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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[641]
Blut um Blut
Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)


Die Bursche verschwanden in der Dämmerung; das Mädchen zog das Fenster zu, indeß ihr über Melcher’s Drohung ein Schauder über den Leib lief. Während es draußen noch dämmerte, war es in der Stube schon völlig dunkel geworden, und sie eilte, das Oellämpchen anzuzünden und dadurch die Unannehmlichkeit der Finsterniß und der Einsamkeit wenigstens in etwas zu verscheuchen. Dann nahm sie den Haspel zur Hand, um das Garn, das sich den Tag über auf der Spule angesammelt hatte, abzuwinden, aber der daran angebrachte Schneller, welcher jedes Hundert von Fäden durch einen kleinen Krach anzeigen sollte, bekam wenig zu thun, denn die sonst so rührigen Hände sanken immer wieder lässig herab, und das Köpfchen mußte sich unter der Last der Gedanken beugen, die sich darin hin und wieder trieben. Von Zeit zu Zeit blieb ihr Blick an dem Nelkenstock im Fenster haften; denn sie gedachte der Blumen-Antwort, die sie auf eine so wichtige und dringende Frage zu geben hatte und – geben mußte, das stand klar und deutlich vor ihrer Seele. Sie war auch schnell entschlossen, Adrian das Zweiglein zu geben; warum sollte sie dem guten Burschen Dinge in den Kopf setzen, die doch, wie das Volk sich ausdrückt, „keine Heimath hatten“? Sie konnte auch nicht anders, als Nein sagen; denn wenn ihr auch die aus der Ferne dargebrachten Huldigungen des hübschen Ueberrheiners seit langer Zeit nicht entgangen waren, wenn sie auch insgeheim ihr Wohlgefallen daran gehabt und ihm nicht feind war, konnte sie doch, nicht sagen, daß sie ihn liebe. – Dann aber sah sie Adrian wieder vor sich, wie er ihr so gar treuherzig in die Augen sah; sie hörte, wie er sie sein liebes herziges Ameile nannte, und in ihrem Herzen quoll es so heiß empor, daß sie zusammenbebte und sich gestehen mußte, das sei doch eine andere Empfindung, als die mehr leidend gleichgültige gegen Jemand, dem man blos „nicht feind“ ist. Konnte sie dem braven Menschen solches Herzeleid anthun? Und wenn sie auch wußte, daß der Vater nie seine Zustimmung geben würde, was konnte es schaden, wenn er wenigstens zum Troste erfuhr, daß sie ihm auch gut war? Sie hatte das früher selbst nicht gewußt; sie hatte nicht geahnt, was sich schon seit geraumer Zeit in ihrem Herzen vorbereitete, und war nahe daran, das frei geglaubte Herz an Melcher’s stürmische Bewerbungen zu verschenken – aber das erste Wort aus Adrian’s Munde hatte sonnengleich den Nebel, der sie vor sich selbst verhüllte, niedergedrückt, und das Paradies der Liebe lag weit geöffnet vor ihrer Seele, wie eine schöne Morgenlandschaft, golden und hell, wenn auch schimmernd in den Thautropfen künftiger Thränen. – Sie war noch unentschlossen, als sie schon am Fenster stand und die Scheere an den Nelkenstock setzte, und hätte vielleicht noch länger gezögert, aber sie hörte aus der Entfernung Adrian’s Gesang; sie wußte, daß er um diese Zeit die Pferde in einen kleinen Weiher unweit des Hofes zur Schwemme zu reiten pflegte; er hoffte gewiß, bei der Rückkehr die erbetene Antwort zu finden, und diese Hoffnung sollte ihn nicht täuschen. Rasch schnitt sie Zweig und Blume ab und stand mit glühenden Wangen und hochklopfender Brust im dunklen Hausfletz vor der Breterwand, die dasselbe theilte und hinter welcher die Stiege in das von den Ueberrheinern bewohnte obere Stockwerk führte. Mit merkwürdiger Schnelligkeit hatte sie die Spalte gefunden und wollte das Zweiglein durchschieben … da kamen Adrian’s Stimme und Tritte näher – und die entscheidende Blutnelke lag als beredtes Zeichen der Versöhnung drüben im feindlichen Gebiete …

Annemarie war in die Stube geflohen, aber bis dorthin drang Adrian’s Jubelruf, dessen Stimme noch nie so hell geklungen hatte, als er die Stiege hinauf sang:

„Schön und reich, das bin ich nicht,
Das kannst Du Dir wohl denken;
Aber mein Herz ist reich an Lieb’ und Treu,
Mein Herz will ich Dir schenken!“

Peitschenknall, Hundgebell und Rädergerassel tönte in den Liebesgruß und scheuchte Annemarie hinaus auf die Gräd vor dem Hause, um mit hochgehaltener Oellampe dem heimkehrenden Vater zu leuchten. Als sie dort ankam, hatte der Bauer die Zügel dem Roßknecht zugeworfen und kam der Tochter schon fluchend und scheltend entgegen. „Himmelsacrament,“ schrie er, „ist das eine Art, mich eine halbe Stunde hinstehn zu lassen ohne Licht? Bist auf den Ohren gesessen, daß Du mich nit hast kommen hören? Meinst vielleicht, weil ich nur einen halben Hof hab’, es langt schon für mich mit dem halben Respect? “

„Aber Vater …“ wollte das Mädchen begütigend einwenden, der Alte aber fuhr sie noch wilder an. „Das Maul gehalten!“ schrie er, indem er in die Stube trat und Peitsche und Hut in die Ecke schleuderte. „Ich will nichts hören von Dir! Wo ist der Bub?“

„Aus,“ sagte Annemarie kurz, indem sie das Licht auf den großen Tisch in der Ecke mit dem Hausaltare stellte, wo der Vater sich breit und plump niedersetzte. Der Schein des Lämpchens fiel auf beide Gesichter und erklärte, woher der finstere harte Zug in dem Gesichte Annemarie’s und ihres Bruders stammte: der Bauer war das scharf und hart geprägte Urbild desselben. Der alte Stürzer [642] war ein hagerer, hoch aufgeschossener Mann mit wohlgeformten, aber strengen Zügen, deren Ausdruck sich noch durch den hohen kahlen Schädel und die dichten Augenbrauenbüschel steigerte, die über lebhaften, aber scharfen Augen saßen.

„Wo ist er hin?“ rief er wieder. „Bring nur mein Nachtessen.“

„Weiß nicht,“ erwiderte die Tochter wie zuvor, indem sie einen Teller mit geräuchertem Schweinefleisch und eine steinerne Flasche auf den Tisch stellte, zugleich aber den großen Laib Schwarzbrod, in welchem das Messer stak, daneben legte. „Wird wohl wieder in’s Wildern gegangen sein!“

„Himmelsacrament,“ schrie der Bauer, indem er dröhnend mit geballter Faust auf den Tisch schlug, „ich will’s ihm vertreiben, dem Tagdieb! Ich will einmal andere Saiten aufziehn – ich will Euch Allen miteinander zeigen, daß ich in meinem halben Hof ganz und gar Herr bin! Mein Geduldfaden ist ab!“

Annemarie stand dem Tobenden gerade gegenüber und sah ihm fest in’s Gesicht; wer sie so erblickte, hätte das kindlich einfache, fast schüchterne und weiche Mädchen an der Gartenplanke und am Nelkenstock nicht wieder erkannt. Es war die zweite Hälfte ihrer Natur, das Wesen ihres Vaters, das in ihr hervortrat und sich trotzig der verwandten und eben darum sie abstoßenden Gemüthsart gegenüber stellte. Milde liebevolle Güte und strenge grollerfüllte Härte lagen als gleichmäßig entwickelte Keime in ihr – noch war es unentschieden, welcher davon den andern überwuchern oder ersticken sollte. „Gieb’s nach, Vater,“ sagte sie schneidig, „ich glaub’, Du hast ’trunken!“

„’Trunken!“ lachte der Stürzer auf. „Wär’ kein Wunder, wenn Einem das Tröpfel Bier in Kopf steigen thät bei all’ dem Aerger, den man mit hinunterschlucken muß! Himmelsacrament, ist das auch ein Essen für den Stürzerbauern? Geselchtes und Scheps (Nachbier), und der Ueberrheiner-Lump da droben sauft vielleicht Wein und speist ein Schweinsbratel, wie ein Graf!“

„Aber was hast denn, Vater? Was giebt’s denn schon wieder!“

„Was wird’s geben! Der Nothleider da droben hat auf dem Fest drinnen einen Preis gekriegt und ein Fahn’l voll Baierthaler, weil er den schönsten Hanf gehabt hat und das schönste Obst!“

„Das wundert mich nit, Vater … solches Obst, wie der Nachbar hat, ist weit und breit nicht zu sehn!“

„Nichts ist damit! Ein Gelump’ ist’s … ein ordentlicher Bauer hat keine Zeit, daß er sich mit solchem Larifari abgiebt! Und da hat der König mit ihm geredt, und ich hab’ daneben stehn müssen in dem Gedräng’ und hab’s mit ansehn müssen, wie er ihn auf die Achsel geklopft und gelobt hat … aber ich mach’ der Geschicht’ ein End’! Hinaus muß der Kerl, oder ich will nicht der Stürzerbauer sein!“

„Du sollt’st Dich schämen, Vater,“ sagte Mirl und war wieder zu ihrem Haspel getreten, „die Ueberrheiner sind ordentliche, stille Leut’ …“

„Duckmäuser sind’s, die’s faustdick hinter den Ohren haben!“ polterte der Alte noch heftiger. „Red’ ihnen das Wort nit, Mirl, wenn Du’s nit auf ewige Zeiten bei mir verschütten willst! … Oder hätt’ etwa der Nachbar vom Walser-Schlag droben Recht? “

„…Was sagt der Walser?“

„Daß der Sohn von dem Hungerleider sich untersteht, nach Dir zu schauen! Daß er neulich zu Inzemoos am offnen Wirthstisch geprahlt hat, der alte Stürzer müßt’ noch sein Schwiegervater werden und wenn er die Kränk’ kriege’ sollt’!“

„Das hat der Adrian gewiß nit gesagt – und wenn’s wahr wär’, könn’st Du’s ihm auch nit verbieten: es wär’ keine Schande für mich – der Adrian ist ein braver, ordentlicher Bursch …“

„Ein Lump’ ist der Hadrian, oder wie er heißt! Ein Lump wie sein Alter! Und wie gut Du seinen Namen weißt! Thätst Dir wohl was einbilden auf die Ehr’, wenn der Rheinschnack’ sich bei Dir einnisten wollt’? Dafür will ich schon sorgen, daß ihm die Lust vergeht …“

Unsicher und taumelnd hatte er sich erhoben und wankte durch die Stube dem Wandkästchen zu. „Was willst denn, Vater?“ rief Annemarie und vertrat ihm ängstlich den Weg. „Was suchst?“

„Meine Pfeif’,“ erwiderte er, sie beiseite drängend. „Wo ist denn der Kloben?“

„Du wirst sie in der Stadt gelassen haben,“ stammelte das Mädchen, während er lachend das Kästchen aufriß, darin herum störte und im nächsten Augenblick das Körbchen mit den Blumen und Früchten in der Hand hatte. „Was soll denn das bedeuten?“ rief er. „Wie kommt das Gelump da herein?“

Das Mädchen stand todtenbleich und brachte keine Erwiderung hervor.

„Das sind ja Zwetschgen, wie wir sie gar nicht im Garten haben!“ schrie der Bauer wüthend. „Und auch solche Blumen haben wir nicht! Himmelsacrament, wie kommt das Körbel da herein? Wirst reden, Mirl, oder soll ich Dir die Zung’ lösen?“

Annemarie hatte sich gesammelt; entschlossen trat sie auf den Vater zu, nahm ihm das Körbchen aus der Hand und stellte es an den vorigen Ort. „Der Adrian hat mir’s über den Zaun herüber gegeben,“ sagte sie und schob ruhig den Schlüssel des Wandschrankes in die Schürzentasche.

„Der Adrian? Uebern Zaun?“ rief der Alte, vor Ingrimm bebend. „So bekannt seid Ihr miteinander? Und Du hast es angenommen? Hast es ihm nicht in’s Gesicht geworfen?“

„Ich wüßt’ nit warum … der Adrian ist ein seelenguter Mensch …“

„Du weißt nit warum, Mirl? Du weißt nit, daß Dein Vater die ganze liederliche Sippschaft nit leiden kann? Du unterstehst Dich, mit einem Menschen zu reden und Dir schön thun zu lassen von Einem, der Deinen Vater in die Grube bringt?“

„Vater,“ entgegnete Mirl, indem die Augen aus dem bleichen Gesicht den seinigen noch trotziger entgegen funkelten, „ich bin Dir in keinem Stück entgegen … aber Du mußt die Leut’, die ich gern hab’, nit in Tag hinein schimpfen … Du mußt mich nit peinigen: ich leid’s nit, Vater … ich hab’ meinen Kopf so gut wie Du!“

„So will ich ihn Dir wieder zurecht rücken, Deinen Kopf!“ schrie der Bauer außer sich, riß das Brodmesser vom Tisch und stürzte auf Annemarie zu, die ihn entschlossen erwartete … ehe er sie erreichte, hielt er inne, ließ das Messer fallen und sah knirschend zu der holzgetäfelten Stubendecke empor.

Geräusch von dort hatte ihn aufmerksam gemacht: es kam von oben aus der Wohnstube der Pfälzer Familie, aus der Gegend des Ofens, neben welchem ein bei der Abtheilung des Hofes vergessenes Wärmeloch angebracht war.

„Rührt sich da droben auch was?“ brüllte der Bauer, „bin ich verkauft und verrathen in meinem eigenen Haus? … Das Horchen will ich Euch vertreiben, Ihr Himmelsacrament …“ Im Augenblick hatte er das an der Nebenwand hängende Hausgewehr herabgerissen und, ehe die Tochter abwehrend herbeispringen konnte, in den Deckenschlauch losgedrückt…

Ein gellender Schrei und ein dumpfer Schlag ertönten von oben in den Schuß. „Jesus Maria, Vater… was hast gethan?“ rief das Mädchen, der Alte aber taumelte auf die Bank und lallte: „Ich hab’ angefangen, das Lumpengesind aus dem Hof zu treiben. … Ich muß den ganzen Stürzerhof wieder haben, oder es soll auch den halben der Teufel holen!“




2.

Allerheiligen war vorüber; der Jahreszeit nach war es längst Winter geworden, aber in Wirklichkeit wollte er nicht kommen. Der Herbst brachte noch spät eine Reihe schöner Tage nachgetragen, und wenn es auch stark reifte, wenn manchmal der Morgen auf kleinen Wässern eine leichte Eisdecke und den weichen Boden überfroren fand, der Mittag ließ Alles wieder verschwinden; der härtende und kältende Schnee blieb aus, und waren auch die Obstbäume in den beiden Gartenabtheilungen des Stürzerhofs lang schon entblättert, hatte doch die Eiche am Schauerkreuz den ganzen gebräunten Blätterschmuck ihrer Krone behalten.

In einem ähnlichen widerstreitenden Zustande befand sich der alte Stürzerbauer; er rang sich täglich matter zwischen seiner gewohnten Kraft und der unerklärlichen Hinfälligkeit, die ihn befallen hatte. Jeden Morgen erhob er sich mit dem Gedanken und Vorsatz, wie sonst seiner Arbeit nachzugehen; aber nach kurzer Zeit war es ihm, als ob alle Glieder und Sehnen nachließen, matt und fröstelnd suchte er den Lehnstuhl am Ofen auf, um in Kissen gehüllt über seine Schwäche zu brüten und sich in bittern Gedanken zu verlieren. Manchmal tobte und schalt er in alter Wildheit über die Dummheit des Baders, der ihn so dahin leiden lasse und die [643] Last nicht abnehmen könne, die ihm fast das Herz abdrücke; dann ward er wieder kleinlaut und jammerte ungestüm, daß er sterben müsse, lange vor der Zeit und in der Fülle der Kraft. Heftig und maßlos in Allem zerstörte er sich selbst, und wenn er sich auch den Anfang seines Uebels nach der Stunde berechnen konnte, wollte er sich doch nicht gestehen, daß es der Abend des ersten Octobersonntags gewesen, der ihn zu Boden geworfen.

