Des deutschen Volkes Liederschatz

Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Des deutschen Volkes Liederschatz
Untertitel:
aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 311-316
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Weltbühne, 22. März 1927
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[311]
Des deutschen Volkes Liederschatz
Ein Rundfunkvortrag

Schon Gneisenau, Regierungsrat bei der Filmzensur, hat in seinem ziemlich unsterblichen „Wolfgang von Goetz“ darauf hingewiesen, daß das deutsche Volk als das sangesfreudigste der Welt mit Fug angesehen werden kann. Der wahre Gesang ist der Männergesang. Sagt doch bereits die deutsche Bibel für das Wochenende, das Strafgesetzbuch, über die Männergesangvereine so schön: „Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und mit vereinten Kräften [312] gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten begeht …“, und auch der Ausdruck „Rädelsführer“ deutet ja klar auf den Dirigenten solchen musikalischen Tuns hin. Aber ach! nicht jeder gehört einem Männergesangverein an; ja, es gibt unter den Deutschen sogar einige, wenn auch wenige verworfene Wesen, die überhaupt keinem Verein angehören. Aber das soll mit Rücksicht auf die zarter Besaiteten unter unsern Hörerinnen hier nicht erörtert werden; diese Menschen gehören in das Gebiet der Psychopathia sexualis. Genug davon. Wenden wir uns von den Verirrungen des Geschlechtslebens mehr heitern Gegenständen zu.

Was zum Beispiel Gertrud Bäumer betrifft, so hat sie, eine gebildete Mitteleuropäerin, das Singen von sogenannten „Hausgesängen“, die vorher einen Zensurwolf passiert haben, gestattet – auch ist das Mitsingen dieser Lieder an öffentlichen Orten, Rundfunk-Zapfstellen und andern Bedürfnisanstalten zunächst nicht strafbar. Es ist gewiß von allgemeinem Interesse (Thema am Ende der Einleitung), solche Gesänge an Hand eines kleinen, uns heute vorliegenden Liederbuches einmal wissenschaftlich zu betrachten.

Die deutschen Trällerliedchen zerfallen in drei Abteilungen. Da hätten wir zunächst jene, die auf einem Namen beruhn.

„Liebe Katharina,
komm zu mir nach China!“

ist hier zu nennen, sowie:

„Luise – Luise – warum bist du denn so blaß?“

gewiß eine berechtigte Frage, wenn man bedenkt, daß auch Luise durch die ihr von den uns im Schmachfrieden von Versailles abgetretenen polnischen Kühen stammende fehlende Milch um ihre beste Manneskraft gekommen sein mag. Deutsche, kauft deutsche Kolonien! Auch:

[313]

„Wo sind deine Haare,
August – August?“

ist ein schönes Lied. Zeigt sich doch auch hier die deutsche Überlegenheit deutschen Wesens deutscher Namen: mit dem Vornamen des bekannten Baruch Stresemann wären solche echt deutschen Gesänge nicht zu erzielen gewesen. Hep-hep!

Dies führt uns zur zweiten Abteilung: den romantischen Liedern, die ihrerseits wieder zerfallen in die a) wild-romantischen und b) mild-romantischen. Die wild-romantischen Lieder lauten etwa:

„In der Hafenbar von Rio bei Laternenlicht
hatte Jim zum ersten Mal gesehen ihr Gesicht“,

und malen uns diese Verse so recht die bewegte und jeder Polizeistunde spottende Atmosphäre Südamerikas vor Augen. An unsern Alt-Reichskanzler Luther, an dessen Wesen um ein Haar die Welt genesen wäre und der auch auf hoher Warte niemals seine schlichte Herkunft als Kommunalbeamter vergessen läßt, gemahnen uns die Verse:

„Hoch zu Roß mit seinem stolzen Troß
der große Picador“,

wobei denn noch festzustellen wäre, wer bei diesem getätigten Geschäft der Ochse gewesen ist.

