Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Die Adelphi-Bogen in London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 561–563
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[561]
Die Adelphi-Bogen in London.

Wer in London gewesen ist, wird sich unter den Hauptverkehrsstraßen gewiß des ewigen Wagengedonners und Menschengewühls erinnern, womit der breite, lange „Strand“ zwischen Westend und City an der Themse entlang fortwährend bersten zu wollen scheint. Diese Hauptverbindungsader zwischen Westend (speciell Westminster) und der City, der Strand, ist breit genug und London fabelhaft groß. Aber die beinahe drei Millionen Menschen haben durchaus nicht Raum darin. Zwischen den Tausenden und Zehntausenden von Häusern und Palästen gehen stets etwa 30,000 Menschen umher, die sich durchaus kein Dach und Fach über den Kopf, geschweige ein Bett verschaffen können. Auf den Straßen duldet sie des Nachts die Polizei auch nicht, wenn sie liegen bleiben, jedoch ohne sie zu arretiren. Wer unter polizeilichem Dache schlafen will, muß sich durch ein besonderes Verbrechen diesen Vorzug erkaufen. Die „Obdachlosen von Profession“ lieben aber das polizeiliche Obdach so wenig, daß sie durchaus nichts dafür geben, nicht einmal ein Verbrechen. Sie ziehen ihre Freiheit „unter der Erde“ aller polizeilichen Fürsorge vor. Sie begraben sich lieber lebendig, um frei zu bleiben, statt sich durch die Anstrengung eines Verbrechens Obdach zu verschaffen. Auf der Erde ist des Nachts kein Platz, keine Schlafstelle, kein Bett für sie. So verkriechen sie sich unter Brücken, Thorwege, Wagen, in offen liegende Gas- oder Wasserröhren, in unvollendete, zerfallene Häuser, oder wickeln sich in Straßenwinkeln auf den Steinen zu unförmlichen Haufen zusammen, um sich gegenseitig – Alt und Jung beiderlei Geschlechts – schlafend mit ihren Lumpen zu erwärmen. Die Polizei, welche dies nicht dulden darf, geht solchen Haufen Unglück gern aus dem Wege, da sie das schlafende Elend höchstens aufstören, ihm aber kein Obdach verschaffen kann. Die fetten Vorsteher der Armen- und Arbeitshäuser, für welche das Publicum fabelhafte Massen Armensteuer zahlt, halten ihre Thore gern geschlossen, und weisen oft die von Polizei und Magistrat unterstützten Ansprüche der Aermsten und Elendesten ab. Die Obdachlosen von Profession wohnen nirgends, und der Anspruch des letzten, tiefsten Elends auf’s Armenhaus braucht gesetzlich blos berücksichtigt zu werden, wenn ein jahrelanger Aufenthalt in dem betreffenden Bezirke nachgewiesen wird.

Dies erklärt die beispiellos massenhafte, tiefste Armuth und allnächtlich dreißigtausendfache Obdachlosigkeit in der reichsten, größten, unter der schwersten Armensteuer seufzenden Stadt der Welt.

Wo und wie alle übernachten, diese Dreißigtausend, wie sie durch Nacht und Nebel, Regen, Kälte und Schnee immer wieder hindurchkommen, und jeden Tag wieder die reichste Stadt der Welt mit den elendesten, schmutzigsten Lumpen bedecken, bleibt ein Wunder. Nur solche unterirdische Herbergen, wie die „Adelphi-Bogen“ am Strand, erklären es einigermaßen. Die kleinen Nebenstraßen im Süden des Strandes laufen ganz steil hinunter in die Themse. Nur ein Theil dieser südlichen Abläufer, Adelphi genannt, steht ganz eben und wohlhabend bis an die Themse auf ungeheuern Steingewölben, die vom Flusse und den Nebenstraßen her in mannichfaltigen Windungen unter den „Adelphi-Gebäuden“ hinlaufen. Dies sind die berüchtigten „Adelphi-Bogen“ („Adelphi-Arches“), welche nun schon seit Monaten in den englischen Zeitungen eine hervorragende, locale Rolle spielen. Man hat sie erst neuerdings entdeckt, und London ist voller Erstaunen darüber, wie das so oft vorkommt. Jahrhunderte lang mitten in der großbritannischen Hauptstadt schreiende Uebel bestehen ruhig mitten unter Crösus’ und höchster Civilisation fort, ohne daß ein „respektabler Mensch“ jemals etwas davon hört, bis die Presse sich einmal plötzlich eines solchen, Jahrhunderte lang schreienden Uebels bemächtigt und es zum Tagesgespräch macht. Das dauert eine Zeit lang, bis ein anderes schreiendes Uebel Mode wird, und das schreiende überschreit.