Es war Sanct Martini, und nach Landessitte duftete die gebratene Gans im Ofen, die auch an dem abgewürdigten Festtage dieses Heiligen in keinem Hause fehlen durfte, aber den Kranken widerte der Geruch an und sich unruhig im Lehnstuhle herumwerfend rief er seine Tochter herbei. Sie kam nicht; statt ihrer aber steckte nach einiger Zeit Melcher, der Knecht, den Kopf zur Thüre herein: „Ich hab’ Dich schreien hören, Bauer,“ sagte er. „Was willst? Es ist wohl die Zeit, daß Du die Latwerg’ einnehmen mußt, die Dir der Bader vom Simmertshausen verschrieben hat? Ich will sie Dir eingeben!“

„Wo ist Mirl?“ fragte der Bauer, indem er die vom Knechte dargebotene Arznei hinunterwürgte. „Warum kommt sie nicht?“

„Wie magst so fragen, Bauer!“ entgegnete Melcher tückisch. „Wo wird sie sein, als wo sie alleweil ist! Sollst es wahrhaftig nicht leiden, Bauer, daß sie Deinem Wort so gerad’entgegen ist!“

Der Alte winkte ihm zu schweigen. „Sie läßt sich’s nit wehren, Melcher,“ sagte er, „und ich will’s lieber nicht wissen! Ist mir ganz lieb, daß Du gekommen bist, mit Dir kann ich reden, wie’s mir um Herz ist … ich mag das Mädel nicht fragen, und möcht’ doch gern wissen, wie es steht … droben bei den … nun, Du weißt schon, wen ich mein’ …“

„Es ist Alles beim Allen. Das Bübel, der jüngere Bruder von dem Adrian, hat Dich selbiges Mal schreien und zanken hören; da hat er horchen wollen, hat das Wärmloch aufgemacht, und so ist ihm der Schuß in’s Gesicht gegangen …“

Den Alten schüttelte es wie Fieberfrost. „In’s Gesicht?“ murmelte er. „Ist aber keine Gefahr dabei, Melcher? Nicht wahr, es geht ihm nicht an’s Leben?“

„Warum nicht gar! Das Gewehr war ja nur zum Spatzenschrecken mit Vogeldunst geladen! Das thut ihm nichts … aber die Augen freilich … die sind hin!“

„Die Augen? Alle zwei Augen? Wird doch das nicht sein!“ jammerte der Bauer. „Die Bader verstehn Alle nichts, ich seh’s an mir … wird mit dem Bübel auch so sein … wird wohl das Augenlicht wieder bekommen, meinst nicht, Melcher?“

„Sie haben den Doctor von Dachau kommen lassen, der giebt keine Hoffnung! … Geschieht dem Fratzen ganz recht! Warum ist er so neugierig!“

„Es wird etwa doch nit sein,“ ächzte der Bauer. „Es wird ihm doch wohl ein Aug’ bleiben … oder er wird wenigstens den Schein behalten … Meinst nit, Melcher ? Ach, es drückt mich wieder so am Herzen … und dazu der ewige Lärm und das Hin- und Herlaufen droben! Ich bin schon recht erschrocken darüber… weißt nit, was sie haben, die Ueberrheiner? “

„Als wenn Du das nit auch wissen thätst! Draußen im Hof ist Alles schon aufgepackt und angeschirrt – sie ziehn aus!“

„Sie ziehn aus … ja, ja, ich weiß es, sie ziehn aus!“ sagte der Bauer mit leuchtenden Augen, indem er sich vor Vergnügen die abgemagerten Hände rieb. Alle Theilnahme, jede Regung des Mitleids war wieder verschwunden und die alten Gedanken des Hasses in erneuter Stärke aufgewacht. „Sie ziehn aus … ich hab’ es doch erreicht, Melcher … das Ueberrheiner Gesindel ist aus dem Haus, und der Stürzerhof kommt wieder zusammen in Eine Hand … Hab’ es selber nicht gedacht, daß es so schnell gehn würde aber mein Sepp ist ein quanter Bursch, hat sich die reiche Wittib vom Walserschlag ausgesucht … mit dem Geld ist der halbe Hof gezahlt und wieder eingelöst worden!“

„Was hätt’ all das Geld genutzt!“ sagte Melcher roh. „Wär die Geschicht’ nit passirt mit dem Schuß, da wär’ noch Alles beim Alten, und Du hättest dem Ueberrheiner die Hälfte mit Gold aufwägen dürfen, er hätt’ sie Dir doch nicht wiedergegeben! Aber das hat ihm den Hof verleidet, daß er’s selber kaum hat erwarten können, bis er draußen ist. … Ja, ja, das Mittel ist gar nit zu verachten – so ein armseliger Schuß Pulver, der macht gar geschwind Frieden! Ich mein’, Du hast es nicht Ursach, Stürzerbauer, daß Du Dich über den Buben kränkst!“

„Ich thu’s auch nit mehr, Melcher,“ sagte der Alte hastig, „aber ich kann selber nit dafür … Manchmal da fällt mir der Bub’ ein, besonders Nachts, wenn mich das Herzdrücken nit schlafen läßt und wenn ich so lieg’ und schau in die pechschwarze, stockfinstere Nacht hinaus … Da kommt mir allemal der Gedanken, wie es sein müßt’, wenn’s alleweil so Nacht bleiben that’ und wie’s einem Blinden sein muß; … und da fällt mir das Bübel ein…. Aber er wird nit blind, Melcher! Du wirst es sehn, sie sagen’s nur, um mich zu schrecken, aber der Stürzer laßt sich nichts vormachen … der hat seine guten offenen Augen. … Ach Gott, daß ich so krank sein muß, Melcher, und so elend! Ich möcht’ es so gern sehn, mit meinen eigenen Augen sehn, wie der Ueberrheiner auszieht … und muß da in der Stuben und im Lehnstuhl liegen. … Ich mein’, wenn ich das sehen könnt’, der Stein, der mich so drückt, da drinnen, müßt’ auf einmal sein wie weggeblasen!“

„Das kannst wohl, Stürzerbauer,“ sagte Melcher, „ich führ’ Dich hinaus in die Küch’ .. . ein kleines halbblindes Fenster führt auf’s Fletz, von dort kannst die Stiegen und den Hof übersehn, ohne daß es Jemand merkt. …“

Der Bauer willigte mit leidenschaftlicher Gier in den Vorschlag und lehnte bald in der dunklen, rußgeschwärzten Küche an dem unbeachteten, leicht geöffneten Fensterchen. Er war eben zur rechten Zeit gekommen, denn im obern Stockwerk schien man sich zum Aufbruch zu bereiten; im Hofraume stand ein mit allerlei Hausrath beladener Wagen, an welchen ein Knecht eben die Pferde schirrte, während die Magd die widerstrebenden Kühe aus dem Stall zerrte, um sie fort zu treiben.

„Jetzt kommen sie,“ flüsterte Melcher, „ich höre die Stiege knarren. …“ Voran schritt der alte Pfälzerbauer, eine würdige Gestalt in langem Ueberrock und mit glatt herabhängendem langen Silberhaar, das ihm fast ein pastorenartiges Ansehn gab. Hinter ihm kam Adrian, der die verweinten Augen mit einem Tuche trocknete, und die schon längst trocken und welk gewordene Nelke Annemariens auf dem Hute trug. Ihm folgte diese selbst, den kranken, etwa sechsjährigen Knaben auf den Armen tragend, der ihr das leidende verbundene Köpfchen zärtlich an Hals und Schultern legte. Alle schwiegen, nur der Kleine schluchzte leise und vermehrte durch seine Thränen den Schmerz seiner verbrannten Augen.

Dem alten Stürzer auf seinem Lauerposten kam das Zittern in die Beine; er wollte fort und konnte es doch nicht, wenn er nicht Geräusch verursachen und dadurch seine Anwesenheit verrathen wollte. Unter der Hausthüre hielt der alle Pfälzer an, blickte um sich und rief feierlich: „Gott segne unsern Ausgang … wir sind in diesem Hause recht glücklich gewesen, meine Kinder; wir wollen es ihm nicht gedenken, daß es zuletzt so große Trübsal über uns gebracht hat, wir wollen nicht in Groll und Unfrieden von ihm scheiden! – Nehmen wir Abschied, Kinder … sieh nicht so finster drein, Adrian… . Und Du, mein armes Davidle … wenn es Dich gleich am schwersten getroffen hat … gebt mir auf der Thürschwell’ da noch einmal Eure Händ’ und versprecht mir, daß Ihr keinen Haß mitnehmen wollt! Es steht wohl geschrieben: Zahn um Zahn, Aug’ um Aug’ und Blut um Blut … aber das ist der alte Bund gewesen … wir wollen Christen sein, meine Kinder, und wollen verzeihen. …“

Adrian barg sein Leidensgesicht an der Brust des Vaters, der kleine David aber streckte ihm das Händchen zum Gelöbniß hin … mit ausbrechenden Thränen ergriff es Annemarie und zog es an den Mund. Dann traten sie über die Schwelle; der Stürzer aber hielt sich fest an den Knecht und wankte in die Stube zurück. „Führ’ mich fort, Melcher,“ flüsterte er, „mir wird völlig nit gut, ich glaub’, das Wasser drückt mir das Herz ab.“…

Im Hofe war indessen Alles zur Abfahrt bereit; Adrian’s Vater saß bereits auf dem Wagen und hatte den Knaben zu sich auf den Schooß genommen; nur Adrian selber zögerte noch aufzusteigen und stand mit Annemarie am großen Flügel des Hofthores in halblaut vertraulichem Gespräch. So heimlich sie aber miteinander kosten, ging doch dem Lauscher kein Wörtchen verloren, der in der Ecke des Thors, von dem Flügel gedeckt, kauerte. „Es muß sein, Ameile,“ sagte Adrian endlich, „wir müssen auseinander. Mir geht’s wirklich wie in dem Lied, das ich Dir zuerst gesungen hab’ …“

„Behüt’ Dich Gott, Adrian,“ sagte das Mädchen, indem sie ihm entschlossen die Hand reichte … „es ist ja nicht auf lang!

Es bleibt dabei – wie’s Abend wird, find’ ich Dich droben am Schauerkreuz. …“ [644] Der Wagen rollte fort. Annemarie sah ihm nach, bis er am Waldrande verschwand, dann schritt sie gesenkten Hauptes dem Hause zu. Erst nach einer Weile schlüpfte Melcher aus seinem Versteck hervor; seine Augen rollten, seine Wangen glühten und seine Fäuste ballten sich … „Also jetzt weiß ich’s gewiß,“ murrte er, „es ist nicht das Mitleid mit dem Davidle gewesen, warum sie alleweil bei den Ueberrheinern gesteckt ist! Jetzt weiß ich, warum der Name Mirl auf einmal so garstig klingt! Wart nur, Ameile … so geschwind giebt unser Einer nicht auf, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat … bei dem Finden am Schauerkreuz muß ich auch dabei sein!“

Am Abend saß der Stürzerbauer wieder in seinem Ofenstuhl und sah verwundert Annemarie zu, die geschäftig hin und wieder ging und allerlei auf ein großes Tuch zusammentrug, das über den Tisch gebreitet war. Er wagte nicht nach der Bedeutung ihres Thuns zu fragen, denn seit jenem Abend hatte er den Muth gegen seine Tochter verloren und konnte es nicht aushalten, wenn sie die großen dunklen Augen so recht durchdringend aus ihm haften ließ.

Endlich war sie fertig, band das Tuch an den vier Enden in ein Bündel zusammen und trat damit vor den Vater, indem sie ihm die rechte Hand darbot. „Behüt’ Dich Gott, Vater,“ sagte sie, „ich geh’ jetzt …“

„Du gehst, Mirl?“ rief er mit weit aufgerissenen Augen. „Heut’ noch? Wo willst hin?“

„Fort, Vater – in dem Haus ist mein Bleiben nit mehr!“

„So? Fort?“ rief der Alte, indem er sich im raschen Zorn aufrichtete. „Willst wohl Deinen Ungehorsam voll machen und dem Ueberrheiner-Volk nachlaufen?“

„Ich lauf’ ihnen nit nach – aber es ist wahr, Vater, ich hab’ mich verlobt mit dem Adrian – seinem Vater ist es recht, und wie sie eingerichtet sind auf dem neuen Gut, soll die Hochzeit sein!“

„Das glaub’ ich, daß es dem alten Hallunken recht wär’,“ zürnte der Alte, „aber mir ist’s nit recht! Ich muß auch gefragt werden und meinen Senf dazu geben, und ich sag’: Du bleibst da und machst mir keinen Schritt vor die Thür’, oder ich pfeif’ den Knechten und laß Dich in den Keller sperren!“

„Thu’s lieber nit, Vater, es nutzt Dich doch nichts; ich hab’ mir’s einmal vorgenommen und ich führ’s aus, so gewiß ich Deine Tochter bin …“

„Meine Tochter? Wenn Du’s sein wolltest, gingst Du nit von mir und hingest Dich nicht an das Volk… das ist ein Nagel zu meinem Sarg …“

„Ich thu’ nichts Unrechts, Vater, ich Hab’ mir’s wohl überlegt … drum geh’ ich – Du weißt wohl, meine Schuld ist’s nit, wenn mein Herz ist los geworden von Dir!“

„Dann will ich’s wieder fest machen lassen, Mirl! Dafür giebt’s, Gott sei Dank, noch Gericht und Obrigkeit!“

Annemarie trat vor ihn hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Das thust Du nit, Vater … die Obrigkeit wirst in Ruh’ lassen! Was willst noch mehr haben? Die Ueberrheiner, die Dir so verhaßt sind, sind aus dem Haus … bald hast den ganzen Stürzerhof wieder beisammen! Denk’ ein Bissel nach, Vater… Die Ueberrheiner haben Dir nichts Leids zugefügt – was Du gethan hast, weißt am besten … Sie haben den Weg in’s Landgericht nicht gefunden, sie haben dem Doctor gesagt, das Davidle sei über den Schießzeug von seinem Vater gekommen … das elendige blinde Bübel selbst ist dabei geblieben … Willst Dich jetzt auf die Weis dafür bedanken, daß ich und der Sepp nit unsern Vater beim Weveld[1] suchen müssen? Behüt’ Dich Gott, Vater … was mir gehört von der Mutter her, wirst mir wohl nit weigern und wirst mich gehn lassen!“

„Mirl,“ rief er, mit der Erschütterung kämpfend, die ihre Worte in ihm hervorgerufen, „thu mir das nit an! Hab’ Mitleid mit mir! Schau, zu mir gehörst zuerst … ich will gewiß gut sein mit Dir … Kannst Deinen alten kranken Vater verlassen?“

„Du brauchst mich nit,“ sagte sie finster, „Du hast den Sepp und kriegst die neue Schwiegertochter in’s Haus … ich will den blinden Buben warten … Laß mich nit in Unfrieden von Dir gehn, Vater,“ setzte sie weicher hinzu, da er vor sich hinstarrend schwieg … „Weil’s doch sein muß, nimm nochmal meine Hand zum Abschied … die Verzeihung von dem blinden Davidle liegt drinn, Vater; laß mich nit so gehn und laß mich gut machen für Dich …“

Der Alte zuckte mit der Hand … aber er faßte des Mädchens dargebotene Rechte nicht, sondern schleuderte sie unwillig von sich weg. Eine Sekunde standen sie sich noch Aug’ in Auge gegenüber … dann riß Annemarie die Thüre auf und entfloh.


(Fortsetzung folgt).




Ein Bauern-Sängerfest.

Am 29. Juni 1862 bewegte sich ein Festzug von der Reitbahn am Schloßplatz zu Coburg hinauf zur alten Veste. Er bot nicht den gewöhnlichen städtisch-stattlichen Anblick solcher Aufzüge, die Sängerlust, die heute dem trüben Himmel ein solches Fest anvertraute, trug ein anderes Gewand. Wir haben einen Bund von etwa 20 coburgischen Dorf-Liedertafeln vor uns, die ein Erinnerungsfest an Deutschlands schlimmste und größte Zeit feiern und die Zeugen jener Zeit, des Landes Veteranen aus dem deutschen Befreiungskrieg, im Festzug mit sich führen: etwa vierzig graue Männer, alle mit der Feldzugsmedaille auf dem langen Sonntagsrock oder an der Sonntagsjacke. An Krücken und Stöcken, doch wohlgemuth, humpeln die Alten daher, mit dem wankenden Gebein oft vergeblich nach dem Takte des Marsches von „Anno 13“ strebend, den ihnen zu Ehren die Festmusik spielt; und wenn die Musik schweigt und da und dort einer mit gekrümmtem Rücken Miene macht, zurückzubleiben, so wird er von den Sängern nicht geführt, nein, fast getragen, und vorwärts geht’s, und es ist trotz Wind und Wetter ein Freudenzug. Lauter echte brave Bauernbursche und junge Bauern sehen wir hier geschmückt mit dem Sängerband in den deutschen Farben, und Fahnen oder Kränze auf hohen Stäben, oft mit sinnigen Inschriften, bezeichnen die einzelnen Abtheilungen.

