber zugleich von ungemeiner Gutmüthigkeit sprach.

Leipzig, die Metropole des buchhändlerischen Lebens und Verkehrs, galt damals jungen strebsamen Schriftstellern, namentlich den außersächsischen, für das Eldorado, wo das goldne Manna in die Straßen regnete. Andere auch, die sich in der Heimath von einer allzu ängstlichen Censur beengt fühlten, glaubten in einer Stadt, wo die angebliche deutsche Freiheitsschlacht geschlagen worden, für ihre freisinnigen und patriotischen Gefühle eine freiere und frischere Luft zu finden.

Auch Carl Herloßsohn, von Prag kommend, wo er seine akademischen Studien beendet, und von dem Bewußtsein „auch ich bin ein Maler“ getrieben, war dem verlockenden Leuchtthurme gefolgt und hatte hoffnungsreich und als Millionär an guten schriftstellerischen Ideen die Musenstadt betreten.

Der Mensch denkt, Gott lenkt! ein Sprüchwort, das bei Niemandem ersichtlicher hervortritt, als bei jungen künstlerischen und phantasiereichen Naturen. So auch mit unserm Herloßsohn. Da war er nun in Leipzig, dem Ziele seiner langgehegten Wünsche; aber Niemand bekümmerte sich um ihn. Das praktische Leben und Treiben der Handelsstadt, wo sich Alles um’s „Geschäft“ dreht, hatte keine Zeit, sich um einen jungen Mann zu kümmern, dem kein Ruf vorherging. Es öffnete sich gastlich keine Thür, kein befreundeter Heerd nahm ihn auf, und dem hoffnungsreichen, aber völlig mittellosen Dichter – sein Ränzlein war so bescheiden, als je ein armer deutscher Akademiker solches getragen – blieb nichts übrig, als in einem Oberstübchen des Thomaskirchhofes seinen Musentempel aufzuschlagen.

War aber auch sein Ränzlein leicht und unscheinbar, so ruhten gleichwohl unbezahlbare Schätze darin, und der glückliche Dichter glaubte, wie der französische Soldat, seinen Marschallstab im Tornister zu tragen. Es waren die unterschiedlichen Manuskripte, die er von Prag mitgebracht, und er gab sich gern der frohen Hoffnung hin, die ja ein Erbtheil junger Autoren, daß sich die Leipziger Buchhändler um Acquirirung dieser werthvollen Manuskripte jedenfalls über das Schnupftuch schießen würden.

Die Buchhändler schossen sich aber nicht, sondern schickten, Einer nach dem Andern, Mancher vielleicht ohne einen Blick hineingethan zu haben, die für den Dichter so schätzbaren belletristischen Arbeiten zurück. Das hatte er nicht erwartet. Für so verblendet hatte er den Leipziger Buchhandel, der doch so viel druckt, nicht gehalten. Wie oft stieg er in jener Zeit, das Herz voll Wehmuth und den Kopf voll Sorgen, die dunkle Stiege hinab zum benachbarten Schweizerbäcker Kintschy, um sein Herzeleid in einer Tasse Mocca oder einem Gläschen Parfait d’amour zu versenken! Eine Hoffnung nach der andern schwand, ein Regenbogenstrahl nach dem andern erlosch, eine Illusion nach der andern zerrann vor der herben Wirklichkeit.

Nur zu bald erkannte unser Dichter, daß es selbst in der Metropole des Buchhandels, und obschon daselbst Tausende von Büchern gedruckt werden, mit lohnender Schriftstellerei seine nur zu großen Schwierigkeiten habe; und so blieb, nachdem alle Versuche, ein Manuskript an den Mann zu bringen, vergebens gewesen, ihm, der später selbst manchem Abschreiber zu verdienen gegeben, um nur den bescheidensten Lebensunterhalt zu erschwingen, nichts übrig, als selbst – Abschreiber zu werden. Ein Leipziger Gelehrter gewährte solch kärglichen Verdienst, indem er ihm Manuskript zur Reinschrift gab.

Indeß sollte diese Prüfungszeit für unsern Herloßsohn nicht von allzulanger Dauer sein. Ein untergehendes Gestirn am damaligen belletristischen Himmel ward für ihn zum Glücksstern. Es war dies der bekannte H. Clauren (Carl Heun). Die süßliche Manie und Unnatur der „Mimilis“ und der „Tausendsappermentsmädels“ neigte sich ihrem Ende zu. Wilhelm Hauff mit seinem jene Manie persiflirenden „Mann im Monde“ führte den ersten schweren Schwertschlag, und Herloßsohn mit seiner eine gleiche Tendenz verfolgenden „Emmy, oder des Schicksals Wege sind des Schicksals Stimme“ setzte das Geschäft mit Glück fort. Da Herloßsohn gleichfalls den Namen Clauren (Heinrich Clauren) dazu benutzte, fand sich bald ein Verleger.

Der Name dieses zweiten falschen Demetrius ward aber bald bekannt, und so hatte der gelungene Wurf auch das Gute, daß man auf Herloßsohn’s glückliches Erzählungstalent aufmerksam wurde, und aus dem Bogenschreiber für zwei gute Groschen entpuppte [652] sich zwar bald wieder ein Bogenschreiber, nur daß sich die Sache hundertfach besser lohnte.

Bereits nach zwei Jahren sehen wir unsern Freund in ganz behaglichen Verhältnissen an schönen Sommernachmittagen im Schweizerhäuschen des Rosenthales, im Kreise von Freunden, deren er sich durch seine joviale Laune bald in Menge erworben hatte, sein Gläschen Grog schlürfend und von Zeit zu Zeit mit einem Operngucker, seinem steten treuen Begleiter, die anwesenden Frauen und Mädchen musternd.

Die glücklichste Periode seines Lebens begann unstreitig mit der Gründung des „Kometen“, eines belletristischen und für die damalige Zeit ziemlich freisinnigen Blattes, obschon das erste Jahr durch Mißhelligkeiten mit dem ersten Verleger getrübt war. Der Komet trat mit dem Jahre 1830 in’s Leben und wurde in Altenburg gedruckt, wo die Censur weniger streng war, als in der Stadt der deutschen Befreiungsschlacht und der Musen. Die pikante Weise, in der das Blatt geschrieben war, fand überall Freunde. Mit ihm zugleich erschien ein satirischer Band unter dem Namen „Hahn und Henne“, der aber weniger ansprach, da er nur die Schattenseiten des gesellschaftlichen Lebens behandelte. Nachdem der Roman „der Venetianer“ den Reigen eröffnet, folgte „der Ungar“ und diesem nun von Jahr zu Jahr, in fast ununterbrochener Reihenfolge, die übrigen bekannten historisch-romantischen Gemälde.