Das unterirdische Leben und Streben in den Adelphi-Bogen wurde zunächst durch den Geruch entdeckt. Die respektablen Bewohner darüber klagten der Polizei, daß es von unten auf immer unerträglich röche. Zugleich klagte man, daß es Nachts da unten nicht geheuer sei, und diabolischer Höllenlärm zuweilen heraufdringe. Am Aergsten sei’s Sonntags während des Gottesdienstes, den die Polizei von Außen schützen muß, so daß sie während der Zeit alle die Tausende von Greisen, Kindern, Mädchen und Jungen, welche allerhand Eßwaaren und Leckerbissen durch alle Straßen mörderlich ausschreien, vertreibt. Viele flüchten sich dann unter die Adelphi-Bogen, in welche die Heiligkeit des Sonntags nicht hinabdringt, so daß dort nun während des Gottesdienstes immer der originellste, anarchischste Sonntags-Wochenmarkt entsteht und skandalös in die öde, düstere Langeweile des obern englischen Sonntags thatsächlich heraufstinkt.

Ich machte zwei Höllenfahrten in diese Unterwelt, eine bei Tage und die andere bei Nacht, um die unterste Schicht, auf welcher sich der verworrene, feudal verrottete, stolze, von Allen, die sie nicht kennen, bewunderte Bau der englischen Gesellschaft erhebt, von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen.

Ich stieg hinunter aus dem Getöse und dem Lädenglanze des Strandes in eine Nebenstraße, und bog dann (mit zwei tapferen Freunden) rechts ab in lange, dunkele, überwölbte Passagen mit finster gähnenden Nebenpassagen und feuchten, dumpfen Kellergewölben. Oben war trockne Hitze. Hier hauchte uns auf schmierig-schlüpfrigem Wege eine kalte, feuchte, stinkende Verwesung entgegen. Es sind die Triumphbogen des tiefsten Elends, die Ehrenpforten materiellen und moralischen Auswurfes aus der reichsten und größten Stadt der Welt. Vergebens gähnen die Kloakenthore von der Themse unten herauf, um den hier aufgehäuften Schmutz zu verschlingen. Der Auswurf hat hier seine Residenz, sein Schloß: hier darf nicht gereinigt werden. Hier darf nie ein Sonnenstrahl sich sehen lassen, weder einer vom Himmel, noch ein menschlicher aus einem edeln Herzen. Das Edelste und Schönste erstarrt hier, wird hier zusammengedrückt oder als sinnloses Entsetzen davon gejagt. Wäre ich doch auch sofort davon geflohen, wenn meine tapfern Freunde mir nicht zugeredet hätten. Es galt, diese Welt kennen zu lernen. Also immer weiter, immer tiefer! Unsere Worte klangen uns selbst fremd, wie dunkel verhallende, uns selbst unverständliche Stimmen böser Dämonen, die bald aus schwarzen [562] Seitenhöhlen, bald aus grauroth umhoften Gasflammen (der Sonne und der Sternenwelt dieser unterirdischen Colonie) zu kommen schienen. Die spärlich und matt leuchtenden Glasflammen verschleiern die Oede und den Schmutz mehr, als sie ihn zeigen. Im Uebrigen sieht man nichts, als hier und da einen Stein, ein verfaultes Stück Brett, einen Schmutzhaufen in den Winkeln der Bogen – die Kopfkissen und Schlummerrollen der jetzt wandernden, in der Oberwelt handelnden, bettelnden, stehlenden, in unzähligen, fabelhaften Weisen um das nöthige Kupfer speculirenden Bevölkerung. Am Tage bleibt blos die Ausstattung, das Mobiliar dieser Paria’s zurück, der Schmutz, die gleichmäßige, auch während der Hundstage mit kaltem Schauer überrieselnde, feuchte, schmutzige Kälte, die verschimmelte Trostlosigkeit dieser Tropfsteinhöhlen des tiefsten Jammers der Menschheit. Es ist schauerlich still hier unten. Desto donnernder und die dicken Mauerbogen in ihren Fugen erschütternd knattert ein schwerer Wagen durch einen der Hauptbogen heran. Im trüben Gaslichte erglänzt das Eis, womit er beladen ist. Es sind Eiskeller hier unten, aus welchen Conditoren und Apotheker ihren kühlenden Trost für die fiebernde Oberwelt beziehen, außerdem Bier- und Wein- und sonstige Waarenlager, grimmig fest mit eisernen Thoren und Riegeln verschlossen. Die Eislager zeichnen sich in diesen dauerhaft kalten Regionen noch durch eine besonders eisige Atmosphäre aus, welche die Bewohner dieser Urwelt stets so lange sorgfältig vermeiden, als irgendwo noch Winkel und Abhänge unbesetzt ober vielmehr unbelegt sind.