Wir folgen den Schaaren, drängen uns mit durch’s Festungsthor, arbeiten uns bis zu den Terrassen zwischen der alten Lutherkirche und dem neuen Wirthshaus hinan, kehren uns hier um und – stehen vor unserem Bilde, das uns aller weitern Beschreibung der äußeren Anordnung des Gesangfestes im geräumigen ersten Hofe der Veste überhebt. Wir sehen den Raum, welchen die Singvereine, und den Platz, welchen die Veteranen des Befreiungskrieges einnehmen, wir sehen den Declamator, in einer Gallerie des hervorstehenden Treppenhauses am Fürstenbau (zur Rechten), in voller Thätigkeit und den Dirigenten des Gesanges inmitten seiner 450 Sänger auf seinem hohen Posten. Wir haben nun unseren Lesern zu erklären, warum wir sie überhaupt zu diesem Feste führen, und worin die besondere Bedeutung liegt, die demselben in Nr. 30 der Gartenl. (S. 471) zugeschrieben worden ist.

Diese Bedeutung finden wir in des Festes Zweck, in dessen Mitteln und in deren Wirkung.

Noch heute hält sich die ungeheure Mehrzahl der deutschen Dörfer dem neuen Volksgesang und seinen großen Sängerfesten fern; und wo sich dennoch, durch den Eifer von Cantoren und Lehrern angeregt, Dorf-Singvereine bildeten, da stehen sie meist vereinzelt, ohne Zusammenhang mit den Nachbarn und müssen es wohl gar erleben, bei städtischen Sängerfesten das Recht der sängerbrüderlichen Gleichheit gegen sich nicht selten mißachtet zu sehen. Kurz, die veredelnde, versöhnende und verbindende Kraft des deutschen Volksgesanges hat sich an ihnen noch nicht bewährt. – Gegen dieses Uebel, so weit es im Coburger Lande herrschte, erhob sich ein entschlossener Mann, der sich’s dadurch redlich verdient hat, hier genannt zu werden. Der Cantor Carl Düsel zu Rodach nahm sich des verwahrlosten Volksgesanges und der verlassenen Dorf-Singvereine zugleich an, indem er den Bund der coburgischen Land-Liedertafeln stiftete und denselben durch unermüdlichen Eifer und ebenso große Opferfreudigkeit als Geduld zu einem Muster für alle ähnliche Vereinigungen von Bauern-Liedertafeln erhob. – Die Sache scheint uns wichtig genug, um hier den Weg anzudeuten, auf welchem Herr Düsel sein Ziel zu erreichen suchte. Er theilte vor Allem den ganzen Sängerbund in Districte von je vier bis fünf Vereinen. Sind die für ein gemeinsames Fest bestimmten Gesänge

[645]

Das Bauern-Sängerfest auf der Veste Coburg.
Nach einer Originalzeichnung von Max Brückner in Coburg.





in den einzelnen Vereinen, deren Vorstände schon möglichst im Geiste und mit dem Eifer des Sangmeisters wirken, eingeübt, so beginnen die Districtsproben. Sie sind die Vorbedingung jedes Gelingens im Großen. Hier wird die poetische und musikalische Auffassung durch das belehrende Wort des Sangmeisters für Jeden ermöglicht, hier erhält der Gesang seine Abrundung, und — was nicht hoch genug anzuschlagen ist — hier, in kleineren Kreisen, wird das gegenseitige Vertrauen erweckt, gewöhnen sich die Sänger an den Gehorsam vor dem Taktirstock des Sangmeisters und gewinnen Selbstvertrauen und damit Selbstgefühl. Diese Districtsproben [646] sind für jedes Dorf Festtage geworden, an welchen Alt und Jung Theil nimmt, sie sind die „heiligen Abende“ vor dem Hauptfeste. So, aber auch nur so, wurde es möglich, aus Bauernburschen und jungen Bauern von geringer oder gar keiner musikalischen Vorbildung eine Sängerschaar heranzuziehen, welche denselben Festplatz der alten Coburg, auf welchem die berühmtesten Liedertafeln Deutschlands geglänzt, mit allen Ehren einnehmen konnte.

Wir kommen zu dem neuen Programm. Was man hier feiern wollte, war ein Volks-Gesangfest, darum mußte ganz abgesehen werden von der concertartigen Einrichtung der großen Sängerfeste. Nicht durch besondere Reden und Toaste, sondern durch den innigsten Zusammenhang von Wort und Lied sollten Sänger und Hörer für das Vaterland erwärmt und begeistert werden. Und dies gelang durch Düsel’s in der That neues Programm: durch die Vorführung der schweren und großen Zeit von Deutschlands Erniedrigung (1804–1812) und Deutschlands Erhebung (1813–1815) in den Volksliedern aus jenen Tagen und durch einen diese einleitenden und zu einem geschichtlichen Ganzen verknüpfenden Text für Declamation.[2] Und es war ein schöner Gedanke, daß dieses Fest zugleich den grauen Kämpfern jener Tage den Ehrenlohn einer öffentlichen Freude aus der dankbaren Hand des Volkes bringen sollte.

Das waren Mittel und Zweck des Festes; werfen wir einen Blick auf seine Wirkung. Sie war eine gewaltige. Sie war erhebend, sie war begeisternd, die Bilder des deutschen Jammers wie des deutschen Jubels griffen zu den Herzen bis zu Thränen in vielen Augen. Hier kamen der Gebildetste und der einfachste Landmann sich in einem Gefühl entgegen, alle diese verschiedenartigen Menschen konnten fähig gemacht werden, in einem, in gehobenem Vaterlandsgefühl ein Herz und eine Seele zu sein. Und daß dies nicht unter einem blauen Himmel im hellen Sonnenschein oder unter einer herrlichen schützenden Sängerhalle, sondern in Wind und Regen geschehen, daß keine Unbill des Wetters die theilnehmende Menge auseinander scheuchen und abkühlend auf die Herzen wirken konnte, das ist das beste Zeugniß für dieses neue Programm und seine poetische und musikalische Durchführung. – Treten wir näher an Sänger und Publicum hinan. Die Dichtung schildert, wie Napoleon die deutschen Jünglinge zu seinen Fahnen treibt, wie sie dem Unterdrücker, Wuth im Herzen, zur Knechtung anderer Völker folgen müssen und nun draußen in Feindesland unter deutschen Brüdern am Wachtfeuer der Lieben in der Heimath gedenken; da erschallt vom Sängerchor so weich, so sehnend das Lied von der treuen Liebe: „Steh’ ich in finstrer Mitternacht“ – und die alten Graubärte dort denken der Zeit und weinen, und mit ihnen weint die Hälfte der Gäste. – Und wie der Vers von Mosen’s „Andreas Hofer“, der den Todesact schildert, so klagend dahin zittert und die Trommel mit kräftigem Schlag, aber doch so dumpf, den Mord andeutet, der den Helden niederstreckte, da schrak die ganze Schaar zusammen, Entrüstung malte sich in den Augen, und einer der Greise erhebt sich und ruft den Cameraden zu: „Und wenn ich nimmer gut gelauf könnt, wenn’s gegen die Franzosen geht, ich wär derbei!“- Und wie die deutsche Klage verklungen, was treibt dort den Herrn mit dem kahlen Scheitel, die Schlußworte „Armer Baum!“ nochmals in tiefem Sinnen vor sich hinzumurmeln? – Und wie beim Schlußlied der ersten Abtheilung die Stelle kommt:

„Dann morgen auf, das Schwert zur Hand,
Bis wir befreit das Vaterland
Und der Feind zur Hölle gesunken!“

da drängt sich so mancher der Gäste unter die Sänger, er muß seinem Gefühl Ausdruck geben, muß mitjubeln der Morgenröthe deutscher Freiheit entgegen.

Während der Pause gehen wir einmal zu unseren Veteranen. Sie sitzen an langen Tafeln bei einem Ehrentrunk. Die alten Herzen sind aufgethaut, die Cameradschaft hat sich wieder gefunden, das Pfeifchen schmauchend, erzählen sie sich mit traulichem Du und Du ihre seitherigen Erlebnisse, dort einige Schwerhörige mit gar heftigem Gesticuliren, um sich einander verständlich zu machen. Dort gesteht Einer seinem Nachbar, wie „ewig sehr ihm das Gepredig gefiel von dem da droben“ (dem Declamator). Und ein Bäuerlein meinte dazu sogar: „Wenn ich dan sei Pridig könnt gehoh, se sollt mich a Vierezwanziger net reu!“

Mußte die Wirkung der ersten Abtheilung, mit vorherrschender Declamation, eine wehmülhig niederbeugende sein, so geht’s in der zweiten von Schlag zu Schlag, von Gesang zu Gesang, siegreich und erhebend vorwärts. Die Stimmung von Sängern und Publicum wurde eine immer freudiger erregte, wozu die treffliche Declamation des cob. Hofschauspielers Bellosa wesentlich beitrug. Einzelne Stellen, wie z. B. der Pommer an der Katzbach mit dem Kolben zuschlägt, „weil es so besser flutscht“, erregten eine Freude, daß der Festplatz von nicht enden wollendem Jubel erzitterte, und als endlich die Sänger entblößten Hauptes Arndt’s Vaterlandslied anstimmten, da sang Alles mit, was nur singen konnte, und so schloß der Sänger- und Veteranentag als ein vollendetes Volksfest.

Fassen wir auch den politischen Zweck dieses neuen Festes für deutsche Sängerbünde zum Schluß in’s Auge. Er ist: echte deutsche Gesinnung, treue Vaterlandsliebe, männlichen Freiheitsmuth und die Herzenserhebung, welche zu freudigen Opfern für Freiheit, Ehre und Vaterland fähig macht, im ganzen Volke zu wecken und immer mehr zu beleben. Und an welchem Beispiel wäre besser zu lehren, wohin Gleichgültigkeit gegen das allgemeine Wohl, Eigensucht und Zwietracht endlich auch mit dem Hab und Gut des Einzelnen führen, als an dem Beispiele Deutschlands, der deutschen Fürsten und der deutschen Völker in ihrem Verhalten gegen das Frankreich Napoleon’s? Darum freuen wir uns der Wirkung, die dieser erste Versuch mit einem patriotischen Bauern-Sängerbundes feste in der hier geschilderten Art zeigte, und hoffen, daß dasselbe glückliche Nachfolge in ganz Deutschland finde und so, wie es in Coburg geschehen, auch da, wo die vornehme Welt sie nicht sucht, die edelste Erhebung der Seelen und die reinste Begeisterung für das Vaterland immer herrlicher hervorrufe. – Wir halten dieses „Stück Geschichte in Wort und Lied“ für ein würdiges Mittel das deutsche Volk in weitesten Kreisen für die großen Nationalfeste des kommenden Jahres vorzubereiten und für den 50jährigen Befreiungsjubel selbst für ein würdiges Feststück, zumal es sich auch bei einer zweiten Aufführung in Coburg (am 16. September) in seiner drastischen Kraft bewährt hat.

  1. Local: der dem Zuchthause in München gebliebene Name des damaligen Vorstandes.
  2. Wir können den Raum für die Mittheilung des Programms hier ersparen, da indeß das vollständige Textbuch im Druck erschienen ist unter dem Titel: „Deutschlands Erniedrigung und Erhebung; ein Stück Geschichte in Wort und Lied für deutsche Sängerbünde. Entworfen von Carl Düsel, dichterisch ausgeführt von Friedrich Hofmann. Coburg, in F. Streit’s Verlagsbuchhandlung.“

Die geheime Agentur.
Ein Bild aus dem amerikanischen Geschäftsleben.
(Schluß.)

So sicher waren die Minen gelegt, welche Cox und Sharp mit Hülfe von Douglas und Co. gegen Hargrave gegraben hatten, daß er fast die Stunde berechnen konnte, in welcher der Sherif seine Thür schließen mußte. Hätten seine Gläubiger im Osten nicht jene für ihn so fatalen Karten von der geheimen Agentur erhalten, würden sie ihm gern Stundung gewährt haben, bis er seine Außenstände im fernen Westen hätte collectiren können, und nun kam noch dazu, daß ihn seine Frau mit dem einzigen Kinde in der Stunde der Gefahr verließ. Den innern Zusammenhang ahnte Niemand, keiner las in den bildschönen Zügen seiner Frau, welche schlechte Seele dahinter steckte, und als Hargrave in der Verzweiflung sich vollends mit Brandy zu betäuben suchte, da brachen ihm Viele den Stab. Nur Bridget, das irische Dienstmädchen in seiner Familie, vertheidigte ihn bei den Nachbarn, und als Hargrave ihr die letzten Dollars für ihren Lohn auszahlte, bat sie um eine längere Unterhaltung mit ihm. Was sie darin mittheilte, wissen wir nicht, nur so viel mögen wir mit Recht schließen, daß sie ihm Thatsachen berichtete, welche seiner Abneigung gegen Lucy und Cox einen doppelten Sporn, gaben. Von diesem Augenblicke an bemerken wir eine Veränderung in Francis’ Betragen; er hörte auf zu trinken, wurde ruhig und gefaßt, und als der Sherif wirklich kam, seinen Laden zu schließen, übergab er demselben mit der größten [647] Gelassenheit Alles das, was er früher als sein Eigenthum betrachtet hatte, mit Ausnahme des Wenigen, was ihm das Gesetz zu behalten erlaubte. Seine Freunde, als sie diese vortheilhafte Veränderung in seinem Charakter bemerkten, fingen nun wieder an, ihm ihre Unterstützung zu schenken, und machten ihm verschiedene Anerbietungen. Einer derselben, eben jener alte Herr, welcher ihm die ersten unangenehmen Nachrichten von New-York mitgebracht hatte, besaß an einer der Avenuen der Stadt ein bedeutendes Sägemühlen-Etablissement und überredete Hargrave, einstweilen die erste Clerkstelle daselbst zu übernehmen, bis sich etwas Besseres für ihn finden würde.

Hier entwickelte er wieder die alte Thätigkeit und arbeitete unermüdlich im Interesse seines Freundes, als wenn nie ein trüber Schatten seinen Lebensweg verfinstert hätte. In der gegen ihn eingeleiteten Scheidungsklage leistete er durchaus keinen Widerstand, obgleich er nach dem Gesetze gewichtige Einsprache hätte erheben können, denn willfull neglect of duty, worauf seine Frau klagte, war durchaus nicht nachzuweisen; im Gegentheil trug er dem ihn vertretenden Anwalt auf, seinen vollen Consens zu erklären. Bei der letzten Verhandlung, in der beide Parteien gegenwärtig sein mußten, betrug er sich außerordentlich kühl, seine Frau, die dicht verschleiert neben ihm saß, kaum eines Blickes würdigend, während er zuweilen den anwesenden Cox mit einer Verachtung anschaute, die diesen zwang, die Augen niederzuschlagen. Einige Tage später erfuhr er, daß das sündhafte Paar sich verheirathet hatte; auch darüber ließ er sich nicht aus, nur entfielen ihm die Worte: „Mein armer Knabe!“ Das Einzige, was ihn noch zu drücken schien, war der Befehl des Gerichts, daß Harry, weil er noch in einem zu zarten Alter sei, ausschließlich der Obhut der Mutter anzuvertrauen wäre, jedoch sollte der Vater die Befugniß haben, sein Kind wöchentlich einmal zu besuchen. Diese Erlaubniß schwand aber in Nichts zusammen, da Hargrave zu stolz und erbittert war, um Gebrauch davon zu machen. –

Wenn man die Gesichtszüge der Bevölkerung des Westens mit denen der eingeborenen Indianer vergleicht, so wird ein aufmerksamer Beobachter unwillkürlich die Bemerkung machen müssen, daß hin und wieder eine sprechende Aehnlichkeit zwischen beiden stattfindet. Mancher stattliche Grenzbewohner mit seinem langen, straffen Haar und sonnengebräunten Teint würde ein treffliches Modell zu einem Uncas abgeben, wenn er mit Mocassins und Jagdhemde bekleidet wäre, und der wildscheue Blick mancher westlichen Mädchen erinnert an die Augen der indianischen Squaws. Ob der Einfluß des Klima’s oder Mischung des Bluts diese Aehnlichkeit hervorgebracht hat, ist schwer zu entscheiden; möglicher Weise haben beide Factoren eingewirkt. Ebenso wenig läßt sich leugnen, daß man oft in dem Charakter der Bewohner des Westens Züge findet, die sich genau dem des Indianers anpassen. Dieselbe natürliche Gutmüthigkeit, derselbe naturwüchsige Leichtsinn, aber auch die größte Verschlossenheit und unvertilgbare Rachsucht spiegeln sich in den Gemüthern beider. Gleichwie die Rothhaut oder der Corse Jahre lang ihren Groll und Haß unter der Maske der Gleichgültigkeit verstecken können, bis endlich der günstige Augenblick erscheint, um den Feind zu vernichten, ebenso besitzt mancher westliche Mann bei sonst vorzüglichen Eigenschaften die Kunst, seine bittersten Rachegefühle in den dichtesten Schleier zu hüllen, bis endlich die Stunde der Vergeltung schlägt. Der Amerikaner unterscheidet sich eben dadurch von dem Deutschen, daß er eine unbedeutende Beleidigung nicht hoch anschlägt und nicht Jahre lang grollend nachträgt, aber wo es ihm an das Mark des Lebens geht, macht er keine Faust in der Tasche, sondern sucht den geeigneten Zeitpunkt zur Action.

