Der Mordversuch gegen den deutschen Kaiser Wilhelm I. am 2. Juni 1878

Textdaten
Autor: Unbekannt
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Titel: Der Mordversuch gegen den deutschen Kaiser Wilhelm I. am 2. Juni 1878.
Untertitel: Volksblatt. Eine Wochenzeitschrift mit Bildern. Jahrgang 1878, Nr. 23, S. 177–179
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Herausgeber: Dr. Christlieb Gotthold Hottinger
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Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Dr. Hottinger’s Volksblatt
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Erscheinungsort: Straßburg
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Quelle: Scan auf Commons
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Wilhelm I.,
geboren den 22. März 1797, seit 2. Januar 1861 König von Preußen, seit 18. Januar 1871 deutscher Kaiser.
(Die Worte Imperator, Rex am Schlusse des Namenszuges heißen: Kaiser, König).

[178]

Der Mordversuch gegen den deutschen Kaiser Wilhelm I.
am 2. Juni 1878.

Kaum war die Schreckenskunde vom 11. Mai: „Ein Deutscher hat es gewagt, unserm theuern Kaiser nach dem Leben zu trachten“, verklungen, als auch schon die Nachricht von einem erneuten, noch schrecklicheren, noch ruchloseren Angriff jeden braven Deutschen bis in’s Innerste erschütterte und in der ganzen Welt herzliche Theilnahme für Deutschlands edlen greisen Kaiser hervorrief. War der Mordversuch am 11. Mai von einem schon vor dieser Schandthat sittlich tief gesunkenen Menschen ausgegangen, so erhob nun ein Mann seine Frevlerhand, der eine sorgfältige Erziehung genossen, sich eine bedeutende wissenschaftliche Bildung erworben hatte und ob seines gewandten Benehmens in gesellschaftlichen Kreisen wohl gelitten war. Und blieb der Kaiser das letzte Mal unverletzt, so hat er nun so viele Wunden erhalten, daß bei seinem hohen Alter selbst sein Leben in Gefahr schwebt. Wo sollen wir die Worte hernehmen, um unserm Schmerz über diese schandbare That Ausdruck zu verleihen? Ein Deutscher, ein gebildeter Mann sucht den ersten deutschen Kaiser, den edlen 81jährigen Greis, den Liebling seines Volkes, den auch bei den andern Nationen hoch geachteten, den Fürsten, welchen während mehrerer Feldzüge in Feindes Land Niemand angetastet hatte, dem erst in den letzten Wochen zahllose Beweise innigster Theilnahme und herzlichster Liebe entgegengebracht wurden – zu morden, und nicht etwa in Folge einer augenblicklichen Aufwallung, sondern nachdem er lange den Vorsatz zu dieser That in sich erwogen hat! Und wenn dieselbe auch nur die eines Einzelnen ist, so fällt doch ihr Makel auf das ganze Volk. In jedem Edeldenkenden hat sie sofort tiefen Abscheu, herzliche Theilnahme und den festen Vorsatz erweckt, sich nur um so inniger an die theure Heimath und den edlen Kaiser anzuschließen, nur um so eifriger darnach zu trachten, daß die heiligen Güter der Gottesfurcht und Sittlichkeit, der Vaterlandsliebe und Treue in dem deutschen Volksleben gepflegt und gestärkt werden.

Lassen wir den schrecklichen Vorgang kurz an unserm Auge vorüberziehen!

Als der Kaiser am Sonntag, den 2. Juni, um 2 Uhr Nachmittags die Straße „Unter den Linden“ dahinfuhr, fielen aus dem zweiten Stocke des Hauses Nr. 18 aus einem mit Schrot Nr. 3 und 4 geladenen Doppelgewehr 2 Schüsse auf ihn. Der Helm Sr. Majestät wurde von 18 Schrotkörnern getroffen; einige derselben schlugen durch. 30 Körner drangen in das Gesicht, den Kopf, beide Arme und den Rücken des Kaisers ein.