Als Lyriker hat Herloßsohn manch schönes inniges Lied gesungen. Viele seiner metrischen Dichtungen sind componirt, und außer einigen gefälligen Trinkliedern ist besonders das „Wenn die Schwalben heimwärts ziehn“ in’s Volk gedrungen. Viel Freude machte es dem Dichter, wenn zu Messenszeiten dieses Lied von den Preßnitzer Jenny Linds zum Besten gegeben wurde, und er bedachte dann stets reichlicher das umherwandelnde Notenblatt. Und dieses Lied war durch einen reinen Zufall in die Hand des Componisten gelangt, der es berühmt machte. Der Leipziger Schriftsteller hatte an F. Abt ein Paket Bücher zu schicken und benutzte als Umschlag zufällig die Kometennummer, worin das Lied zum ersten Male abgedruckt war. Die einfachen Verse sprachen den Componisten in einem Grade an, daß er sofort die Melodie dazu schuf, die bald die Reise um die Welt machte.

Herloßsohn war nie verheirathet, obschon er, wie seine erotischen Dichtungen hinreichend darthun, ein großer Verehrer des schönen Geschlechts war. So kam denn seine ganze freie Zeit und gute Laune allein seinen Freunden zu gute, die er im Hause oder an der Wirthstafel aufsuchte. Hier sprudelte sein harmloser, nie verletzender Witz mit seltener Unermüdlichkeit, und seinem Anekdotenschatze ward Gelegenheit, sich in seinem ganzen Reichthums zu zeigen.

Zu den vertrautern Bekannten unsers Herloßsohn gehörten eine Reihe von Jahren der liebenswürdige Componist des „Czar und Zimmermann“, Albert Lortzing und der beliebte Baßbuffo Berthold. Man sah die Drei oft beieinander, zuweilen auch bei einem Fläschchen Scharlach- oder Johannisberger in einer der bekannten Leipziger Weingrüfte. Der heiterste Scherz wechselte da mit den ernstesten Stimmungen, da die zwei Letztgenannten mit den grauen Sorgen des Lebens nur zu schwer zu kämpfen hatten. Wenn diese Drei, die der Himmel so reich mit Talenten und Liebenswürdigkeit gesegnet hatte, zusammensaßen, dann sammelte sich rasch ein größeres Publicum um sie und Alles horchte ihrer geistreichen und immer anregenden Unterhaltung. Es war ein seltenes Kleeblatt aus der Musenwelt: der sinnige reichbegabte Dichter, der tüchtige Opernsänger und Schauspieler und der liederreiche Componist – der Schöpfer von „Czar und Zimmermann“, des „Wildschützen“ etc. etc.

Zur Ruhe, zu jener abgeklärten Abgeschlossenheit und künstlerischem Stillleben, wie sehr er sich oft danach sehnte, konnte Herloßsohn indeß nie gelangen. Es ist darum ein Räthsel geblieben, wann er überhaupt seine zart empfundenen und sauber geformten Lieder gedichtet. Seine Wohnung, zugleich sein Redactionsbüreau, ward nicht leer von Mitarbeitern, Schauspielern etc., die alle den damals mächtigen Schriftsteller um seine Fürsprache baten. Der Komet war zu jener Zeit das gelesenste Wochenjournal und Alles geizte nach einer Erwähnung in die Spalten dieses Blattes.

Einmal nahm der störende Besuch in solchem Grade überhand, daß sich unser Freund in seiner Verzweiflung nicht anders zu helfen wußte, als daß er sich nach Baiern flüchtete, nicht in das Bierland, sondern nach Hotel de Baviere [WS 1], wo er sich für seine „anatomischen Leiden“, die damals fertig werden mußten, nach dem Hofe hinaus ein einsames, selbst für den Pedell unergründliches Stübchen gemiethet hatte. Ein ähnliches Asyl gewährte ihm später der Buchhändler Taubert, für den er einen Roman schrieb. Hier saß er in einem Stüblein, dessen Fenster nach einem Sackgäßchen hinausging; und um ihn vor etwaigem Besuche möglichst zu schützen, hatte Madame Taubert die Vorsicht getroffen, die Thür mit einem vorgelegten Plattbrete zu verbarrikadiren und selbst plattend Wache zu halten. Das schlagbaumartige Plattbret mußte erst aufgehoben werden, ehe man zu Herloßsohn gelangen konnte, was natürlich nur in den außerordentlichsten Fällen und den intimsten Freunden verstattet war.

Zur Zeit der Ostermesse erreichte der Tumult auf dem Bureau des Kometen den höchsten Grad. Zu den instädtischen schönen Geistern gesellten sich auch noch die ausländischen, von denen jeder glaubte, dem beliebten Herloßsohn seinen Besuch abstatten und seine Bekanntschaft machen zu müssen. Letztern schlossen sich dann die Löwenbändiger, Feuerfresser, Reitkünstler und sonstigen Beherrscher des Roßplatzes an, die alle den geplagten Redacteur um eine Empfehlung im Kometen bestürmten. Herloßsohn in seiner überaus großen Gutmüthigkeit vermochte kein derartiges Gesuch abzuschlagen, sobald aber Petent das Zimmer verlassen, fluchte ihm der Besitzer desselben über alle Maßen nach.

Herloßsohn’s Witz und Schlagfertigkeit waren allbekannt und es existiren darüber eine Masse der prächtigsten Anekdoten. So hatte der Besitzer des Hotel de Pologne zu einer Messe die Säle seines Hauses neu decoriren lassen und Alles freute sich der geschmackvollen Einrichtung. Nur ein paar Berliner Kaufleute, die in Geschäften zur Messe anwesend, fanden sich in Betracht ihrer heimischen Etablissements keineswegs befriedigt und sprachen in vielfacher Beziehung ihren Tadel aus. Herloßsohn, der an der Table d’hôte in nächster Nähe saß, erwiderte kein Wort. Endlich wandte sich einer dieser Meßfremden an den Dichter selbst.

