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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[593]

No. 38.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Des Kaufmanns Ehrenschild.

Dr. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


Die Augen des Mädchens hatten bei der ersten Frage erwartungsvoll aufgeblitzt. Bei dieser zweiten schlug sie sie enttäuscht, traurig nieder. Dann auf einmal erhob sie sie wieder, trotzig, entschlossen.

„Gleichviel. Der Signor ist doch ein Verbrecher. Mich hat er gestohlen. Rosenberg? Ich habe einen anderen Vater. Ich will bei dem Menschen, bei der Gesellschaft nicht langer bleiben.“

„Und wer wäre Dein Vater?“ fragte ich sie.

„Ich kenne ihn nicht. Der Signor hat ihn mir nie genannt.“

„Und Du behauptest doch, der Signor habe Dich gestohlen?“

„Ich weiß es.“

„Wann wäre es geschehen?“

„Als ich noch ein ganz kleines Kind war.“

„Du erinnerst Dich dessen noch?“

„Mein Herz sagt es mir.“

„Und weiter hast Du keine Beweise?“

Sie brach plötzlich in Thränen aus.

„Wie könnte ich Beweise haben? Er wird es nicht gestehen. Ach, mein Herr, Sie gehören zur Polizei oder zu den Gerichten; nehmen Sie sich meiner an, daß ich zu den Menschen nicht zurück muß. O, wenn ich Ihnen sagen könnte –!“

Sie konnte nicht weiter sprechen. In dem Kinde war gewiß Vieles überspannt, durch Erzählungen Anderer, durch ihr eigenes abenteuerliches Leben. Aber war ihre Lage, ihr elendes Handwerk, ihr ganzes jetziges Leben nicht ein wirkliches, schweres Unglück für sie?

„Beruhige Dich, Kind,“ tröstete ich sie. „Ich werde sehen, was für Dich zu thun ist. Antworte mir jetzt noch auf einige Fragen, aber die volle Wahrheit. Der Signor war gestern Abend mit Euch Anderen hierher gegangen?“

„Ja, mein Herr.“

„Ging er nachher wieder fort?“

„Ja.“

„Wann war das?“

„Als Alle schliefen, als er es wenigstens meinte. Ich weiß auch, wohin er ging.“

„Du wüßtest das?“

Ich mußte und konnte sie so gleichgültig wie möglich fragen. Ich war im höchsten Grade überrascht, gespannt, aber ich durfte es ihr nicht zeigen; schon darum nicht, um nicht ihrer lebhaften, überspannten Phantasie und ihrem Hasse gegen den Seiltänzer Veranlassung zu Erfindungen oder Uebertreibungen zu geben.

„Ja,“ sagte sie, ebenso zuversichtlich, wie im Tone der Wahrheit. „Als wir vom Schlosse zurück waren, befahl der Signor mir, mich schnell umzukleiden und zum Schlosse zurückzueilen, aber nicht in das Schloß zu gehen, sondern mich in der Allee, die zur Chaussee führt, aufzustellen und dort auf einen Herrn zu warten, der aus dem Schlosse kommen werde. Es sei ein großer, hübscher Herr, in einem braunen Rocke, mit einem großen schwarzen Barte. Wenn der Herr komme, so sollte ich ihm sagen, der Signor erwarte ihn im Schloßpark an der Brücke, die über den Fluß führe. Weiter nichts. Ich solle dann gleich zurückkehren, aber keinem Menschen etwas sagen. Ich richtete meinen Auftrag aus, uns als ich zurückkam, war der Signor schon fort.“

Das war eine Mittheilung, die auf einmal ein Licht verbreitete, auf das ich nie hatte hoffen, das ich eine Minute vorher nicht hatte ahnen können. Und das Kind erzählte mit allen Zeichen der vollsten Wahrheit. Hatte ich danach nicht auf einmal den Mörder? Aber ich hatte noch Fragen an das Kind.

„Kam der Fremde allein aus dem Schlosse?“

„Ganz allein. Er schien eilig zu sein.“

„Um welche Zeit war es?“

„Ich hatte nicht sehr lange auf ihn gewartet. Es war schon dunkel geworden. Vielleicht war es neun Uhr.

“Was sagte der Herr, als Du ihm Deinen Auftrag ausgerichtet hattest?“

„Er werde kommen.“

„Wurde er nicht überrascht?“

„Nein. Es kam mir sogar vor, als wenn er so etwas erwartet hätte. Aber als er mich sah – ich war auf einmal hinter einem Baume hervorgetreten – meinte ich, daß er sich erschreckt habe. Und dann sah er mich mit so sonderbaren, durchbohrenden Augen an.“

„Und er sagte Dir sonst nichts, als daß er kommen werde?“

„Kein Wort. Er ging dann sogleich weiter.“

„Wohin?“

„Nach der Chaussee hin.“

„Und wo bliebst Du?“

„Ich kehrte auf dem geradesten Wege, an dem Park entlang, hierher zurück.“

„Hattest Du den fremden Herrn schon früher gesehen?“

„Niemals.“

„Der Signor war schon fort, als Du hier ankamst?“

„Ich sah ihn nicht mehr.“

„Hast Du ihn zurückkehren sehen?“

[594] „Nein. Ich schlief bald ein; ich war müde und habe die ganze Nacht geschlafen, bis Sie mit den Gensd’armen kamen.“

Ich konnte von dem Kinde nicht mehr erfahren. Aber es war ja so viel, was sie mir mitgetheilt hatte. Nur ein Zweifel wollte nicht von mir ablassen: ob auch Alles wahr sei, was sie mir gesagt, ob sie mir nicht ein Märchen aufgebunden habe. Der Seiltänzer war ihr verhaßter Meister, von dem sie befreit sein wollte; sie wußte oder setzte voraus, daß er von mir wegen eines Verbrechens verfolgt werde; von ihrer überspannten Phantasie glaubte ich schon einmal eine Probe gehabt zu haben; ähnliche, aus der Luft gegriffene Erfindungen, gerade von Kindern in ihrem Alter, waren in meiner kriminalistischen Praxis mir schon mehrfach vorgekommen. Sie hatte zwar das Aeußere des Amerikaners zutreffend beschrieben – er trug auch gewöhnlich einen braunen Rock. Aber sie konnte ihn gesehen haben und er konnte ihr aufgefallen sein, als der Seiltänzer ihm nachgegangen war und eine Gabe von ihm gefordert hatte. Ich hatte noch eine Probe.

„Hast Du gehört, daß der fremde Herr ermordet ist?“

Sie erschrak heftig.

„Wer?“ rief sie mit zitternder Stimme.

„Der, den Du bestellt hattest.“

„Ich bin unschuldig!“ schrie sie auf.

Sie war unschuldig. Sie hatte auch nicht gelogen. Ich ließ sie unter besonderer Aufsicht des Wirthin in der Schenke zurück und begab mich nun mit dem Seiltänzer zu dem Schloßpark und zu der Stelle, wo der Leichnam des Amerikaners gefunden war. Es war das Nächste, was ich amtlich zu thun hatte. Gern wäre ich vorher zum Schlosse selbst gegangen, um mich nach den dortigen Ereignissen zu erkundigen. Ich muß hier die Oertlichkeit beschreiben.

Das Dorf Alsleben war von dem Schlosse Holbergen ungefähr eine Viertelstunde entfernt. Ein ziemlich gerader Weg führte durch Ackerland dahin. Zu seiner rechten Seite lag der Schloßpark, an dem der Weg mitunter unmittelbar lief. Der Park war durch einen hohen Zaun eingeschlossen. Jenseits des Parks war die Chaussee, an welcher der Gasthof lag. Durch den Park floß der breite und tiefe, einem Flusse gleichende Bach, der Alsbach genannt. Bei seinem Ausflusse aus dem Park hatte er eine zum Gehen und Fahren bestimmte hölzerne Brücke, in deren Mitte, also auch gerade über der Mitte des Wassers, sich ein verschließbares, aber gewöhnlich nur in das Schloß gelegtes Thor befand. Die Brücke war ungefähr in der Mitte zwischen dem Dorfe Alsleben und dem Gasthofe an der Chaussee, von Beiden etwa zehn Minuten entfernt. Ein Fußweg, der von dem Gasthofe direct nach dein Dorfe führte, lief kaum fünfzig bis sechzig Schritt weit daran vorbei.

Zu der Brücke war der Amerikaner durch das Mädchen bestellt worden. Welchen Weg dahin er genommen hatte, war mir ungewiß. Im Gasthofe war er nicht wieder gewesen. Wahrscheinlich war er gleich von der Schloßallee in den Park gegangen; er konnte sich auch erst in der Nähe des Gasthofs von der Chaussee aus auf jenem Dorfwege zu der Brücke gewendet haben, ohne vorher den Park zu berühren.

Der Seiltänzer war unzweifelhaft direct vom Dorfe aus hingegangen. Denselben Weg führte ich ihn jetzt. Ich mußte vor Allem sehen, welchen Eindruck schon dieser Weg auf ihn machen werde. Er hatte kein Wort von dem Auffinden der Leiche erfahren. Das leiseste Zeichen, daß er von dem Tode etwas wisse, war daher sein Verräther; schon eine Unruhe mußte ihn verdächtig machen. Ich beobachtete ihn genau; ich konnte es. Die Sonne stand schon eine Weile am Himmel, es war ein schöner, klarer Sommermorgen. Er ging ruhig zwischen mir und dem Gensd’armen. Ich sprach kein Wort, er schwieg ebenfalls; den Gensd’armen machte der Dienst stumm, wenn er nicht von mir gefragt wurde.

Wir hatten die Nähe der Brücke erreicht; er war ruhig und unbefangen geblieben. Von der Brücke führte in gerader Linie ein schmaler Fußsteig zu dem Wege, den wir gingen. Ich bog schweigend in den Fußsteig ein. Er mußte dieselbe Richtung nehmen.

Auf einmal stutzte er; es war, als wenn sein Fuß unwillkürlich zögere, voranzuschreiten; er hatte sich verfärbt. Das Zeichen, das ihn verräth, rief es in mir. Aber ich hatte einen Fehler gemacht. Hinter der Brücke, an dem jenseitigen Ufer des Flusses, standen Leute, Diener des Schlosses, Polizeidiener, Gensd’armen, Neugierige. Ein menschlicher Körper lag auf dem Boden. Es hätte sich Niemand zeigen, der Leichnam hätte verborgen sein müssen. Ich hatte vergessen, das vorher anzuordnen.

Das jetzige Erschrecken des Menschen, nachdem er das Alles gesehen hatte, konnte dem Ungewöhnlichen, das er sah, gelten, ohne Zeichen eines Schuldbewußtseins zu sein. Ja, es konnte, zumal nach der Behandlung, die ihm widerfuhr, nur zu leicht von der Furcht erzeugt sein, unschuldig für den Schuldigen eines Verbrechens gehalten zu werden, auf das er nach Allem sofort schließen mußte. Ich hatte einen großen Fehler gemacht, der nicht mehr zu verbessern war und dessen Folgen sich schnell zeigen sollten. Ich mußte ihn weiterführen, als ob ich, nichts bemerkt, auch in nichts gefehlt hätte. Wir überschritten die Brücke und traten zu den Leuten. Sie umgaben die Leiche, die nur nach dem Wasser hin frei lag; es war der Amerikaner. Ich ließ sie aus einander treten und führte den Gaukler dicht, unmittelbar an die Leiche.

„Heinrich Hochmann, kennen Sie diesen Todten?“

„Nein,“ sagte er, aber mit trocken angeklebter Zunge und die Augenlider zwinkerten ihm und die Lippen schienen leise zu beben.

„Besinnen Sie sich wohl, Hochmann. Eine Lüge kann hier eine schwere Schuld für Sie werden.“

„Nein,“ wiederholte er. „Ich kenne den Mann nicht.“ Und er konnte diesmal fester und freier sprechen.

Mit ihm war vor der Hand nichts mehr zu verhandeln. Ich ließ ihn zu einem ein paar hundert Schritte entfernten Pavillon des Parks abführen. Es mußte jetzt zunächst zur gerichtlichen Gewißheit erhoben werden, ob ein Verbrechen vorliege und von welcher Art. Aber vor allen Dingen mußte ich Anderes wissen.

„Ist der Freiherr wieder da?“ fragte ich einen alten Diener des Schlosses, der unter den Anwesenden war.

„Nein,“ war die traurige Antwort des alten Mannen.

„Auch keine Nachricht von ihm?“

„Nicht die geringste.“

„Was machen die Damen?“

„Der Herr Director können es sich denken.“

„Wissen sie von dem Auffinden der Leiche?“

„Ja.“

Die Leute des Schlosses standen alle mit traurigen, niedergeschlagenen Blicken da. Es war, als wenn sie Alle Theil an einem Morde hätten. Welches Zeugniß dafür, daß hier ein Mord verübt war, und zugleich gegen den Mörder! Als ich mit dem Seiltänzer anlangte und ihn zu der Leiche führte, mochte wohl in mancher Brust ein Hoffnungsstrahl aufzucken wollen; aber als der Mensch so entschieden leugnete, den Todten zu kennen, verschwand auch schnell der schwache Strahl wieder. Die feineren Zeichen, die für seine Schuld sprechen konnten, waren ihnen entgangen.

Es wurden folgende Thatsachen festgestellt: Beim Anbruche des Tages waren zwei von den Leuten den Schlossen auf den Gedanken gekommen, nach dem vermißten Schloßherrn im Alsbache zu suchen; es könne ihm in der Nacht ein Unglück zugestoßen sein.

Dreißig Schritte unterhalb der aus dem Park in das Feld führenden Brücke hatten sie im Wasser, und zwar am Parkufer, einen menschlichen Leichnam gefunden. Der Strom mußte ihn dahin getrieben haben; eine Weide, die mit ihren Zweigen weit in das Wasser hineinreichte, hatte ihn aufgehalten. Die Leiche war sofort für die des Amerikaners erkannt. Sie war übrigens mit dem braunen Rocke bekleidet, in welchem auch das Mädchen von der Seiltänzertruppe den Amerikaner gesehen hatte. Spuren einer Gewalt waren an ihr nicht zu finden. Nur in dem Innern der linken Hand war eine kleine, frische Wunde, ein Holzsplitter stecke noch darin.

Wie der Körper in das Wasser gekommen war? Die an sich so unbedeutende Wunde sollte darauf hinweisen. Nirgends am Wasser waren Spuren eines Kampfes oder Ringens, ober andere Fußtritte als von den Personen, die nach dem Schloßherrn gesucht hatten, zu entdecken. Aber die Brücke über den Fluß war mit einem hölzernen Geländer versehen, in welchem jedesmal einen halben Fuß von einander hölzerne Stäbe, oben zugespitzt, aufrecht standen. Unmittelbar an dem in der Mitte der Brücke befindlichen Thore, nach der Parkseite hin, war die Spitze eines dieser Stäbe abgebrochen, und der Holzsplitter in der Handwunde paßte genau zu dem Holze des abgebrochenen Stabes. Dort also – es war der nächste Schluß – auf der Mitte der Brücke war der Körper in das Wasser gelangt, über das Geländer hinüber; im Hinüberfliegen war die Hand mit dem Stabe in Berührung gekommen, [595] die Spitze war abgebrochen, ein Splitter war in die Hand gedrungen.

War diese Annahme gerechtfertigt, stand ferner fest, was freilich noch zu ermitteln war, daß der Verstorbene erst in dem Wasser seinen Tod gefunden, so war auch nicht anzunehmen, daß er sich selbst freiwillig in den Fluß gestürzt habe. Die Hand konnte dann nur Hülfe suchend, um sich im Falle festzuhalten, nach der Stange gegriffen und diese abgebrochen haben. Es war dann aber auch kein Unglücksfall anzunehmen; das Geländer war vier Fuß hoch, also immer zu hoch. als daß jemand durch einen Zufall hinüber fallen konnte. Es blieb also nur ein gewaltsames Hinüber, und Hinunterwerfen durch einen Dritten übrig; ob in einem Ringen und Kämpfen, oder ob durch einen hinterlistigen Ueberfall, darüber fehlte es an irgend einem Anhalt. Für eine gewaltsame Tödtung durch die Hand eines Dritten sprach also mindestens eine dringende Vermuthung. Welchem Dritten gehörte diese Hand?

Das Brückenthor hatte bei dem Auffinden der Leiche offen gestanden. Es war kein Schluß daraus zu ziehen. Die Leute des Schlosses waren beim Aufsuchen ihres Herrn die ganze Nacht über die Brücke hin- und hergegangen. Ob am gestrigen Abende das Thor verschlossen gewesen, war nicht zu ermitteln; für gewöhnlich wurde es im Sommer nicht verschlossen gehalten. Zu dem Schlosse waren mehrere Schlüssel vorhanden, die sich im Besitze von Gärtnern, Knechten und Arbeitern befanden. Ein Raubmord lag auf keinen Fall vor. An der Leiche waren Uhr, Börse, Brieftasche unversehrt gefunden.

Der Polizeidirector war sofort nach Entdeckung der Leiche zu der Stadt zurückgefahren, um die Sachen des Todten in Verwahr zu nehmen und zugleich die Gerichtsärzte und einen Protokollführer für mich herbeizuschaffen. Sie kamen. Die Aerzte stellten bald fest, daß der Verstorbene lebend in das Wasser gekommen war; er hatte in diesem durch Erstickung seinen Tod gefunden. Sie traten auch nach der Lage und Beschaffenheit der Handwunde meiner Vermuthung bei, daß der Verstorbene über das Brückengeländer hinüber in das Wasser geworfen sei und im Falle, um sich daran zu halten, nach der Stange gegriffen und diese abgebrochen hatte. An einer Tödtung durch die Hand eines Dritten war also vernünftigerweise nicht mehr zu zweifeln. Wer war nur dieser Dritte?

Ich hatte das Mädchen von der Seiltänzertruppe herrufen lassen. Sie erkannte in dem Todten mit der größten Bestimmtheit den Herrn, den sie für ihren Herrn gerade hierher hatte bestellen müssen. Ich ließ sie zur Seite bringen, um dann den Seiltänzer wieder vorführen zu lassen. Vorher mußte ich noch den Gutsknecht vernehmen, der den Seiltänzer mit dem Verstorbenen hatte sprechen sehen.