Wir kommen nunmehr zu den mildromantischen Liedern. Da wird uns warm ums deutsche Herz. Deutsche Weise und deutsches Land sprechen uns hier an, und jedes Gemüt schlägt Wellen, wenn es hört:

„Am Rüdesheimer Schloß steht eine Linde!
Der Frühlingswind zieht durch der Blätter Grün,
Ein Herz ist eingeschnitzt in ihre Rinde,
Und in dem Herzen steht ein Name drün.“

[314] Da ist nichts vom nervenpeitschenden Rhythmus der Großstadt, ewiger Gehalt klingt uns hier an und zeigt so recht, daß das Erbe der Birch-Pfeiffer und Courths-Clauren in guten Händen liegt. Der Text des Rüdesheim-Liedes stammt von einem Wiener Juden.

Was aber sind alle diese schönen Lieder, wie:

„Am Hügel, wo der Flieder blüht,
und eine Rosenhecke glüht“

und:

„Wißt, dort im Bergrevier,
da ist die Heimat mein,
Thüringer Waldeszier,
treu denk ich dein!“

sowie:

„Am Rhein, da hab ich das Licht erblickt,
am Rhein, da wuchs ich heran,
am Rhein, da ist mir manch Streich geglückt –“

woraus also zu ersehen, daß dieser Streich hier jedenfalls nicht am Rhein entstanden ist – was ist dies alles, sage ich, gegen das unsterbliche Lied:

„Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren,
in einer lauen Sommernacht –“?

Da mögen Welsche und Polen, Tschechen und blatternasige Kosaken dräun: solange wir solche Lieder haben, kann Deutschland nicht untergehn. Der Text stammt von zwei Wiener Juden.

Die dritte Abteilung endlich möge die der schlichtweg idiotischen Texte genannt werden, wie etwa:

„Wer hat die liebe Großmama
verkehrt rum aufs Kloset gesetzt?“

und:

[315]

„Das war bei Tante Trullala
in Düsseldorf am Rhein,
da haben wir die Nacht verbracht
voll Seligkeit beim Wein –“

Noch zahllose Lieder gibt es, schlichte Äußerungen des Volksgemütes, geeignet, am deutschen Herd, im deutschen Haus, im deutschen Hof gesungen zu werden, wofern nicht dort Teppichklopfen und Musizieren verboten ist. Wo man singt, da komme ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.

So zieht sich der Sangesfaden von Geschlecht zu Geschlecht, nimmer rastend, ewig blühend. Haben unsre Mütter und Urmütter noch gesungen:

„Sone ganze kleine Frau,
sone ganze kleine Frau –
sone ganze, ganze, ganze, ganze
     ganze kleine Frau!“

und:

„Weißt du, Mutterl, was mir träumt hat?
I hab im Himmel die Engerln g'sehn …“

so singen wir mit nicht minder herber Kraft:

„Schatz, was ich von dir geträumt hab,
hätt ich dir so gern erzählt“

sowie:

„Valencia –
Sieben, achte, neune, zehne,
Bube, Dame, König, As –“

und sind gewiß, daß unsre Altvordern, behaglich ihr himmlisches Pfeifchen schmauchend, voller Beifall auf Deutschland heruntersehen. Und darum benötigen wir eine Reichswehr, die [316] uns stark, seetüchtig und schlagfertig erhält, wenn Hindenburg, oder wer sonst gerade da ist, uns einmal ruft.

Wir stehen am Ende.

Wir haben gesehen, wie das deutsche Lied und die deutsche Seele eines sind, und wie die deutsche Muse immerdar an der Spitze aller Musen marschiert. Möge sie vorne herum schwellen, hintenrum gedeihn und noch recht oft der unsterblichen Verszeile unsres großen Dichters, des Kalligraphielehrers Marcellus Schiffer, eingedenk sein:

„Mir ist schon mies vor mir –!“

In diesem Sinne auf Wiederhören in fünf Minuten zum Vortrag des Herrn Geheimrats Professor Doktor Fritz Haber, Mitglied der republikanischen Kaiser-Wilhelms-Akademie: „Der Harn im Familienleben sowie die Konservierung älteren Büchsenfleisches.“

Auf Wiederhören in fünnef Minuten –!