Diese allgemeinen Bemerkungen müssen wir vorausschicken, um dem deutschen Leser einigermaßen ein psychologisches Bild Francis Hargrave’s zu verschaffen. Niemand konnte ihm ansehen, wie sehr es in seinem Innern kochte, hin und wieder zeigte er sogar eine krankhafte Heiterkeit, welche seine Freunde in Erstaunen setzte. Von Cox und dessen Frau durfte man ihm nicht sprechen; selbst als sein kleiner Knabe, den er doch über Alles liebte, starb, bat er um stille Theilnahme, weil er absolut von der Vergangenheit Nichts mehr wissen wollte. Man redete ihm zu, sich wieder auf eigene Hand zu etabliren und seine Clerksstelle aufzugeben, indem man ihm Geldmittel und neuen Credit anbot. Indessen alle diese gut gemeinten Vorschläge lehnte er höflich ab, da er, wie er sagte, doch später nach Californien gehen wollte, wenn es ihm erst gelungen wäre, noch einige alte Außenstände zu collectiren. Außerdem meinte er, daß die Stadt L. der frühern Vorgänge wegen doch kein angenehmer Aufenthalt für ihn sein könnte; sollte er sich einmal wieder etabliren, so würde das in Californien geschehen, wo Niemand ihn kennen und alte Erinnerungen wieder hervorsuchen werde.

Nichts konnte den Eifer übertreffen, mit welchem Hargrave den verborgenen Ursachen seines Mißgeschickes im Geheimen nachspürte. Wer den so anscheinend ruhigen Mann beobachtet hätte, wie er vor der Sägemühle stehend die einzelnen Blöcke des Mahagony- und Wallnußholzes, welche zu Fournieren verschnitten werden sollten, in seiner Brieftafel notirte, wäre gewiß nicht auf den Gedanken gekommen, daß hinter diesem gleichgültigen Gesichte ein böser Dämon lauerte. Leicht begreiflicher Weise sah Francis ein, daß man bei seinem so erschreckend schnell eingetretenen Falle ganz ungewöhnliche Hebel angesetzt hatte; diese bemühte er sich zu erforschen. Er wußte ja aus Erfahrung, daß viele Geschäftsleute, welche lange nicht so gut standen, als er, in viel größerer Bedrängniß den Sturm ausgewettert hatten, ohne dem Sherif anheimzufallen. Jedenfalls war ihm die plötzliche Creditentziehung im Osten, die Weigerung der New-Yorker und Philadelphiaer Kaufleute seine Noten zu verlängern, während er doch sonst immer ein prompter Zahler gewesen war, außerordentlich auffallend. Dieses Verfahren der Importeure, die sonst guten Kunden gern den Credit verlängern, war in seinem Falle so außergewöhnlich, daß es ihm vor allen Dingen nothwendig schien, in dieser Beziehung klar zu sehen. Da er aber Motive hatte, seine Nachforschungen vor aller Welt geheim zu halten, so war er lange Zeit über die Mittel unschlüssig, bis ihm der Zufall zu Hülfe kam.

Eines Tages, als er in die Stadt gefahren war, um die Bankgeschäfte für seine Firma zu besorgen, traf er an der ...straße, wo sich das ganze Geldgeschäft concentrirt, Sharp und Cox im eifrigen Gespräche stehend. Um mit den ihm so verhaßten Männern nicht zusammenzutreffen, trat er in ein benachbartes Kaffeehaus, ließ sich ein Glas Sodawasser geben und näherte sich dem Fenster, um seine Feinde besser beobachten zu können. Es dauerte nicht lange, so trennten sich Beide händeschüttelnd, und Cox trat in ein gegenüberliegendes Local, über welchem in großen goldenen Lettern die Worte: Douglas and Co., Agency, prangten. Ein Blitz des Verständnisses durchzuckte sein Gehirn; schnell schritt er in schräger Richtung über die Straße, kehrte um, ging dann langsam an den großen Spiegelfenstern der Agentur vorüber und warf einen scharfen, durchdringenden Blick in das Innere. Er hatte sich nicht getäuscht, da er Cox nicht außerhalb des Gitters, wo die gewöhnlichen anfragenden Kunden stehen, sondern innerhalb desselben an einem Schreibtisch beschäftigt sah, wo derselbe anscheinend einige Papiere ordnete. Bis dahin hatte er als Geschäftsmann wohl die Existenz der geheimen Agentur gekannt, sich ihrer aber aus einem gewissen Mißtrauen nie bedient, viel weniger hatte er je geahnt, daß Douglas und Co. einen so verderblichen Einfluß auf sein Schicksal haben würden. Jetzt hatte er die Spur gefunden, und wie ein Indianer, wenn er einmal des Feindes Fußstapfen entdeckt hat, diese Hunderte von Meilen weit verfolgt, so war er jetzt entschlossen, dieselbe wie ein Bluthund zu betreten. Die menschliche, civilisirte Natur trat nach und nach bei ihm zurück, und das wilde Thier kam zum Vorschein. Was bot ihm auch das Leben für Reize, nachdem er Frau, Kind, kaufmännischen Ruf und Alles, woran er früher hing, verloren hatte? Der einzige Gedanke, der ihn beseelte, war Rache, blutige Rache, aber er sah ein, daß, wenn er dieselbe erfolgreich durchführen wollte, er sie in das Geheimniß der Nacht verschließen mußte. –

Von da an sehen wir ihn unablässig bemüht, correcte Beweise über die Mittel, welche Cox zu seinem Sturze angewandt hatte, in seine Hände zu bekommen. Sharp’s Mitwirkung ahnte er wohl, indessen gab er es auf, diesen Landhaifisch[1] zu verfolgen, als er erfuhr, daß derselbe unheilbar an der Schwindsucht daniederliege, in Folge seiner heimlichen Libationen. Sharp nämlich, obgleich eines der hervorragenden Mitglieder der Temperanzgesellschaft, hatte sich dem stillen Trunke ergeben; so konnte es denn nicht fehlen, daß der kill me quick[2]-Whisky den Keim der schlummernden Krankheit rasch zur Blüthe trieb. Cox und seine Frau aber schienen in jeder Beziehung zu gedeihen und machten ein großes Haus, obgleich die Besserdenkenden sich von ihnen zurückzogen. Der frühere [648] gewandte Buchhalter trieb ein lucratives Commissionsgeschäft und hatte nebenbei durch die Dienste, welche er Douglas und Co. erwies, eine bedeutende Nebeneinnahme, außerdem aber einen gewissen Einfluß in der Geschäftswelt, weil Jedermann sich scheute, dem gefährlichen Agenten Opposition zu machen.

Einige Wochen später kündigte Francis Hargrave seine Clerkstelle in der Sägemühle, unter dem Vorwande, daß er L. ganz verlassen und nunmehr seinen längst gehegten Vorsatz, sich in Californien eine neue Existenz zu gründen, ausführen wolle. Wenige Tage darauf finden wir ihn in New-York wieder, wo er anscheinend eine Passage auf dem Dampfer „North-Star“ nach Aspinwall, Panama gegenüber, engagirte, indem er seinen Namen in der Liste der Passagiere eintragen ließ. Einen Tag vor der Abfahrt erschien er in der Office von Jones und Co., seinen alten Geschäftsfreunden, die ihn, weil sie mehr oder weniger sich an seinem Unglück schuldig fühlten, mit einem Gemisch von Freundlichkeit und Zurückhaltung empfingen.

„Ich bin nicht hergekommen,“ sagte er, „um Ihnen Vorwürfe zu machen, Mr. Jones, obgleich Sie mir sehr weh gethan haben, aber eine Gefälligkeit müssen Sie mir noch erweisen, darum muß ich bitten; dann soll auch Alles vergessen sein.“

„Und das wäre?“ sagte Jones, indem er ihm einen Stuhl hinschob und seine Verlegenheit zu verbergen suchte.

„Sie sehen, Mr. Jones, ich bin im Begriff nach St. Francisco zu reisen, um ein neues Leben anzufangen,“ antwortete Hargrave, indem er dem New-Yorker Kaufmann seinen Passageschein zeigte, „und ich habe mir fest vorgenommen, niemals wieder nach L. zurückzukehren, weil der Aufenthalt dort mir unausstehlich sein muß.

Ich möchte Sie nun dringend ersuchen, mir die Gründe anzuführen, auf welche Sie mir die Bitte abschlugen, meine Noten im Betrage von 9000 Dollars um sechs Monate zu verlängern. Sie wissen, die Creditverweigerung von Ihrer Seite war die erste Ursache meines Falles.“

„Ach, lieber Hargrave, geschehene Sachen sind nicht ungeschehen zu machen,“ klagte Jones, „beruhigen Sie sich doch. Wenn ich mich erinnere, so waren damals einige Gerüchte über Sie hier im Umlauf, welche von Ihrem damaligen Buchhalter ausgehen sollten.

Wir gaben wenig auf diese Gespräche, hielten uns aber als Geschäftsleute verpflichtet, bei der geheimen Agentur anzufragen, und empfingen dann einige Tage später eine Karte von Douglas und Co., deren Inhalt uns bewog, jene Schritte gegen Sie zu thun, welche wir jetzt so herzlich bedauern. Wenn Sie die Karte sehen wollen, so steht dieselbe Ihnen zu Diensten.“ Damit ging Mr. Jones nach der feuerfesten Geldspinde, öffnete eine Schublade und brachte ein kleines Couvert zum Vorschein, welches Hargrave hastig ergriff.

Seine Augen ruhten auf der verhängnißvollen Karte und sogen sich gleichsam daran fest. Er fand den Buchstaben E und die Zahlen 1 und 4 mit rother Tinte angestrichen, während auf der innern Seite des Converts sein Name zu lesen war. Ohne eine Miene zu verziehen, die den Zustand seiner Seele verrathen könnte, gab er die Papiere zurück, indem er sagte: „Mr. Jones, ich bin Ihnen dankbar für das Vertrauen, welches Sie mir soeben geschenkt haben; nach dem, was ich soeben gesehen, kann ich es Ihnen nicht übel nehmen, daß Sie damals feindselige Schritte gegen mich thaten. Eines versichere ich Sie: diese Karte enthält Nichts als faule Lügen. Doch, wie Sie eben sagten, geschehene Dinge sind nicht ungeschehen zu machen, und so will ich ruhig meine neuen Pläne verfolgen; vielleicht wird mir Californien das ersetzen, was ich im Westen verloren habe.“ Dann schüttelte er Mr. Jones treuherzig die Hand und eilte schnellen Schrittes auf die Straße. –




Es war am Weihnachtsabend desselben Jahres, und die Straßen von L. zeigten für diese Tageszeit eine ungewöhnliche Regsamkeit. Aus allen Schaufenstern strahlte das helle Gaslicht. Die Detailhändler machten vergnügte Gesichter, und eine Menge froher Menschen strömte durch die Gassen, theils um noch Einkäufe zu machen, theils um die festlich decorirten Läden zu bewundern. Das Wetter war trübe und die grauen Nebelmassen, welche aus dem großen Flusse aufstiegen, hingen wie ein dichter Schleier über den Straßenlaternen. Dafür war es aber in dem Innern der Häuser desto komfortabler, wo die flackernde Flamme des Kaminfeuers ihr helles Licht über die Gesichter glücklicher Menschen und bunter Teppiche warf. In dem eleganten Parlor eines hübschen Gebäudes mit weißer Marmorfronte finden wir ein paar alte Bekannte wieder, Mr. Cox und dessen cokette Ehefrau. Ersterer saß in einem bequemen Lehnstuhl, eine Cigarre rauchend und in einem Album blätternd, während Mrs. Cox am Centretable[3] stand und die verschiedenen Geschenke ihres Gemahls prüfend musterte. Da ertönte die Schelle des Hauses, und kurze Zeit nachher erschien das Dienstmädchen, eine kleine, aber gut geschlossene Kiste tragend, welche es auf den Tisch setzte.

Auf die Frage des Hausherrn, woher das Kistchen komme, antwortete die Magd, ein kleiner deutscher Knabe habe die Glocke gezogen und ihr an der Hausthür dasselbe mit der Bemerkung überreicht, es sicher in die Hände von Mr. und Mrs. Cox gelangen zu lassen. Nichts war natürlicher, als die Vermuthung, irgend ein Freund oder ein Verwandter habe sich das Vergnügen gemacht, dem Ehepaare am Weihnachtsabend eine angenehme Ueberraschung zu bereiten. Beide Gatten musterten das anonyme Geschenk mit sichtbarem Erstaunen, und die eitele Frau dachte vielleicht für sich, daß irgend einer ihrer stummen Verehrer ihr ein kostbares Cadeau übersandt habe. Neugierig prüfte sie die Schwere des Kistchens, welche ihr auffiel, dann erfaßte sie die Querleiste des Schiebedeckels und … da erschütterte eine gewaltige Explosion das ganze Haus, die Flamme im Kamine erlosch, Fensterrahmen und Laden flogen auf die Straße, und eine dicke Dampfwolke suchte sich aus den geborstenen Wänden den Ausweg. Die erschrockenen Nachbarn stürzten herbei, der Ruf „Feuer“ erscholl, und eine dichte Menschenmenge drängte sich vor dem Hause zusammen. Als der Rauch etwas abgezogen war, wagten sich die Muthigsten hinein, aber welcher Anblick bot sich ihnen dar, als man erst Licht angesteckt hatte und so das Unheil besser überblicken konnte! Cox und seine Frau waren dermaßen durch die Splitter einer Granate, deren Trümmer man in dem Zimmer fand, verletzt, daß sie nur noch wenige Stunden zu leben hatten. (Die nähere Beschreibung der fürchterlichen Wunden erspart uns wohl der mitleidige Leser.) Das arme Dienstmädchen, welches aus angeborener Neugierde in der Thür stehen geblieben war, um zu sehen, was etwa in der Kiste wäre, wurde hart dafür bestraft, indem es eine schwere, aber gottlob nicht tödtliche Wunde an der Schulter davon trug.

Nichts konnte die Schnelligkeit übertreffen, mit welcher die Behörden am Platze waren und die nöthigen Maßregeln trafen. Die neugierige Menge wurde rasch entfernt, Aerzte wurden herbeigerufen, die unglücklichen Verstümmelten in einem unversehrt gebliebenen Zimmer des Hauses gut gebettet und verbunden, und dann die sorgfältigsten Nachforschungen über die Ursache der Katastrophe angestellt. Außer den Trümmern und Fragmenten einer sogenannten Orsinibombe fand man ein verbogenes Pistolenrohr mit zerbrochenem Schloß. Es war also klar, daß das todbringende Wurfgeschoß vermittelst der Pistole, deren gespannter Hahn mit dem Schiebedeckel der Kiste durch irgend eine Vorrichtung in Verbindung gebracht war, abgefeuert wurde. Ein halb verbrannter und zerrissener Draht, der an einem kleinen aber starken Nagel hing und um den geknickten Drücker wahrscheinlich vorher befestigt war, gab weitere Aufklärung. Da die beiden unglücklichen Gatten im Todeskampfe lagen und somit keine Auskunft geben konnten, wurde das weniger verletzte Mädchen so schonend wie möglich befragt, und man erfuhr den Vorgang mit dem deutschen Knaben, eben wie er sich zugetragen hatte. Diesen auszuforschen war die Aufgabe der Polizei, und schon um zehn Uhr, zwei Stunden nach der Explosion, gelang es dem Citymarschall, denselben auf die Mayorsoffice zu bringen. Daselbst angelangt, gestand der übrigens unbefangene und unbescholtene Knabe, er sei, als er etwas vor acht Uhr habe nach Hause gehen wollen, in der Nachbarschaft der Cox’schen Wohnung von einem unbekannten Manne angeredet worden; derselbe sei in einen Mantel mit hinaufgezogenem Kragen gehüllt gewesen und habe ihn gefragt, ob er einen Quarter (1/4 Doll.) verdienen wolle; da seine Eltern sehr arm seien, habe er das Anerbieten angenommen, und der Fremde, der sich übrigens gehütet habe, den Gaslaternen zu nahe zu kommen, habe ihm dann das Kistchen übergeben mit der Weisung, es vorsichtig in das bezeichnete Haus zu tragen und bei der Ablieferung hinzuzufügen, dasselbe müsse direct in die Hände von Mr. und Mrs. Cox gelangen. Da er nichts Arges geahnt hätte, habe er keinen Anstand genommen, den Auftrag auszuführen, zumal da er für den erhaltenen Quarter seiner kranken Mutter etwas habe kaufen wollen.