Er war anwesend. Er sah den Ermordeten; er halte vorher den Seiltänzer bei mir gesehen. Er kannte auch außerdem Beide, den Seiltänzer aus dessen Vorstellung; der Amerikaner war auch schon einige Male auf dem Schlosse gewesen. Er versicherte mit voller Bestimmtheit, daß er sie Beide gestern Abend zusammen im Parke angetroffen habe. Er hatte seine Geliebte, die die Vorstellung der Seiltänzer mit angesehen, nach deren Beendigung nach Hause gebracht. Sie wohnte am Ende des Dorfs Alsleben; seinen Rückweg hatte er durch den Park genommen, da er das Brückenthor über dem Alsbache, wie er vermuthete, offen gefunden hatte.

Er war bis zu der Brücke langsam gegangen, in dem Sandwege also auch leise. So wie er die Brücke hatte betreten wollen, stutzte er. Er hörte jenseits der Brücke, im Parke, zwei Stimmen mit einander reden, die ihm im ersten Augenblicke beide unbekannt waren. Bald darauf glaubte er sie Beide zu erkennen, es mußte der Amerikaner und der Seiltänzer sein. Was sie sprachen, konnte er nicht verstehen; sie redeten, wenn auch nicht gerade leise, doch mit gedämpfter Stimme. Er war neugierig, was die beiden fremden und, seiner Meinung nach, auch einander fremden Menschen in dem Schloßpark, in der späten Abendstunde geheimnißvoll mit einander könnten zu verhandeln haben. Er trat leise auf die Brücke, bis an das Thor. Das Thor lag nur angelehnt, nicht einmal im Schlosse. Er wollte es leise weiter öffnen, um hindurch zu gehen. Vorher lauschte er noch einmal; er hörte die Stimmen deutlicher; er erkannte sie nun auch bestimmt. Sie sprachen deutsch mit einander; verstehen konnte er aber nur einzelne Worte, aus denen nicht im Geringsten auf den Sinn oder Gegenstand ihrer Unterredung zu schließen war. Als er dann die Thür weiter öffnen wollte, knarrte diese trotz seiner Vorsicht in ihren Angeln. Augenblicklich war das Gespräch verstummt. Er ging dennoch auf die Stelle zu, wo er es gehört hatte, es war vorn in dem Gebüsch, das wenige Schritte vor der Brücke begann. Es war Alles still da. Als er hineingehen wollte, trat ihm der Amerikaner entgegen und sah ihn fragend an, was er hier wolle, „so recht vornehm,“ sagte der Zeuge. Das vornehme, befehlende Wesen des fremden Herrn, der bei dem Schloßherrn zum Besuche war, hatte den Knecht eingeschüchtert, und er hatte, ohne etwas zu sagen, ohne sich weiter umzusehen, ohne wieder zu horchen, seinen Weg durch den Park zum Schlosse fortgesetzt. Es war, nach seiner Berechnung, kurz vor zehn Uhr gewesen. Von dem Schloßherrn hatte er nichts gesehen und gehört.

Die Thatsache, daß um diese Zeit der Seiltänzer und der Ermordete beisammen gewesen, mußte danach in Verbindung mit der Aussage des dreizehnjährigen Mädchens als ausgemacht feststehen. Seitdem war der Ermordete nicht wieder gesehen worden. Um dieselbe Stunde oder etwas später war nach dem Gutachten der Aerzte, wahrscheinlich der Tod des Amerikaners erfolgt. Ein Anderes stand zugleich fest, daß das Brückenthor schon vor der That offen gewesen war. Wann es geöffnet worden, war auch jetzt nicht zu ermitteln, der Knecht hatte vorher einen andern Weg genommen, und die sämmtlichen übrigen Personen, die über die Brücke gegangen waren, hatten sie erst später, beim Nachsuchen nach dem Schloßherrn, überschritten.

Der Seiltänzer Hochmann, als er wieder vorgeführt wurde, erschien mit seiner vollen Sicherheit und Unbefangenheit, die ihn vorhin, beim Anblick der Leiche, nur auf einen Moment verlassen hatte. Aber er sollte nicht so bleiben.

„Sie kennen den Leichnam nicht?“ fragte ich ihn wiederholt.

„Nein,“ wiederholte auch er, vollkommen fest und sicher.

„Sie wissen nicht, daß der Todte Johansen geheißen hat?“

„Nein.“

„Haben Sie einen Mann dieses Namens gekannt?“

„Ich habe es Ihnen schon einmal verneinen müssen.“

„Bleiben Sie dabei, den Verstorbenen gestern Abend im Park nicht gesprochen zu haben?“

„Ich bleibe dabei, ich habe ihn nicht gesprochen.“

„Sie hatten ihn sogar hierher bestellen lassen.“

„Wer? Ich?“ fuhr er auf. „Das ist nicht wahr! Das ist bei Gott nicht wahr’.“

Die Worte, die Heftigkeit, mit der er sie sprach, bezeugten, daß es doch wahr war, bezeugten wiederholt, daß das Mädchen die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte auf die Frage, als eine mögliche, sich vorbereitet; sie erschreckte und verwirrte ihn dennoch, und um das zu verbergen, übertrieb er in Worten und in Entrüstung.

„Ich bringe Ihnen einen Zeugen,“ sagte ich ruhig.

„Wen?“ rief er.

„Nachher. Ich werde Ihnen vorher noch einen Zeugen Ihrer Zusammenkunft selbst mit dem Todten bringen.“

„Der Mensch schwört falsch. Wo wäre das gewesen?“

Er gab sich immer mehr Blößen. In Betreff des Zeugen der Bestellung hatte er sich noch auf eine allgemeine Frage nach ihm beschränken können. Jetzt verrieth er durch den Ausdruck „der Mensch“ schon, daß er wußte, von wem die Rede war.

„Wo es gewesen wäre?“ erwiderte ich ihm. „Hier, in jenem Gebüsche.“

„Es ist nicht wahr!“

Er mußte auch noch hinsichtlich des Mädchens zum Verräther gegen sich werden. In der Verwirrung, in der er einmal war, wurde er es leicht.

„Wir sprachen schon im Dorfe von der Amelie Rosenberg.“ fuhr ich ohne weiteren Uebergang fort.

Er konnte mich kaum den Namen aussprechen lassen.

„Das ist eine Lügnerin,“ rief er. „eine schlechte Person, ein faules Geschöpf, die ich habe strenge halten müssen, und die aus Haß, aus Rache dafür durch ihre Lügen mich verderben will.“

„Sie sprachen vorhin nichts Böses von dem Kinde,“ sagte ich.

„Warum sollte ich?“

„Warum sollen Sie es jetzt?“

„Aber sie ist eine Lügnerin, eine durch und durch verlogene Person. Fragen Sie meine ganze Gesellschaft. Sie lügt immer von mir.“

„Und was sollte sie jetzt von Ihnen gelogen haben?

[596] Da war es ihm auf einmal klar, wie er sich verrathen hatte.

„Ich weiß es nicht,“ sagte er kleinlaut.

Ich mußte den Augenblick benutzen.

„Sie wissen nur zu wohl, daß sie nicht gelogen hat. Dieser Todte, der hier vor Ihnen liegt, ist von dritter Hand ermordet. Der Mörder ist bis jetzt unbekannt. Aber Sie haben den Ermordeten früher gekannt; Sie haben in Verbindungen mit ihm gestanden, von denen Niemand Näheres weiß. Sie sind gestern plötzlich wieder mit ihm zusammengetroffen; das Zusammentreffen ist ihm unangenehm gewesen; Sie sind darauf nochmals in seiner Gesellschaft gesehen worden; Sie mit ihm allein; kurze Zeit vor der Stunde, in welcher der Mord verübt sein muß, ganz in der Nähe des Orts, wo der Mord verübt ist. Seitdem hat den Todten lebend Keiner wiedergesehen. Sie hatten sogar zu dieser Zeit und zu diesem Orte ihn im Geheimen hinbestellen lassen. Jeder Unbefangene kann nicht mehr Gründe fordern, um Sie des Mordes verdächtig, dringend verdächtig zu halten. Sie könnten diesen Verdacht nur einzig und allein dadurch von sich ablenken, daß sie die offenste Wahrheit angäben über alle jene Gründe, die Sie so verdächtig machen. Statt dessen leugnen Sie Alles ab, wollen den Zeugen Lügen und Meineid vorwerfen –“

Ich hielt plötzlich inne. Er war schon seit einer Weile blaß, dann tief nachsinnend, dann unruhig geworden. Er wagte nicht, mich anzusehen; er sah mich auf einmal mit einem sonderbaren Blicke fest an. Er hatte etwas auf den Lippen.

„Sie haben mir etwas zu sagen?“ sagte ich.

Er sah sich um. Ich hatte, als ich das Verhör begann, wie es die Vorschrift erforderte, die sämmtlichen übrigen Personen sich entfernen lassen. Nur ich und der Protokollführer waren allein mit ihm. Ich vernahm ihn im Freien, an der Stelle der That.

Er sah sich um, ob Jemand in der Nähe, etwa im Gebüsche versteckt sei, der ihn behorchen könne. Er hatte mir ein Bekenntniß zu machen. Er sah uns völlig allein.

„Ja, Herr Director,“ sagte er, „ich habe Ihnen die Unwahrheit gesagt, ich muß es bekennen. Ich sehe ein, welch’ einen Fehler ich gemacht habe. Ich, selbst habe mich dadurch verdächtig gemacht, denn an dem Morde bin ich unschuldig; glauben Sie es mir. Ein Kind kann nicht unschuldiger sein, als ich an dem Tode dieses Mannes.“

Seine Worte wälzten wieder einen schweren Stein auf meine Brust. Er sprach mit allen Zeichen der Wahrheit und zugleich jener inneren Herzensangst des Lügners, der es plötzlich einsieht, wie er durch Unwahrheit den Schein einer schweren Schuld auf sich geladen hat. Er ist nicht der Mörder! rief es in mir.

„Sagen Sie mir die Wahrheit,“ ermahnte ich ihn.

„Sie sollen sie vollständig von mir hören. Ich kenne diesen Todten schon lange, schon seit zwanzig Jahren. Wir waren als junge Burschen zusammen in einer Seiltänzertruppe; später waren wir längere Zeit gemeinschaftlich Principale. Manchmal waren wir auseinander gekommen, wir kamen immer wieder zusammen. Er war nicht sehr verträglich, er wollte immer befehlen, und er war ein roher und harter Mensch. Im vorigen Jahre hatten wir uns zum letzten Male getrennt; er sagte, er wolle nach Amerika gehen, um da auch einmal sein Glück zu versuchen. Ich hatte seitdem nichts wieder von ihm gehört, bis ich ihn, völlig unvermuthet, am gestrigen Abende hier wieder sah. Er war ein vornehmer Herr geworden. Er erschrak, als er mich, als ich ihn erkannte. Davon mußte ich profitiren. Ich bin ein armer Teufel; ich muß oft hungern mit Weib und Kind und Leuten, und Hunger thut weh. Er war reich, er trug eine Uhr mit schwerer goldener Kette; er besuchte als Freund den reichen Schloßherrn. Ich schickte das Mädchen, die Amelie, ihm nach und ließ ihn hierher bestellen. Er durfte nicht ausbleiben, da ich ihn durch sein Geheimniß immer in meiner Gewalt hatte. Er kam. Ich bat ihn um Geld, um Unterstützung. Er gab mir und versprach mir noch mehr. Ich hatte ihn als Freund gebeten; er hatte auf meine Freundschaft gerechnet, daß ich ihn nicht verrathen werde. So schieden wir auch als alte Freunde. Ich ging mit meinem Gelde nach meinem Dorfe zurück; er blieb im Park, hier, diesseits der Brücke, wohl um von Niemandem mit mir zusammen gesehen zu werden. Außerhalb des Parks, jenseits der Brücke, hatten wir mehrmals Menschen hin- und hergehen gehört. Er gab mir drei Goldstücke; Sie werden sie bei meiner Frau finden; sie hat deren fünf, zwei hat mir der Baron des Schlosses für die Vorstellung gegeben. Ich habe Ihnen jetzt die volle Wahrheit gesagt. Von dem Tode des Mannes weiß ich nichts; ich bin unschuldig daran. Ich hatte keinen Streit mit ihm, und wenn ich ihn hätte berauben wollen, so hätte ich ihm seine Uhr genommen und seine Börse, in der er noch viel Geld hatte. Das muß Ihnen Beweis für meine Unschuld sein.“

Er hatte Recht. Uhr und Uhrkette und die noch volle Börse. was Alles auf dem Todten gefunden worden, waren redende Zeugen seiner Unschuld; noch mehr war es die unverkennbare Wahrheit, mit der er sprach. Es begann für mich der schwerere Theil der Ausübung meines Amtes. Fast nur noch in Beziehung auf ihn mußte ich den Menschen weiter verhören.

„Wie hieß der Todte?“

„Er hat viele Namen geführt. Er war oft mit Polizei und Gerichten in Streit gerathen. Sein eigentlicher Name war Christoph Richter. Er war aus dem Badischen gebürtig.“

„Hat er auch den Namen Johansen geführt?“

„Mehrere Male. Unter ihm war er als geschickter Voltigeur am bekanntesten.“

„Erzählte er Ihnen von seinem Aufenthalte in Amerika?“

„Es sei ein schlechtes Land. Aber er habe dort einen reichen alten Herrn kennen gelernt, der ihn lieb gewonnen und zu seinem Erben eingesetzt habe. Daher habe er sein Vermögen.“

„Nannte er den Namen ?“

„Es sei ein Herr Jones gewesen. Er müsse nach dem Testamente jetzt dessen Namen führen.“

„Theilte er Ihnen sonst nichts mit?“

„Nein. Wir sprachen nur noch über mich und über unsere alten Bekannten.“

„Waren Sie lange mit ihm zusammen ?“

„Ungefähr eine halbe Stunde.“

„Sie sagten, es seien während dieser Zeit Menschen vorübergekommen. Haben Sie Niemanden erkannt?“

„Niemanden. Sie gingen jenseits der Brücke. Einer kam herüber. Er mußte uns gehört haben. Richter trat ihm entgegen; er ging darauf weiter. Richter sagte mir, es sei ein Knecht vom Schlosse gewesen. Bald nachher gingen wir auseinander.“

„Wie waren Sie in den Park gekommen?“

„Das Brückenthor stand offen. Ich hatte es schon am Tage so gefunden.“

Nach meiner inneren, sogenannten subjectiven Ueberzeugung war ich mit ihm fertig. Objectiv war noch Verdacht gegen ihn da, und ich mußte ihn einstweilen in fernerer Haft behalten. Ich ließ ihn wieder in Verwahrsam bringen. Aber was nun weiter ?

Holberg war noch immer nicht zurück; es war noch immer keine Nachricht von ihm da. Man hätte es mir zuerst mitgetheilt.

Dagegen hatte die Frau von Holberg wiederholt zu mir geschickt, sobald ich Zeit hätte, zum Schlosse kommen, sie wünsche dringend mich zu sprechen. Ich konnte mir denken, wie heißes Verlangen sie tragen mochte, von mir zu erfahren, ihr Herz gegen mich auszuschütten; seit dem Auffinden der Leiche des Amerikaners hatte sie mich nicht gesprochen; über den Tod konnte sie genaue und zuverlässige Mittheilungen nur durch mich erhalten, und – ihr Mann war noch immer nicht da. Die arme Frau!

Ich hatte nach der Vernehmung des Gauklers einen freien Moment. Die auf dem Ermordeten gefundenen Papiere hatte ich schon vorher durchgesehen. Sie hatten sich nur in seiner Brieftasche befunden und enthielten nichts, was für die Untersuchung oder sonst von Interesse gewesen wäre. Auf der Brust des Todten hatte sich noch eine kleine, rundlich glatte blecherne Kapsel gefunden, die an einem um den Nacken geschlungenen starken ledernen Riemen hing. Ich war neugierig, was sie enthalten möge. Allein sie war verschlossen, der Schlüssel fehlte, und ich durfte sie um so weniger gewaltsam aufbrechen, als ihr Inhalt ein leicht zerstörlicher sein konnte.


(Schluß folgt.)



[597]
Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nr. 4.

Rudolph Zacharias Becker.

Zu jenen Männern, die während der eisernen Unterdrückung des deutschen Volkes durch fremden Despotismus kräftig und furchtlos das Hochgefühl für Ehre, Freiheit, Selbstständigkeit und nationale Einheit unter uns zu immer helleren Flammen, zu Thaten anzufachen bemüht waren, gehört Rudolph Zacharias Becker. Er verdient es, daß wir gegenwärtig, wo ein rastlos agirender und annectirender Napoleon wieder den französischen Thron einnimmt, sein erhebendes Vorbild neben den Vorbildern anderer freien, deutschen Männer aufstellen. Und so wollen wir in einfachen, aber treuen Zügen schildern, wie er durch Wort und That für Wahrheit und Recht, für die heilige Sache des deutschen Volkes rastlos wirkte und unerschrocken duldete.

Rudolph Zacharias Becker wurde den 9. April 1752 zu Erfurt geboren, studirte in Jena Theologie und widmete sich nach Vollendung seiner Universitätsstudien als Hauslehrer der Jugendbildung. Darüber verfehlte er den gewöhnlichen Weg zur Anstellung in einem öffentlichen Amte seiner Geburtsstadt. Als jedoch im Jahre 1780 seine Beantwortung der Frage: „Ist es nützlich, das Volk zu täuschen?“ von der königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin mit dem Preis gekrönt worden war, brachte ihn der Freiherr Karl Theodor von Dalberg. damals Statthalter des Kurfürsten von Mainz in Erfurt, zu der daselbst erledigten Professur der Geschichte und zum Secretair der Akademie in Vorschlag. Der Erfolg davon war aber, daß der Kurfürst von Mainz erst ein Jahr darauf die Schrift der geistlichen Censur übergab, um zu bestimmen, ob sie nicht als ketzerisch confiscirt werden müsse.