„Sagen Sie mal,“ schnarrte er, „man hat uns so viel von der noblen Einrichtung dieser Säle erzählt – wir sehen aber nichts Besonderes und auch das Publicum, namentlich die Frauen, scheinen uns nicht zur Noblesse zu gehören.“

„Nein,“ sagte Herloßsohn ganz trocken, „zur Noblesse gehören diese nicht. Es sind die Frauen der Meßfremden.“

Der Berliner sagte kein Wort mehr.

Gern liebte es Herloßsohn, wenn er im heitern Kreise seiner Bekannten saß, die ihm zunächst Sitzenden durch taschenspielerische Scherze zu necken. Namentlich that er sich auf seine Escamotage viel zu Gute, und eh’ man sich’s versah, hatte man eine fremde Tabaksdose, ein Cigarrenetui, einen Fidibusbecher in der Tasche. An einem heißen Sommertage speiste Verfasser dieses mit Herloßsohn im Hotel de Baviere. Zu Herloßsohn’s Linken saß ein etwas zudringlicher, aber sonst gutmüthiger Bewundrer seiner Muse, dem indeß die neckenden Liebhabereien des Dichters weniger bekannt waren. Herloßsohn benutzte diese Unschuld und prakticirte aus dem neben ihm stehenden Eiskühler ein Stück Eis nach dem andern geschickt in die Fracktasche seines Bewundrers. Er rieb sich vergnügt die Hände, als ihm die Escamotage vollständig gelungen; denn als wir bald darauf mitsammen die Petersstraße entlang gingen, begann das schmelzende Eis seine hydraulischen Belustigungen aus dem Frackschooße und ließ eine eigenthümliche Wasserspur hinter dem Bewundrer der Herloßsohn’schen Muse zurück. Der Betreffende wollte aus der Haut fahren, als er den durchweichten Zustand seiner Tasche visitirte, während sich der Escamoteur vor Lachen die Thränen aus den Augen trocknete.

Von Herloßsohn’s überaus großer Herzensgüte nur ein Beispiel. Ich ging mit ihm eines Sonntagnachmittags aus dem Rosenthale nach der Stadt zurück. Viel geputzte Spaziergänger kamen uns entgegen. Da entstand am Ufer der Pleiße plötzlich ein Auflauf. Ein paar Jungen hatten einen kleinen Hund in’s Wasser geworfen. Angstvoll kämpfte das arme Thier mit den Wellen. Herloßsohn vermochte dies nicht anzusehen, und eh ich mir’s versah, spang er trotz seiner schneeweißen Sommerbeinkleider in’s Wasser und rettete das gequälte Thier. Wir mußten einen Umweg machen, um so unbemerkt wie möglich Herloßsohn’s Wohnung zu erreichen, wo sich der thierfreundliche Retter umkleidete.

Bei Herloßsohn’s ungemeiner Gutmüthigkeit – er hat nie einen Bittenden abgewiesen – war es kein Wunder, wenn trotz der schönen Honorare seine finanziellen Verhältnisse nie recht zu einem ersprießlichen Gedeihen gelangen wollten. So lange die [653] fixirte monatliche Kometeneinnahme anhielt, mochte es gehen; als aber in Folge der Strömung einer neuen politischen Zeit das betreffende Journal einging, war der zeitherige Redacteur lediglich auf den Erwerb durch Romanschriftstellerei angewiesen.

Von hier beginnt unstreitig die trübste Periode in dem Leben unsers Dichters, da sich zu den Sorgen für die Existenz auch noch zunehmende Kränklichkeit gesellte, wodurch Muse und Schaffungskraft in hohem Grade beeinträchtigt wurden. In diese Zeit fällt auch ein Brief Saphir’s aus Wien, welcher unsern Freund auf das Allerschmerzlichste verwundete; wahrscheinlich weil der kranke Mann die darin allerdings sehr rücksichtlos ausgesprochene Wahrheit im Stillen doch anerkennen mochte. Saphir hatte nämlich in dem Briefe ein sehr demüthigendes, ja verletzendes Urtheil über Herloßsohn ausgesprochen, das mit den lieblosen Worten schloß: „werft ihn zu den Todten“, und der Briefempfänger war abscheulich genug gewesen, dieses Schreiben in des bereits kränkelnden Schriftstellers Hand gelangen zu lassen.

Ein Kleeblatt aus der Musenwelt.
Herloßsohn. Berthold. Lortzing.

Er war, wie gesagt, tief, tief gebeugt, als ich ihn eines Tages besuchte. „Da lies einmal,“ sprach er mit matter Stimme, „was der Saphir schreibt,“ und gab mir dies lieblose Schreiben. Ich war tief empört, mehr über die unglückselige Dienstfertigkeit des angeblichen Freundes, als über Saphir, der gewiß keine Ahnung gehabt, daß sein Schreiben je Herloßsohn zu Gesicht kommen werde. Das Halsübel unseres Freundes nahm indeß von Woche zu Woche zu und die Erwerbfähigkeit immer mehr ab; die Sorgen um des Leibes Nahrung und Nothdurft wurden immer drückender. Die Opferwilligkeit von des Dichters zahlreichen und darunter sehr begüterten Freunden mußte wiederholt in Anspruch genommen werden; aber was stumpft wohl leichter ab als Wohlthätigkeitssinn! Wenn ich in damaliger Zeit nach Leipzig kam, war stets mein erster Gang zu dem alten Freunde. Ich sprach ihn das letzte Mal im Spätherbst 1849. Er saß matt und mit erloschnen Augen im Sopha seines Erkerzimmers in der Hainstraße. Auf meine teilnehmende Anfrage erwiderte er: „Es geht schlecht, recht schlecht,“ und mit bitterm Lächeln fügte er hinzu: „sieh mal, wie das Schicksal ironisch mit mir spielt. Was hab’ ich mich jahrelang gesehnt, einmal weit ab von dem wüsten und betäubenden Stadtlärm in freundlicher ländlicher Abgeschiedenheit recht ungestört arbeiten zu können nach Herzenslust – jetzt schreibt mir der K…[1], ich soll zu ihm ziehen, er will mir ein freundlich Stüblein einräumen, im Frühling und Sommer mit erquicklicher Aussicht in’s Grüne; ich soll für nichts zu sorgen haben, um recht ungestört arbeiten zu können, und nun bin ich so schwach.“

Ich tröstete so viel ich konnte und schied mit tiefer Wehmuth im Herzen von dem alten Freunde.