[649] Da der Knabe keine nähere Beschreibung des Fremden liefern konnte, war es unmöglich, auf diesen in der Stadt zu fahnden, indessen die Worte der sterbenden Mrs. Cox, daß Francis Hargrave der Thäter sei, brachten die Polizisten bald auf die Spur. Da ziemlich sicher anzunehmen war, daß derselbe im Fall der Schuld unmittelbar nach der Katastrophe L. verlassen habe, so sandte man einen gewandten Beamten nach New-York, weil es bekannt war, daß er sich von dort hatte nach Californien einschiffen wollen, um daselbst die Spur aufzusuchen. Der Beamte erfuhr auch bald genug, daß Hargrave sich als Passagier habe auf dem North-Star einschreiben lassen, aber am Tage der Abfahrt ausgeblieben sei und somit die bezahlte Hälfte des Passagiergeldes verloren habe, ein Umstand, der deutlich bewies, daß die prätendirte Reise nach St. Francisco nur auf Täuschung berechnet war. Wohin er sich aber von New-York gewandt hatte, war unmöglich zu erfahren; jedenfalls mußte er in den vier Wochen, welche zwischen der simulirten Einschiffung und dem Doppelmorde lagen, in den Staaten verweilt haben. Da kam dem Spürsinn der Polizisten, als sie eben die Fährte zu verlieren fürchteten, eine neue Thatsache zu Hülfe. Aus einer westlichen Stadt am obern Mississippi meldete ein Schlosser, daß einige Zeit vor Weihnachten ein Fremder in der Tracht eines Grenzfarmers zu ihm gekommen sei, um eine solche Bombe zu bestellen; auf seine Frage, was er damit wolle, habe er geantwortet, nahe bei seiner Farm sei ein großes Raubthier, was ihm schon viel Schaden angerichtet habe, dieses wolle er damit tödten; auch die Einrichtung mit dem Pistolenlauf habe er ihm angegeben. Die Beschreibung der Person stimmte mit der Hargrave’s überein; nur die Kleidung paßte nicht, indessen letzterer Umstand war unwesentlich. Wie es aber dem Verbrecher gelungen war, unerkannt nach L. zu kommen, wo ihn doch Jedermann kannte, ist bis heute noch nicht aufgeklärt, da weder die Conducteure der Eisenbahnzüge noch die Clerks der Dampfer, welche an jenem Unglückstage in L. ankamen, ihn gesehen haben wollten. Endlich brachte man in Erfahrung, daß Hargrave hinten in Iowa am Des Moinesflusse nicht weit vom Spirit-Lake (Geistersee) weitläufige Verwandte habe, und so machte sich einer der gewandtesten Beamten auf den Weg, um ihn vielleicht dort zu finden. Unterwegs requirirte er die Begleitung des ebengenannten Schlossers, um, falls Hargrave wirklich der Besteller der Orsinibombe war, denselben zu identificiren. Beide Männer erreichten den Ort ihrer Bestimmung bei Einbruch der Nacht und trafen ihn in dem Blockhause seiner Verwandten am Kaminfeuer sitzend. Der Polizist, ein entschlossener Mann, ging auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Herr, Sie sind mein Gefangener.“ Hargrave, als er den ihm wohlbekannten Beamten und den Schlosser sah, streckte ruhig seine Hände aus, um sich die Schellen anlegen zu lassen, ohne ein Wort zu sagen. Als aber in diesem Augenblicke seine Vettern eintraten und Miene machten, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, denn mit diesen Grenzern ist nicht zu spaßen, sprach er kleinlaut: „Laßt gut sein, Jungens, mir geschieht schon recht; nichts gegen das Gesetz!“ Als die beiden stämmigen Hinterwäldler sahen, daß er sich schuldig fühlte, schüttelten sie ihm zum letzten Male die Hand und wandten sich thränenden Auges ab.

Acht Tage später finden wir Hargrave im Countygefängnisse zu L. wieder, seinem Urtheile entgegensehend. Da es nicht der Zweck dieser Zeilen ist, die amerikanische Criminaljustiz zu schildern, so wollen wir nur noch hinzufügen, daß er für den fast teuflisch ausgedachten Doppelmord seinen Lohn fand, indem er zum Strange verurtheilt wurde. Er ward von Vielen aufrichtig bedauert, und mit Recht ballte sich manche Faust gegen ein Institut, das, obwohl anscheinend geschaffen, Betrug und Schwindelei zu verhüten, erst recht jeder Schlechtigkeit Thür und Thor öffnete und dadurch die Existenz eines sonst braven Menschen zerschmetterte.

Wie groß die Macht der geheimen Agentur war, geht daraus hervor, daß die amerikanische Presse, welche doch Alles mehr als zu frei zu besprechen pflegt, ein absolutes Stillschweigen über Douglas und Co. beobachtete. Indessen sollen nach den letzten Nachrichten die Theilhaber der Firma, durch die öffentliche Meinung geängstigt, sich zurückgezogen und ihren Antheil an ebenso unternehmende als gewissenlose Leute verkauft haben. Hoffen wir aber, daß das amerikanische Volk, ebenso wie es jetzt ernstlich danach trachtet, die Sclaverei mit den größten Opfern abzuschaffen, auch diesen Schmutzfleck bald von sich abwaschen wird.




Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nr. 7.0 Die Erstürmung des Grimmaischen Thores von Leipzig.
Von Ferd. Pflug.

Es war um die zehnte Vormittagsstunde am 19. October 1813, der Riesenkampf um Leipzig, das ungeheuere Drama der Völkerschlacht nahte seinem Ende. Mit dem Abend des 18. October waren die Franzosen auf den meisten Punkten bis dicht an die Stadt zurückgedrängt worden, und seit Mitternacht befanden sich die Reste ihres Heeres durch das Ranstädter Thor (zwischen der großen und kleinen Funkenburg gelegen) auf der Lützen-Naumburger Landstraße im vollen Abzuge begriffen. Bei Lützen hatte Napoleon am 2. Mai desselben Jahres den ersten großen Schlag in diesem Feldzuge ohne Gleichen geführt, nach Lützen zurück strebten jetzt die zerschlagenen Trümmer seiner Schaaren. Die beiden großen Marksteine des gewaltigsten Kriegszuges, welchen die neuere Geschichte kennt, dessen Ausgangs- und Entscheidungspunkt gleichsam, lagen so – ein seltsames Verhängniß – kaum einige Stunden auseinander.

Noch war indeß ein Nachlassen des schon seit dem frühesten Morgen wiederentbrannten Kampfes nicht wahrzunehmen; im Gegentheil, der Schlachtenlärm steigerte sich von Minute zu Minute. Es galt zur Krönung des großen Werks, Leipzig, den letzten Stützpunkt der feindlichen Macht, in die Gewalt der Verbündeten zu bringen, aber so kräftig der Angriff, so mannhaft erwies sich die Vertheidigung. Das 7., 8. und 11. französische Corps, wie Theile des 3., 5. und 6. Corps, zusammen noch über 30,000 Mann, waren von dem großen französischen Schlachtenkaiser bestimmt, die noch nach alter Art theilweis befestigte Stadt zur Deckung des Rückzugs seiner Armee gegen die herandrängenden Heere seiner Gegner auf’s Aeußerste zu behaupten, und in getreuer Erfüllung der ihnen zugefallenen Aufgabe machten sie diesen jeden Fußbreit Boden streitig. Eben erst war es den verbündeten Colonnen gelungen, die Vortruppen der feindlichen Abtheilungen bis zu den Thoren der Stadt selbst zurückzudrängen und sich im Angesicht der Letzteren zu vereinigen. In weitem Halbkreise um Leipzig, von dort, wo gegen Norden das Rosenthal mit seinen schattigen Waldpartien sich der Hallischen Vorstadt anschließt, bis wo im West die sich daselbst vereinigende Pleiße und Elster mit ihren zahlreichen Verbindungsgräben jedem Gewaltangriffe kaum zu bewältigende Hindernisse entgegensetzen, wallte von unzähligen Stellen der weißgraue Pulverdampf in schweren, langsam emporstrebenden Wolken auf, oder wirbelte dazwischen auch in leichten flockigen Wölkchen in die klare Morgenluft des freundlichen Herbsttages. Das nicht abreißende Krachen des Geschützes und das Knattern des Kleingewehrfeuers vereinigten sich mehr und mehr zu einem betäubenden, eine Unterscheidung der einzelnen Schläge nicht mehr zulassenden Donner.

Der härteste Streit schien augenblicklich im Norden zu wüthen, wo Blücher, der alte Marschall Vorwärts, mit den Russen unter Langeron das Halle’sche Thor bestürmte. Im Süden von Leipzig hatte die russische Reserve-Armee unter Benningsen die Führung der heranziehenden verbündeten Heersäulen übernommen. Sechzig vor der Front der Truppen des genannten Generals in Batterien aufgefahrene Zwölfpfünder versuchten die Mauer des Bose’schen Gartens zwischen dem Hospital- und Sandthor in Bresche zu legen, doch die Kugeln schlugen durch die dünnen Lehmwände zwar durch, ohne dieselben jedoch niederzuwerfen. Ein Angriff der zu diesem Corps gehörigen 13. russischen Division, bei welchem die derselben vorauseilenden Sappeurs ein Stück der Mauer wirklich einschlugen, scheiterte nichtsdestoweniger an der ausdauernden Tapferkeit der Vertheidiger. Parlamentaire flogen mittlerweile hin und wieder, eine Deputation der Stadt bat bei den verbündeten Monarchen um Schonung für dieselbe. Die russische Batterie mußte abfahren, das Corps selbst wandte sich mit halblinks gegen den Windmühlenschlag und das Petersthor. Oesterreicher unter General Bubna und das [650] preußische Corps unter Kleist vereinigten sich hier mit demselben, doch beschränkte sich das Gefecht nach dieser Richtung vorläufig und noch bis auf lange hinaus auf ein bald mehr, bald weniger lebhaft unterhaltenes Geplänkel und ein bei der gedeckten Stellung der Gegner ziemlich unwirksames Geschützfeuer.

Vor dem äußern Grimmaischen Thore (welches zwischen dem Johannishospital und dem jetzt zur dritten Bürgerschule gehörigen ehemaligen Armenhause stand) war an Stelle der abgezogenen Russen das preußische Corps von Bülow eingetreten. Die Schweden unter ihrem Kronprinzen, dem ehemaligen französischen Marschall Bernadotte und zeitherigen Oberbefehlshaber der verbündeten Nordarmee, standen dahinter in Reserve, ebenso eine russische Abtheilung unter Woronzoff. Der Hauptschlag sollte gegen dieses Thor geführt werden.

Drei Bataillone bildeten die Spitze des preußischen Heerestheils. Links der zu dem Thore führenden Landstraße stand das Königsberger Landwehrbataillon unter Major Friccius, rechts das Füsilier- und etwas mehr zurück das zweite Bataillon des dritten Ostpreußischen Infanterie-Regiments unter den Majoren von Gleißenberg und Müllenheim. Weiter vorn schossen sich die durch Einhalten einer irrthümlichen Richtung hierher verschlagenen Tirailleurs eines anderen, des Colberg’schen Regiments mit feindlichen Schützen herum, welche hinter den Gartenmauern und namentlich von dem weit über das Grimmaische Thor hervorspringenden und mit einer steinernen Mauer umgebenen Johanniskirchhof hervor feuerten. Eine französische Batterie hielt noch außerhalb des Thores und richtete ihre Geschosse vorzugsweise auf das dem Thore zunächst stehende Landwehrbataillon. Der Stand desselben war furchtbar heiß, eben hatte eine feindliche Paßkugel wieder vier Mann desselben zugleich niedergeschmettert. Die Nächststehenden, von dem umherspritzenden Blut und Hirn der Getroffenen überschüttet, drängten durcheinander, Verwirrung schien unter den anschließenden Rotten einreißen zu wollen.

„Bück’ Dich. Rennefuß,
Es kommt ein Prallschuß,“

lachte eine Stimme. Dieser Vers war zum stehenden Witzwort bei dem Bataillon geworden, seitdem bei Dennewitz ein Wehrmann dieses Namens sich, um so den Gefahren der Schlacht zu entgehen, für todt niedergeworfen und nachher bei seinem Wiedereinfinden gegen seine Cameraden diese Handlung mit einem empfangenen Prallschuß entschuldigt hatte. Der schlechte Reim verfehlte auch diesmal nicht seine altgewohnte Wirkung. „Wo ist der Rennefuß? Bück’ Dich! Bück’ Dich!“ jubelte es im Thor. Der arme Kerl knirschte mit den Zähnen. „Soll Euch doch das Donnerwetter!“ brummte er in den buschigen Bart, und seine Augen flammten. Die Lücke ward wieder geschlossen, eine preußische Batterie rasselte vorüber, die entgegenstehenden feindlichen Geschütze zum Abzuge zu zwingen.

Wieder waren neue feindliche Geschosse in das Bataillon eingeschlagen, von links und rechts hatte der Feind dasselbe in ein wirksames Kreuzfeuer genommen, es schien unmöglich, länger auf dieser so sehr exponirten Stelle ausharren zu können. Ein Adjutant sprengte von dem rückwärts stehenden Hauptcorps an den unbeweglich vor der Front seiner Truppe haltenden Commandeur und überbrachte demselben eine Meldung. „Sagen will ich’s ihnen,“ erwiderte der Angeredete, sich gleichmüthig den schwarzen Schnurbart streichend, „sie thun’s aber doch nicht!“ – „Cameraden,“ kehrte er sich zu dem Bataillon, „der commandirende General gestattet Euch, zum Schutze gegen das feindliche Feuer Euch niederzulegen.“

Ein paar Mann schienen wohl Willens, von dieser Erlaubniß Gebrauch zu machen, doch auf den zürnenden Zuruf der Cameraden richteten sie sich schnell wieder auf. „Die Königsberger Landwehr bückt sich nicht!“ lief der Ruf durch die Glieder. Das Bataillon stand wie zur Parade gerichtet.

Die diesseitige Artillerie begann allmählich über die französische ein Uebergewicht zu gewinnen, die noch vor dem Thore aufgefahrenen feindlichen Stücke gingen, theilweise demontirt, durch dasselbe zurück. Ein zweiter Adjutant jagte herzu: „Das Bataillon vorrücken!“ lautete die überbrachte Meldung.

Ein hoher preußischer Officier kam den schon in Marsch gesetzten Landwehren nachgesprengt. Es war der Prinz von Hessen-Homburg, der Befehlshaber der Brigade, zu welcher sowohl dieses, wie die vorerwähnten beiden Linienbataillone gehörten. „Major Friccius,“ rief er dessen Führer schon aus der Ferne zu, „Ihr Bataillon wird den Sturm auf das Thor eröffnen, die Bataillone von Gleißenberg und Müllenheim werden dasselbe unterstützen. Jetzt gilt’s, Wehrmänner,“ kehrte er sich zu den Mannschaften, „jetzt sollt Ihr beweisen, daß Ihr an Tapferkeit auch den bravsten Linientruppen nicht nachsteht. Vorwärts denn! Hoch dem König!“

„Hurrah! Hurrah!“ Der Prinz hatte sich an die Spitze der in stürmischer Begeisterung vordringenden Truppe gesetzt. Er winkte mit dem Degen den bei dem Vorbrechen der Sturmcolonne sich ha[rt] unter der Kirchhofsmauer sammelnden Tirailleurs des Colberg’schen Regiments, an dem Angriff Theil zu nehmen, und rief ihnen zu; doch die Mütze und der Mantel, welchen er trug, mochten diese in ihm nur einen Landwehrführer vermuthen lassen. Niemand rührte sich in dem Haufen. Die Rivalität zwischen der preußischen Linie und Landwehr stammt nicht erst von heute, und es war ein stehender Grundsatz bei den Mannschaften der Ersteren, nie Befehle von einem Landwehrofficier anzunehmen.