[598] Dennoch ermunterte der Beifall, den diese Schrift erhielt, Beckern, die Volksschriftstellerei zu seinem ordentlichen Berufe zu wählen. Nachdem er eine ihm angetragene Lehrerstelle an der Erziehungsanstalt zu Dessau angetreten hatte, schrieb er dort zuerst in den Jahren 1782 und 1783 die „Dessauer Zeitung für die Jugend und ihre Freunde“, die er nach seiner Uebersiedlung nach Gotha und selbständigen Niederlassung daselbst 1784 als „Deutsche Zeitung für die Jugend“ fortsetzte, dann seit 1788 mehr für Erwachsene berechnete und 1796 zur „Nationalzeitung der Deutschen“ erhob. Sein Wort drang bald so weit, als die deutsche Sprache ertönt. Seine wohlthätigen Rathschläge, seine verständigen Belehrungen wurden an den Höfen der Fürsten, in den Wohnungen der Bürger, in den Hütten des Landmanns vernommen. Muthig bekämpfte er alle Thorheiten, alle Werke der Finsterniß, eifrig empfahl er das Gemeinnützige jeder Art, begeistert sprach er für Alles, worauf die Würde der Menschheit beruht. So übte er den segensreichsten Einfluß auf die fortschreitende Bildung des deutschen Volkes.

Beim Nachdenken über die Gründe, aus welchen sich bestimmen lasse, was dem Volke, also dem Menschen überhaupt, wahrhaft nützlich sei, gewann er die Ueberzeugung, daß die gewöhnliche Vorstellung von zwei entgegengesetzten Grundtrieben des Menschen, einem Princip des Guten und einem des Bösen, irrig sei, und daß er nur von einem einfachen Naturtrieb bei allen Neigungen und Handlungen, auch den widersprechendsten bewegt werde. Das sei der Trieb der Fortschreitung oder der Vervollkommnung. Er sei die Quelle alles Guten, Edlen und Großen, wenn er von der Vernunft geleitet, ebenso aber auch die Quelle aller die Menschheit entehrenden Laster und Verbrechen, wenn er ohne Leitung der Vernunft befriedigt werde. Die christliche Religion lehre keinen andern Weg zum Heil der Seele, als diesen, nur daß sie das Streben nach Vollkommenheit noch durch das höchste Gebot der Liebe erhöhe und veredle. Er stellte dieses Moralsystem zuerst im „Noth- und Hülfsbüchlein oder lehrreiche Freuden- und Trauergeschichte des Dorfes Mildheim (Gotha, 1787–1798.)“ als praktisches Beispiel der Selbstbildung der Einwohner eines Dorfes so lebendig und anregend dar, daß von diesem Volksbuche bald über eine Million Exemplare in vielen Auflagen (neueste Auflage 1838, Preis 27 Sgr.), Nachdrücken und Uebersetzungen abgesetzt wurden. Später, 1791, verband er damit sein „Mildheimisches Liederbuch“ und 1816 sein „Mildheimisches Evangelienbuch“, die sich ebenfalls vielen Beifall gewannen.

Die naturgemäße Sittenlehre, die er in seinem Noth- und Hülfsbüchlein schlicht und klar dem unverbildeten Landmann vorgetragen, brachte er in seinen „Vorlesungen über die Pflichten und Rechte der Menschen (2 Bände, 1791 und 1792)“ in wissenschaftliche Form und Zusammenhang für die gebildeten Stände und erläuterte sie mit wirklichen Beispielen aus der Geschichte des Tages. Die äußeren Umstände waren damals einem solchen Unternehmen günstig. Es war das Zeitalter Friedrichs des Einzigen und Josephs des Zweiten. Becker durfte den Grundsatz aufstellen: „Da die Menschen in Staaten vereinigt leben, um nicht blos wie Viehheerden neben einander ruhig zu weiden, sondern um Hand in Hand den Weg des Fortschritts zu wandeln, so erstreckt sich das Gebiet der Oeffentlichkeit über Alles, was Menschen angeht, nicht blos über öffentliche Angelegenheiten der Länder, Städte und Dörfer, sondern auch über Handlungen des Einzelnen, insofern ihre Bekanntmachung der Gesammtheit nützen kann.“

Diesem Grundsatze gemäß setzte er auch seine journalistische Thätigkeit fort. Im Jahre 1791 begründete er neben der Nationalzeitung der Deutschen den „Anzeiger“, der 1792 durch ein kaiserliches Privilegium zum „Reichsanzeiger“ erhoben und nach Aufhören des Reichs im Jahre 1806 in den „Allgemeinen Anzeiger der Deutschen“ verwandelt wurde. Der eigene Vertrieb dieser Zeitschriften und seiner Bücher veranlaßte ihn, eine Buchhandlung zu gründen.

Obschon er bei der Unterdrückung unseres Vaterlands durch den französischen Despotismus seine schriftstellerischen Mittheilungen nur auf die schon öffentlich bekannten Ereignisse der Zeit beschränken mußte, so suchte er doch stets für Erweckung deutschen Gemeinsinns und deutscher Volksliebe zu wirken, so oft sich ihm eine Gelegenheit dazu bot. In diesem Sinne führte er mit Beihülfe seines Schwagers Hennicke insbesondere die Nationalzeitung bis zum Jahre 1811 fort, wo ein unbekannt gebliebener, boshafter Verleumder dem Marschall Davoust die Idee in den Kopf setzte, Becker sei Theilnehmer geheimer politischer Verbindungen gegen Napoleon und stehe an der Spitze von 20,000 verschworenen Deutschen, die der französischen Armee in den Rücken fallen sollten, wenn sie nach Rußland zöge. Davoust ertheilte alsbald demselben Maréchal de Logis, Namens Pfersdorf, der einst den unglücklichen Herzog von Enghien in Ettenheim verhaftet und nach Paris geführt hatte, den Befehl, Beckern gefangen zu nehmen und in die Citadelle von Magdeburg zu bringen. Pfersdorf zog in der Nacht vom 29. zum 30. November 1811 mit einer starken Schaar Cürassiere von Erfurt zu diesem Unternehmen aus, ließ die Landstraßen von Gotha nach Erfurt, Eisenach und Schmalkalden besetzen und Becker’s Wohnung von Cürassieren umzingeln. Dieser hatte in früher Morgenstunde eben einen Brief an den ältesten seiner damals in Göttingen studirenden Söhne geschlossen, als ein Fremder, der ihn zu sprechen verlangte, in sein Zimmer geführt wurde. Kaum hatte derselbe ihm sein den Allgemeinen Anzeiger der Deutschen betreffendes Anliegen vorgetragen, als sich ein entsetzliches Gepolter auf der Treppe vernehmen ließ und alsbald mehrere Cürassiere in das Zimmer drangen, wo sie mit ihren Waffen einen Lärm machten, als ob sie Alles zertrümmern wollten. Der mit dem Kreuz der Ehrenlegion gezierte Anführer kündigte Beckern mit donnernder Stimme an, er käme im Namen und auf Befehl des französischen Gouvernements, sich seiner Person und seiner Papiere zu bemächtigen. Er möge sich unverzüglich dazu bequemen, ihm zu folgen, sonst würde er Gewalt brauchen. Becker’s Frage nach der Ursache dieses Verfahrens wurde auf brutale Weise abgewiesen. Seine Frau, die, durch das kriegerische Getöse aufgeschreckt, zu ihm zu dringen versuchte, wurde mit blankem Säbel bedroht. Endlich gelang es ihr, in ein Cabinet neben dem Zimmer ihren Mannes zu kommen; doch auch hier wurde sie von dem Anführer zurückgehalten, bis derselbe auf Vorstellung von Becker’s Schwager, Hennicke, ihr erlaubte, Abschied von ihrem Manne zu nehmen. Sie reichte ihm jammernd sein gewöhnliches Frühstück und hatte in diesem schrecklichen Augenblick noch die Fassung, auch dem Mann, der ihr Herz so tief verwundete, ein Glas Wein anzubieten. Beschämt schlug er es aus und benahm sich ruhig und höflich.

Inzwischen wurden Becker’s Papiere von französischen Polizeibeamten mit der größten Hast zusammengepackt und in die vor der Hausthüre haltenden Wagen geschafft. Da nahte sich der Expeditionsgehülfe und Gesellschafter seiner Buchhandlung Lossius dem Anführer, faßte ihn, um sich bemerkbar zu machen, beim Rock und frug ihn, was dies zu bedeuten habe. Jener schrie den Cürassieren zu, den Menschen von ihm abzuhalten. Sogleich setzten sie ihm die Säbelspitzen auf die Brust und trieben ihn in eine Ecke. Dort bedrohten sie ihn bei jeder Bewegung mit dem Tode, bis der Anführer hinzutrat und ihn frei zu lassen befahl. Dennoch wäre er beinahe noch ein Opfer der Brutalität geworden. Der Diener Becker’s war nämlich am Wagen noch mit dem Aufbinden der gleichfalls weggenommenen Schatulle seines Herrn beschäftigt, als der Postillon die Pferde zum Abfahren antrieb und jener dadurch in Gefahr gerieth, gerädert zu werden. Da stürzte Lossius aus der Hausthüre, um ihn zurückzureißen. Augenblicklich haut ein Cürassier ihn über den Arm und sticht gerade auf ihn los, so daß er das Leben nur einer schnellen Wendung verdankt.

Becker mußte in den Wagen steigen, ohne irgend eine Verfügung für seine Familie, sein Hauswesen und seine Geschäfte für den möglichen Fall seines Todes hinterlassen zu können. Der Zug ging über Langensalza, Sondershausen, Nordhausen etc., ohne daß er das Ziel desselben erfuhr. Seiner Bitte, ihm eine kurze Rast zu gewähren, wurde nicht gewillfahrt. Den 2. December früh 5 Uhr erblickte er die Wälle von Magdeburg. Als das Thor geöffnet worden, wurde er zum Gouverneur und Commandanten gebracht und nach Davoust’s Befehl beiden als Staatsgefangener von äußerster Wichtigkeit übergeben, der mit der größten Verschwiegenheit verwahrt werden und für den die Herren mit ihren Köpfen haften sollten. Er wurde in das backofenförmige Gewölbe einer feuchten Casematte eingesperrt, durch deren mit starken, eisernen Stäben versehenes Fenster die Sonne noch nie einen ihrer Strahlen geworfen, weil es auf der Nordseite der Casematte war. Alle Lebensbedürfnisse konnte er nur auf eigene Kosten erhalten, alle Bücher und Schreibmaterial waren ihm versagt, und selbst in den kurzen Wintertagen durfte er nur beim Abendessen und nicht länger als eine Viertelstunde Licht brennen. Gehindert an allem [599] Verkehr mit Frau, Kindern und Freunden, gänzlich abgeschieden von aller menschlichen Gesellschaft und Mittheilung mußte er seine Unterhaltung auf sich selbst, auf die Erinnerungen der Vergangenheit, auf die Empfindung seiner gegenwärtigen Leiden und Entbehrungen, auf die Hoffnungen und Besorgnisse der Zukunft beschränken. In den ersten Wochen seiner Haft schien es ihm kaum zweifelhaft, daß man ihn wie Palm erschießen würde, um durch seinen Tod ebenfalls ein Schreckbild für die noch deutsch gesinnten Deutschen aufzustellen. Da er keine Handlung oder Gesinnung sich vorwerfen konnte, wodurch er ein solches Schicksal verdient hätte, so glaubte er, dasselbe als eine Fügung Gottes ansehen zu dürfen, der ihn würdige, zum Besten des deutschen Volkes, dem sein Leben in Wort und That gewidmet gewesen, auch noch durch seinen Tod mitzuwirken. Diese Ansicht gab ihm den Muth, dem Tod ohne Grauen in’s Auge zu sehen und sich darauf gefaßt zu machen, den letzten Gang als deutscher Mann mit Ehren zu thun. Die Sorge für seine Gattin und seine fünf noch unversorgten Kinder stellte er der Vorsehung anheim, wobei er jedoch die Gefühle des Herzens nicht ganz bemeistern konnte.

Im neunten Monate seiner Gefangenschaft wurde dieselbe von dem Gouverneur, Divisionsgeneral Grafen Michaud, sehr gemildert, wahrscheinlich weil der Richter, der die Untersuchung gegen Becker inzwischen geführt hatte, seine Unschuld versicherte. Dennoch fühlte er bei der mageren Kost seine Kräfte abnehmen und sich in der feuchtkalten Casematte von rheumatischen Fieberanfällen ergriffen, welche die Hülfe des Arztes erforderten. Als ihm am 26. August 1812 der Gefangenwärter seine Mittagssuppe brachte und er vom Bette aufgestanden war, ihm die schwere Fallthüre des Kerkers emporheben zu helfen, so riß der daran befestigte Strick entzwei. Er war zu schwach, die Thüre aufrecht zu erhalten, sie fiel nach seiner Seite zurück, schmetterte ihn nieder, mit dem Kopf wider die Mauer, zerschlug ihm das rechte Schlüsselbein und quetschte den Oberarm. Der Arzt erklärte, daß die Heilung sich verzögern werde, wenn er nicht in ein gesundes Zimmer gebracht würde. In der dumpfen Kerkerluft könne sich zu seinem schon vorhandenen Fieber ein Wundfieber gesellen und ihm leicht gefährlich werden. Er durfte daher ein von ihm selbst gewähltes Zimmer in der Wohnung des Commandanten beziehen, fand dort unter menschenfreundlichen Personen Achtung und Theilnahme und genas von seiner Verletzung bis auf periodische Schmerzen, die er noch lange empfand. Während seines Krankenlagers hatte ihm der Gouverneur auch bewilligt, daß ihn seine Söhne besuchen durften. Sie kamen an, als er, den Arm noch in der Binde, unter den Linden vor der Commandantenwohnung auf einer Bank saß. Die Freude des Wiedersehens überwältigte die Herzen. Sie ergoß sich in Thränen, ehe sie Worte finden konnte.

Der siebzehnte Monat seiner Gefangenschaft ging schon zu Ende, und noch zeigte sich ihm keine Aussicht zu seiner Befreiung, obschon er selbst, seine Familie, seine Freunde und Gönner dieserhalb alle möglichen Mittel angewendet hatten. Da traf die Nachricht in Gotha ein, daß Napoleon durch diese Stadt kommen werde, um von Erfurt aus den neuen Feldzug zu eröffnen. So schmerzliche Gefühle nun auch sein Name in der unglücklichen Gattin und ihren Kindern aufregen mochte, so belebte sie doch die schwache Hoffnung, daß sie vom Kaiser unmittelbar Gerechtigkeit erlangen würden. Als man ihnen daher am 25. April gegen Abend meldete, der Kaiser werde in einer halben Stunde eintreffen, so eilten sie nach dem Gasthof zum Mohren, wo er absteigen sollte. Dort erfuhren sie aber, daß er nicht aussteigen, sondern nur die Pferde beim Chausseehause nächst der Stadt wechseln werde. Sie beflügelten daher ihre Schritte auf dem Wege zu dem bestimmten Orte, wo sich eine Menge Menschen versammelt hatte, um den Mann des Jahrhunderts zu sehen. Jetzt kam der kaiserliche Wagen, und der Herzog August von Sachsen-Gotha, der wenige Minuten vorher auf dem Platze angelangt war, nahte sich dem Schlage, um den Kaiser zu begrüßen. Da fürchtete die Schwerbekümmerte, es möchte ihr der günstige Augenblick entzogen werden. Sie riß sich plötzlich vom Arm ihres zweiten Sohnes mit den Worten los: „Nein, ich warte nicht länger!“ schob den vor ihr stehenden Gensd’armen auf die Seite, stand mit einem Sprunge vor dem Wagen und überreichte hastig dem Kaiser ihr Schreiben. Aber in dem Augenblicke verließen sie auch ihre Kräfte, sie sank laut jammernd zu Boden. Es war ein herzzerreißender Anblick, die verzweifelnde Frau im Staube vor dem Herrscher zu sehen, den sie als den Urheber ihres Unglücks hassen mußte. Der Kaiser entfaltete das Schreiben, während er sich zum Wagen herauslegte und den Herzog fragte, wer die Frau sei. Ehe dieser noch eine Antwort ertheilte, sah der Kaiser in das Papier und sagte: „Ich weiß es, was es ist.“ Er bat dann den Herzog, der Frau die baldige Rückkehr ihres Mannes zu verkündigen. Der Herzog hob sie freudig gerührt auf und wünschte ihr zur Befreiung ihres Mannes Glück. In dem Augenblicke erschallte auch schon ein allgemeines „Hurrah!“ wie es vielleicht in Deutschland niemals in Gegenwart des Kaisers gerufen worden. Der Kaiser legte sich noch einmal zum Wagen heraus und sagte zu der tiefgerührten Frau: „Ihr Mann wird zurückkehren; aber sagen Sie ihm, daß er sich künftig klüger benimmt und sich nicht mehr in die Angelegenheiten der großen Mächte mischt,“ Worte, die deutlich zeigten, wie sehr gehässige Verleumdung Beckern angeschwärzt haben mußte. Hierauf rollte der Wagen davon.

Den 5. Mai um die Mitternachtsstunde trat Becker wieder in sein Haus ein. Er sagt darüber in seiner ergreifend geschriebenen, zeitgeschichtlich merkwürdigen Schrift „Becker’s Leiden und Freuden in siebzehnmonatlicher Gefangenschaft (1814)“: „Liebende und geliebte Gatten, Eltern und Kinder, welche je von den Ihrigen so lange, und mit solcher Gefahr der Trennung auf immer, entfernt waren, nur solche vermögen sich die Scenen des Wiedersehens und die Gefühle des Herzens, das sich kaum von der Wirklichkeit der erfüllten Sehnsucht überzeugen kann, in der ganzen Fülle der Entzückung vorzustellen. Die Sprache ist zu arm, sie Andern mitzutheilen.“

Becker’s Befreiung war seine Auferstehung zu neuem Leben und Wirken. Nach dem über den Welttyrannen ergangenen Gottes- und Völkergericht erneuerte er den 1. Januar 1814 die Nationalzeitung der Deutschen und machte in ihr das hehre Gericht der Offenkundigkeit noch mehr geltend, als früher. So berichtete er das Gute und Böse, was sich hören und sehen ließ, was aller Welt zum Spiegel, zur Warnung oder zur Nachahmung bekannt werden sollte; so war er ein Wächter der öffentlichen Wohlfahrt, ein Anwalt der Volksnoth; so sorgte er für echte, innere Verbesserung des deutschen Volkslebens. Auch der deutschen Kunstgeschichte leistete er wesentliche Dienste durch Herausgabe des Werkes: „Hans Sachs im Gewande seiner Zeit (1821)“ und der „Holzschnitte alter, deutscher Meister,“ deren werthvolle Originalplattensammlung sich jetzt im königlichen Museum zu Berlin befindet. So war er thätig, bis er am 28. März 1822, Abends 6 Uhr, nach vierwöchentlichen Leiden, wenige Tage vor Vollendung seines siebenzigsten Jahres sanft mit der untergehenden Sonne von der Erde schied. Sein Geist aber lebt und wirkt auf ihr fort unter Denen, die für die höchsten Güter der Menschheit, für Religion, Wahrheit, Freiheit und Recht ernst und freimüthig wirken, die, wenn es gilt, für sie standhaft dulden und dem Tod unverzagt in’s Auge schauen. Sein „Anzeiger der Deutschen“ endete erst mit dem Jahre 1850, und viele unserer Leser werden sich des Blattes noch erinnern können.