Kurze Zeit darauf erhielt ich die Nachricht, daß derselbe ins Krankenhaus aufgenommen und wenige Wochen später gestorben sei. In allen Blättern, welche die Todesnachricht brachten, sprach sich die große Liebe aus, die der Dichter im Leben genossen. Sehr wahr hat ihn damals Ernst Keil im Leuchtthurm in einem kurzen Nachruf charakterisirt:

[654] „Herloßsohn, der gute, allbekannte, herzliche Herloßsohn ist schlafen gegangen. Was er als Romanschriftsteller, als Novellist und Dichter war – und wahrlich, er war keiner der schlechtesten im liederreichen Deutschland – das kritisch auseinanderzusetzen, überlassen wir den Literaturblättern und belletristischen Journalen. Aber er war mehr als ein Dichter, er war ein guter Mensch im schönsten und höchsten Sinne des Wortes, ein Gemüth, wie es in der kalten Welt jetzt seltener und immer seltener wird. Er kannte nur ein Streben, und das hieß: helfen und immer wieder helfen! Wo die Armuth hungerte oder das Unglück weinte, wo es einen herabgekommenen Schriftsteller oder eine darbende Familie zu unterstützen gab, einem zugereisten Künstler aus der Noth zu helfen, da war Herloßsohn dabei, und wenn er selbst keinen Groschen mehr besaß, dann lief er umher bei seinen wohlhabenden und reichen Freunden und bettelte, bis er geholfen und die Noth gehoben. Er hat Tausende im Leben verschenkt, hat tausend und abertausend Thränen damit getrocknet, und er selbst ist arm, bettelarm gestorben im Spital! – Ein deutsches Dichterleben!“ –

Ich selbst habe die nachfolgenden Zeilen auf seinen Grabeshügel niedergelegt:

Und als der Herbst kam trüb daher gegangen,
Vom Baume fiel das letzte Blatt,
Da grub auf Sanct Johannis wieder man ein Grab.
Und in der Erde dunkeln Schrein
Da senkte man mit stiller Wehmuth ein
Ein treu Gemüth, ein treues Blut,
Gar liebevoll und kindlich gut,
Und einen liederreichen Mund,
Voll ernster Rede, heitern Scherz,
Doch eine Perle war sein Herz.
Ach, dem man damals grub ein Grab,
Mit Freuden wohl sank er hinab,
Denn keine Rose wollte ihm mehr blühn,
Und keine Freude war ihm mehr verliehn –
Drum mußt’ er „heimwärts mit den Schwalben ziehn.




Die Wohlthäterin der Frauenwelt.


Jede Erfindung ist mehr ein Product der Zeit, als eines einzelnen Geistes. Daher kommt es denn auch, daß gemeinhin eine industrielle Erfindung mehrere Urheber zugleich hat. Man denke nur an die Telegraphie! Nicht weniger als neunzehn Namen machen Anspruch auf die Ehre dieser Errungenschaft unserer Zeit, und erst neulich ist in diesen Blättern diese geistige Großthat für einen Deutschen in Anspruch genommen worden. Ebenso ist es mit derjenigen bedeutsamen Erfindung, welcher diese Zeilen gewidmet sind, mit der Nähmaschine. Sie ist ein echtes Kind der Zeit, und unzählbar sind die Namen alle, welche mit ihrer Erfindung, Verbesserung und Vervollkommnung verknüpft sind. Als in der Industrie das Bedürfniß gekommen war, Näharbeit schneller und bequemer als bisher anfertigen zu können, da ließ auch die Nähmaschine nicht lange auf sich warten. Es ist kein Zweifel, daß, wenn schon ein halbes Jahrhundert früher eine Maschine, mit welcher genäht werden könnte, ein Bedürfniß gewesen wäre, schon ein halbes Jahrhundert früher die Menschheit mit dieser neuen schönen Erfindung beglückt worden wäre. Jeder, welcher den einfachen Mechanismus der Nähmaschinen kennt, wird zugestehen müssen, daß die mechanischen Wissenschaften und Fertigkeiten schon vor fünfzig Jahren hingereicht hätten, um Nähmaschinen anzufertigen, wie wir sie jetzt besitzen.

Der Antheil, welchen die Nähmaschine, wenn sie sich erst genügend verbreitet, an der Vergrößerung des nationalen Wohlstandes haben wird, ist nicht gering. Ich spreche nicht von den Vortheilen, welche deutsche Unternehmer durch die neu geschaffene Industrie der Nähmaschinen-Fabrikation gezogen haben; ich spreche auch nicht von dem allgemeinen Nutzen, welchen die Nähmaschine durch Herabsetzung des Preises der auf ihr gefertigten Artikel dem Publicum gebracht hat: ich richte die Aufmerksamkeit einzig und allein auf denjenigen Einfluß, welchen die Nähmaschine auf die Lage der Arbeiterfamilien auszuüben im Stande ist. Durch eine immer größere Ausdehnung der Klein-Industrie, in welcher namentlich die Frauen eine ihnen angemessene Beschäftigung finden, sucht man jenes schwierige sociale Problem seiner Lösung nahe zu bringen. Und hierbei spielt denn die Nähmaschine eine nicht hoch genug anzuschlagende Rolle.

Es wäre überflüssig, den Lesern und Leserinnen der Gartenlaube das Bild einer Nähmaschine zu entwerfen. Wer hätte heutzutage noch keine Nähmaschine, noch nicht auf einer Nähmaschine arbeiten sehen? Wer kennte nicht alle die vorzüglichen Eigenschaften dieses Instruments, und wer wüßte nicht, wie unschätzbar es gerade in den Händen der Frauen ist? Denke man sich eine Nähmaschine in der Stube einer Arbeiterfamilie aufgestellt: in einer Ecke des Zimmers, dem Fenster nahe, nimmt sie nur wenige Quadratfuß Raum ein; die an ihr arbeitende Frau übersieht mit jedem Blick, welchen sie von ihrer Arbeit wegwendet, ihre ganze Wirthschaft; jeden Augenblick kann sie das Nähen unterbrechen, um dies oder jenes Bedürfniß der Ihrigen zu erfüllen. Die Arbeit ist weder körperlich anstrengend, noch den Geist ermüdend; sie bietet im Gegentheil den Gliedern eine heilsame Bewegung, und die Aufmerksamkeit, welche die Arbeiterin einzig und allein auf den schnellen Fortgang der Naht zu richten hat, ist geeignet, den Geist frisch und lebendig zu erhalten. – Die großen Vortheile, welche die Nähmaschine als ein Werkzeug für die Klein-Industrie in den Händen der Arbeiterfrauen bietet, liegen somit zu klar zu Tage, als daß es einer genauern Auseinandersetzung derselben bedürfte. Es sei darum nur noch gestattet, Einiges über die verschiedenen Systeme von Nähmaschinen zu sagen und über den verschiedenen Standpunkt, welchen dieselben in der Nähindustrie einnehmen.