Der Thäter ist Karl Eduard Nobiling, Doktor der Philosophie und Landwirth. In der Abhandlung, durch welche er sich im Jahre 1876 von der Universität Leipzig die Doktorwürde erwarb, sagte er Nachstehendes von sich aus:

„Am 10. April des vielbewegten Jahres 1848 erblickte ich auf der königlichen Domäne Kollno bei Birnbaum in der Provinz Posen, deren Pächter mein Vater war, das Licht der Welt. Den ersten Unterricht erhielt ich von einigen Hauslehrern, von denen ich mich namentlich dem letzten, dem damaligen Kandidaten der Philologie Herrn Friedrich Liepe, dessen Grundsatz bei der Erziehung es war, seine Zöglinge nicht nur möglichst vielseitig in wissenschaftlicher Beziehung auszubilden, sondern sie ebensosehr auch für das spätere Leben vorzubereiten, zu besonderem Danke verpflichtet fühle. Dasselbe Princip[1]: non scholae, sed vitae discimus,[2] war das leitende auf dem königlichen Pädagogium zu Züllichau, welches ich darauf besuchte, und dessen fünf oberste Classen, Ober-Tertia, Unter- und Ober-Secunda, Unter- u. Ober-Prima, ich in 4½ Jahren, von Ostern 1863 bis Michaelis 1867, durchmachte. Nach zurückgelegter Schule widmete ich mich zunächst der praktischen Landwirthschaft, studirte darauf während drei Semester von Michaelis 1870 bis Ostern 1872 Staatswissenschaften und Landwirthschaft in Halle an der Saale, ging nochmals zwei Jahre in die Praxis zurück, theils auch auf mehrmonatliche Reisen, um eine größere Anzahl Wirthschaften, industrielle Etablissements verschiedener Art kennen zu lernen. Von Ostern 1874 bis Ostern 1875 studirte ich alsdann nochmals dieselben vorhergenannten Fächer in Halle an der Saale, und von da ab das 6., 7. und gegenwärtige 8. Semester an hiesiger Leipziger Universität.
Leipzig, im Mai 1876.   Karl Nobiling.

Ueber seine frühere Lebenszeit schreibt ein Lehrer an der Kölner städtischen Realschule, Herr Lambeck, Folgendes:

„Ich wurde nach dem Tode meiner Eltern, Herbst 1862, in das Waisenhaus und Pädagogium bei Züllichau aufgenommen und Ostern 1863 in die Obertertia versetzt. Hier lernte ich als nächste Nachbarn die Schüler Karl und Otto Nobiling kennen, welche kurz vorher mit ihrer Mutter aus der Provinz Posen nach dem Dorfe Krauschow bei Züllichau gezogen waren. Diese beiden Brüder zeigten sehr verschiedene Naturen. Der ältere, Karl Nobiling, der uns hier allein angeht, zeigte während seiner ganzen Schülerlaufbahn nur sehr geringen Fleiß. Wenn er eine Arbeit abschreiben konnte, that er es gewiß. Trotzdem stieg er regelmäßig von Klasse zu Klasse. Sein gutes Gedächtniß und vor allem sein klarer durchdringender Verstand ließen ihn alle Arbeiten mit Leichtigkeit bewältigen. Es fehlte ihm vollständig an Gemüth. Alle seine Handlungen waren berechnet und zeugten von schrankenloser Selbstsucht. Sein ganzes Dichten und Trachten ging auf Gelderwerb. Schon damals trauten wir ihm zu, daß er für Geld ohne die geringsten Gewissensbisse seinen besten Freund verrathe. Ich habe niemals einen Menschen kennen gelernt, dem jede Spur von Idealismus so vollständig abgegangen wäre. Wenn wir warmherzige Jungen durch den Vortrag unseres Geschichtslehrers für eine historische Größe uns begeistern ließen, lachte Nobiling uns aus und fragte wohl höhnisch, was unsere Ekstase[3] uns einbringe. Alles, was anderen Menschen theuer und heilig war, unterlag seiner hämischen Kritik.[4] Das Gefühl der Pietät, der respectvollen [179] Unterordnung unter eine Autorität war ihm durchaus fremd. Ich kann mir den Menschen nicht anders vorstellen, als mit höhnisch verzogenem Munde. Seine blaugrauen Augen, die beständig lächelnd hin und her liefen, verriethen List und gemeine Denkungsart. Das Bild des Burschen ist vollständig, wenn ich hinzufüge, daß seine kaltblütige Unverschämtheit mit einem hohen Grade von Feigheit gepaart war. Bei seinem Naturell konnte es nicht ausbleiben, daß er häufig mit seinen Mitschülern in Conflict gerieth, aber immer zog er sich vorsichtig zurück, wenn Jemand energisch gegen ihn auftrat.“

Seit etwa 2 Jahren lebte Nobiling in Berlin; in dem Hause Unter den Linden Nr. 18 wohnte er seit Anfang des Jahres.