Adolph Bube.


Stille Leute.


Mir gegenüber wohnt seit einigen Jahren ein gar seltsames Ehepaar. Es sind dies Leute so still und ruhig, daß selbst der eigensinnigste Hauswirth über solche Miethsbewohner nichts zu bemerken haben würde – sie sind beide taub. Nicht etwa erst in spätern Lebensjahren taub geworden, nein, sie sind’s von Geburt an. Nie ist ein Wort, ein Ton in ihre Ohren eingedrungen. – Lautlos bewegt sich Alles um sie her. – Seltsames Stillleben!

Ich war früher nie mit Taubstummen zusammengekommen, und meine Ansichten über solche Menschen waren höchst verworren. Ich hielt sie für jähzornig, mißtrauisch, jeder höhern Regung unzugänglich. Jetzt war mir Gelegenheit gegeben, diese Unglücklichen genau beobachten zu können. Ich mußte meine stillen Nachbarsleute näher kennen lernen. – Der Mann arbeitete als Tischler in einer großen Werkstatt und besorgte nebenbei auf eigne Hand in sein Fach einschlagende [600] schlagende Reparaturen; die Frau nähte für die Leute. Meine Jungen hatten mir einige Möbel etwas stark schadhaft gemacht, der taubstumme Tischler sollte dieselben ausbessern.

Eines Sonntags, als Beide daheim waren, ging ich hinüber. Ich pochte an. Lieber Gott, sie hören’s ja nicht! Unangemeldet und deshalb verlegen und leise trat ich ein. Die Frau nähte am Fenster, der Mann las in einem Buche. Sie hatten mein Kommen nicht bemerkt. Ich wußte nicht, was ich beginnen sollte, beinahe wäre ich wieder fortgegangen. Es war so eigenthümlich still im Stübchen; aber nett und traulich war Alles eingerichtet. Blumen blühten auf dem Fensterbrett; einfach lackirte Möbel standen im Zimmer, einige hübsche Zeichnungen schmückten die Wände. Ich trat einen Schritt vor – da bemerkte mich der Mann. Er stand auf und grüßte mich mit einem sehr deutlich gesprochenen „guten Morgen!“ Erschrocken trat ich zurück, als ich ihn reden hörte. Ist er nicht taubstumm? Ober bin ich in die unrechte Thür gekommen. Jetzt kam auch die Frau herzu. Ich entschuldigte mich und brachte mein Anliegen vor. Beide sahen mir dabei aufmerksam auf Mund und Augen, und der Mann bat mich, etwas langsamer zu sprechen. Ich folgte der Weisung und bemerkte mit Erstaunen, daß ich vollkommen verstanden wurde. Mit bewundernswürdiger Schnelligkeit lasen die Beiden die Worte von meinem Munde ab. Auch ich verstand jedes ihrer Worte. Wohl lag in ihrer Sprache und Ausdrucksweise etwas eigenthümlich Fremdes, etwas Kindliches, und manche seltsame Wortbildung traf mein Ohr. Fast klang es mir, als redete ich mit Ausländern, etwa mit Engländern, die der deutschen Sprache zwar mächtig, doch hier und da sich eigenthümlich ausdrückten und accentuirten.

Ich besah mir die an der Wand hängenden Zeichnungen, und der Mann theilte mir mit, daß dies noch Andenken an seine Schulzeit seien. Den Ehrenplatz unter den einfachen Bildern nahm ein Portrait ein. Er führte mich vor dasselbe und mit leuchtenden Augen erzählte er mir, dies sei das Bild seines geliebten Pflegevaters und Lehrers, des verstorbenen Magister Reich. Mit rührender Liebe gedachten Beide des edeln Mannes und des Institutes, das sie gebildet hatte und noch jetzt ihr geistiger Mittelpunkt zu sein schien.

Schließlich verehrte mir der Tischler noch einige Schulprogramme, Genaueres über das Leipziger Taubstummen-Institut enthaltend, und lud mich ein, mit ihm heute Nachmittag die Anstalt selbst zu besuchen. Die Sache interessirte mich, und gern versprach ich mitzukommen.

Oftmals war ich an jener Anstalt vorbeigegangen, war auch wohl ein Weilchen stehen geblieben und hatte durch’s Gitterthor zugesehen, wie die Kinder im Garten herumspielten. Aber die Sache hatte für mich kein bleibenderes Interesse; ich vergaß es bald wieder, weil ich keine Ahnung davon hatte, was darin getrieben würde. Ich hielt das Ganze wesentlich für eine Versorgungs- und Verpflegungsanstalt, bedauerte im Vorbeigehen die armen Kinder und pries die Humanität, die solche Anstalten gegründet, in denen diese Unglücklichen doch wenigstens mechanisch zu etwas Nützlichem ausgebildet würden. Schon das Lesen der Schulprogramme brachte mir jetzt andere Ansichten bei und spannte mein Interesse auf’s Höchste. Schade, daß diese Programme nicht im Buchhandel erscheinen, sondern nur privatim vertheilt werden; sie würden manches Vorurtheil zerstören und der Anstalt manchen neuen Freund gewinnen.

Zur bestimmten Stunde holte mich mein Führer ab. Das Leipziger Taubstummen-Institut liegt in der Nähe des bairischen Bahnhofs am Eingange in das Johannisthal, jene freundliche Gartenstadt, in welcher der Leipziger ein den ganzen Sommer hindurch währendes Laubhüttenfest feiert. Im Garten, ganz isolirt dastehend, erhebt sich das Gebäude, umgeben von hübschen Anlagen, die zum Tummelplatz der Kinder dienen. Bei unserm Eintritte in den Garten waren eben sämmtliche Zöglinge, Knaben wie Mädchen, auf ihren Spielplätzen. Welch lustiger und doch tief ergreifender Anblick! Einige spielten mit dem Ball, andere haschten sich um ein Rasenrondell herum. Stille Leute, wie ich in meiner Ueberschrift sagte, waren’s eben nicht; sie lachten und sprangen, gerade wie vollsinnige Kinder desselben Alters.

Es mochten gegen 100 Kinder sein, Knaben und Mädchen, groß und klein – und alle taub – mir trat’s Wasser in die Augen; ich dachte an meine Kleinen daheim. Wie freut’s mich, wenn sie mich mit frischer, heller Stimme begrüßen und mir dies und jenes vorschwatzen! Ihr armen Eltern dieser unglücklichen Kinder, wie mögt auch Ihr Euch auf die Zeit gefreut haben, da Euer Kind Euch mit dem süßen Vater- und Mutternamen rufen würde! und die Altersgenossen Eures Kindes sprachen längst, aber dem Euern blieb die Zunge gebunden. Immer noch hofftet Ihr. Du arme Mutter, welch ungeheurer Schmerz durchzuckte Deine Brust, als sich Dir endlich die furchtbare Gewißheit aufdrängte: Dein Kind ist taub!

Mein Eintreten in den Garten störte die Kinder einigermaßen im Spiele. Die Meisten begrüßten mich mit einem freundlich gesprochenen „guten Tag!“ – Mein Begleiter stellte mich dem aufsichtführenden Lehrer vor, und dieser hatte die Güte, mich mit der Anstalt und ihrem Wirken so genau als möglich bekannt zu machen.

Unmittelbar vor dem Gebäude steht auf einem frischgrünen Rasenplatze ein einfacher Denkstein, einer edlen Leipziger Dame, der Frau Dr. Carl gewidmet, welche dieser segensreichen Anstalt ein Capital von mehr als 20,000 Thlr. geschenkt hat. Das Institut ist eine sogenannte pia causa. Es hat sich nämlich durch die Wohlthätigkeit edler Menschen nach und nach ein Fond gebildet, dessen Zinsen für die Anstaltszwecke verwendet werden; das Fehlende giebt der Staat. Diesen fortwährend im Wachsen begriffenen Fond, der natürlich, je größer er wird, auch desto mehr zum Gedeihen der Anstalt beiträgt, verdankt das Institut wesentlich dem Edelsinne von Leipzigs Einwohnern, die oft noch in der letzten Stunde der armen Taubstummen gedenken. Aus andern sächsischen Orten wird verhältnißmäßig sehr wenig dazu gethan, obgleich die Anstalt ihre Pforten allen sächsischen Taubstummen, besonders denen des Leipziger und Zwickauer Kreisdirectionsbezirks – die aus den übrigen Theilen des Landes werden gewöhnlich in das Dresdner Institut gebracht – öffnet.

Wir traten in das Innere des Hauses, in die großen Aufenthaltszimmer der Knaben. Dort befinden sich die Büsten zweier Männer, deren Namen alle Taubstummen segnend nennen. Es sind dies – Samuel Heinike, der Begründer der deutschen Taubstummenerziehung und Stifter des Leipziger Instituts, und sein Nachfolger, Director Carl Reich, der Ausbauer dieses segensreichen Werkes.

Die Leipziger Anstalt ist die älteste ihrer Art in Deutschland. Sie wurde von Samuel Heinike begründet. Dieser Mann, auch auf andern Gebieten der Pädagogik ausgezeichnet – er war einer der Ersten, die dem Schulschlendrian jener Zeit energisch entgegentraten – wurde 1729 in dem Dorfe Nautschütz bei Weißenfels an der Saale geboren. Von seinen Eltern zum Landmann bestimmt, trat er, um dem zu entgehen, in Dresden in Militärdienste. Mit Aufopferung jeder freien Minute und Entbehrungen aller Art arbeitete er sich geistig so empor, daß er, obwohl schon verheirathet, sich in Jena Universitätsbildung aneignen konnte. Zufällig war ihm schon in Dresden ein taubstummer Knabe zugeführt und von ihm mit glücklichem Erfolg unterrichtet worden. In seiner spätern Stellung, als Cantor im hamburgischen Klosterdorfe Eppendorf wurde ihm abermals ein tauber Müllerssohn übergeben. Das günstige Resultat, das er auch hier errang, das ihm sogar, als einem, der Gott meistern wolle, die Verfolgung zelotischer Geistlicher zuzog, bewog ihn, mehr und mehr seine Kraft diesen Unglücklichen zuzuwenden. Nachdem er das Anerbieten des Grafen Schimmelmann, in Wandsbeck ein größeres Institut zu errichten, aus ehrenwerthen Gründen abgeschlagen, folgte er dem Rufe des Kurfürsten, nachmaligen Königs Friedrich August von Sachsen und begründete im Jahre 1778 zu Leipzig die erste Taubstummenbildungsanstalt in Deutschland.

Mit ihm zu gleicher Zeit beschäftigte sich in Paris der Abbé de l’Epée mit der Taubstummenerziehung. Aber beide Männer stehen in ihrem Wirken ganz selbständig da, sie hörten erst von einander, nachdem die Zeitungen von ihren Erfolgen berichtet hatten. Und dann standen sie sich als Gegner gegenüber. Der Abbé meinte, die Pantomime (Gebehrdensprache) und das geschriebene Wort seien ausreichend zur Bildung der Taubstummen, während unser Heinike wesentliches Gewicht auf das gesprochene Wort legte. Er lehrte seine Zöglinge sich schriftlich und mündlich ausdrücken und füllte so möglichst den Unterschied zwischen Hörenden und Tauben aus. Erst die Neuzeit ist Heinike gerecht geworden. Jetzt wird fast in allen Taubstummenanstalten Deutschlands das Sprechen geübt und gepflegt. Heinike’s Nachfolger im Leipziger [601] Institute war der um den Ausbau der Methode so hochverdiente Magister Reich.

Im Jahre 1840 wurde das jetzige Gebäude errichtet, das, obwohl später um ein Stockwerk erhöht, für die gegenwärtige Anzahl der Zöglinge kaum hinreichenden Raum gewährt. Besonders fehlt ein großer Saal für die Andachten und Schulfeierlichkeiten. Vielleicht erstarkt der Fond des Instituts recht bald in einer Weise, daß diesem Mangel durch Bauen neuer Localitäten abgeholfen werden kann.

Beim Herumgehen im Anstaltsgebäude waren wir auch in ein Stübchen gekommen, das von meinem Begleiter die Modellkammer genannt wurde. Sie enthält die besten Arbeiten der Zöglinge. Es ist eine Hauptaufgabe der Anstalt, ihre Pfleglinge, besonders die weiblichen Geschlechts, erwerbsfähig zu machen. So ist für die Knaben, um sie zur Handarbeit geschickt zu machen, eine Tischlerei eingerichtet, und ein Tischlermeister – der jetzige ist selber taub – giebt ihnen wöchentlich zweimal Anweisung zu Holzarbeiten. Hier in der sogenannten Modellkammer sind die besten Holzarbeiten aufgestellt. Allerliebste Sachen! – So nett und sauber ausgeführt! – Auf großen Regalen stehen da Geräthe aller Art, sogar Thier- und Menschenfiguren. In einem besonderen Schranke sind die Papparbeiten aufbewahrt; ein Buchbinder kann’s nicht reinlicher und feiner machen.

Am meisten erregten die Näh- und Stickarbeiten meine Verwunderung. Die taubstummen Mädchen erlangen hierin im Institute eine solche Geschicklichkeit, daß sich die Meisten sofort nach der Entlastung aus der Anstalt dadurch selbstständig erhalten können. Die Knaben kommen nach der Entlassung zu irgend einem Meister – viele werden Tischler – der von der Regierung für diese Mühe 50 Thaler Lehrgeld erhält. Uebrigens haben, wie mir mein gefälliger Führer sagte, die Taubstummen schon als Gesellen das Recht, auf eigene Rechnung zu arbeiten.

Die meisten Taubstummen bleiben natürlich unverheiratet; doch ehelichen sie sich oft sogar unter einander, ohne daß aus solchen Ehen, wie man fast befürchten könnte, taube Kinder hervorgehen. In Leipzig leben mehrere solche Ehepaare recht glücklich, und die Kinder sind kerngesund; freilich ist die Kindererziehung mit großen Schwierigkeiten verbunden. So wurde mir erzählt, daß eine taubstumme Mutter, um zu erfahren, ob ihr Kind in der Nacht schlafe oder schrie – hören kann sie’s ja nicht – leise das Gesicht des Kindes betaste und so das Gehör gewissermaßen in den Fingerspitzen habe. Frühzeitig führt auch der Instinct die Kinder solcher Eltern zum Gebrauch der Pantomime.

Wir waren wieder im Wohnzimmer der Knaben angelangt. Einige größere Knaben schrieben, wie ich bei näherer Besichtigung fand, an selbstgearbeiteten Aufsätzen. Ich las sie durch – die Oberclasse einer mittleren Bürgerschule hätte sich solcher schriftlichen Ausarbeitungen nicht zu schämen brauchen.

„Aber wie ist es möglich, daß diese Gehörlosen zu solcher Sprachfertigkeit kommen können?“

„Diese Frage,“ erwiderte mein Begleiter, „würde sich leichter beantworten lassen, wenn Sie uns gefälligst während der Schulzeit besuchen wollten.“

Am andern Morgen, mit dem Beginn der Schule war ich wieder im Institute. Eigentlich ist, wie ich später erfuhr, die Anstalt nur Mittwochs und Sonnabends von 11 bis 12 Uhr dem Fremdenbesuche zugänglich; indeß dem, der sich tiefer mit ihrer Aufgabe beschäftigen will, öffnet sie ihre Thore gern zu jeder beliebigen Zeit. Die Zahl der taubstummen Schüler beträgt gegen hundert, welche in zehn Classen unterrichtet werden, so daß also auf einen Lehrer durchschnittlich zehn Schüler kommen, und damit hat er vollkommen zu arbeiten. Befremdend war es mir, daß sich fast immer zwei Classen in einer Stube befanden – wie mir erzählt wurde, unterrichten in manchen andern Instituten, und früher ist es hier auch so gewesen, sämmtliche Lehrer zu gleicher Zeit in einem großen Saale, ohne daß dadurch Lehrer und Schüler gestört werden. Jede Classe verfolgt ihr Ziel für sich. Sieht der Lehrer einmal die Augen seiner Zöglinge auf sich gerichtet, so ist er auch ihrer Aufmerksamkeit gewiß; denn alles Geräusch, alle andern Störungen gleiten spurlos an ihrem Ohr vorbei. Um unachtsame Schüler aufmerksam zu machen, pochen die Lehrer auf den Tisch, nicht etwa damit es der Schüler hört, er fühlt die Erschütterung und wendet schnell sein Auge dem Lehrer zu. Im eigentlichsten Sinne des Worts sah ich hier anschaulich unterrichten und glaube, daß die Elementarschule gar Manches in dieser Beziehung von der Taubstummenschule lernen könnte.

In den unteren Classen ist die Pantomime – Gebehrdensprache – das Verständigungsmittel zwischen Lehrer und Schüler. Schon im Elternhause braucht der kleine Taubstumme für die Dinge seiner Umgebung bestimmte Zeichen. Die Pantomime ist seine Muttersprache. Kommt er nun in das Institut, so eignet er sich schnell die dort gebräuchlichen, den seinen ähnlichen Zeichen an. Er hat gewissermaßen nur eine Dialektverschiedenheit zu überwinden. Man könnte die Pantomime recht eigentlich die Weltsprache nennen, durch die sich Jeder Jedem verständlich machen kann. Kommt ein Wanderbursch in ein fremdes Land, zuerst hilft er sich durch Zeichen. Und welches andere Mittel haben Seefahrer, wenn sie zu unbekannten Nationen kommen?