Jedes der bis jetzt erfundenen Systeme von Nähmaschinen hat einen gewissen Kreis der Wirksamkeit, in welchem es sich am besten bewährt. Das eine System ist das praktischste zur Ausführung von Verzierungsarbeiten, ein anderes liefert die besten Befestigungsnähte; die Maschinen des einen Systems finden ihren besten Platz in den Werkstätten, welche die festesten Stoffe, wie Leder etc. verarbeiten, die eines andern Systems sind wieder passend zum Gebrauch in der Familie.

Die drei verschiedenen Hauptsysteme unterscheiden sich dadurch wesentlich von einander, daß sie verschiedene Nähte liefern. Durch eine nähere Betrachtung der Nähte, d. h. durch Würdigung dessen, was die Maschinen hervorbringen, gelangt man also schon zu einer Würdigung der drei verschiedenen Systeme. Die erste, einfachste, aber auch mindest werthvolle Naht ist die unsern Handarbeiterinnen schon längst vor Erfindung der Nähmaschinen bekannte Tambourirnaht, auch Kettennaht genannt, weil der Faden eine Reihe von ineinander geketteten Stichen bildet. Diese Naht ist eben nur zu erwähnen; denn unsere Näherinnen wissen recht gut, daß sie sich allzuleicht löst und nicht als eigentliche Befestigungsnaht angesehen werden kann. Sie ist ihrer Natur nach eine Ziernaht und die Kettenstichmaschinen können deswegen nur in den einzelnen Fällen, wo blos Zierarbeit verrichtet werden soll, in der Klein-Industrie verwendet werden. Der Kreis der Anwendbarkeit dieser Naht ist im Verhältniß zu den andern nur ein kleiner. Als eine Vervollkommnung dieser Naht kann die Doppelkettennaht angesehen werden. Dieselbe erfüllt den Zweck einer Ziernaht in erhöhtem Maße, indem die hier aus zwei Fäden geschlungene Kette wie eine auf schönste Weise verzierende Schnur auf dem Stoffe sich hinzieht, und bietet zugleich den Vortheil einer größern Festigkeit. Der Kreis ihrer Anwendbarkeit ist daher ein bei weitem größerer; wo geschmackvolle und in die Augen fallende Verzierung und zugleich ein etwas höherer Grad von Festigkeit verlangt wird, ist diese Nahtart an ihrem Platze. Werfen wir nur einen flüchtigen Blick auf die Gründe, welche dieser Doppelkettennaht den Grad der Festigkeit versagen, den wir nachher bei der dritten zu besprechenden Naht antreffen.

Die Doppelkettennaht setzt sich aus zwei Fäden zusammen; der eine obere Faden dringt Stich für Stich durch den Nähstoff hindurch und bildet an der untern Seite desselben Schleifen, welche sich gegenseitig mit den Schlingen des untern Fadens binden, der selbst nicht in den Nähstoff dringt. Die Befestigung des Stichs findet also nur an der untern Seite des Nähstoffs statt, wo sich auch die aus Schlingen des untern und obern Fadens entstandene Kette oder Schnur bildet. Diese Schnur, welche desto dicker aufliegt,

[655] liegt, je stärker der zum Nähen verwendete Faden ist, hat den Nachtheil, daß sie beim Tragen der Kleidungsstücke der Abnutzung sehr unterworfen ist. Die beistehende Figur

zeigt das Schema einer solchen Naht; es ist leicht ersichtlich und klar, daß ein Zug an dem Ende des untern Fadens die ganze Reihe von Befestigungen und Schlingen auflöst und daß ein zweiter Zug an dem Ende des obern Fadens auch diesen aus dem Nähstoff herauszieht. Die Naht ist also immerhin eine aufzulösende, wenn sie auch mehr Dauerhaftigkeit besitzt, als die oben erwähnte einfache Kettennaht. Die amerikanische Fabrik von Grover und Baker ist die Repräsentantin des Systems der Doppelkettennaht. An Festigkeit und Dauerhaftigkeit unübertroffen, selbst nicht von irgend einer Art der Handnaht, ist die auf der Nähmaschine angefertigte Doppelsteppnaht. Unsere Abbildung