Das ist die Architektur und Physiognomie dieser Unterwelt bei Tage. Ihr Leben kann man nur bei Nacht sehen.

Es war nach elf Uhr Abends, als wir zum zweiten Male in diese Dante’sche Hölle Londons eindrangen. Einzelne ermüdete Wanderer und Familiengruppen mit Kindern an den Lumpen der Mutter hängend und auf deren Armen tiefschlafend hingesunken, selbstständige Jungen und Mädchen, zum Theil mit Bruchstücken von Körben und Waaren darin (Wasserkresse, Wallnüsse, Meerschnecken, gekochte Schafpfoten, geräucherte, faule Fische u. s. w.) wandern von verschiedenen Richtungen herein. Hier und da kauern und liegen schon Lumpen einzeln oder zusammengehuddelt auf den schmutzigen Steinen oder an die feuchte Mauer gelehnt. Andere stieren oder lugen noch umher, eine besonders günstige Schlafstelle zu ermitteln, noch Andere schreien noch lustig ihre Waarenreste aus, und hier und da findet sich sogar ein Käufer. Zwei oder drei Mal begegneten wir Policemen, die mit ihren Blendlaternen grell und schnell in dunkele Lumpenhaufen hineinblitzten, um vielleicht irgend einen bekannten, geschäftsmäßigen Verbrecher zu entdecken und mit Bezug auf eine neueste Unthat, die in deren „Geschäftskreis“ fällt, zu untersuchen.

Horch, was wird dort ausgeschrieen? Betten?

„Betten! Betten! Betten! ’n Penny für die Nacht, nur’n Penny! Wasser, Seife und Feuer zum Kochen – Alles für’n Penny! Jetzt ist Ihre Zeit, Ladies und Gentlemen, jetzt ist Ihre Zeit!“

In den niedrigsten Winkeln, wo noch Hoffnung auf den miserabelsten kupfernen Gewinn ist, stellt sich die Speculation und die Geldmach-Leidenschaft dieses furchtbaren Babylon ein und versucht und macht Geschäfte und Geld.

„Betten! Betten! Betten! ’n Penny für die Nacht, nur ’n Penny! Wasser, Seife und Feuer dazu – Alles für ’n Penny!“

Das Individuum, aus dessen schrillem, heiserem Halse dieses Evangelium der Nacht verkündigt wird, ist der Gesandte eines menschenfreundlichen Juden, der in einer der schauderhaftesten Winkelstraßen bei Coventgarden ein sogenanntes „Logir-Haus“ mit den Vorschriften der Parlamentsacte nicht ganz im Einklange hält, ohne dafür verrathen und bestraft zu werden. Er und die, welche ihn zur Strafe ziehen könnten, wissen recht gut, wie man’s macht, um geschäftsmäßig dem Parlamente und der Polizei zu trotzen.