Jetzt zurück zu unsern Taubstummen. Mit Hülfe dieser Pantomimen bringt der Lehrer, welcher sie natürlich so gut wie seine Schüler verstehen muß, in das Seelenleben der Kleinen ein. Der Zögling sieht aber, daß seine ältern Schicksalsgenossen neben der Pantomime auch sprechen und schreiben können; er versucht es auch, und nun beginnt der Unterricht im Sprechen, die Bildung der Articulation. Das ist freilich eine höchst schwierige Aufgabe. Jeder Laut erfordert eine besondere Mundstellung. Der Lehrer zeigt nun dem Kleinen mit Hülfe des Spiegels genau die Sprachwerkzeuge, bewegt sie und fordert den Schüler auf, diese bis jetzt nur zum Essen gebrauchten Theile in gleicher Weise zu bewegen, damit er einige Herrschaft über sie bekomme.

Jetzt stellt der Lehrer den kleinen Taubstummen vor sich, giebt ihm die Mundstellung zum a, legt die eine Hand des Kindes auf seine Brust, die andere an seinen Kehlkopf und spricht nun mit voller, starker Stimme a. Der Schüler fühlt die Bewegung der Brust, das Zittern des Kehlkopfes, das Ausströmen des Luftstromes; er versucht’s nachzuahmen, und endlich gelingt es ihm, ein mehr oder weniger reines a herauszubringen.

So ist der erste große Schritt zum Sprechen gethan. O, u sind leichter für den Schüler. Die Zungenlage ist wie beim a, nur die Mundöffnung wird kleiner. Schwieriger sind e, i. Die Consonanten kommen an die Reihe; welche Schwierigkeiten sind da noch zu überwinden! Bei jüngern Taubstummen gelingt es in der Regel eine reinere Articulation zu bilden als bei schon älteren; da sind die Sprachwerkzeuge gewissermaßen noch nicht eingerostet, sie sind biegsamer, als bei jenen. Auch darf der Lehrer seine Schüler mit diesen Uebungen nicht zu sehr anstrengen, weil sonst leicht die Lunge, die bei allen Taubstummen mehr oder weniger abnorm ist, zu sehr angegriffen werden könnte. Hand in Hand mit der Bildung der Articulation gehen das Lesen- und Schreibenlernen.

Trotz aller Mühe, die es bisher gekostet, erkennt aber die Anstalt in der Articulation, in den Anfängen des Lesens und Schreibens nichts weiter als das Mechanische in der Grundlegung der Sprache. Allmählich gelangt der Schüler zu einfachen Worten – Rad, Schaf – als Zeichen ihm bewußter Gegenstände. Es ist nun ein Mittel genommen, sein Gedächtniß anzubauen. Er wird geübt, für jeden in der Wirklichkeit, im Bilde oder in der Pantomime gezeigten Gegenstand das Wort zu geben. Was er scharf und richtig articulirt hat, das schreibt er dann auch richtig, und daher kommt es, daß die Orthographie der Taubstummen fast immer ganz fehlerfrei ist.

Jetzt werden dem Schüler die einfachsten Eigenschaften gegeben, und er spricht schon im kleinen Satze – das Rad ist rund. Weiter lernt er das Verhältniß der Dinge zu einander in Worten ausdrücken – der Baum ist in dem Garten. Er lernt die gewöhnlichsten Bindewörter – und, oder etc. anwenden. Die gebräuchlichsten Zeitwörter werden ihm gegeben, und so wächst seine Sprache gleich einem Baume größer und immer größer. Conversation und Grammatik werden auf das Zweckmäßigste verbunden, um die Schüler in die deutsche, die schwierigste aller Sprachen, einzuführen.

Und die Erfolge sind staunenerregend. Nicht genug, daß ich mich mit den Schülern der obern Classen mündlich über die verschiedensten Gegenstände unterhalten habe, ich ließ sie auch kleine Aufsätze fertigen, deren Ausführung mich in Verwunderung setzte.

Man irrt ungeheuer, wenn man meint, die Taubstummen lernen nur mechanisch lesen und schreiben. Das ist das Wenigste; ich habe in manchen Volksschulen solche correcte Aufsätze nicht gefunden. – Wesentlich ist der Taubstummenunterricht Sprachunterricht, [602] dabei werden aber die Realien, das Rechnen und Zeichnen keineswegs vergessen. Auf letzteren wird namentlich Gewicht gelegt. In den obern Classen tritt auch als Gipfelpunkt der Religionsunterricht hinzu. Die Pantomime, die in der Unterclasse vorwiegend war, in den Mittelclassen mit dem gesprochenen Worte gleichbedeutend dasteht, tritt in der Oberclasse nur als Begleiterin des Worts, als Geste auf. So wird auch der Religionsunterricht „sprechend mit pantomimischem Ausdruck“ gegeben. „In der Schrift allein ist und läßt er, bei aller Erklärung, kalt, wie die Januarsonne. In der Pantomime allein, die der Lehrer ohnedies nie mit dem geschriebenen Wort in gleichem Moment geben kann, läuft der Unterricht Gefahr, das Erhabene und Geistige in das Gemeine und Sinnliche herabzuziehen.“

Das Leipziger Institut hat einige seiner befähigtsten Schüler zu Lehrern herangebildet, in denen die Taubstummenbildung gewissermaßen ihren Kulminationspunkt erreicht hat, und diese Männer wirken mit reichem Erfolge unter ihren Schicksalsgenossen.

Es war 12 Uhr. Die Schule wurde geschlossen, und mit Hochachtung schied ich von einer Anstalt, die ihre Aufgabe in so tüchtiger Weise löst.





Ein deutscher Colonist in Algerien.

Aus dem Tagebuch eines deutschen Officiers in der Fremden-Legion in Algier.

Wir kehrten im Herbst 1853 aus den ungesunden Ebenen von Lhabra zurück, wo wir mehrere Monate hindurch campirt hatten, beschäftigt mit dem Neubau einer Chaussée von Oran nach Maskara. Während unseres Aufenthalten in dieser sumpfigen, übel berüchtigten Gegend hatten Wechselfieber und Diarrhöe schon eine beträchtliche Anzahl der Leute theils in die Militärhospitäler von Oran und Maskara, theils in das Aushülfshospital zu Saint-Denis du Sig expedirt; und obgleich zweimal während der Dauer der Straßenbauten Nachsendungen von Truppen aus Sidi-bel-Abbés, unserm Standquartier, stattgefunden hatten, schlugen wir am Abend den 23. October obigen Jahres doch nur in der Stärke von etwa 800 Mann unser kleines Zeltlager vor dem Dorfe Tlelat auf, das wir zu Anfang Juni mit 1400 Mann passirt hatten.

Mir ging es, obgleich ich beritten war, wie den armen Teufeln, welche die ungeheure Etappe von 48 Kilometern (12 guten Stunden) zu Fuße und schwer bepackt hatten machen müssen: ich war ermattet zum Umfallen. Obgleich wir in den letzten Tagen des October waren, hatte doch die afrikanische Sonne den ganzen Tag mit wirklich außergewöhnlicher Gluth ihre versengenden Strahlen herabgesandt, und – was das Schlimmste war – nicht einen Tropfen genießbaren Wassers hatte der ganze nicht enden wollende Weg geboten. Zum Ersatz dafür trocknete ein feiner, überall eindringender Sandstaub die nach Erfrischung lechzenden Kehlen vollends aus, und gleich als hätte die von der Sonne auf uns herabströmende Gluth nicht genügt, unsere Situation mehr und mehr beschwerlich zu machen, selbst von unten herauf wurden wir von der Hitze attaquirt, da der Boden unter unsern Füßen, durch die Sonnenstrahlen ausgetrocknet, dieselben zurückwarf.

Genug, als endlich „Halt“ für diesen Tag zum letzten Male commandirt war, ließ ich mich mehr von meinem Grauschimmel heruntergleiten, als ich sprang, warf ihm die Zügel auf den Nacken und begann vor Allem damit, meinen erschöpften und ermüdeten Gliedern durch ein längeres Strecken und Recken einige Geschmeidigkeit wiederzugeben. Während dieser wohlthuenden gymnastischen Uebung hatte sich mein Schiras (dies war der Name meines Pferdes) vergebens bemüht, auf dem unfruchtbaren Boden etwas für seinen Appetit zu finden. Schon zweimal hatte ich nach meinem Burschen, einem braven Deutschen, gerufen; doch wer nicht kam, war mein Fritz Becker.

„Wo zum Henker steckt mein Fritz?“ fragte ich einen Trainsoldaten, der mit zwei großen Pferdeeimern voll frischen Quellwassers bei mir vorüberging; bei welcher Gelegenheit ich noch meinen Schiras von dem verlockenden Labetrunk zurückzuhalten alle Mühe hatte.

„Ihr Fritz, Herr Lieutenant,“ antwortete mir der Trainsoldat, „hat heute gute Zeit; hier in Tlelat giebt es viele deutsche Colonisten, und er kennt einige Familien. Hat mir schon auf dem Marsche davon gesprochen und gesagt: „Sobald wir in Tlelat angekommen sein werden, werde ich meinem Herrn ein paar Flaschen deutsches gutes Bier, einen Laib deutsches Brod und deutschen Käse, und meinen Pferden einige Metzen Hafer holen; weiß schon wo ich das Alles kriege.““

Ich war, ich gestehe es, schon im Begriff gewesen, meinem Fritz über sein unerklärlichen Verschwinden, gerade in dem Augenblick, wo ich seiner am nöthigsten bedurfte, zu zürnen; die durch die Mittheilung des Trainsoldaten mir gewordene Aussicht auf langentbehrte Genüsse stimmte mich indessen um so mehr zu Gunsten meines Deserteurs, als mir sein Vorhaben ein neuer Beweis seiner treuen und schon in so manchen kritischen Fällen bewährten Anhänglichkeit an mich war. Ich begann daher nunmehr meinen Grauschimmel seines Sattel- und Zaumzeugs zu entledigen. Einige Leute meiner Compagnie, vermuthlich von Fritz dazu beauftragt, waren bereits mit Aufschlagen meines Zeltes beschäftigt, und nicht lange dauerte es, so lag ich ausgestreckt auf meinem portativen Feldbette, das, gleichwie das Zelt, auf Maulthiersrücken den Weg gemacht hatte.

Eine halbe Stunde mochte ich, behaglich mich streckend und eine Pfeife rauchend, der Ruhe gepflegt haben, als mein Bursche, beladen wie ein Maulthier, in mein Zelt trat und mich folgendermaßen apostrophirte: „Seien Sie nicht böse, Herr Lieutenant, das ich so lange ausgeblieben; doch ich wollte früher als die übrigen Deutschen im Dorfe sein, um für Sie alles das haben zu können, was ich mir ausgedacht und was Ihnen auch gewiß lieb sein wird.“ Und dabei legte er, eines nach dem andern, ein mächtiges Roggenbrod, einen Topf mit sauern Gurken, mehrere sehr einladende, ganz auf deutsche Art fabricirte Käse und sechs Flaschen deutschen Gerstensaftes auf den Feldtisch. „Und nun, Herr Lieutenant,“ fuhr Fritz fort, „werde ich schnell die Pferde besorgen, denen ich auch etwas mitgebracht habe, das sie seit Jahr und Tag nicht gesehen: prächtigen Hafer! – Sobald unsere Compagnie kochendes Wasser hat, mache ich dann auch gleich Ihren Kaffee. Sie sollen schon mit mir zufrieden sein und an die Heimath denken, wenn ich Ihnen das Abendessen vorsetze; wenn’s auch einfach ist, aber es ist doch ein deutsches!“

„Gut, Patriot!“ sagte ich, „hast Recht. Aber erkläre mir doch, wie kommt es, daß Du so bekannt hier bist und in so kurzer Zeit alle diese herrlichen Sachen, mit denen Du beladen warst, bekommen hast?“

„Das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen schon ein andermal erzähle und in der’s nicht viel Lustiges giebt. Doch die Familie, von der ich so reichlich beschenkt bin und der ich viel Gutes von Ihnen erzählt habe, ist begierig Sie zu sehen und läßt Sie bitten, morgen Mittag eine deutsche Suppe bei ihr zu essen. Und da wir morgen so wie so Ruhetag hier haben, so dachte ich: der Herr Lieutenant wird's wohl nicht ausschlagen, und habe die Einladung in Ihrem Namen angenommen. Sie werden’s nicht bereuen; es sind gute, kernbrave Leute, die auch in den sechszehn Jahren ihres Aufenthalten in diesem Lande schon manchen Fünffrankenthaler (Duro in Algerien genannt) gespart haben. Also, nicht wahr, Herr Lieutenant, wenn ich zur Nacht noch einmal hinübergehe in’s Dorf, da kann ich dem Christian Wöhler und seiner Frau sagen, daß mein Herr morgen Mittag ihr Gast sein wird?“

„Von Herzen gern, Fritz! – Und dank’ ihnen auch meinerseits schon heute für das heimathliche Abendessen; grüß’ sie freundlich von mir, die guten Leute.“

Während dieser Unterredung hatte mein Bursche dem Inneren meines Zeltes (welches zugleich das seinige war), so weit dies im Lager- und Marschleben thunlich, die möglichste Bequemlichkeit gegeben, Alles an seinen Ort gebracht, meine und seine Waffen an der Zeltstange in der Mitte aufgehängt, und ging nun, nachdem ich mich bereit erklärt, dem morgigen Schmause beizuwohnen, hinaus, um nach den Pferden zu sehen und den unfehlbaren Kaffee für mich zu besorgen. Bald brachte er mir denn auch den dampfenden Mokka. Durch den Genuß desselben neu gestärkt und nachdem ich mein Marschcostüm gegen ein anderes vertauscht hatte, machte

[603] ich mich auf den Weg, um die Umgebungen des Lagers ein wenig in Augenschein zu nehmen und mir vor dem Abendessen in Begleitung einiger Cameraden noch etwas Bewegung zu machen.

Es war gegen 4 Uhr Nachmittags (in der vorhergehenden Nacht um 12 Uhr waren wir von Saint-Denis aufgebrochen); die Sonnenstrahlen verursachten jetzt eine weniger unangenehme Wärme, die Atmosphäre war abgekühlter und reiner. Unser Lager befand sich auf der südlichen, gänzlich uncultivirten Seite des Colonistendorfes, dessen Bevölkerung zu zwei Drittheilen aus Deutschen, der Rest aus Spaniern und Franzosen besteht. Tlelat liegt auf halbem Wege zwischen Oran und Sidi-bel-Abbès und auch zwischen Oran und Maskara. Die von Oran kommende Straße theilt sich am südlichen Ausgange des Ortes, um rechts, in südwestlicher Richtung, nach Sibi-bel-Abbès und links, in beinahe östlicher Richtung, nach Makara zu führen. Diese verschiedenen, sehr gut construirten und erhaltenen Straßen durchschneiden rings um Tlelat herum eine weite Ebene, die nur erst im fernen Südwesten durch mehr und mehr ansteigende Bergrücken begrenzt ist. Diese Hochebene, denn eine solche ist sie, da sie nur erst in unmittelbarer Nähe der Meeresküste einen plötzlichen, schroffen Abfall von circa 500 Fuß gegen dieselbe hat, ist, so weit das Auge reicht, mit üppigen Weizenfeldern bedeckt, und nur hin und wieder, wie z. B. da, wo die Straße sich am südlichen Ausgange von Tlelat theilt, findet man in geringer Ausdehnung sumpfige Strecken. Die Fruchtbarkeit oder, besser gesagt, der heutige Culturzustand dieser Ebene ist das Werk deutscher Colonisten, welche vorzugsweise aus dem Elsaß, aus Baden und Thüringen ausgewandert sind und – nachdem sie lange Jahre unter Gefahren, Entbehrungen und der mühseligsten Arbeit hier gelebt – nun endlich anfangen den Segen ihres Fleißes und ihrer nicht ermüdenden Thätigkeit zu ernten. Einer der hervorragendsten dieser Colonisten ist Christian Wöhler, und ich will in Folgendem wiedergeben, was er mir über sein Leben in Afrika mitgetheilt, nachdem ich den Leser zuvor bei ihm eingeführt habe.

Nachdem am nächsten Tage meine dienstlichen Obliegenheiten beendet, machte ich mich unter Leitung meines Fritz auf den Weg, um den versprochenen Besuch abzustatten. Beim Eintritt in das Dorf, welches nur aus zwei langen Reihen von Gebäuden auf beiden Seiten der Heerstraße besteht, fiel mir unter andern ein durch seine Größe und Ausdehnung alle übrigen überragendes Haus auf, welches, ziemlich in der Mitte der Colonie belegen, noch besonders durch sein gefälliges Aeußere einnahm. Dasselbe hatte, wie alle Baulichkeiten in diesem Lande, nur eine Etage über dem Parterre, war jedoch in größeren Höhen-, Tiefen- und Längen- Dimensionen, als die es umgebenden Häuser gebaut und von weitläufigen Wirtschaftsgebäuden umgeben. Die Hauptfacade des Wohnhauses, welches der Heerstraße zugekehrt und von dieser durch einen ziemlich breiten Graben und ein hohes, vor demselben gezogenes Eisengitter getrennt war, zeigte eine Front von 10 Fenstern in der obern Etage und 8 im Erdgeschoß ; sämmtliche Fenster waren mit grünen Jalousieen verschlossen, um die brennenden Sonnenstrahlen vom Innern zurückzuhalten.