Eine von der Stadt hersausende Kanonenkugel hatte den Führer der vordersten Compagnie um sich selber gewirbelt und ihm die Mütze vom Kopfe gerissen. Die Letztere stäubte in Fetzen herum, doch der tapfere Mann, kaum fest wieder auf den Füßen, stürmte den Seinen nach und ohne Kopfbedeckung weiter. Durch den vorigen ärgerlichen Vorfall war der glühende Eifer der wackeren Wehrmänner vollends zur wahren Tollkühnheit und Todesverachtung angestachelt worden. Wo die Linie nicht anzugreifen wagte, da – der Entschluß stand fest bei jedem Manne des ganzen Bataillons – sollte die Landwehr durchdringen. Instinctmäßig fühlte Jeder, daß hier kein Zurückweichen möglich sei, das Thor mußte auf alle Fälle genommen werden.

Ein Hagelschauer von Kugeln empfing die Stürmer. Aus dem einen Theil der vorspringenden Kirchhofsmauer bildenden Gebäude, wie aus den rechts vom Thore sich anschließenden und nach hierhin die Stadtumfassung vervollständigenden Häusern zuckte Blitz auf Blitz und keiner ohne Wirkung auf den engzusammengepreßten Sturmhaufen. Auch in die aus mächtigen Eichenplanken gezimmerten Thorflügel hatten die Franzosen Schießscharten eingeschnitten, und selbst von dem Thurm der Johanniskirche pfiffen die feindlichen Geschosse. Es fehlte an Sturmwerkzeugen, Leitern, Aexten. Beim Vorgehen hatte man versäumt, das Bataillon hiermit auszurüsten oder ihm eine Pionierabtheilung beizugeben. Vielleicht daß das Geschütz das Thor einzuschießen vermocht hätte, doch dasselbe befand sich weit zurück, und bevor es herbeigeholt werden konnte, mußte unter diesem Höllenfeuer die Vernichtung der so preisgegebenen Schaar unbedingt längst besiegelt sein. Nur von der eigenen Kraft und Energie blieb hier Hülfe und eine günstige Entscheidung zu hoffen.

„Vorwärts! vorwärts! Laßt nicht nach!“ Der Prinz war der Erste von Allen gegen das Thor vorgesprengt, doch fast im selben Moment sank er von einem Schuß zwischen Brust und Schulter getroffen vom Pferde. Dem Roß des Majors ward von einer Kugel der Kiefer zerschmettert, das durch den Schmerz rasende Thier bäumte und überschlug sich mit seinem Reiter, kaum daß dieser noch mit seinen Füßen den Boden gewinnen konnte. Ein Haufe der kühnen Stürmer hatte sich trotz des sicheren von dort drohenden Verderbens gegen das Thor gestürzt und versuchte die Flügel desselben mit mächtigen Wuppen und „Joho!“ mit den Schultern einzusprengen. Andere strebten die feindlichen Gewehre, die sich aus den in die Mauern der Gebäude gebrochenen Schießscharten vorstreckten, mit den Händen festzuhalten oder mit der ganzen Wucht ihres Leibes niederzudrücken. Auch der Lieutenant Dulk war in diesem wahnsinnigen und vergeblichen Ringen von einer feindlichen Kugel tödtlich getroffen niedergesunken.

„Major, sehen Sie dort das Thorwärterhäuschen! Das Fachwerk desselben hält kaum mehr zusammen; das Einschlagen kann unmöglich große Schwierigkeiten bieten.“ Der Adjutant des Bataillons, Lieutenant Gädicke, zur Zeit der einzige noch zu Pferde befindliche Officier, hatte die Blicke herumwerfend entdeckt, daß das einen Theil des Thors selbst bildende Thorwärterhäuschen sich als der einzige Punkt erwies, aus welchem nicht gefeuert wurde. Dasselbe war von Fachwerk gebaut, und bei dem Versuch, wie in allen anderen Gebäuden Schießscharten herauszubrechen, hatte sich das eine Fachstück so weit nach außen vorgeneigt, daß wahrscheinlich um der augenscheinlichen Gefahr willen, das ganze schwache Mauerwerk herausstürzen zu machen, der Feind von diesem seinem Vorhaben wieder abgestanden haben mochte.

„Folgt mir, Cameraden!“ Dem Nächsten das Gewehr aus der Hand reißend, stürzte der Major zu der bezeichneten Stelle. Der [651] erste Kolbenstoß schon ließ einige der nur noch locker verbundenen Steine zur Erde rollen. Zwanzig Hände griffen zu, die entstandene Lücke zu erweitern. Mit den abgerissenen Bajonneten und kräftigen Kolbenstößen ward die Bresche vollends eröffnet. „Hurrah! wir haben sie! das Thor ist unser!“ jauchzte und jubelte es durcheinander. Alles stürmte herzu. Rennefuß hatte unter den Vordersten ein ganzes Fach eingestoßen, nur leider in voller Mannshöhe und so unglücklich, daß ihm die Querbalken nichtsdestoweniger den Eintritt versperrten. Daneben wogte ein athembeengendes Gewühl um die zweitgebrochene Mauerlücke, jeder wollte der Erste sein, durch dieselbe einzudringen. „Rennefuß, hol’ Dir ’ne Leiter,“ spottete der Eine; „bück’ Dich!“ schrieen Andere. Der Aermste wußte unter den über ihn ausgeschütteten Hohn- und Stichelreden nicht, wie ihm geschah; eben noch vorn, sah er sich plötzlich ganz aus dem Sturmhaufen herausgedrängt. Der lange Schlagetodt heulte vor Wuth und versuchte vergeblich sich durch die dichtzusammengepreßte Menge wieder zu seinem vorigen Platze durchzuarbeiten; sein vorhin im Geheim gefaßter Entschluß, mit unter den Ersten in die Stadt einzudringen und durch verdoppelte Bravour seinen einstigen Fehl von Dennewitz bei den Cameraden vergessen zu machen, war so nur zu seinem erneuten Nachtheil ausgeschlagen.

„Alle Mann hierher! Die Kerle wollen wir schon noch aus dem Loche herauskäschern.“ Sechs oder acht Mann brachten auf ihren Schultern von einem weiter vorn zur Seite der Landstraße angefangenen Bau einen mächtigen Balken getragen. „Angefaßt, Cameraden, halloh!“ Der Stoß des improvisirten Sturmwidders dröhnte dumpf von den gesperrten Thorflügeln wieder. Jeden Augenblick rissen die feindlichen Kugeln den Einen oder den Andern von den mit ihren Armen dies seltsame Sturmwerkzeug in Schwung setzenden Leuten nieder, doch immer Neue traten an die Stelle der Gefallenen. Ein paar Mann hatten den verwundeten Prinzen aufgehoben, um ihn zurückzutragen. „Laßt mich,“ wehrte er denselben, „vorwärts! vorwärts! Die Landwehr kann heute die ältesten Grenadiere beschämen.“ Das eine der beiden im Rückhalt folgenden Linienbataillone war, wahrscheinlich in der Absicht, durch die Gärten, welche sich zwischen dem äußeren Grimmaischen und dem Hinterthor (beim jetzigen Schützenhause) ausbreiteten, vielleicht leichter in die Stadt zu gelangen, nach rechts ausgebogen, doch das aus einem in der Richtung des letztgenannten Thores weit vorspringenden Gartengehöft auf dasselbe gerichtete Geschütz- und Gewehrfeuer wehrte ihm das Vordringen. Das zweite Bataillon hielt unter den sicheren Schüssen der feindlichen Schützen auf dem Kirchhofe weiter zurück auf der Landstraße und schien seine Zeit noch abwarten zu wollen. Alle die letzterzählten wie die nächstfolgenden Vorfälle drängten sich beiläufig in die Frist weniger Minuten zusammen.

„Kinder, Ihr werdet mich nicht verlassen!“ rief der Major. Die Oeffnung im Thorwärterhäuschen erwies sich weit genug, um einem oder auch zwei Mann zugleich in gebückter Haltung das Durchzwängen zu gestatten. Der Major hatte sich zuerst hineingestürzt, doch unter den Händen gleichsam war ihm zuvor noch ein kleines, behendes Kerlchen vorausgeschlüpft. Ein paar Schüsse knallten aus dem Innern des Gebäudes, und in der Bresche selbst brach von einer Kugel in die Stirn getroffen unter den Nächstfolgenden der Hauptmann Motherbi zusammen. „D’rauf! Schlagt todt! Hurrah!“ donnerte der Schlachtruf der kühnen Stürmer schon jenseit des Thores. Mit einer Riesenanstrengung sich unter die Nachstürzenden einschickend, ward Rennefuß von der sich mit der Gewalt eines angeschwollenen Sturzbaches durch die Mauerlücke ergießenden Menschenwoge erfaßt und emporgehoben. Kopflängs über der Menge schwebend, knallte er mit der Stirn gegen den oberen Rand der Bresche, daß das Haupt gleich hinten überschlug und das aus einer tiefen Wunde über den Augen hervorquellende Blut das ganze Gesicht überströmte. Er verlor die Besinnung, indeß zum Niedersinken blieb hier kein Raum, zwischen den Cameraden eingepreßt, ward der Ohnmächtige mit fortgerissen, und erst als auf dem freien Raum vor dem jenseitigen Eingang desselben sich diese Umstrickung löste, schlug der immer unglückliche Pechvogel halb todt und völlig kampfunfähig zur Erde nieder.

Die Besatzung des Thors hatte bei dem Eindringen der Landwehr nicht Stand gehalten, den Haupttheil derselben sah man an der sich auch innerhalb der Stadt noch eine ganze Strecke fortsetzenden Kirchhofsmauer vorbei den Grimmaischen Steinweg hinabflüchten. Nur ein kleines Häuflein derselben unterhielt noch von dem Eingange der letztgenannten Straße her ein schwaches und unregelmäßiges Gewehrfeuer wider die sich vor dem Thorwärterhäuschen Sammelnden. Das erste Vorgehen der Letzteren genügte indeß, auch diesen noch zusammenhaltenden Rest in die Flucht zu scheuchen. Das Thor war auf seiner inneren Seite mit dagegen gestemmten Balken, umgestürzten Karren und Fuhrwerken, Tonnen, aufgerissenen Pflastersteinen und allem möglichen Hausrath verrammelt. Von außen erschallten noch immer die dawider geführten Stöße des Sturmbocks, Geschrei, Schießen, Trommelwirbel, hier innen dagegen war es verhältnißmäßig still, nur einzelne Schüsse knallten im Rücken der vorgegangenen kleinen Abtheilung von der Kirchhofsmauer.

„Bataillon halt!“ Der etwa auf 100 bis 120 Köpfe angewachsene Haufen war über den freien Platz vor der Kirche bis zu der Stelle vorgedrungen, wo sich nach links von dem Grimmaischen Steinweg eine kleine Gasse abzweigte, nach rechts, einige Schritte weiterhin, der Ausgang der breiteren Querstraße mündete. Vor dem Thore waren zwanzig oder dreißig der Letzteingedrungenen beschäftigt, die Verrammelung wegzuräumen. Einzeln, zu Zweien oder Dreien kamen noch fortgesetzt neue Mannschaften nachgeeilt.

Bisher waren die Straßen todtenstill erschienen, jetzt öffnete sich in einem der benachbarten Häuser ein Fenster, und ein niedlicher Mädchenkopf schaute heraus. „Preußen! Preußen! unsere Erretter! unsere Befreier!“ Wie durch Zauberschlag änderte sich die Scene, die verschlossenen Thüren öffneten sich, alte Mütterchen, Weiber, Männer, Kinder stürzten daraus hervor, den eingedrungenen Kriegern, was die eigene Noth ihnen noch gelassen, zuzutragen.

Auf dem Kirchhofe war es mittlerweile lebendig geworden. Des ennemis! des Prussiens! hörte man rufen; Trommel- und Hornsignale schallten dazwischen. Ein scharfe Salve von dort ließ die erschreckten Einwohner wieder in ihre Behausungen zurückflüchten. „Vorwärts!“ donnerte das Commando des Majors, „das Bataillon nimmt die Richtung nach links.“ Die Gasse ward im Sturmschritt zurückgelegt, doch kaum daß die Vordersten in die nächste Querstraße eingebogen, so stürzten sie auch wieder zurück. „Alles schwarz von Franzosen!“ verbreitete sich der Ruf. In einem Augenblick hatte sich das verwirrte Getümmel wieder bis auf den freien Platz vor der Kirche übertragen.

„Steht! steht!“ versuchten die preußischen Officiere ihre Wehrmänner zu erneuten Anstrengungen anzufeuern. Binnen einem Moment waren zwei oder drei der tapferen Führer von den feindlichen Bajonneten durchbohrt niedergesunken. „Schnell das Thor auf! Heran! heran!“ tönte das Geschrei. Einige riesige Landwehrmänner drängten in diesem Augenblicke vor und schlugen mit Kolben ein. Der nächste Franzose brach unter dem wuchtigen Kolbenschlage mit zerschmettertem Schäoel zusammen. „Immer d’rauf, Cameraden!“ ein zweiter und dritter Gegner stürzten, „hurrah! hurrah!“ die Kolben knackten und krachten, hin und wieder wogte das verzweifelte Handgemenge.

Ein tobendes Jubelgeschrei im Rücken bewies, daß das Thor endlich den vereinten Anstrengungen von innen und von außen nachgegeben hatte. Die nach dorthin vorgerückten Franzosen flüchteten vor dem hereinbrechenden Schwall rückwärts. „Hurrah! die Königsberger Landwehr!“ donnerte der Jubelruf hinterher. Von dem Kirchhofe pfiffen noch immer die Kugeln. Ein Haufe der Neueingedrungenen wandte sich gegen dessen Pforte. Der Feind schwankte immer auffälliger. Das Wirbeln des Sturmmarsches und der feste Taktschritt des jetzt ebenfalls durch das Thor eindringenden Linien-Bataillons entschied endlich vollends. In eine einzige wirre, blutende Masse gepreßt, die Sieger auf den Fersen, flüchteten die Franzosen den Grimmaischen Steinweg aufwärts.

Das Gatterthor des Kirchhofs lag erbrochen, die Besatzung hatte sich gefangen gegeben, doch noch unter der Entwaffnung derselben drängten frische feindliche Massen durch die linke Quergasse heran, und auch auf dem Steinwege war das Gefecht von Neuem zum Stehen gekommen. Der Kampf entbrannte abermals und erbitterter noch als zuvor, die Preußen, eben noch Sieger, sahen sich bis fast wieder zu dem Thore zurückgetrieben.

Plötzlich tönte das Hurrah auch aus der nach rechts sich von dem Steinweg abzweigenden breiteren Querstraße, denn auch dem zweiten Linien-Bataillon war es mittlerweile gelungen, auf dem von ihm eingeschlagenen Wege in die Stadt einzudringen, und es warf sich jetzt von hier aus dem Feinde in die Flanke. Dieser mußte abermals zurück.

[652] Eine Fahne flatterte fast unter den letztgedrängten feindlichen Rotten. Der Feldwebel Moneck warf sich auf deren Träger und entriß, im wüthenden Kampfe mit den zur Rettung ihres Paniers herbeistürzenden Feinden, diesem mit dem Leben zugleich das kostbare Siegeszeichen. Der Wehrmann Leng nahm mitten in diesem Getümmel den französischen General Pieret gefangen.

Noch blieb jedoch die schwerste Probe dem siegenden Sturmhaufen vorbehalten. Die in voller Auflösung dem freien Platz vor dem inneren Grimmaischen Thore zuflüchtenden Feindesmassen bogen dort plötzlich nach rechts und links auseinander, und eine Kartätschenlage sauste die schnurgerade Straße hinunter. Schuß folgte auf Schuß. Die Verluste der diesem mörderischen Artilleriefeuer völlig schutzlos ausgesetzten schwachen preußischen Abtheilung stiegen in’s Ungeheuere. Die Führer der beiden Linien-Bataillone nebst noch 9 anderen Officieren derselben, wie bei dem Landwehr-Bataillon der Hauptmann Wagner und die Lieutenant Tollusch und Holzhausen wurden binnen nur wenigen Minuten todt oder verwundet niedergestreckt. Dennoch erwies es sich als völlig unmöglich, die Leute aus diesem Hagelschauer von Kugeln zurückzuführen, der tollste Wetteifer hielt die Einen wie die Andern auf der Stelle gefesselt. Da alle Versuche fehlschlugen, im Sturm gegen die den Straßendamm freifegenden feindlichen Kanonen vorzudringen, unterhielten sie hinter den Vorsprüngen der Häuser hervor ein freilich so gut wie völlig unwirksames Feuer wider dieselben.