„Penny die Nacht! Penny die Nacht! Noch mehr Ladies und Gentlemen, die für ’n Penny gut schlafen wollen? Jetzt ist Ihre Zeit! Penny die Nacht, only one penny!“

Für Manchen dieser obdachlosen Unterweltler, die noch im Beginn ihrer Laufbahn stehen und denen die Adelphi-Bogen und das menschenfreundliche Judenhaus noch neu sind, kommt diese frohe Botschaft wie die Stimme eines versöhnenden Friedenengels aus der Gesellschaft oben – seinem grimmigen Feinde. Anderen verursacht die Verkündigung derselben frohen Botschaft Magen- und Gewissensbisse. Sie haben keinen Penny oder wollen ihn zum Frühstück sparen. Ungefähr ein halbes Dutzend finden den Penny und contrahiren für ein Bett mit Wasser, Seife und Feuer zum Kochen. Einige Neulinge zahlen sogleich, Andere halten ihr kostbares Goldstück zurück, um erst zu sehen, was ihnen dafür geboten wird.

„Penny die Nacht! Penny die Nacht! Noch mehr Ladies und Gentlemen, die Nachtquartier, Bett, Wasser, Seife und Feuer zum Kochen für ’n Penny wünschen?“

Keine Candidaten mehr. Unter 3–400 Ansiedlern in dieser Unterwelt blos sechs oder sieben, die einen Penny für solch’ ein kostbares Nachtquartier haben oder erübrigen können. Also alle die Uebrigen siedeln sich in dieser Unterwelt an? Nein! Hört, welch’ seltsame Scene!

„Welche Lady oder welcher Gentleman,“ schreit der Juden-Agent, „wünscht ein Nachtquartier für’n Farthing?“[1]

„Ich und ich und ich! Ich auch! Auch ich!“ schreien unzählige Stimmen durcheinander und drängen sich zu dem Menschenfreunde.

„Gut! gut! Wart’t ’mal!“ schreit er abwehrend. „Kann irgend ’n Gentleman oder ’ne Lady hier ein Nachtquartier mit Federbett erster Classe, Kopfkissen, Nachtquartier, Wasser, Seife und Feuer zum Kochen für ’n Farthing erwarten? I, da ist ja die Seife allein mehr werth!“ (Ganz gewiß, wenn sich Einer der Candidaten damit rein wüsche.)

„Na, denn halt’t uns nicht weiter für’n Narren, Gov’nor![2] Wir sind müde. Wozu denn nun das Geschrei?“

Aber der Menschenfreund läßt seine Gelegenheit nicht fahren.

Er weiß, wie man auch aus der versunkensten Armuth noch Geld auskitzeln kann.

„Je vier Ladies oder Gentlemen geben Jeder ’n Farthing. Macht ’n Penny. Die Vier werfen dann (mit einer Münze) und wer zuerst Kopf hat (wessen Geldstück geworfen zuerst die Seite mit dem Kopfe oben hat), der hat das Bett gewonnen mit Wasser, Seife und Feuer zum Kochen. Das ist unser Geschäft!“

Ueber Dante’s Hölle stand: „Wer hier eintritt, lasse die Hoffnung zurück!“ In Londons Hölle zieht sie mit ein. Keine menschliche Lage, kein in den tiefsten Schmutz zusammengetretenes Elend, kein abgejagtes, zum letzten Athemzuge niederbrechendes Menschenherz, wo nicht die Hoffnung noch ein letztes Trostfünkchen erwecken könnte. Auch hier gibt’s noch materielle und moralische Vermögensgrade. Ehrgeiz, Trost, Hoffnung auf eine günstige Drehung des Glücksrades – man findet sie gar noch unter den Adelphi-Bogen. Mancher Marquis, nach dem „Herzog“ strebend, mancher geheime Rath mit dem „vierten“ und auf den Adlerorden dritter Classe hoffend, mancher Crösus, um das letzte Tausend zur vollen Million kämpfend, blickt mit matterer Aufregung auf die entscheidende Wendung, als diese je vier Farthing-Lotteriespieler auf den Fall ihrer dem Schicksal in die Höhe geworfenen Münzen. Welch’ eine Spannung, wenn der Farthing in die Höhe geworfen wird und klanglos unter der Laterne in den Schmutz fällt! Welch’ strahlende Freude in dem verkümmerten Gesichtsschmutze des Glücklichen, der das Bett gewann! Mancher fordert das Schicksal mit einem zweiten Farthing noch einmal heraus, blos um der Lust der Aufregung willen. So bildet der Judengesandte unter der Gaslaterne manche Spielergruppe von je vier Personen mit eifrig stierenden Zuschauern. Das Glück der Gewinnenden, die glühende Beredsamkeit des Judengesandten, der die himmlischen Freuden eines Federbettes erster Classe für’n Penny malt, treiben manche Hand hinunter in unentwirrbare Labyrinthe von Fetzen und Lumpen, um den irgendwo verkrochenen Farthing auszuforschen und damit das Glück herauszufordern.