Als er die Schüsse abgegeben hatte, suchte man seiner schnell habhaft zu werden. Ein Gastwirth Namens Holtfeuer drang zuerst in sein Zimmer ein und fand ihn, mit einem Revolver bewaffnet, am Ofen stehen. Nobiling schoß auf ihn und brachte ihm eine schwere Wunde bei. Auch noch einen anderen Eintretenden traf er. Hierauf richtete er seine Waffe gegen sich selbst und schoß sich eine Kugel in das Gehirn, welche ihn lebensgefährlich verletzte. Nunmehr gelang es, ihn zu fesseln und abzuführen.

Vor dem Hause hatte sich rasch eine große Menschenmenge versammelt. Als Holtfeuer verwundet aus demselben gebracht wurde, hielt das Volk Anfangs ihn für den Mörder und hätte ihn nahezu seine ganze Entrüstung fühlen lassen. Den wirklichen Attentäter konnte die Polizei nachher nur mit genauer Noth vor dem Zorn der Menge retten und in Gewahrsam bringen.

In den mit ihm angestellten Verhören gab Nobiling zu, daß er den Kaiser habe erschießen wollen, weil er es für das Staatswohl ersprießlich gehalten habe, das Staatsoberhaupt zu beseitigen; auch bekannte er, sozialdemokratischen Bestrebungen zu huldigen. Seine Mutter, welche nach dem Tode von Nobilings Vater eine neue Ehe einging und in Berlin wohnt, wurde herbeigerufen, um ihn zu weiteren Geständnissen zu bewegen und ihn zu bestimmen, daß er seine Mitschuldigen nenne. Sie erreichte jedoch Letzteres nicht; der Mörder wurde bewußtlos und konnte nicht weiter verhört werden.

Der Kaiser fuhr nach dem Attentat sofort in das Palais zurück. Wie natürlich, wurde ihm die sorgsamste Pflege zu Theil. Seine Gemahlin, die in Baden-Baden weilte, kam rasch herbei, ebenso der Kronprinz und die Kronprinzessin, welche gerade in England einen Besuch machten, die Großherzogin von Baden, welche bei dem Mordanfall am 11. Mai an der Seite ihres Vaters gewesen und erst vor Kurzem nach Karlsruhe zurückgekehrt war, und viele andere Fürsten und hohe Würdenträger.

Die Unter den Linden hin und her wogende Volksmenge harrte in banger Erwartung auf Berichte über das Befinden Sr. Majestät. Dieselben waren zum Glück befriedigende. Der Kaiser verlor keinen Augenblick sein Bewußtsein, konnte in der darauffolgenden Nacht schlafen, sprach mit seiner Umgebung in gewohnter gewinnender Weise, erkundigte sich angelegentlich nach dem Befinden des verwundeten Holtfeuer und erfreute sich der herzlichen Theilnahme und Liebe, welche ihm durch Kundgebungen von nah und fern ausgesprochen wurde. Von Stunde zu Stunde vermehrte sich die Hoffnung, daß Gott unsern theuren Kaiser nicht an diesem heimtückischen Angriffe sterben lassen wolle.

Was werden die nächsten Tage bringen? So fragen Millionen. Vieltausendfach stiegen und steigen Gebete für die Wiedergenesung des geliebten Kranken zum himmlischen Vater empor.

Es ist in zahlreichen deutschen Familien üblich, die „täglichen Loosungen und Lehrtexte“ zu lesen, welche die „Brüdergemeinde“ schon seit lange alljährlich für jeden einzelnen Tag des Jahres herausgibt. Dieselben lauteten auf den 2. Juni wie folgt:

Man spürte keinen Schaden an Daniel; denn er hatte seinem Gott vertraut. Dan. 6, 28.

Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten, aber die Seele nicht mögen tödten. Matth. 10, 28.

Damit stimmt herrlich der erste der Wahlsprüche, welche in getreuer Nachahmung der Handschrift Sr. Majestät des Kaisers am Eingange unseres Blattes stehen[5]:

Im Glauben ist die Hoffnung.

Es ist bekannt, wie sehr sich unser edler Kaiser auf diese Hoffnung stützt. Mit ihm thun es Millionen seiner Unterthanen, und für ihn beten sie vom Grund ihres Herzens:

Gott schirme, erhalte uns und segne unsern geliebten Kaiser!

Anmerkungen der Vorlage

  1. Grundsatz
  2. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir
  3. Begeisterung
  4. Beurtheilung.
  5. Der Kaiser schrieb dieselben im Sommer des Jahres 1876. Sie sind entnommen dem Büchlein des Herausgebers dieses Blattes: „Der deutsch-französische Krieg 1870-71.“ 2. Auflage, Straßburg 1877.