Endlich erschien die Hülfe. Zwei schwedische Geschütze fuhren auf, das feindliche Feuer zu erwidern. Der dieselben befehligende Major stürzte zwar ebenfalls, bevor seine Kanonen nur zum Abprotzen gekommen, von einer Kugel durch den Kopf getroffen, indeß seine Kanoniere hielten aus. Desto schlechter bewährten sich einige mit ihrer Artillerie zugleich eingetroffene schwedische Infanterie-Compagnien, sie wichen, trotz des Zurufs ihrer Officiere, beinahe schon auf die ersten Schüsse wieder gegen das Thor zurück.

Die Erstürmung des Grimmaischen Thores durch die Königsberger Landwehr.
Originalzeichnung von G. Bleibtreu.

Bereits wirbelte jedoch auch aus der Richtung nach rechts der preußische Sturmmarsch, und die Flügelhörner riefen dazwischen. Unter Begünstigung des Kampfes [653] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.



um die äußere Grimmaische Vorstadt hatte General Borstell mit seiner Brigade im raschen Anlauf das Hinterthor gewonnen. Auch russische Plänkler, die durch die Lücke in der Mauer des Bose’schen Gartens eingedrungen waren, zeigten sich schon in den Gassen links. Vom Halle’schen Thore, im Rücken des Feindes, tönte der Lärm des Gefechts näher und immer näher. Dem aus der entgegengesetzten südlichen Richtung hörbaren heftigen Feuer nach zu urtheilen, mußten Benningsen, Kleist und Klenau endlich wohl auch den Mühlenschlag und das Petersthor angegriffen haben. Der Widerstand des Feindes begann merklich schwächer zu werden.

Entflammt durch diese günstigen Anzeichen hatten die tapferen Vorkämpfer hier einen neuen Sturmlauf unternommen. Der Ausgang des Grimmaischen Steinwegs (zwischen Augustus- und Johannisplatz) ward gewonnen, der Sieg auf dieser Stelle entschieden. Was vom Feinde noch zusammenhielt, suchte durch das innere Grimmaische Thor oder nach links die Esplanade entlang die innere Stadt zu gewinnen. Von rechts her tönte der tiefe Hörnerklang der pommerschen Schützen durch die Gassen, die Fenster öffneten sich auf diese freudigen Klänge wieder, und noch mitten hinein in das Schießen flatterten die weißen Tücher der freudetrunkenen Einwohner.

„Halt!“ Ein Adjutant überbrachte den drei Bataillonen der Hessen-Homburgschen Brigade den Befehl, stehen zu bleiben. Die Borstell’schen Truppen zogen vorüber, den Kampf vollends zu Ende zu führen. Die Arbeit war nicht mehr groß, das innere Grimmaische Thor ward denselben vom Feinde beinahe ohne Kampf überlassen. Das Schießen tönte allmählich immer ferner, ein dumpfer Knall endlich, und die Ranstädter Steinbrücke, der einzige Rückzugsweg für die zu der Vertheidigung der Stadt bestimmten feindlichen Corps, war in die Luft geflogen. Der Rest dieser, zusammen noch an die 20,000 Mann, befand sich dadurch rettungslos in die Gewalt der Sieger gegeben. Diese hatten nichts mehr zu thun, als die Waffen, Adler und Fahnen der versprengten und vergeblich nach einem Ausweg umherirrenden Feindeshaufen entgegenzunehmen.

[654] Von den drei erwähnten Schlachthaufen waren unterdessen die beiden Linienbataillone zu einer veränderten Bestimmung abberufen worden, nur die Königsberger Landwehr hielt noch ganz vereinzelt unter den mittlerweile den kämpfenden Truppen nachgerückten und jetzt den ganzen weiten Platz erfüllenden schwedischen und russischen Regimentern. Von den 450 Mann des Bataillons hatten kaum 100 sich um den heldenmüthigen Führer wieder zusammengefunden, und jeder Einzelne der tapferen Schaar trug in dem pulvergeschwärzten Antlitz und den Kugelspuren an Waffen und Kleidern die Zeichen des heißen Kampfes, aus welchem dieselbe so ruhmvoll hervorgegangen war. Der Contrast dieses Häufleins, in seinen längst aus allen Näthen gewichenen, kurzen Röcken und den der vorgerückten Jahreszeit spottenden Leinenhosen, mit den in Parade einmarschirten Schweden und Russen vermochte allerdings unmöglich größer gedacht zu werden; indeß die ruhmvollen Namen Großbeeren, Dennewitz, Leipzig verknüpften sich mit diesen unscheinbaren Volkskriegern, ein Vergleich mit ihren glänzenden, aber noch wenig erprobten Nachbarn konnte jedenfalls nur zu ihren Gunsten ausschlagen.

Officiere und Ordonnanzen jagten vorüber, die Führer der einzelnen verbündeten Corps, jeder von einem zahlreichen Gefolge begleitet, versammelten sich allmählich an dieser Stelle, um dem erwarteten Einzuge ihrer Monarchen beizuwohnen. Endlose Züge von Gefangenen bewegten sich über die Esplanade den Vorstädten zu. Von allen Thürmen erklang das erhebende Geläut der Glocken. Ein allgemeiner Freudentaumel schien alle diese Tausende ergriffen zu haben.

Da, noch inmitten dieser stolzen Siegeslust, traf der Befehl bei dem Königsberger Bataillon ein, vor die Stadt zu dem dort im Rückhalt verbliebenen Theil des Bülow’schen Corps zurückzukehren und mit demselben das Bivouac zu beziehen. Um vorauf in den Tod zu gehen, war die Landwehr gut gewesen, der triumphirende Einzug im Gefolge der verbündeten Herrscher blieb den für den Kampf sorgfältig geschonten Garden vorbehalten. Doch es war nicht diese kränkende Zurücksetzung allein, was an diesem Tage deutungsvoll die kommenden Dinge vorherverkündete. Der Umstand, daß von den sämmtlichen preußischen Landwehrbataillonen nur dies eine Bataillon und dies noch dazu unter so besonders schwierigen Umständen mit zu der Erstürmung von Leipzig herangezogen worden war, blieb schwerlich aus dem Streben der einzelnen Corps- und Brigadebefehlshaber allein zu erklären, den Linientruppen, aus welchen sie selbst hervorgegangen, den Ruhm dieser That und die von derselben zu hoffenden Trophäen zuzuwenden. Mit dem 18. October konnte das endliche Unterliegen Napoleon’s für so gut als besiegelt angesehen werden, und es bedurfte zu seiner vollen Niederwerfung nicht mehr so unbedingt der zu seiner Bewältigung in den Landwehren und Freiwilligen aufgebotenen eigensten und unmittelbarsten Volkskraft. Es blieb nur noch zu sorgen, daß diese dem Zeughause der Revolution entlehnte Waffe nicht denen, welchen sie durch die Gewalt der Umstände in die Hand gezwungen war, vielleicht einst selber gefährlich werde, und die alte, jetzt von der Furcht vor jenem ihrem gewaltigsten Widersacher befreite Cabinetspolitik dachte deshalb bereits auch daran, den unter dem Gebot der Noth entfesselten Volksriesen allmählich wieder in die alten Netze einzuspinnen. Unter dem Siegesjubel von Leipzig selbst wurden dazu die ersten Fäden gewoben.[4]


  1. Landhaifisch ist: betrügerischer Advocat.
  2. kill me quick, tödte mich schnell, Spottname für schlechten Branntwein.
  3. Centretable ist der elegante Tisch in der Mitte des Parlors
  4. Das Bild zu diesem Artikel ist einem Werke entnommen, von dem wir in Nr. 46, Jahrg. 1861 der Gartenlaube schon den großen Holzschnitt „Die Schlacht bei Dennewitz“ mitgetheilt haben, nämlich der unseren Lesern von uns bereits empfohlenen „Geschichte der deutschen Freiheitskämpfe. In Bildern von G. Bleibtreu und L. Pietsch,“ auf deren Veröffentlichung der Verleger (Franz Duncker) das Publicum fast zu lange warten läßt.
    D. Red.




Lesen und Vorlesen.

In diesen geschätzten Blättern erfreuen den Leser fortwährend die gediegensten Aufsätze hinsichtlich der physischen Pflege des Körpers und zwar mit besonderer Bezugnahme auf die Entwicklung des jugendlichen Organismus. Es sei uns vergönnt, diesen Ermahnungen und Rathschlägen, insofern sie sich speciell auf die weibliche Jugend beziehen, einige Worte hinzuzufügen, welche eine Seite des geistigen Lebens der weiblichen Kindheit in Betrachtung ziehen möchten, die nur zu häufig vernachlässigt wird. – Der Physiologe hat bei seinen Rathschlägen über vernunftgemäße Entwicklung des Körpers doch wohl vornehmlich das wichtigere Resultat im Auge, es möge sich in dem gesunden Körper auch ein gesunder, kräftiger Geist entwickeln, ja, er betrachtet gewiß das Letztere als die eigentliche Erfüllung und den Lohn für die Sorgfalt, die dem Ersteren zu Theil wird.

Nun möchten wir aber in aller Bescheidenheit hier daran erinnern, daß es dazu mit dem Turnen, kalten Waschen und Spazierengehen lange nicht allein gethan ist. Diese praktischen Bedingungen bei ihren Töchtern zu erfüllen, dazu zeigen sich die meisten Mütter willfährig genug, und viele setzen eine Art von Stolz hinein, ihre kräftigen, wohlgenährten Töchter zu produciren. Man befolgt gewissenhaft die Vorschriften des Lehrers der Gymnastik, die jungen Mädchen gehen bei Wind und Wetter spazieren, sie tragen Hals und Arme im Winter und Sommer entblößt, und zarten Constitutionen wird mit Eiern, kräftigen Fleischspeisen und nahrhaften Brühen bestens nachgeholfen. Wir tadeln dies gewiß nicht, aber wenn man dann auch nur die Seele gleichfalls so sorgfältig hüten, den Geist so kräftig zu ernähren trachten wollte. – Wenn sich unsere blonden und braunen Thusnelden, die künftigen Mütter einer starken Generation, physisch gut entwickeln, so dürfen wir gewiß einmal fragen, ob sie auch so gesund, klar und wahr denken, empfinden und reden, als ihr Aeußeres zu versprechen scheint. Wohnt in dem gesunden Körper auch wirklich die gesunde, freie Seele?

Wenn dem immer so wäre, woher kämen denn stets noch die vielen krankhaft gereizten, hysterischen Frauennaturen, woher so viel Verschrobenheit und Phantasterei, wo man mit Recht gesunde Vernunft, eine frische Lebensauffassung und vor allen Dingen nicht bis in ein respectables Alter das ewige Schmachten und Sehnen, das unbefriedigte Zagen und Bangen einer schwächlichen Seele zu finden erwarten dürfte? Uns über alle Mängel in der geistigen Pflege der Psyche zu verbreiten, würde hier viel zu weit führen, nur einen Wurm möchten wir einmal öffentlich bekämpfen, der gefährlich genug über diese frischen Blüthen hinkriecht, und sie oft schon mit sich und dem Leben entzweit, ehe sie nur noch dessen Ernst kennen gelernt haben, der sie Anforderungen und Ansprüche an das gewöhnliche Menschenloos stellen läßt, welchen dieses nur in den seltensten Fällen entspricht, und der endlich den Schmelz reiner und keuscher Weiblichkeit viel öfter, als man es denkt, bereits in der Knospe erstickt. Dieser Wurm ist die verfrühte und wahllose Lectüre von Büchern, die, oft für Erwachsene noch zu schlecht und verderblich, in der Hand der Jugend und des Kindes geradezu Gift sind.

Es ist eine merkwürdige, aber thatsächliche Erscheinung, daß oft die nämlichen Eltern, welche auf die physische Pflege ihrer Tochter jede erdenkliche Sorgfalt verwenden, sich um deren geistige und gemüthliche Entfaltung kaum bekümmern. Wenn sie nur hübsch und gesund ist, wenn ihre äußere Erscheinung ihr nur bald zu einer guten Partie verhilft, dann mag es um das Innere bestellt sein, wie es wolle. – Man sehe sich in seinem eigenen Bekanntenkreise um, man erinnere sich an die frühere Geschichte so mancher Jugendfreundin, und man wird es ganz natürlich finden, daß nur zu häufig diese kräftigen Knospen trotz ihres frischen Aussehens schon innerlich angesteckt und verkrüppelt sind, ehe sie nur in das Leben hinaustreten. Unendlich wenig Mütter kümmern sich darum, wie ihre heranwachsenden Töchter ihre freie Zeit ausfüllen. Wenn die Kleine nur ihre Schularbeiten gemacht, tüchtig geturnt und Clavier gespielt, vielleicht auch im günstigen Fall eine Aufgabe an einer Handarbeit vollendet hat, dann mag sie thun, was sie will. Nur zu oft bedient das Mädchen sich dann seiner Freiheit, um sich von dem Toiletten- oder Schreibtisch der Mama den ersten besten Roman zu holen, sich damit in eine entfernte Ecke zurückzuziehen und dessen Inhalt mit großem Wohlbehagen zu verschlingen.

Die Kinder sind darum nicht zu tadeln, es ist ein großes Vergnügen für ein gewecktes, phantasievolles Mädchen, sich in diese poetische Welt voll ungekanntem Schmerz und leise geahntem Glück hinein zu leben und hinein zu dämmern, aber leider genießen es nur die Wenigsten ungestraft. Dennoch ist es eine schwere, oft verzweifelte Aufgabe der Eltern, das Schädliche dieser Lectüre klar zu machen; selbst ganz gescheidte Leute sind in dieser Beziehung unzugänglich. Es ist ihnen zu unbequem, sich fortlaufend darum zu bekümmern, was ihr Kind treibt, und so mögen sie es nicht begreifen, [655] welch ungeheuerer Schaden dem Mädchen aus der hastigen, ungeregelten Lectüre erwächst, die seine Phantasie unnatürlich früh erregt und die Entwicklung des gesunden Verstandes in jedem Falle hemmt. Ganz gewiß läßt sich mindestens die Hälfte weiblicher Verschrobenheit und Verkehrtheit auf das vorzeitige Lesen von Romanen und sonstigen ungeeigneten Büchern zurückführen. Man hütet seine Kinder vor schlechter Gesellschaft, aber mit unbegreiflicher Gedankenlosigkeit läßt man sie oft Jahre lang unbewacht in der noch verderblicheren Gesellschaft von unpassenden Büchern, welche dem Papa und der Mama wohl nichts mehr schaden, aber die Reinheit einer jugendlichen, Seele auf immer untergraben können. Die meisten Mütter sind sich, wie in vielen andern Dingen auch, zwar oft dunkel bewußt, daß sie es verhüten sollten, aber einestheils sind sie zu schwach, den Bitten des Töchterchens um Mamachens Buch zu widerstehen, und sie trösten sich und besorgte Warner mit dem trefflichen Argument: „Ach, das Kind versteht es ja noch gar nicht, was es liest!“ Ausgezeichnet, wozu liest es dann die Dinge überhaupt? und wird es aus diese Weise nicht ganz gewiß bald verstehen lernen, was es noch gar nicht wissen sollte? Zweitens sind sie zu bequem, dem leselustigen Mädchen für eine passende Lectüre zu sorgen, und lassen es lieber unbesprochen hingehen, wenn sie, ohne lange zu fragen, die ungehörigen Bücher zur Hand nimmt. Drittens sind sie auch oft so gedankenlos und zerstreut, es gar nicht zu bemerken, wo ihr Buch des Tages über hinkommt und wer es mit ihnen liest.

Es brauchen dies nun noch keineswegs frivole oder unsittliche Bücher zu sein, kein Roman, vielleicht der einzige Walter Scott ausgenommen, taugt für das Aller von 12–16 Jahren. Die erste unausbleibliche Folge der Romanlectüre in diesem Alter ist vor allen Dingen diese, daß sie jedes ernstere geistige Streben, jede Anstrengung, die Nachdenken erfordert, dem Mädchen verleidet. Die Wenigsten wollen dann noch ernstlich lernen, wenn sie die Süßigkeit geschmeckt haben, mit unglücklich liebenden Heldinnen zu weinen und mit glücklichen Bräuten zu schwärmen. Dies mag uns Jedermann auf’s Wort glauben: aus allen Romanen, selbst wenn es die strengsittlichen und mit genug hausbackener Weisheit verbrämten Werke deutscher und schwedischer Schriftstellerinnen sind, oder das Product einer puritanischen englischen Feder, die Vierzehnjährige liest mit Interesse nur die Liebesverhältnisse und Liebesscenen heraus; alles Uebrige, sei es auch noch so moralisch und lehrreich, geht spurlos an ihrem unreifen, noch unempfänglichen Verständniß vorüber. Was nun die für die Jugend vielgepriesenen Geschichtsromane betrifft, so möchten wir hier an den Ausspruch von Michelet erinnern: „Meine Tochter wird, ehe sie vollständig erzogen ist, nie einen Geschichtsroman lesen, weil dadurch nur der Geschmack für wirkliche Geschichte verloren geht!“ Das ist ein wahres, tüchtiges Wort, und wenn wir oben Walter Scott ausnahmen, so geschah dies nur, weil Mädchen, die im zarten Alter W. Scott gerne lesen, es wohl auch ungestraft thun dürfen. Die modernen deutschen Geschichtsromane hingegen, welche gegenwärtig fast jedes Haus überfluthen, die sollten in den Händen von jungen Leuten nie gefunden werden. Wenn die Alten daraus eine verkehrte und entstellte Geschichtsbelehrung schöpfen wollen, so mögen sie sich diese unschuldige Unterhaltung gönnen, die Jugend aber sollte man um Gotteswillen davor behüten. Durch solche und ähnliche Werke wird das wahre Verständniß, der wahre Sinn für Geschichte mir erstickt, nicht gefördert und so das Mädchen schon in früher Jugend um ein geistiges Gut betrogen, aus dem sie in reiferen Jahren unendlichen Genuß schöpfen könnte.