stellt das Schema dieser Naht dar, und es ist schon daraus leicht ersichtlich, welche gute Eigenschaften dieselbe besitzen muß. Wir bemerken zuvörderst mit Wohlgefallen, daß das Aussehen der Naht auf beiden Seiten des Nähstoffs dasselbe ist. Wir können, wenn die Naht fertig ist, nicht mehr bestimmen, welche Seite des Stoffes als oben und welche als unten behandelt worden ist. Dies ist der erste Vortheil, welchen die Doppelsteppnaht vor den beiden andern Maschinennähten, ja selbst vor den meisten Handnähten voraus hat. Ein zweiter Vortheil, welcher gerade vom Standpunkte der Arbeiterfrau als ein sehr erheblicher betrachtet werden muß, ist der geringe Garnverbrauch, welchen die Doppelsteppnaht erheischt; man kann den Garnverbrauch einer Doppelkettennaht ungefähr auf das Doppelte dessen der Doppelsteppnaht schätzen. Macht man sich einen richtigen Begriff von der Leistungsfähigkeit einer Nähmaschine überhaupt, so wird man die Bedeutung würdigen können, welchen diese Kostenersparniß der Doppelsteppstich-Maschinen für die Arbeiterinnen hat. Das Ansehen der obigen Figuren allein giebt schon die Ueberzeugung von der Richtigkeit dieser Thatsache, ebenso davon, daß die Doppelsteppnaht die andere an Festigkeit, Dauerhaftigkeit und Unauflöslichkeit übertreffen müsse. Der obere und der untere Faden der Naht verschlingen sich, wie man sieht, mitten im Stoff selbst und es ist unmöglich – ist die Naht gut und regelrecht gebildet – durch Zug an dem obern oder untern oder an beiden Fäden zugleich die Naht zu lösen, ebensowenig wie dies bei der Handnaht geschehen kann. Es ist unglaublich, wie sehr die Unkenntniß dieser einzigen Thatsache der Einführung und allgemeinen Verbreitung der Nähmaschinen geschadet hat. Das Vorurtheil ist durch die Einführung der Kettenstich-Maschinen geweckt worden und hat bis zum heutigen Tage auch in Betreff der Doppelstepp-Maschinen bei einem Theile des Publikums nicht zerstört werden können. „Wenn sich ein Stich in der Naht löst, so löst sich die ganze Naht“ – dies ist das Evangelium, auf welches alle Gegner der Nähmaschine schwören, mögen sie dies nun aus eigenem falschen Vorurtheil thun, oder um falsche Vorurtheile zu wecken. Es kann nicht oft genug wiederolt werden: die auf der Nähmaschine angefertigte Doppelsteppnaht besitzt alle Eigenschaften der Schönheit und Festigkeit, welche man überhaupt von einer Naht verlangen kann. Der Kreis ihrer Anwendbarkeit und Brauchbarkeit bei allen Arten Näharbeit ist deswegen der ausgedehnteste. Alle Arten von Stoffen, von den dünnsten bis zu den dicksten, von den weichsten bis zu den härtesten, von den biegsamsten bis zu den starrsten, von den lockersten bis zu den festesten, können auf den Doppelsteppstich-Maschinen mit größter Leichtigkeit und Bequemlichkeit verarbeitet werden.

Die Maschinen, welche die Doppelsteppnaht anfertigen, zerfallen wieder für sich in zwei verschiedene Classen: wir bezeichnen die eine als das System mit dem Weberschiffchen, die andere als das System mit der Spule. Das erstere, welches wirklich mit einer Art bei jedem Stiche hin- und herschießenden Weberschiffchens arbeitet, hat die Eigenthümlichkeit, daß seine Maschinen bei langsamerem Gange die allerstärksten Stoffe, bis zum festesten Sohlenleder, mit einer ebenso festen Naht zu versehen im Stande sind; die amerikanische Fabrik von Singer und Comp. ist die Repräsentantin dieses Systems. Das zweite System, welches statt des hin- und herschießenden Schiffchens eine feststehende Spule auszuweisen hat, ist dadurch charakteristisch, daß seine Maschinen das Maximum der Schnelligkeit zu erreichen im Stande sind. Die Fabrik von Wheeler und Wilson, ebenfalls in Amerika, vertritt dieses System. Diese Maschinen bewältigen Nähstoffe aller Art mit einer Schnelligkeit und Sauberkeit, welche alle Begriffe übersteigt. Man muß das Auf- und Absteigen der Nadel, welches so schnell geschieht, daß man mit den Augen nicht mehr folgen kann, muß die Reihe unzähliger Stiche von genauester Gleichheit, Regelmäßigkeit und Vollkommenheit gesehen haben, um nur die Möglichkeit einer solchen Leistungsfähigkeit glauben zu können.

Die Wheeler- und Wilson-Maschinen sind die eigentlichen Maschinen der Klein-Industrie, und auf diese haben wir deswegen hier unser besonderes Augenmerk zu richten. In allen kleineren und größeren Werkstätten, welche sich mit der Fabrikation von Weiß- und Bettzeug, Herren- und ganz besonders Damenkleidern, Manschetten, Handschuhen etc. etc. beschäftigen, sieht man diese geräuschlose und geschwinde Näharbeiterin unter der Aufsicht von jungen Mädchen oder Frauen ihr Tagewerk verrichten. Dies ist das eigentliche Werkzeug, welches in den Händen der Arbeiterfrauen eine Wohlthat für die Arbeiterfamilien zu werden verspricht.

Ich kann nicht umhin, noch eines Einwurfs zu gedenken, welcher schon so oft bei Einführung neuer Maschinen gemacht und ebenso oft durch die Erfahrung widerlegt worden ist. Man hat gesagt: wenn die Näharbeit vor Einführung der Nähmaschine die Hälfte aller in der Industrie überhaupt beschäftigten Frauen in Anspruch genommen hat und wenn die Nähmaschine unter der Aufsicht einer Arbeiterin so viel leistet, wie fünf Näherinnen ohne Maschine, so ist die Nähmaschine als ein Unglück für die arbeitende Frauenwelt anzusehen, denn sie macht zwei Fünftel aller Arbeiterinnen entbehrlich und also brodlos. Wie grundlos ist dieser Einwurf! Durch die Einführung der Nähmaschine hat sich die Anzahl der Näherinnen keineswegs vermindert, im Gegentheil – vermehrt; denn die Nachfrage nach Arbeit ist dadurch ganz enorm gesteigert worden. Arbeitet die Nähmaschine auch fünf Mal schneller als die Menschenhand, so giebt es doch vielleicht jetzt zehnmal so viel zu nähen als früher. Das Feld der Frauenarbeit hat sich vergrößert und ein Theil der Arbeiterinnen ist nicht nur nicht brodlos geworden, sondern kann jetzt mit Hülfe der Nähmaschine so viel und mehr verdienen, als dies vorher durch die verderbliche Beschäftigung in den Werkstätten der Groß-Industrie möglich war. Und welcher Unterschied ist erst zwischen dem Verdienst, den eine gewöhnliche Handnäherin zu erzielen im Stande ist, und demjenigen, welchen eine Maschinennäherin erreicht! Die letztere, selbst wenn sie außerhalb einer Familie für sich allein lebt, wenn sie einzig und allein auf den Ertrag ihrer Arbeit angewiesen ist, sichert sich durch die Nähmaschine eine wenn auch nicht glänzende, so doch sorgenlose und anständige Existenz; erstere aber ist nicht im Stande, sich nur kümmerlich das Leben zu fristen, wenn sie nicht als Glied einer Familie lebt und so im Verein mit Andern den gemeinsamen Lebensunterhalt miterwerben hilft. Zu alledem aber kommt noch, daß, während die Handnäharbeit den allerschlimmsten Einfluß auf den Gesundheitszustand der Arbeiterinnen ausübt, die Arbeit an der Nähmaschine der Gesundheit keineswegs nachtheilig ist. Es wäre wünschenswerlh, statistisch festzustellen, ein wie großer Theil der Handnäherinnen mit der Zeit ein Opfer von Augenübeln, Schwindsucht und allen möglichen Krankheitsformen werden, die sich aus einer Augen, Brust und Rücken anstrengenden Arbeit herleiten, um danach den günstigen Einfluß auf den Gesundheitszustand der Arbeiterinnen bemessen zu können, welchen die Nähmaschine ausübt. Und so läßt sich noch eine ganze Reihe nebensächlicher Vortheile aufführen – auch wenn man ganz von den wohlthätigen Einflüssen absieht, welche die Nähmaschine auf das Familienleben selbst der gebildeten und wohlhabenden Classen der Gesellschaft auszuüben im Stande ist. Die Nähmaschine ist und bleibt eine Erfindung von der größten und segensreichsten Bedeutung, die Wohlthäterin der Frauenwelt.
R. H. 
[656]
Blätter und Blüthen.