„Das ist Christian Wöhler’s Wohnung,“ sagte Fritz. „Vor drei Jahren hat er sich dieses schöne Haus gebaut.“

Ich wollte schon auf die große Eingangsthür zugehen, als mein Führer mir mittheilte, daß der gegenwärtige Zutritt zum Innern von der Hintern Seite aus stattfinde. Wir umgingen demnach das Haus und befanden uns bald einem weitgeöffneten Thorweg gegenüber, welcher, zwischen zwei Stallgebäuden angebracht, in einen sehr großen und geräumigen Wirthschaftshof führte. In diesem sprangen mehrere zahme Schakals und Gazellen lustig zwischen Federvieh aller Art umher, ein Strauß durchmaß mit gravitätischem Schritt den weiten Hof, und zwei Prachtexemplare echter Neufundländer hatten sich behäbig im Schatten eines großen Nußbaums ausgestreckt, der den Mittelpunkt des Hofes bildete. Verschiedene geöffnete Stallthüren ließen den reichen Viehstand des Besitzers sehen, und die zahlreichen Wagen und landwirthschaftlichen Geräthe auf die Ausdehnung seines Eigenthums schließen. Wir schritten der Hinteren Eingangsthür des Wohnhauses zu und wurden an derselben vom Familienvater, der unsern Eintritt in den Hof wahrgenommen, empfangen und herzlich begrüßt.

Christian Wöhler war ein Mann von etwa 52 Jahren, eine athletische Gestalt. Sein lebhaftes blaues Auge, das durch die afrikanische Sonne gebräunte, von einem vollen, dunkelblonden Barte eingefaßte Gesicht, in dem herzliche Gutmüthigkeit mit männlicher Festigkeit sich aussprach, sowie der kräftige deutsche Händedruck und das aufrichtige „Willkommen“, das er uns zurief, nahmen mich sofort für den Colonisten ein. Er führte mich in das große, zu ebener Erde gelegene Wohnzimmer, in welchem der Mittagstisch bereits gedeckt stand.

„Wir haben,“ sagte unser Wirth, „noch ein Stündchen Zeit bis zum Essen, und da, denke ich, vertreiben wir uns die Zeit mit einer Pfeife Tabak und einem Glase Rheinwein. Habe Beides direct aus Deutschland bekommen und zwar ganz kürzlich erst, durch einen Bremer Schiffscapitain, der in Oran vor Anker lag und mir unter andern meine kleine Nichte aus Braunschweig mitgebracht hat. Sie werden sie sehen, ein munteres Ding, wild und toll wie ein Junge. Wird nicht ermangeln, Ihnen Neuigkeiten aus der Heimath mitzutheilen. Doch nun lassen Sie uns ein Glas auf's Wohl des lieben Vaterlandes trinken, Herr Lieutenant; um so besser wird dann nachher das deutsche Mittagsbrod schmecken, bei dessen Zubereitung meine Frau schon seit frühem Morgen thätig ist. Ja, die deutsche Hausfrau läßt sich’s nicht nehmen, selbst in der Wüste muß Alles in hergebrachter Ordnung gehen. Na, sie versteht das Küchendepartement, und wenn man, so wie die Herren Officiere hier in Afrika, elf Monate im Jahre mit der Compagnieküche vorlieb nehmen muß, da wird sie wohl heute Lorbeern ernten.“

Unter diesen Mittheilungen hatte Herr Wöhler eine Grüngesiegelte entstöpselt und drei Gläser gefüllt. Wir stießen an, tranken den goldenen Rheinwein auf das Wohl der Muttererde und nahmen dann die langen Pfeifen zur Hand, um den aus Deutschland gekommenen Knaster zu probiren. Inzwischen hatte sich die Gesellschaft vergrößert: zwei Söhne des Hauses und ein junges Mädchen von 17 Jahren erschienen nach einander und wurden durch den Alten mit mir bekannt gemacht. Fritz, mein Bursche, schien Freund von altem Datum mit dem älteren der beiden jungen Leute zu sein, und ich erfuhr denn auch, daß die Familie Wöhler und mein Fritz aus einem Orte, einem großen Dorfe an der preußisch-hannöverischen Grenze, seien. Das junge Mädchen war die jüngste Tochter des Hauses, zwei ältere hatten sich bereits in der neuen Heimath vortheilhaft verheirathet. Endlich ließ sich auch von außen die Stimme der Hausfrau vernehmen, rufend, Befehle ertheilend; und endlich hielt sie ihren feierlichen Einzug in’s gemeinschaftliche Wohnzimmer, eine mächtige Suppenterrine tragend. Nachdem sie diese vor ihrem Platze auf der gedeckten Tafel niedergesetzt, trat sie zu mir, bot mir die Hand und hieß den „Landsmann“ in mir herzlich willkommen. Ihre Erscheinung war die einer echten deutschen Hausfrau aus dem wohlhabenden Bauernstande, ihr Alter ungefähr 45 Jahr. Ihr auf dem Fuße folgte die oben erwähnte, kürzlich angekommene Nichte, welche singend und springend die Begrüßungsceremonien abmachte, kaum 14 Sommer zählte und muthwillig und neckisch die langen blonden Locken um das frische, blühende Gesichtchen herumwarf.

Auf eine Aufforderung der Hausfrau setzte sich die Gesellschaft zu Tische, vermehrt noch durch drei Mägde und zwei Knechte, sämmtlich Deutsche. Obgleich alle Gerichte nur der Kategorie der sogenannten Hausmannskost angehörten, hätte ich sie doch nicht für ein Diner bei Béry und Béfour gegeben, so schwelgte ich bei den kräftig zubereiteten und schmackhaften Speisen in den Erinnerungen an die Heimath. Unter Tische kramte denn auch Elise, so hieß die Nichte, Nachrichten der Heimath aus und erheiterte zu verschiedenen Malen die Tafelrunde durch ihren Mutterwitz und die Art und Weise, wie sie ihre Reise von Bremen bis Oran beschrieb. Endlich erhoben wir uns von Tische und gingen – da die Sonne nicht mehr zu heiß brannte – in den hinter den Wirtschaftsgebäuden gelegenen Garten, um hier den Kaffee zu nehmen. Ich hatte bisher noch nicht gewagt, unsern freundlichen Wirth zum Erzählen seiner hier erlebten Abenteuer zu bewegen; jetzt jedoch benutzte ich die Gelegenheit, ihn auf das Thema zu bringen, indem er von den Schwierigkeiten sprach, welche ihm die Anlage seines Gartens bereitet habe.

„Sind Sie schon lange Zeit in Algerien?“ fragte ich.

„Seit 1837,“ entgegnen er; „bald sind es 16 Jahre. Ich vermisse recht sehr die theure Heimath, und doch ..... Kommen Sie, Herr Lieutenant, wir wollen uns hier im Schatten auf die Bank setzen, und bis man uns den Kaffee bringt, werde ich Ihnen ein wenig aus den ersten Jahren meines Colonistenlebens erzählen.“

Wir setzten uns unter einem breitästigen Baume nieder, den [604] die im nördlichen Afrika lebenden spanischen Colonisten „Bellombra“ (schöner Schatten) nennen, und unter dessen Zweigen hölzerne Bänke mit Rücklehnen standen, während am Stamme des Baumes selbst ringsherum Klapptische befestigt waren. Die Pfeifen wurden auf’s Neue gestopft, und Herr Wöhler begann folgendermaßen seine Erzählung :

„Es ist zwar eigentlich eine traurige Erinnerung für mich, die Zeiten und Begebenheiten wieder durch die Erzählung aufzufrischen, welche meiner Uebersiedelung nach Afrika unmittelbar vorangingen, doch kann ich nicht umhin es zu thun, da deren Mittheilung zum Verständniß nothwendig ist. Ich besaß in S ......, einem großen und reichen Dorfe nahe der preußisch-hannöverischen Grenze ein schönes und sehr einträgliches Bauerngut, welches in meiner Familie seit Jahrhunderten vom Vater auf den Sohn fortgeerbt war. Theils Familien-Differenzen, theils das für mich ungeachtet meines guten Rechtes ungünstige Resultat eines Processes, der zehn lange Jahre gedauert und ein beträchtliches Theil meiner Ersparnisse aufgezehrt hatte, trugen mehr und mehr dazu bei, mir den Aufenthalt in der Heimath zu verleiden. Ich entschloß mich rasch, den lockenden Versprechungen der französischen Regierung zu folgen, verkaufte mein ganzes Eigenthum und zog mit meiner Frau, zwei Söhnen und drei Töchtern nach Marseille aus, um mich dort nach Algier einzuschiffen. In Marseille brachte ich meine Colonisations-Angelegenheiten in Ordnung und trat von dem Augenblicke an, wo ich die betreffenden Papiere in den Händen hatte, in Verpflegung der französischen Regierung, das heißt so viel als: Ueberfahrt nach Afrika, Beköstigung während derselben, Ein- und Ausschiffung meiner gesammten Effecten bis zu meinem Bestimmungsorte geschah auf Kosten des französischen Kriegsministeriums, in dessen Händen damals wie jetzt (1853) die gesammten Afrika betreffenden Angelegenheiten ruheten.

Bevor ich mich mit den Meinigen an Bord des Schiffes begab, das uns nach der neuen Heimath bringen sollte, versah ich mich in Marseille noch mit Waffen und Munition reichlich und kaufte alle diejenigen Gegenstände ein, welche wir für den Anfang meines Colonistenlebens, über dessen Schattenseiten ich mir keineswegs Illusionen machte, unentbehrlich erschienen. So ausgerüstet betraten wir am 20. August 1837 das Schiff, auf dem wir denn endlich am nächsten Tage den Hafen von Marseille verließen und dem Süden zusteuerten. Unsere Ueberfahrt, die neun Tage dauerte (heute macht man sie in kaum 3 Tagen), und mit deren Beschreibung ich Sie nicht aufhalten will, lief ziemlich gut ab und am 30. August Abends 5 Uhr traten wir in Algier an’s Land und wurden mit Sack und Pack in ein casernenartiges Gebäude untergebracht, welches man die „Karawanserai des Dey“ nannte und das auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadt sich befand. Meine ersten bittern Erfahrungen machte ich hier. Das Land, welches mir die Regierung (allerdings zu einem sehr mäßigen Preise) verkauft, doch nicht, wie die Berichte in den Zeitungen angekündigt, unentgeltlich überwiesen hatte, war 2 Stunden südöstlich von Algier belegen. Dasselbe war durch ein starkes Fort, „La Maison Carrée“ (das Häuserquadrat) genannt, gedeckt, in welchem eine ansehnliche Besatzung sich befand. Um jedoch dahin zu gelangen, mußten wir die Prolongen[1] abwarten, indem es damals um Algier herum noch nicht so sicher wie jetzt und die große Kabylie nicht allzu entfernt von meinen Ländereien war. So kam es, daß ich mit meiner Familie 5 Tage in der „Karawanserai des Dey“ zubringen mußte. Außer uns mochten hier wohl noch zehn oder zwölf andere Familien oder Gesellschaften von Reisenden aller Art und Nationen den Abgang der Prolongen erwarten, und es war in Folge dessen der eben nicht kleine innere Raum des nur ein Erdgeschoß haltenden Gebäudes vollständig besetzt. Dasselbe bildete ein regelmäßiges Viereck, dessen vier zusammenhängende Flügel einen mäßig großen Hofraum umschlossen, in welchem Hunde, Last- und Zugthiere, Rindvieh, Schafe, Ziegen u. dergl. ebenfalls auf die Abreise ihrer respectiven Eigenthümer warteten.

Endlich am 4. September Abends wurde uns eröffnet, daß wir uns bereit halten sollten, um 3 Uhr in der Nacht uns den vorbeipassirenden Prolongen anzuschließen. Ich hatte gerade am Tage zuvor mich auf dem Markte mit dem für meine erste Niederlassung nöthigen Last- und Zugvieh versehen, einige Vorräthe an Lebensmitteln, Mehl, Wein u. s. w. eingekauft und zwei mir sehr empfohlene Leute in meinen Dienst genommen, welche, kurz zuvor erst mit sehr guten Attesten entlassen, für mich den Vortheil hatten, das Land und seine Bewohner genau zu kennen; der Eine war ein Deutscher, der Andere ein Belgier, und Beiden war außerdem die französische Sprache vollkommen geläufig. – Um 2 Uhr früh, in der Nacht zum 5. September 1837, standen wir vollständig ausgerüstet und bewaffnet im innern Hofraum neben unsern Thieren und erwarteten das Eintreffen unserer Escorte. Meine bewegliche Habe befand sich auf den Rücken von acht Maulthieren, vier andere trugen mich und meine drei Diener, während meine Frau mit den Kindern auf einem der vier von mir angekauften, zur Landwirthschaft bestimmten, zweiräderigen Karren Platz genommen hatte. Meine Vorräthe an Lebensmitteln, Saat- und Mahlkorn u. s. w. befanden sich auf den übrigen drei von je zwei starken Ochsen gezogenen Karren. Kurz vor 3 Uhr kündigte uns Hufschlag, Waffengerassel und das Knarren der Fuhrwerke die Ankunft der Prolongen an, welche, von einer starken Escorte umgeben, sich uns näherten. Wir schlossen uns denselben an, sowie auch die übrigen Bewohner der Karawanserai, welche nach derselben Richtung abreisen wollten.

Ohne irgend einen Unfall waren wir gegen 10 Uhr Vormittags am Orte unserer Bestimmung angelangt. Ein Vermessungsbeamter der Regierung überwies mir die von mir angekauften Ländereien. Dieselben bestanden in größtentheils uncultivirtem Boden, der zum Theil mit niedrigem Buschwerk oder Zwergpalmen, zum Theil mit hohem, wohlriechendem Grase, hier Alfa genannt, bewachsen war. Ein aus dem Innern kommendes kleines Flüßchen durchschnitt dieselben der Länge nach, und die Heerstraße lief an deren südlicher Breitenausdehnung hin. Gegen Norden zog sich meine Besitzung bis an das Meer. Obgleich ich sah, daß nur durch ungeheure Anstrengungen die Urbarmachung dieses Bodens zu erlangen sein würde, war ich dennoch mit demselben nicht unzufrieden, indem einestheils die Nähe der Stadt Algier mir schnellen, leichten und vortheilhaften Absatz meiner Producte sicherte und anderntheils ich sowohl durch eigene Wahrnehmung, als durch die Versicherung meiner beiden neuen, des Landes kundigen Diener die Gewißheit erlangt hatte, daß der Boden ein sehr fetter und culturfähiger sei.

Ich überspringe einen Zeitraum von drei und einem halben Jahre und sage Ihnen aus dieser Zeit nur so viel, daß ich nach unermüdlicher Arbeit und Ausdauer endlich so weit gelangt war, mein Land vollkommen cultivirt und ertragsfähig gemacht zu haben. Schon mancher Liebhaber hatte sich gefunden, dem die schöne, so nahe der Hauptstadt liegende Besitzung gefiel, und mehr denn einmal hätte ich sie mit bedeutendem Vortheil verkaufen können. Bis jetzt jedoch, – es war im Frühjahr 1841, – hatte ich trotz der großen Unannehmlichkeiten, welche mit den errungenen Vortheilen Hand in Hand gingen, mich noch nicht zu einer Veräußerung entschließen können. Die Zelte waren durch ein ziemlich geräumiges, aus Fachwerk erbautes Wohnhaus ersetzt, und mein schon recht ansehnlicher Viehstand unter langen Schuppen gegen die Unbilden der Witterung geschützt. Eine massive, hohe, von einem tiefen, mit dem Flüßchen in Verbindung gesetzten Graben umgebene Mauer umschloß meine Niederlassung, in der sich außer mir, meiner Familie und meinen Dienern noch 10 Mann Besatzung befanden. Die Militair-Behörden gaben damals den Colonisten diese Hülfe aus doppelten Gründen: einmal um sie gegen die unausgesetzten Angriffe der Araber und Kabylen möglichst zu schützen, und dann um die Truppen zu beschäftigen und ihnen Gelegenheit zum Verdienst zu geben, da die Soldaten gegen eine mäßige Bezahlung dem Colonisten in allen seinen Arbeiten an die Hand gingen. Seit längerer Zeit war meine Niederlassung in keiner Weise durch Angriffe der Eingeborenen beunruhigt worden; Alles ging seinen ruhigen, geregelten Gang, und es war selbst die Rede davon gewesen, die unter so bewandten Umständen entbehrliche Schutzmannschaft in ihre Garnison zurückzuziehen.

Am Abend des 7. April 1841 hatte ich von Algier aus die Nachricht erhalten, daß acht Tage später das bei mir stationirte Commando eingezogen werden würde. Ich hatte beim Eintritt der Dunkelheit wie gewöhnlich das große Einfahrtsthor, die einzige Oeffnung der Ringmauer, fest geschlossen, doch unterlassen, die Zugbrücke, welche es mit dem gegenüberliegenden Rande des Grabens verband, aufzuziehen. Diese Vorsichtsmaßregel hatte ich schon seit mehreren Monaten außer Augen gesetzt. Nach dem gemeinschaftlichen [605] Abendbrode hatte die gesammte Bevölkerung, vom Tagewerk ermüdet, sich zur Ruhe niedergelegt, und Alles war bald in tiefen Schlummer versunken.

Mitten in der Nacht weckte mich ein ungewöhnliches Geräusch; kaum war ich zur Besinnung gelangt und hatte mich vorn Lager erhoben, als ich schnell hinter einander mehrere Flintenschüsse hörte, die in meiner nächsten Nähe abgefeuert wurden. Im Nu waren meine Diener und mein ältester Sohn ebenfalls auf den Beinen und hatten die stets scharf geladenen und zur Hand befindlichen Doppelbüchsen ergriffen. Als ich die Thür öffnete, sah ich bereits die Soldaten, welche in der Mitte des Hofraums unter zwei großen Zelten campirten, halb angekleidet, die Gewehre in der Hand, theils aus denselben herausstürzend, theils schon im Kampfe mit dem Feinde, denn dieser hatte die Zugbrücke überschritten, das Einfahrtsthor überstiegen und wahrscheinlich gehofft, uns Alle im Schlaf zu überraschen. Etwa zehn Kabylen hatten schon im Innern festen Fuß gefaßt, und waren im wildesten Handgemenge mit den glücklicherweise noch zur rechten Zeit durch das Gebell unserer wachsamen Hunde ermunterten Soldaten. Vielleicht eine gleiche Anzahl sah ich theils auf dem Rücken der Mauer zunächst dem Thore, theils auf diesem selbst, von wo aus sie sich bemühten, uns mit ihren langen Flinten so viel als möglich zu schaden. Der Corporal, welcher die Soldaten commandirte, rief mir zu, ihm nicht zu Hülfe zu kommen, sondern mich nur gegen die Kabylen zu wenden, welche noch nicht bis in den Hofraum gedrungen waren. Ehe er noch seinen Zuruf zu Ende gebracht, lagen bereits zwei Eindringlinge, von den zwei Kugeln meiner Doppelbüchse erreicht, am Boden. Ebenso glücklich hatten meine drei Diener gezielt.“

(Schluß folgt.)