Nachdem der Judengesandte aus allen Taschen die letzten Farthings herausgezaubert und aus je vier Spielern einen Glücklichen extrahirt hat, geht er mit seinen Penny-Candidaten und seinen glücklicheren Farthing-Auserkornen wie ein Werber mit seinen Rekruten ab, um je Vier auf einen Sack voll Stroh und Werg und zwölf bis sechzehn Personen ohne irgend eine Rücksicht auf Alter und Geschlecht in je eine miserable kleine Höhle des Judenhauses zusammenzupferchen.

[563] Nachdem so die Aristokratie unter den Adelphi-Bogen ausrangirt ist, schiebt und huddelt sich das zurückbleibende letzte, hoffnungslose Elend auf den schmutzigen Steinen zusammen, wie es eben gehen will, um bleicher, schmutziger, schleichender einen neuen trostlosen Tag oben zu erwarten. Es wird still unten. Deshalb wird eine jämmerlich winselnde Säuglingsstimme schauerlich vernehmlich. Sie dringt matt und heiser aus einer fernen Schlucht hervor. Wir treten näher. Eine ferne Laterne wirft ihren schwachen Schimmer auf ein bläuliches, versunkenes Muttergesicht. Gott, diese zusammengebrochene, zitternde Gestalt ist eine Mutter! Das Kind schweigt einen Augenblick und saugt mit aller seiner Kraft an verwelkten ausgetrockneten Brüsten, um nach der neuen, vergeblichen Anstrengung noch elender und schwächer zu winseln. Die Mutter kauert bewegungslos, aber bei näherem Anblick, während wir in unsere Taschen griffen, hörten wir ihren gurgelnden, fieberischen Athem und sahen das Zucken ihrer weißen, knöchernen Finger. Sie sank mit ihrem Gesichte tiefer und wehrte unsere gebotene Gabe ab. – Dies durchrieselte uns wie ein Blick in das tiefste, unsäglichste Elend des Menschenherzens.

Andere Hände streckten sich aus und umringten uns, aber kräftige. Wir sahen so viele Greisengerippe und krankes Elend heraufschimmern, daß wir standhaft abwehrten und überzeugt, daß hier das aufopferndste Mitleiden ohnmächtig sei und just in die noch kräftigsten Hände fließen werde, uns so schnell als möglich zurückzogen.

Die abwehrenden, zitternden Finger der sich verhüllenden Mutter blieben vor meinen Augen; die ohnmächligen Winseltöne des Säuglings in meinen Ohren. Sie war glücklich gewesen, hatte geliebt und vertraut. Als die Welt die Folgen sah, stieß man sie von sich, der Begründer ihres Lebensglückes lachte sie aus oder war spurlos verschwunden. Sie wollte nun unter das tiefste Elend sich selbst versenken. Die Themse war nahe. Zwei Tage darauf stand in den Zeitungen unter unzähligen Unglücksfällen und Verbrechen auch, daß man einen weiblichen Leichnam und ein Kind in der Themse gefunden habe.




  1. Ein Farthing, die niedrigste englische Münze, ist der vierte Theil eines Penny und ein Penny ist gleich zehn Pfennigen.
  2. Gov’nor = Governor = Gouverneur (geehrter Herr, ironisch).