Ein neuer Industriezweig. In der „Hermannstädter Zeitung, vereinigt mit dem Siebenbürger Boten“ vom 28. Juli l. J., Nr. 178 – schreibt uns ein Abonnent der Gartenlaube – ist unter den Annoncen Folgendes zu lesen: „Zur Beachtung. Personen, den besseren Ständen angehörend, ist Gelegenheit geboten, sich mit wenig Mühe einen sichern und rentablen Nebenverdienst zu verschaffen. Gefällige frankirte Offerte beliebe man unter der Chiffre R. S. 12 poste restante Frankfurt a. M. nebst Beischluß von 50 Neukreuzern zu richten.“

Auf eine mit 50 Neukreuzern versehene Anfrage erfolgte umgehend eine „lithographirte“ Antwort nachstehenden Inhalts: „Ew. Wohlgeboren! Frankfurt a. M., Datum des Poststempels. In höflicher Entgegnung Ihrer werthen Anfrage bezüglich der von mir erlassenen Annonce beehre ich mich, Ihnen Nachstehendes zu erwidern. Zur bessern Ausdehnung eines mercantilischen Unternehmens bedarf ich einer großen Anzahl Adressen solcher Personen, welche in ihren finanziellen Verhältnissen derart gestellt sind, daß selbige möglichen Falls eine kleine Ausgabe zu machen im Stande sind.

Es würde nun Ihre Aufgabe sein, derartige Adressen mit sorgfältiger Genauigkeit zu sammeln, deren Vor- und Zunamen, sowie den Wohnungsort nebst Angabe des Kreises oder Bezirks genau zu notiren und mir selbige zu übersenden. Selbstverständlich dürfen derartige Adressen in den bekannten Adreßbüchern nicht enthalten sein, da ich diese bereits zur Genüge besitze. Am erwünschtesten wären mir die Namen von gut gestellten Beamten, Gutsbesitzern, reichen Geschäftsleuten, wohlhabenden Bauersleuten, Fabrikanten, Geistlichen, Gewerbtreibenden etc. ic. Ebenso reflectire ich hauptsächlich auf solche Personen, die in kleineren Landstädtchen, Dörfern, Weilern oder Flecken wohnhaft sind, da von den größeren Städten ohnedies überall Adreßbücher existiren. – Ferner mache ich Sie noch darauf aufmerksam, daß von solch kleineren Plätzen nur höchstens 3–4 Personen verzeichnet sein dürfen.

Für Ihre Bemühungen würde ich Ihnen ein Honorar von Fl. 20. pr. mille aussetzen, und würde es mir angenehm sein, recht bald und recht oft Gelegenheit zu haben, Ihnen Baarsendungen übermachen zu können.

Hochachtungsvoll und ergebenst zeichnet
Rudolph Selle mp. 

Der hiesige Empfänger dieses lithographirten, somit für Viele vorräthigen Briefes sah die ganze Sache einzig und allein als „Schwindelei“ an, schrieb dies in kurzen bündigen Worten an den genannten R. S. 12“ und forderte denselben trocken auf, ihm die gesandten 50 Nkzr. sammt Postportoauslagen frankirt rückzusenden, weil er nicht gesonnen sei, unter solchen Verhältnissen auch nur einen Kreuzer zu verlieren. R S. fand den Brief, so kurz und einfach er auch war, „ungezogen“, schrieb aber einen noch „ungezogeneren“ und meinte, er sende die 50 Nkzr. nur auf eine anständige und manierliche Reclamation zurück. Zu seiner Rechtfertigung gab er an, daß er bereits eine „gewisse Anzahl Privatleute“ habe, die jährlich 1000 bis 1200 fl. auf die im obigen Briefe erwähnte Weise verdienen, und das wäre „folglich ein rentabler und sicherer Nebenverdienst“. Diesem entgegen haben wir nur zu bemerken, daß, wenn sich Jemand auf obige Weise 1200 fl. (20 fl. für das Tausend Adressen) verdienen wollte, er dem R. S. nicht weniger als 60,000 Namen Wohlhabender bekannt geben müßte, worunter aber kein Mann sein dürfte, der in irgend einem Adreßbuche vorkommt und aus Dörfern und Märkten etc. höchstens 3–4 Personen namhaft zu machen wären. Das ist doch schon das „Höhere“ der Industrie!

Da man voraussetzen muß, daß die „Hermannstädter Zeitung“ nicht die allein glückliche ist, welche mit der Annonce „Zur Beachtung“ bevorzugt wurde, so halten wir uns verpflichtet, unsere Landsleute von dieser neuen Art Besteuerung zu Gunsten eines Privatsäckels zu benachrichtigen und auf den Namen Rudolph Selle besonders aufmerksam zu machen, damit, seine ungeheuerlichen Anerbietungen nach ihrem wahren Werthe geschätzt werden.

Es wäre wünschenswerth, wenn auch andere Zeitungen noch von dieser Mittheilung Notiz nehmen und ihren Leserkreis auf diese neue Industrie (bei welcher R. S. für eine von ihm selbst angesuchte Gefälligkeit der Namennennung 50 Nkzr. im Voraus eincassirt!!) hinweisen würden.
J. B.     