Das Renchthal und die Klosterruine Allerheiligen im Schwarzwald.


Die Ruinen der Abtei Allerheiligen.
Nach der Natur aufgenommen von C. G. Winckler.

Wenn die feuchten Herbstnebel sich breit und träge hinlagern über die gelbrothen Rebgelände der Vorhügel des Schwarzwaldes, über die kahlen Stoppelfelder und bereiften Matten des Flachlandes, wogt droben über die wolkenlosen Kuppen der Berge, über dunkle Forst- und frischgrüne Bergmatten hin ein Meer wonnig warmen Sonnenscheins, einzelne Käfer und Schmetterlinge freuen sich der letzten Sommertage, Heerden von Rindern und Ziegen grasen an den würzigen Sommerhalden, und die Bewohner einsamer Höfe und weitumher zerstreuter Weiler sammeln ringsum den letzten Segen ihrer mühsam gepflegten Ernte.

Also fort auf den Fittigen des Dampfes, an den langgestreckten, bunten Vorhügeln und Vorbergen, an den freundlichen Städtchen und Dörfern zu ihren Füßen, an der nahen, im heimeligen Thale verborgenen Bäderstadt an der Oos, der römischen Civitas aquensis Aurelia vorüber! Kaum gedenken wir flüchtig dahineilend der Zeiten, wo Hadrian und der fromme Antonin hier neben den trotzenden Castellen ihrer Zwingherrschaft die Heimstätte römischer Gesittung und südländischen Lebensgenusses gründeten, wo Trajan und Caracalla in ländlicher Zurückgezogenheit lebten, wo der Bewohner stolz des römischen Bürgerrechtes sich rühmte, bis der Sturm germanischer Stämme all die Römerherrlichkeiten zerstörte, und über den Trümmern das fränkische Banner, abermals fremder Herrschaft Zeichen, von den Mauern des königlichen Meierhofes flatterte. Jetzt ziehen die letzten Sommergäste, Einer nach dem Andern, von den heilbringenden Quellen und von den grünen Tischen des Herrn Benazet der fernen oder nahen Heimath zu.

Wir aber eilen weiter. Das Denkmal Erwin’s von Steinbach, des deutschen Meisters, der Straßburgs Riesenbau zu den Wolken thürmte, grüßt uns von der Spitze des trauten Rebhügels, die stolze Iburg schaut von ihrer schwindelnden Höhe auf uns nieder, die sonnigen Thäler, an deren Wänden der edle Mauerwein, der Steinwein, der Affenthaler reift, fliegen an uns vorbei, Alt- und Neuwindeck überragen die Thürme von Bühl und Achern, hinter welchem die Pfleganstalt für geistig Kranke, Illenau, in paradiesisch schöner Umgebung hervorblickt. Dort oben schimmert hoch am Berge das weithinschauende Brigittenschloß, und in himmelanstrebender Ferne strecken die Hornisgründe, die mächtige Grenzmauer des Badener und Württemberger Landes, ihren kahlen, waldumkränzten Rücken weithin über die niedrigere Bergwelt zu ihren Füßen.

Noch eine kurze Fahrt, und die Locomotive läßt abermals ihren [606] gellenden Ruf vernehmen; zur Rechten dehnt sich eine fruchtbare Ebene, einst das inselreiche Bett des breit dahinfließenden Rheinstromes, auf dem des Römers Ruderflotte herrschte, in dessen Moorgebieten das Mittelalter seine Tiefburgen und Weiherhäuser baute, – und in nebeliger Ferne, vor dem blauen Hintergründe der Vogesen ragt der Dom Erwin’s, ein einsam stehender Riese, zum Himmel. Zur Linken öffnet sich das breite Renchthal. Wir sind in Appenweier, der Hauptzug eilt weiter dem badischen Oberlande zu, eine Seitenbahn fährt rechts ab nach Kehl und Straßburg. Wir verlassen hier den Schienenweg. Lachender Sonnenschein lagert sich über Feld und Wald, ein frischer Herbstwind bringt uns aus dem Thale den trauten Gruß der Berge. In einer Breite von einer Stunde öffnet sich vor uns das Thal; zur Linken, an der fernen Hügelkette, glänzt zwischen wechselnden Rebgeländen, Wäldern und Matten Giebel an Giebel; auf dem trümmerbedeckten Vorhügel stand ehemals, wie eine Vorwache des Thales, Schloß Ulmburg. Zur Rechten, über rebenbedeckte, fruchtbare Vorhügel und lichtgrünen Buchenwald herüber, grüßen die Zinnen von Staufenberg, und über demselben, im Hintergründe erhebt sich die dunkle, waldbedeckte Kuppe des Stollenwaldes, auf dessen Höhe einst schon der Römer seine weithin herrschende Zwingburg errichtet und kleine Rittergeschlechter des Mittelalters, Staufenbergische Gauerben, gesessen hatten.

Als 1683 von dem kaiserlichen Hoflager in Ungarn aus der Türkensieger, Markgraf Ludwig von Baden, mit unserm Staufenberg und der ganzen Herrschaft Oberkirch belehnt worden, wurde dies die Veranlassung schwerer Drangsale für das Schloß und sein Gebiet, denn 1689 fiel es in plündernde Feindeshand, und die Durbacher Bauern konnten nur unter blutigen Opfern den beutegierigen Feind aus ihren Bergen jagen. Im Jahre 1693 wütheten neue Kämpfe zwischen den welschen Mordbrennern und den Oesterreichern rings in unsern Bergen und Thälern, und der übel berüchtigte Führer des schlimmen Feinden, General Melac, beehrte Staufenberg mit einem Besuche, um es zur Feste wiederherzustellen. Aber dies kam nicht zur Ausführung.

An den sonnigen Bergen und Hügelzügen zu Füßen des Schlosses bis hinab zu dem Dorfe Durbach im Thale wächst der süße, feurige Durbacher Wein, unter den Mauern desselben, in sonnenhellem, lustigem Bezirk, der edle würzige Klingelberger, den im Jahre 1770 der österreichische Feldzeugmeister von Ried, der damalige Inhaber des Schlosses, zuerst hierher verpflanzte, späten Enkelgeschlechtern zu süßer, wonnespendender Labung.

Durch den Großherzog Leopold wurde Schloß und Gut Staufenberg dem Fiscus abgekauft, und ist jetzt noch in den Händen seiner Nachkommen. Um die finstern Höhen des Stollenwaldes, auf denen, über den Grundmauern des alten Römerbaues, die weiten Trümmer eines mittelalterlichen Herrensitzen, des sogenannten „versunkenen Schlosses“, umhergestreut liegen, schweben noch heute die Geister der Sage, und nur mit Bangen geht zur nächtlichen Stunde der Wanderer an dem überwachsenen Gemäuer vorüber, auf dem die „Waldfrau“ noch jetzt ihr Lieblingsplätzchen hat. Dort war’s, wo einst Sobald, des Amtmanns Sohn von Staufenberg, im Waldbusch die schöne Melusine, die Himmel-Stollen-Tochter, erblickte und ihr gelobte, sie in dreien Tagen nach einander mit einem Kuß auf Mund und Wangen zu erlösen, wogegen sie ihm einen reichen Brautschatz, nebst sich selber zum Weibe versprach. Am ersten und zweiten Tage that der Jüngling, wie ihm geboten, obwohl die Waldfrau bereits Flügel und Drachenschweif trug, aber zum dritten Male hatte das Angesicht der Schönen sich in einen Krötenkopf verwandelt. „Kannst Du Dein Antlitz nicht entblößen, so kann ich Dich nicht küssen,“ sprach der bebende Sebald und eilte, vom Schrecken gejagt, den Berg hinab, während unter lautem Schrei Melusine ihre Arme nach dem Fliehenden ausstreckte. Mehrere Jahre nachher saß Sebald in fröhlicher Tafelrunde neben seiner angetrauten Braut, da fiel von der leise gespaltenen Decke herab ein Tropfen auf seinen Teller in seine Speise; ohne es zu wissen, aß er davon und sank augenblicklich todt zur Erde.

Drunten auf dem Staufenberg aber gebot in alten Zeiten Ritter Peter, ein männlicher Held. Heimkehrend von edlen Thaten, findet er neben dem Burgweg eine wunderliebliche Jungfrau sitzend. Die Flamme der Liebe loderte jählings in seinem Herzen.

Ich bin Deine, ewig Dein,
Doch mußt Du auch der Meine sein!

erwiderte die Jungfrau seinem werbenden Worte, und der Bund der Liebe mit der Waldfei war geschlossen.

Unangefochten wirst Du nicht bleiben.
Man wird Dich treiben, Dich zu weiben.
Wo Du es thust, red’ ich ohn’ Zagen.
So bist Du todt in dreien Tagen,

so hatte die Schöne drohend hinzugesetzt, und er hatte ihr freudig Treue geschworen. Allnächtlich kehrte nun zu süßer Minne das schöne Traumbild bei ihm ein, und wenn er erwachte, so erschien ihm Alles wie ein seliger Traum. Da zog Herr Peter fort zur Kaiserkrönung und vergaß dort seines Gelübdes auf der heimischen Burg und freite eine Verwandte des Königs zum Weibe.

Und als zur festlichen Hochzeit die Gäste in der Runde saßen, der Ritter kosend neben der strahlenden Braut, da spaltete sich über ihnen des Saales Decke, und, wie sie vorausgesagt, zeigte die Meerfei durch die Oeffnung den wunderlieblichen Fuß bis an das Knie, und der Ritter fühlte, daß sein Urtheil gesprochen. Der Hochzeitjubel verhallte, die Gäste eilten in banger Sorge von dannen, in drei Tagen war Peter von Staufenberg eine Leiche. So die Sage.

Doch wir eilen weiter im Renchthale vorwärts. Fruchtbares Ackergelände, herbstlich geröthete Rebhügel, liebliche Waldschluchten mit einsamen Hütten, dunkler Tannenbusch, wechselnd mit lichtem Birkenschlag zur Rechten, breite, reichbewässerte Wiesengründe zur Linken, erreichen wir das in einem Walde von Obstbäumen liegende Dorf Nußbach.

Das Dorf sieht gar freundlich und wohlhäbig drein mit seinen großen, stattlichen Bauernhöfen, seinen freundlichen Häusern an der breiten Straße, mit dem schönen Pfarrhof zwischen blühenden Gärten, an dessen Vorderseite eine Steinschrift bekundet, daß der Abt von Allerheiligen des Hauses Gründer gewesen. Trotz dem neuen Aussehen ist aber Nußbach schon ein alter Ort, vielleicht das älteste Dorf des Thales, denn als Uta von Schauenburg 1196 das Kloster Allerheiligen gründete, vergabte sie demselben auch die hiesige Kirche.

Die Aepfel-, Birn- und Nußbäume, bisher unsere steten Begleiter am Wege hin, machen dem weniger empfindlichen Kirschbaume Platz, ein Zeichen, daß wir uns der Heimath des besten Kirschwassers nähern, von dem mancher Hofbauer seine 1200 Maß im Keller hat. Der Vogelbeerbaum wiegt im Herbstwinde seine rothbehangenen Zweige; Elster, Rabe, Häher, die beweglichen, unruhigen, schreienden Gäste des Herbstes, hüpfen um uns her, jetzt führt der Weg hart um den Vorsprung eines waldigen Hügels zur Rechten, und wie mit einem Zauberschlage liegt das liebliche, großartig eingerahmte Oberkircher Thal vor uns ausgebreitet.

Wir rasten eine kurze Weile auf dem Steindamm am Rande der Straße, in dem zauberischen Anblick versunken, der sich vor uns ausbreitet, aber nicht lange, denn es treibt uns vorwärts, mitten in die reiche Gebirgsherrlichkeit hinein, die uns in buntem, wechselvollem Rundgemälde umgiebt. In wenigen Minuten stehen wir mitten in dem Thale. Nahe vor uns liegt die von modernem Sprengwerk getragene Brücke über die rauschende Rench; überall ziehen sich lebendige Wasser und glitzernde Rinnsale durch die dunkelgrünen Wiesen; zur Linken treten die steilen Rebgehänge näher heran, zur Rechten erheben sich die Waldgebirge über Fürsteneck hinauf bis zu der weit über 2000 Fuß emporragenden langen Kupp: des Mooswaldes, der Scheide des Rench- und vordern Kinzigthales; im Hintergründe umsäumen, immer höher und wilder emporsteigend, die gewaltigen Berge des obern Renchthals bis gegen den Kniebis hin, aus dessen Wurzeln jene perlenden Quellen hervorsprudeln, aus denen schon so mancher Leidende und dem Tode Verfallene den lindernden und rettenden Trank geschöpft; vor uns, von eilenden Wassern getrieben und gefördert, klappern, stampfen, ächzen die Mühlen, rauchen die Schornsteine, rühren sich Hunderte geschäftiger Arme, und dort stehen in behaglicher Ruhe die altersgrauen Giebel und Thürme des Städtchens Oberkirch. Wahrlich, selten wirst Du ein Plätzchen finden, an dem so viel liebliche und großartige, so viel anmuthig milde und wilde Natur, so viel idyllisch ländliches, so viel reges, rastlos geschäftiges Menschenleben, so viel Gegenwart und so viel Vergangenheit im engen Rahmen eines kleinen Bildes sich vereinigt.

Blicken wir von der Brücke an der linken Thalwand gerade, fast senkrecht empor, so sehen wir auf steilem Felsenvorsprung die noch in ihrer Zertrümmerung stolz herabschauenden Mauern der Schauenburg, einst ein zähringisch Erbgut, und drüben auf [607] der Höhe zur Rechten, hinter dem Tannenwald verborgen, liegen die Trümmer des Schlosses Fürsteneck, von einem Erben der Zähringer, Heinrich von Fürstenberg, 1260 zu besserem Schutze seiner Herrschaft Oberkirch erbaut.

Nähern wir uns nun langsamen Schrittes dem Städtchen Oberkirch. Wir stehen hier im Herzen der gesegneten Ortenau, jetzt einer der schönsten und verhältnißmäßig bevölkertsten Gegenden des herrlichen badener Landes. Die Felder bringen Getreide aller Art, Hanf, Kartoffeln, die Fluren und Hügel den reichsten Obstsegen an Aepfeln, Birnen, Nüssen, Kirschen, womit ganze Märkte an Ort und Stelle veranstaltet und fremde, weit entlegene Märkte versehen werden, sowie auch zahme Kastanien hervor, die sonnigen, den warmen Süd- und Westwinden offenen Halden trefflichen Wein; aus den Wäldern wird Holz in Scheiten, Kohlen, Baustämmen, Bretern und Latten theils nach den reich versehenen Lagerplätzen in den Städtchen und Dörfern im Thal, theils geraden Weges an den Rhein und nach Straßburg verführt; Pech und Harz siedet der Hinterwäldler und versendet es in schweren Ladungen; der Viehstand ist blühend, süßen Honig in Menge liefern die würzigen Bergkräuter; frisches, labendes Trinkwasser sprudelt allenthalben aus den Rinnsalen der Berge, wässert in künstlichen und natürlichen Runsen die Matten, und selbst die Göttin der Gesundheit, die wohlthätige Hygiea, läßt an vielen Stellen aus dem Schooß der Berge ihre heilbringenden Quellen strömen.

In solcher glücklichen Natur ist auch die Anlage der Menschennatur eine glückliche und kernhafte. Natürliche Gutmüthigkeit, Gottesfurcht, Offenheit, Redlichkeit, unverdrossener Fleiß, heitere Lebensanschauung, Gehorsam gegen Gesetz und Obrigkeit, Treue gegen das Fürstenhaus sind von jeher hervortretende Züge in dem Charakterbilde des wackern Völkleins gewesen, und selbst da, wo die Verfeinerung der neuern Zeiten dieselben etwas verwischt hat, ist das alte gute Gepräge nicht ganz unkenntlich geworden. Nächst dem Bau des Bodens ist der Handel mit dessen Erzeugnissen, so wie mit Durchgangswaaren ihre vornehmliche Nahrungsquelle.

Frühe schon theilte sich, wie die Geschichte der genannten Geschlechter und Herrensitze zeigt, die alte fränkische Gaugrafschaft Mortenau (Ortenau) in kleinere Gebiete. Das größte derselben blieb die Herrschaft Ulmburg, später Herrschaft Oberkirch genannt, welche von dem Fuße des Kniebis bis in die Rheinebene durch das Renchthal und Kappeler Thal sich erstreckte.

Wir übergehen die wechselnden Schicksale des Ländchens in älterer Zeit, in welcher die oft streitbaren Bischöfe von Straßburg mancherlei Kriegsnoth herbeiführten und der Krummstab schwer auf dem Nacken des armen Volkes lag. Die Tage des Bauernkrieges riefen mit dem Ortenauer Haufen auch unsere Oberkircher unter die Waffen, aber der edle Markgraf Philipp von Baden, zu dessen Landeshoheit die Herrschaft gehörte, brachte am 22. Mai 1525 den glücklichen Tag zu Renchen zu Stande. Den Bauern ward großmüthig Vergebung zu Theil, nur Korn, Mahlfrüchte und Wein sollten fortan den ganzen Zehnten leisten, der Kleinzehnten ward zur Hälfte herabgesetzt, Jagd- und Waldrecht wurden geregelt, Wölfe, Bären und Wildschweine sollten zur freien Jagd zählen, die Frohnden wurden gemildert, der Todfall abgeschafft, nur der Ehrschatz als Erbsteuer für Güter beibehalten. Der Sturm des Bauernkrieges umtobte rechts und links unser friedliches Eiland, es gewann aus demselben seine bessern Zustände. Der dreißigjährige Krieg löste abermals auch hier alle Bande, Schweden und Kaiserliche wütheten abwechselnd in dem schönen Ländchen; mehr denn einmal flüchteten die Bewohner das nackte Leben in die Berge. Im Jahre 1648 kam die Herrschaft abermals als Reichslehen pfandweise an Württemberg, bis 1665 Straßburg sie wieder einlöste. Als aber in den Kriegen des Reiches mit Ludwig XIV. der Bischof Egon von Straßburg zu dem Reichsfeind sich neigte, wurde 1683 Markgraf Ludwig von Baden mit der Herrschaft Oberkirch belehnt, welche dafür die schwere Rache der Franzosen zu tragen hatte, bis sie 1699, freilich als eine öde Brandstätte, wieder an Straßburg kam.