Fast ebenso verhält es sich mit den classischen Producten unserer Literatur. Mit nur wenigen Ausnahmen gehören sie nicht in die Hand unreifer Kinder; auch hier lesen sie nicht das Schöne, nur das Unterhaltende und Leidenschaftliche heraus. „Wie sollen wir es aber machen,“ klagen manche Mütter, „die lesewüthigen Mädchen von den Büchern zurückzuhalten, die sich denn doch einmal in dem Hause befinden?“ Man thut gewiß am besten, wenn man in diesem Falle an den eignen Verstand und an das Ehrgefühl der jungen Mädchen appellirt. Wir haben eine vortreffliche Mutter gekannt, in deren kleiner Bibliothek sich nichts Geringeres als Schiller und Goethe befand. Sie sagte ihrer vierzehnjährigen, phantasievollen und von Lesewuth entbrannten Tochter nur das Eine: „Diese Bücher taugen noch nichts für Dich, mein Kind, ich wünsche, daß Du dieselben erst kennen lernst, wenn Du sie auch verstehst und wahren Genuß davon haben kannst. Ich schließe sie nicht weg, aber ich verlasse mich darauf, daß Du weder diese Bücher, noch ein anderes in die Hand nimmst, welches ich Dir nicht erlaube!“ Die Bücher blieben unberührter, als wenn sie hinter Schloß und Riegel gelegen hätten. Daß diese nämliche Frau sich zugleich bemühte, der Tochter für eine passende Lectüre zu sorgen, versteht sich von selbst, und zwar war dies zu einer Zeit, wo man mit guten populären Schriften, interessanten Reisebeschreibungen und faßlichen Geschichtswerken noch nicht so wohl versorgt war, als heutigen Tages.

Als ihr Kind das 18–19. Jahr erreicht hatte, da ließ sie derselben die Wahl ihrer Lectüre unbekümmert frei; sie konnte es ruhig thun, denn das Frivole war dieser nun von selbst zuwider, und ihr einfacher, gebildeter Geschmack verwarf das Unwahre und Unpassende aus eigner Machtvollkommenheit. Die Zahl der Mütter, welche so vernünftig handeln, ist leider nicht groß, vielleicht gelingt es diesem schlichten Wort, manche derselben auf die Gefahr aufmerksam zu machen, vor der sie mit ein wenig Achtsamkeit und Strenge ihr Kind so wohl behüten könnten. Die leichteste und angenehmste Art dies zu thun wäre es gewiß, wenn sie selbst recht viel mit den heranwachsenden Töchtern Bücher lesen wollte, die ihnen ersprießlich sind. Dieser Vorschlag erinnert uns zugleich an einen andern Mangel der weiblichen Bildung, der sich oft sehr störend geltend macht und um so auffallender hervortritt, je mehr eine junge Dame anscheinend wohl erzogen ist. Warum giebt es so wenig Frauen und Mädchen, welche angenehm, fließend und ausdrucksvoll vorlesen? Eine der angenehmsten Gaben für den Familien- oder Freundeskreis findet sich nur selten ausgebildet, während fast jedes junge Mädchen Clavier spielen oder singen kann. Es wäre doch viel natürlicher, daß man erst sprechen lernte, ehe man singt, abgesehen davon, daß für einen wirklich ausdrucksvollen Gesang dies die erste Vorbedingung ist. Dennoch giebt es unter einem Dutzend jüngerer und älterer Damen oft kaum Eine, die eine Seite ruhig, unbefangen und mit der richtigen Betonung herunterlesen kann, ohne entweder anzustoßen oder affectirt zu sein. Erröthend reicht man das Buch der Nachbarin, die es kaum besser macht. Uns däucht, gut, d. h. verständlich und ungenirt vorlesen zu können, sei bei einem gebildeten Menschen eben so unerläßlich als richtig zu sprechen. Die fehlende Uebung ist wohl in der Regel die Hauptursache dieses Mangels, nicht minder der Umstand, daß die jungen Leute eben darum zu selten gut vorlesen hören. Die Lesekränzchen, wo mit vertheilten Rollen gelesen wird, helfen dem Uebel nur wenig ab. Erst muß man fließend Prosa vorlesen können, ehe man sich an die gebundene Sprache wagt, und die Meisten lernen dort nicht mit Geschmack lesen, sondern nur declamiren. Ueber die Art dieser Declamation, über das falsche Pathos, das dabei gewöhnlich in Anwendung kommt, breite sich schweigend die Decke der Duldung. Wir wollen nur daran erinnern, daß für das Ganze durch diese Leseübungen wenig gewonnen wird. Die Hauptrollen fallen schließlich doch immer, und zwar mit dem größten Recht, an die zwei oder drei guten Leser, welche in der Regel den Kern dieser Vereinigungen bilden.

Eine weit zweckmäßigere Uebung für die jungen Mädchen würde es sein, wenn die Mutter sie an gemüthlichen Winterabenden im traulichen Wohnzimmer um sich versammelte und sie dann der Reihe nach ein gutes Buch laut vorlesen müßten und der Vater oder die Mutter ihnen auch einmal ihrerseits ein Gedicht oder eine Stelle aus einem Drama mit dem richtigen Ausdruck vortrügen. Da darf im Interesse der erwachsenen Mädchen auch schon einmal ein Roman mit unterlaufen; in solcher Weise gehört, von erklärenden Bemerkungen und Gesprächen begleitet, schadet er auch der Vierzehnjährigen nichts. So lange es aber die meisten Frauen vorziehen, ihre Abende in Thee- und Kaffeekränzchen zuzubringen, statt einen so reinen und beglückenden Genuß zu suchen, werden die Töchterchen in einer Ecke kauern und die ungestörte Ruhe dazu benutzen, mit fliegender Hast und fieberheißen Wangen die Romane zu verschlingen, deren sie habhaft werden können, werden aber stottern und stammeln und sich scheu zurückziehen, wenn sie drei zusammenhängende Zeilen laut vorlesen sollen. Gut zu lesen ist ein schönes, herrliches Talent und verdient gewiß nicht weniger Pflege als die Musik, verdient sie um so mehr, als sich bis zu einem gewissen Grade jeder Gebildete diesen Vorzug aneignen kann. Die größere geistige Empfänglichkeit, die Fülle und Biegsamkeit des Organs werden natürlich auch hierin, wie bei jedem andern Talent, die größere oder geringere Leistungsfähigkeit bestimmen.

[656] In früherer Zeit, als Gesang und Clavier noch nicht in der Gesellschaft jede andere Unterhaltung absorbirten, war es vielfach Sitte, daß Frauen und selbst jungen Mädchen in gemischter Gesellschaft Gedichte declamirten. Es war dies in der sogenannten sentimentalen Epoche, als die neuerwachte Dichtkunst anfing ihren Triumphzug durch Deutschland zu halten, wo Matthisson, Klopstock, Hölty und Schiller mit hingebender Andacht zwischen Tassen- und Gläsergeklirr von den rosigen Lippen flossen. Wir würden es jetzt äußerst komisch finden, wenn eine junge Dame im Ballkleid sich hinstellte und Angesichts von Damen und Herren ein sentimentales Gedicht vortrüge. Aber welch grenzenlos dumme und unpassende Worte werden gegenwärtig von jungen Herren und Damen zusammen gesungen, und war die Idee nicht hübsch, bei einer geselligen Vereinigung die Poesie eben so wohl zu berücksichtigen, als ihre Himmelsschwester? Eine solche Wiedervereinigung im Sinne eines ernsten, gediegnen Geschmacks würde wahrlich auch unsern heutigen Gesellschaften nicht zum Schaden gereichen; warum sollte das schöne Talent des Vorlesens sich nicht eben so wohl geltend machen dürfen, als das Talent des Vorschreiens? Denn nicht Alles ist gesungen, was sich so nennt. Dann sollten aber auch unsere jungen Damen und Herren vor allen Dingen im Stande sein, nicht etwa ein vorher einstudirtes Gedicht, denn darin liegt oft das Gemachte und Affectirte, vorzutragen, sondern sie müßten richtig und unbefangen aus jedem Buche vorlesen können, das ihnen gereicht würde.

In der Schule lernen wir die Buchstaben kennen, in der Familie sollten wir mit Geschmack lesen und vorlesen lernen, wie wir es überhaupt nur dort erringen können, das, was der Unterricht uns gab, mit Geschmack und Grazie auf das Leben anzuwenden. Ganz gewiß aber sollte der Familienkreis die schützende Schranke sein, innerhalb deren das weibliche Geschlecht nicht nur physisch entwickelt, nicht nur vor schlechter Gesellschaft bewahrt, sondern vor den noch schädlicheren Einflüssen einer unpassenden Lectüre behütet wird. Dann erst wird auch eine gesunde Seele in dem gesunden Körper wohnen! –

L. B.





Blätter und Blüthen.


Der Friedrichshain in Berlin. Es war an einem schönen Frühlingstage dieses Jahres, als ich zum ersten Male den Friedrichshain in Berlin besuchte. Der neue Park liegt entgegengesetzt dem vornehmen Westend der Stadt zwischen dem Landsberger und dem Königsthore am Endpunkte jener Arbeiterviertel, die im Allgemeinen den schaulustigen Fremden nicht anlocken. Der Weg führt durch die engen, unschönen Straßen jenes alten, handeltreibenden, gewerbfleißigen Berlin, dessen Producte wir in den eleganten Läden und an den Schaufenstern der fashionabeln Stadttheile bewundern, während wir hier nur unscheinbaren Werkstätten und den fleißigen Händen begegnen, aus denen jene Wunderwerke des Luxus hervorgehen. Auch die einfachen, noch ziemlich schattenlosen, von Kartoffelfeldern begrenzten Anlagen des Friedrichshains, die sich an einem sandigen, mit der Büste des großen Friedrich gekrönten Hügel hinaufziehen, bieten an und für sich wenig Interesse. Dennoch ist der Platz nicht nur eine Wallfahrtsstätte für einen großen Theil der Bevölkerung von Berlin, sondern er wird auch vielfach von Fremden besucht, die einen Immortellenkranz niederlegen wollen auf den Gräbern der in den Märztagen 1848 gefallenen Volkskämpfer, die man hier auf dem höchsten Punkte des grünen, sonnigen Hügels zum letzten Schlafe niedergelegt hat.

Vor Kurzem war der Friedhof noch völlig unzugänglich. Das Manteuffel-Hinkeldey’sche Regiment hatte eine zehn Fuß hohe Breterwand ringsum ziehen lassen, dahinter war eine dichte Dornenhecke angepflanzt, und die Versuche, welche die Angehörigen und Freunde der Todten machten, durch die Spalte einer losgerissenen Planke zu den theuern Gräbern zu gelangen, um sie mit einem Zeichen der Liebe und des Andenkens zu schmücken, geschahen stets auf Kosten ihrer Hände und Kleider. Den Bemühungen einiger jener Männer, welche nach den unseligen Ereignissen des 18. und 19. März sich zu einem Beerdigungscomité zusammen gethan hatten, ist es erst seit einem Jahre gelungen, den Bann, der auf der Stätte lag, zu lösen. Die Breterwand ist gefallen, die Dornen sind beseitigt, das Unkraut, das den Platz vollständig überwuchert hatte, ist einem bescheidenen Schmuck von Strauchwerk und Immergrün gewichen, und eine grüne Hecke umschließt jetzt den Platz, wenn nicht in würdiger, doch in freundlicher, friedlicher Weise.

Herr von Hinkeldey hatte in der letzten Zeit seiner Wirksamkeit dem verstorbenen König vorgeschlagen, die Todten ausgraben und an die übrigen Kirchhöfe Berlins vertheilen zu lassen. Die Stätte, wo man sie nach dem Beschlusse der Bürger am 22. März 1818 in einem gemeinsamen Grabe gebettet hatte, sollte in Feld verwandelt werden, der Pflug sollte darüber hingehen – vielleicht um mit dem Erinnerungszeichen die düstere Erinnerung selbst zu verwischen. Das Gefühl des Monarchen sträubte sich indessen gegen diese Maßregel. „Man lasse die Todten ruhen!“ lautete der Bescheid, den Herr von Hinkeldey empfing – und so ruhen sie denn in Frieden.

Das National-Denkmal, welches den Gefallenen 1848 votirt wurde, und wozu das Bestattungs-Comité eine namhafte Summe – wie ich höre, gegen 30,000 Thaler – durch öffentliche Sammlungen aufbrachte, ist bis heute nicht errichtet. Als im Jahre 1849 zur Feier des 18. März von einem Theile der Bevölkerung von Berlin eine Grundsteinlegung für ein solches Denkmal beabsichtigt wurde, traten militärisch-polizeiliche Verbote dieser, wie überhaupt jeder öffentlichen Feier entgegen. Die gesammelten Gelder sollen irgendwo – man konnte mir nicht sagen wo – deponirt sein, und die Zeit ist nicht darnach angethan, um eine baldige der Bestimmung dieser Summe entsprechende Verwendung erwarten zu dürfen. Im Centrum des kleinen Friedhofes, auf dem Platze, der ursprünglich für das Denkmal bestimmt war, streckt jetzt ein schöner Baum seine Aeste und Zweige aus, und seine im Winde flüsternden Blätter singen den Todten da unten ein träumerisch süßes Schlummerlied.

Auch die Namen der stillen Schläfer, die unter den zweifachen Hügelreihen rings um den Mittelpunkt des Platzes ruhen, sind nicht vergessen. Einfache, schwarze Kreuze und kleine Tafeln von weißem Marmor, von Immergrün umrahmt, bezeichnen die einzelnen Grabstätten. An einigen Stellen hat man an den Zweigen der Büsche Kränze aufgehangen, in denen eine eingefügte Straminstickerei Namen, Geburts- und Sterbetage der darunter ruhenden Todten nennt. Es ist die rührende Gabe der Armuth, gewidmet den Armen. Eine kleine weiße Marmortafel trägt die Inschrift: „Ein unbekannter Mann“. Sie war mit einem frischen Kranze geschmückt.

Hier und da ragt auch ein Denkstein von größeren Dimensionen aus dem grünen Laubwerk hervor. Die Buchdrucker haben ihren gefallenen Genossen zwei Erinnerungssäulen gewidmet, auf denen man die Worte liest: „die deutschen Buchdrucker ihren Brüdern“. Auch die Wöhlert’sche Fabrik hat ihre Angehörigen durch zwei Denksteine geehrt, ebenso die Drechsler-Innung.

Die Arbeiter der Borsig’schen Fabrik haben ihren gefallenen Cameraden vier Monumente gesetzt. Gußeiserne Säulen tragen eine Kugel, das Sinnbild der rollenden Zeit, und neben zwei verlöschenden Fackeln einen Anker, umgeben von einem Eichenkranze. Die erste dieser Gedenksäulen trägt die Inschrift:

„Der heil’gen Freiheit galt sein schnell Erblassen,
Er hat sie uns als Erbtheil hinterlassen.“

Die zweite:

„Die Freiheit war’s, wofür er sollte enden,
Die Freiheit, die dereinstens wir vollenden.“

Die dritte:

„Sein letzter Will’ war auch sein letztes Handeln,
Er ruft uns zu, den gleichen Weg zu wandeln “

Die vierte:

„Im Kampfe für des Volkes Freiheit sterben,
So heißt das Testament, nach dem wir erben.“

Im Ganzen ruhen 210 Todte, darunter 5 Frauen und 2 Knaben, unter den grünen Hügeln des Friedrichshains.

S. A.





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