Ein Primadonnenstücklein. Der Director des Theaters „della Scala“ in Mailand beschloß, die gerade in der Blüthe ihrer Kunst in Berlin sich aufhaltende Mme. Alboni für zwölf Vorstellungen zu engagiren. Er nahm Postpferde und reiste ab. In einem Dorfe nahe bei Innsbruck in Tirol zerbrach etwas am Wagen, und unser Impressario war zu einem unfreiwilligen Aufenthalte gezwungen. Mißmuthig geht er, während der Schmied sich beeilt den Wagen auszubessern, das Dorf entlang spazieren. Da hört er plötzlich aus einem der Berghäuser die schönste, frischeste, reinste und gefühlvollste Stimme von der Welt erschallen. Man denke sich sein Erstaunen! Er nähert sich und befindet sich bald dem Gegenstande seiner Aufmerksamkeit gegenüber. Die Sängerin war ein kräftiges, schönes Tirolermädchen von einem eigenthümlich feinen Anstand, das von drei kleinen ihm aufmerksam zuhörenden Kindern umgeben war. Er entschuldigt sich wegen der Unterbrechung und fragt, ob das Fräulein sich auf die Musik verstehe, oder ob alles soeben Gehörte reines Naturtalent sei. Das Tirolermädchen antwortet ihm, sie kenne auch die Musik. Augenblicklich zieht der Director einige Blätter aus der Regimentstochter, die er zufällig bei sich trug, aus seiner Tasche und bittet seine Sängerin, ihm einige Takte zu singen. Die Tirolerin lächelt und singt mit ebensoviel Anmuth als Kunstsinn und Genauigkeit. Der Director ist vor Entzücken außer sich.

„Mein Fräulein, ich war im Begriff nach Berlin zu reisen, um Mme. Alboni, die große europäische Berühmtheit, für mein Theater als Gast zu engagiren; da ich Sie fand, ist meine Reise unnütz, denn Sie ersetzen mir die Alboni; ich biete Ihnen 2000 Franken für jede Vorstellung und engagire Sie für zwölf.“

„Und wie viel hätten Sie Mme. Alboni geboten?“

„Mme. Alboni, das ist etwas Anderes, der hätte ich wenigstens 5000 Franken geben müssen; aber Fräulein, bedenken Sie, jene hat einen europäischen Namen, während Sie noch gänzlich unbekannt sind.“

„Vor einem Augenblicke sagten Sie mir, ich könnte Ihnen Mme. Alboni ersetzen, und deshalb verlange ich dieselbe Bezahlung, die Sie ihr bestimmten.“

„Das ist unmöglich, Fräulein, wollen Sie 3000 Franken?“

„Nein.“

„4000 Franken?“

„Nein.“

„So leben Sie denn wohl, weiter kann ich nicht gehen, denn da Ihr Name noch unbekannt ist, riskire ich Alles, Sie Nichts. Sie konnten das Glück Ihrer Familie und das Ihre machen, Sie stoßen es von sich, Adieu.“

Der Director kommt in Berlin an und erkundigt sich nach Mme. Alboni. Der Intendant antwortet ihm, Mme. Alboni sei auf drei Monate verreist und bringe die Saison bei ihrer Milchschwester auf dem Lande zu.

„Wo?“

„In Tirol.“

„In Tirol? Und wo da?“

„Im Dorfe N. zwei Stunden von Innsbruck.“

„Ich bin verloren!!“

Augenblicklich reist er ab, kommt nach Tirol zurück und findet sein Bauernmädchen.

„Madame,“ ruft er, „ich kenne Sie jetzt, Sie trieben das grausamste Spiel mit mir.“

„Ich? Hören Sie, mein Herr Director, da Sie mich nun kennen und da Sie so unklug waren, das erste beste Bauermädchen mir verziehen zu wollen, so erkläre ich Ihnen, daß ich gar kein Engagement mit Ihnen eingehe.“

Der Director verzweifelt, fällt ihr zu Füßen und erweicht nur nach langem Flehen und unter dem Versprechen von 6000 Franken für jede der zwölf Vorstellungen das Herz der Mme. Alboni. Beide reisten zusammen ab, doch ließ Mme. Alboni die Summe von 12,000 Franken den Kindern ihrer Milchschwester zurück.
R. L. 




Ein neuer Roman. „Leichtes Blut“ heißt ein dreibändiger Roman von A. Diezmann, der eben bei Costenoble in Jena erschienen ist und auf den wir die Leser nur aufmerksam machen, weil ein Urtheil darüber in einem Blatte, auf dem der Name des Verfassers steht, unpassend sein würde.


Soeben ist in erster und zweiter Lieferung erschienen und in allen Buchhandlungen vorräthig:

Das gesammte Turnwesen.
Ein Lesebuch für deutsche Turner,
enthaltend an 100 abgeschlossene Musterdarstellungen von den
vorzüglichsten älteren und neueren Turnschriftstellern,
gesammelt und herausgegeben von
Georg Hirth.
(mit den Bildnissen von Jahn, GutsMuths, Vieth, Eiselen, Spieß und Martens.

Es enthält dieses Werk, mit dessen Erscheinen einem längstgefühlten Bedürfnisse abgeholfen wird, in gediegener Auswahl und übersichtlicher Anordnung das Beste, was bisher von einem Arndt, Bock, Dürre, Eiselen, Gock, Georgii, GutsMuths, Jahn, Ideler, Kloß, Lion, Martens, Passow, Pestalozzi, v. Raumer, Spieß, Vieth, Waßmannsdorf u. v. a. über die Bedeutung und die verschiedenen Seiten der Leibesübungen, über das Schul- und Vereinsturnen, über Militär- und Heilgymnastik etc., geschrieben und gesprochen worden ist. Begleitet von einer eingehenden Uebersicht der turnerischen Literatur vom Herausgeber, wird es ein unentbehrliches Lehr- und Lesebuch für alle mit dem Turnwesen Beschäftigten sein, und können wir es nicht nur den Mitgliedern und Büchersammlungen der Turnvereine, den Vereins-, Schul- und Militärturnlehrern, sondern auch allen Freunden einer gesunden Volkserziehung und namentlich allen Lehrern angelegentlichst empfehlen, die darin eine reiche Fundgrube nützlicher Winke und Rathschläge finden werden.

Das ganze Werk erscheint in 6–8 Lieferungen zu 5–6 Bogen. Preis der Lieferung 71/2 Ngr.
Ernst Keil’s Verlagsbuchhandlung in Leipzig. 

  1. Ein Herloßsohn seit Jahren befreundeter Buchhändler in Böhmen.

Anmerkungen (Wikisource)