Das 18. Jahrhundert brachte langwierige Waldprocesse mit dem Stift; der französische Revolutionskrieg konnte unser Thal als Durchgang zu dem wichtigen Kniebispaß nicht unberührt lassen. Drei Mal standen die tapfern Bewohner des Thales in offenem Kampfe wider den zügellosen Feind, im Jahr 1800 starben 70 Bürger bei Bolzhurst den Tod für’s Vaterland. Das Jahr 1801 brachte Friede und eine neue bessere, die badische Herrschaft.

Unser Städtchen Oberkirch selbst, welches sich malerisch an den linken Fuß des Gebirges anlehnt, und an welchem die lustige Rench vorüberfließt, hat seinen Namen offenbar daher, daß in ältern Zeiten nach der ersten Kirche des Thales zu Nußbach die zweite weiter oben im Thale hier entstand, sodaß hier die obere, dort die untere Kirche war. Unter straßburgischer Herrschaft war Oberkirch nicht nur Sitz des Oberamtes, sondern auch Hauptort eines eigenen Gerichtsbezirkes, dem ein Schultheiß, Stabhalter und 10 Richter vorstanden, und hatte das Münzrecht in einem dazu bestimmten Gebäude. Auch bestand hier ein jetzt eingegangenen Kapuzinerkloster. Jetzt ist es Sitz eines Decanates und Bezirksamtes, sowie der übrigen herrschaftlichen Stellen. Auf der Höhe nordöstlich davon steht zwischen herrlichen Nebengebäuden das freundliche Landhaus des Herrn v. Haber, und die Geselligkeit der friedlichen Bewohner hat sich manches traute Plätzchen geschaffen, an welchem auch der fremde Gast eine stets freundliche Aufnahme und eine frohe Abendstunde im trauten Kreise findet.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Fahrlässigkeit im Betriebe der englischen Eisenbahnen. Nur erst acht Tage sind dahin seit dein 25. August, wo ein fürchterliches Unglück auf der nach Brighton führenden Eisenbahn die gesammte Bevölkerung Londons in Angst und Schrecken versetzt hatte, und auf’s Neue standen heute früh dicht gedrängte Menschengruppen vor den Expeditionslocalen der hiesigen Tagesblätter, um Näheres über die neue, fast noch schrecklichere Eisenbahn-Katastrophe zu erfahren, welche gestern, Montag den 2. September, auf der sogenannten North-Junction-Railway stattgefunden hat. Noch ist die gesammte Einwohnerschaft der Riesenstadt in höchster Spannung und folgt mit theilnehmendem Interesse der Mittheilung der täglich mehr und mehr zur Kenntniß des Publicums gelangenden Einzelheiten des vor acht Tagen stattgehabten Unglücks, und schon dringt neuer, zahlreicherer Wehe- und Schreckensschrei von der andern Seite Londons heran. – Am Sonntag, 25. August, war ein sogenannter Excursion-Train in den fünf englische Meilen von dem Seebadeorte Brighton aus der Londoner Linie gelegenen Tunnel eingedrungen, nachdem der am südlichen Eingänge desselben stationirte Signalbeamte das Zeichen dazu gegeben hatte. Fast zu gleicher Zeit und in Folge eines, sei es mißverstandenen, sei es falsch gegebenen Signals erscheint am nördlichen – nach London zu belegenen Eingänge des fünf englische Meilen langen Tunnels ein anderer Zug. Es wird nun dem zuerst eingefahrenen ein Noth- oder Gefahrsignal gemacht; allein der Maschinist kann den Zug nicht sofort zum Halten bringen und dringt eine ziemliche Strecke in das Innere des Tunnels ein. Nachdem er endlich den Zug zum Halten gebracht, läßt er ihn langsam wieder zurückgehen. Indessen naht sich der Courierzug (Parliament Train) von Portsmouth, der mit fabelhafter Geschwindigkeit dahinfliegt. Der am südlichen Eingänge stationirte Wächter, diesen letzteren Zug herankommen sehend, macht demselben die verzweifeltsten Signale, jedoch umsonst. Unaufhaltsam saust der Courierzug in den Tunnel hinein und trifft hier auf die ihm entgegenkommenden letzten Wagen des vor ihm in den Tunnel eingefahrenen Vergnügungszuges, welcher sich vor dem von London herkommenden Personenzuge zurückzieht. Der Zusammenstoß ist fürchterlich. Ueber 30 Todte und mehr Verwundete schafft man nach Brighton, nachdem Stunden vergangen sind, ehe man die Unglücklichen aus Trümmern und totaler Finsterniß des Tunnels hervorgebracht hat. Die Mehrzahl der Todten und Verwundeten sind Damen; auch eine ganze Familie – Vater, Mutter und Kinder – befindet sich unter den Getödteten. Alle sind so entsetzlich verstümmelt, zerrieben, zerquetscht, daß eine Erkennung bei den Meisten nur mit Mühe, nach mehreren Tagen erfolgen kann. Einzelne der Cadaver sind bis heute noch nicht recognoscirt. Von den mit dem Leben davon Gekommenen sind wiederum Viele so beschädigt, daß sie entweder den Folgen der Operationen oder Amputationen erliegen oder zu fürchterlichen Krüppeln werden. Andere sind von Strömen siedenden Wassers aus der Maschine beim Zusammenstoß überschüttet und liegen unter unsäglichen Schmerzen, den Tod als eine Erlösung herbeisehnend.

Man sollte glauben, daß ein so schreckliches Ereignis; eine neue, verdoppelte Aufmerksamkeit im Betriebe der übrigen Linien zur Folge haben müsse. Bewahre! Gestern, Montag 2. September, kommt ein Zug von Kew-Garden, welcher in einer Geschwindigkeit von 20 engl. Meilen in der Stunde dahinfliegt, und bringt Spaziergänger, heitere, vergnügte Gesellschaft, die sich die Schönheiten der Gärten in Kew angesehen und sich an dem herrlichen Spätsommertage ergötzt hat, auf der nördlichen Verbindungsbahn nach den nördlichen und nordöstlichen Stadttheilen Londons zurück. Nahe bei der Station Hampstead – so zu sagen im Weichbilde Londons – beschreibt die Bahn eine bedeutende Curve. Plötzlich erblickt der Maschinist einen Güterwagen mitten auf der Bahn vor sich. Er hemmt … Zu spät! Die Locomotive rennt gegen den kolossalen, schweren Wagen an, steigt, kommt aus den Schienen und stürzt den 20 Fuß hohen Eisenbahdamm hinunter, vier Wagen hinter sich herreißend, von denen der letzte auf halbem Wege sich dermaßen in die Böschung hineinarbeitet. daß er fast [608] in der Luft schwebend hängen bleibt; die übrigen drei und die Locomotive kommen in Stücken unten an. 13 Todte und gegen 100 fast ausschließlich schwer Verwundete sind das Resultat dieser neuen, ebenso unbegreiflichen als unverantwortlichen Fahrlässigkeit. Der Anblick soll fürchterlich, unbeschreiblich erschütternd gewesen sein und die Körper der Getödteten sich in einem so vollkommen unkenntlichen Zustande befinden, daß bis heute Vormittag noch nicht eine der Leichen mit Bestimmtheit recognoscirt war. Ein mir bekannter Engländer, Augenzeuge dieses letztern Unglücks, sagte mir, daß ein junges, elegant gekleidetes Mädchen, dessen Alter er auf 16–17 Jahre schätzte, der Länge des Körpers nach in zwei Hälften getheilt war. Die zahlreichen Verwundeten hat man einstweilen in den drei zunächst gelegenen Hospitälern untergebracht. Es hatte sich ein wahrhaft panischer Schrecken der hiesigen Bevölkerung schon in Folge des ersteren Falles bemächtigt; Beweis dafür ist, daß das an Sonn- und Montagen von Londoner Excursionisten wimmelnde Brighton am letzten Sonntag und Montag fast ausgestorben war. Allein dieses neue, so schnell auf das erste folgende Unglück hat dem Schrecken die Krone aufgesetzt. Die Versicherungs-Gesellschaften, von denen in Nr. 33, Jahrg. 1860 der Gartenl. gesprochen worden ist, werden jedenfalls in Folge dieser beiden Katastrophen brillante Geschäfte machen.

Ich lobe mir doch dafür die deutschen Eisenbahnen; man mag eifern gegen die Bevorzugung, welche den gedienten Soldaten bei Besetzung von Civil-Beamten-Posten von fast allen deutschen Regierungen gegeben wird; in Bezug auf deren Placirung bei dem Eisenbahn-Betriebs-Personale möge man sich zu dieser Bevorzugung gratuliren; sie trägt unendlich zu der bei weitem größeren Sicherheit bei, deren sich das Leben der Eisenbahn-Reisenden in Deutschland erfreut.

Th. K. in London.




Amerikanische Studien nach der Natur. Nr. 1. Das Dienstmädchen. Das Dienstmädchen in Amerika zerfällt in drei abgesonderte Species: das amerikanische, das irische und das deutsche.

Das amerikanische Dienstmädchen stellt sich, als Amerikanerin, mit jedem andern weiblichen Wesen dieses Continents auf gleiche Höhe, vermiethet sich deshalb nicht, sondern geht nur einen Contract ein und verfügt völlig selbständig über ihre Zeit, sobald sie mit der für sie bestimmten Arbeit zu Ende ist. Wo in Deutschland die Herrschaften Nachweise über gute Führung fordern, da verlangt sie Nachweise der verschiedensten Art, ehe sie „einen Platz“ annimmt – wie viel Kinder vorhanden sind, wie oft Gesellschaft im Hause gegeben wird, ob auch sämmtliche Zimmer und Treppen mit Teppichen belegt sind,[2] wie lange frühere Dienstmädchen in der Familie gewesen sind. Als erste Bedingungen aber stellt sie, daß sie einen oder den andern „Freund“, der sie besucht, im Besuchszimmer empfangen dürfe, und daß sie der Wäsche halber im Tragen und beliebigen Wechseln von weißem Unterzeuge nicht beschränkt sei. In ihrem ganzen Thun und Sein, selbst beim Fegen der Straße, strebt sie „Lady“ zu sein, und sollte sie auch nur zwei baumwollene Hemden besitzen,[3] so müssen sie doch mit Spitzen besetzt und einem wenigstens vergoldeten Knopfe versehen sein, sollte sie auch die zerrissene Ferse der Strümpfe unter die Fußsohle ziehen, so würde sie doch nur weiße tragen, und hat sie sich auch noch keinen Cent zurücklegen können, so ist sie doch im Stande, sobald sie zu irgend einer Gesellschaft oder Landpartie eingeladen wird, äußerlich völlig als „Lady“ aufzutreten. Das amerikanische Dienstmädchen hat durch den Segen der Freischulen meist eine allgemeine Schulbildung genossen, welche sie indessen durch eifriges allabendliches Lesen der städtischen Neuigkeiten und Mordgeschichten in der Zeitung gehoben zu haben meint; sie tritt deshalb auch mit großer Sicherheit in die Conversation ihrer Herrschaft ein und würde ein Zurückweisen ihrer Theilnahme als eine unerträgliche Verletzung ihrer Menschenrechte betrachten. Ist sie hübsch, was unter dieser Species meist der Fall ist, so findet sie es nur natürlich, einmal die gleiche Stellung, wie die ihrer jetzigen „Mistreß“ einzunehmen.

Das irische Dienstmädchen beschränkt sich vor Annahme eines „Platzes“ nur auf die Frage nach der Entfernung des Brunnens und des Holzgelasses, und ihre Hauptbedingungen sind: an jedem katholischen Fasttage freie Verfügung über die Butter und das Eingemachte; sowie neben den ihr gehörenden Abenden und Sonntagen Zeit für den Wochenbesuch der Kirche. Sie kann meist nicht lesen, sitzt aber dennoch an streng gebotenen Feiertagen, das Gebetbuch verkehrt in ihrer Hand, stundenlang in ihrer Kammer. Ihre beiden Hauptleidenschaften sind schreiender Putz und ein heimlicher Schluck Whiskey, welcher letzteren Neigung nur durch eine öftere Untersuchung ihres Bettes, das meist als Flaschenkeller dient, gesteuert werden kann. Sie ist selten recht reinlich, meist näschig und entweder von einer eigenthümlichen Beschränktheit, oder versteckt und unzugänglich. Nur in Ausnahmsfällen kann sie sich über drei oder vier Monate an einem Orte halten.

Das deutsche Dienstmädchen giebt in Amerika den schlagendsten Beweis von der Gelehrigkeit und schnellen Auffassungsgabe ihrer Race. Sie darf nur drei Tage in ihrem ersten Dienste sein, so ist sie schon über die Gewohnheiten und Traditionen der Heimath hinweg, hat völlig den Satz begriffen: daß man in Amerika nicht Alles zu thun braucht, was die Herrschaft verlangt, und sieht am Sonntag ohne Gewissensscrupel die Hausfrau Köchin und Kindermädchen [WS 1] machen. Trotzdem ist das, was sie als Grundanlage mit herüber gebracht, Treue und leicht zu gewinnende Anhänglichkeit, die Gewohnheit scharfen Arbeitens und ein instinctmäßiges Respectsgefühl gegen die Brodherrschaft, noch nicht völlig auszurotten gewesen, und deutsche Dienstmädchen sind deshalb trotz ihrer anfänglichen Schwerfälligkeit in Erlernung der englischen Sprache ein so gesuchter Artikel unter den Amerikanern, daß ihnen ein Lohn von 120 Dollars jährlich gern bezahlt wird. Das deutsche Dienstmädchen heirathet meist schnell aus ihrem Dienste weg, und unter der länger angesessenen deutschen Bürger-Aristokratie giebt es sogar verhältnißmäßig wenige Frauen, welche nach ihrem Eintritt in das neue Land nicht zuerst gedient hätten.

O. R.




Beitrag zu den eisernen Vogelnestern in Nr. 28 der Gartenlaube. Die von der literar.-philosoph. Gesellschaft zu Sheffield ausgegangene Mittheilung in Betreff der eisernen Vogelnester ist dem Unterzeichneten nicht so ganz befremdend vorgekommen. Ihm ist bekannt, wie es hierorts auf dem Lande Brauch ist, den Nestern, in welchen Hühner, Enten, Gänse etc. brüten sollen, einige Stücke altes Eisen unterzulegen. Man ist dann sicher, daß das Hämmern und Pochen, z. B. bei dem Schärfen der Sensen, dem in dem Ei sich entwickelnden zarten Leben dieser Thiere nicht schadet, auch wenn es in ziemlicher Nähe vorkommen sollte. Offenbar wird die durch das Hämmern verursachte Erschütterung durch das untergelegte Eisen neutralisirt. Das Befremdende liegt für ihn nur darin, daß es nach jener Mittheilung den Anschein gewinnt, als ob jene Thiere, durch ihren Instinct geleitet, selbst das Mittel ausfindig gemacht, die durch das Hämmern in der Schmiede für ihre Jungen so gefährlichen Erschütterungen für dieselben unschädlich zu machen. Gewiß eine Erscheinung, welche für den Freund der Natur von hohem Interesse sein muß. Es möchte daher, um hierüber Gewißheit zu erhalten, recht wünschenswerth sein, wenn jene literar.-philosoph. Gesellschaft sich wollte berufen fühlen, weitere Beobachtungen zu veranlassen, und Erkundigungen darüber einzuziehen, ob nicht jene Tauben von Neuem bemüht sein werden, ihre Nester mit Nägeln auszufüttern, und ob, im Fall ihnen dies gewehrt würde, sie im Ausbrüten ihrer Jungen noch eben so glücklich sein werden als vordem. Es wäre somit hierin eine treffliche Gelegenheit geboten, über den wunderbaren Instinct der Thiere mehr Licht zu verbreiten.

F.



Berth. Auerbach’s
Volkskalender für 1862.
Mit Bildern nach Originalzeichnungen
von
Kaulbach, Paul Thumann und Ed. Ille.
Preis 12¼ Ngr.

Auerbach’s Volkskalender nimmt auch in diesem Jahre unter allen Kalendern den ersten Rang ein. Er bringt von Männern der Wissenschaft eine der Blüthe und Bildung Deutschlands würdige Nahrung. Die künstlerischen Illustrationen gereichen dem Büchlein eben so sehr zur Zierde, als sie angenehme Unterhaltung bieten. Er enthält diesmal:

Ein Kalendarium mit 12 Monatsbildern von Kaulbach. – Die Frau des Geschworenen. Eine Erzählung von B. Auerbach, mit 12 Bildern von Paul Thumann. – Der Prellschuß von B. Auerbach. – Der letzte Hofmops. Eine humoristische Erzählung von M. v. N., mit 15 Zeichnungen von Ed. Ille in München. – Ein mitteldeutsches Waldrevier (Sonst und Jetzt). Von B Sigismund. Fleischspeise und Kraftbrühe von Rudolf Virchow in Berlin. – Flotte und Flagge. Von K. Andree. – Verlorene Dinge. Von A. Bernstein (Redacteur der Berliner Volkszeitung). – Lege deine Sorgen ab. Eine Mahnung zur Versicherung vom Geheimrath Ernst Engel (Director des königl. Statist. Bureau’s in Berlin). – Der hundertjährige Geburtslag eines echten Deutschen. – Ein Brief vom ersten deutschen Schützenfest.

Verlagsbuchhandlung von Ernst Keil in Leipzig.


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Siehe die Skizze: „Eine europäische Dame unter den Kabylen“ in Nr. 49 der Gartenlaube, Jahrg. 1860.
  2. Amerikanischer Styl in jedem bessern Hause und das Scheuern völlig ersparend.
  3. In Amerika wird regelmäßig wöchentlich gewaschen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Original: Kindermächen