Textdaten
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Autor: N. Guth
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Titel: Der Hausarzt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 733–735
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Hausarzt.

Eine Plauderei von N. Guth.

Wenn ich vom Hausarzt ein wenig plaudern möchte, so denke ich dabei nicht an einen vornehmen Sanitäts- oder Medizinalrath, der, geschmückt mit Cylinder und Ordensband, in hocheleganter Kutsche bei einigen auserlesenen Patienten vorfährt und, eine Autorität in seinem Fache, fürstliche Honorare einstreicht – nein, ich denke dabei an den weniger anspruchsvollen Doktor der Medizin, der schlicht und einfach zu Fuß seine Krankenbesuche macht, dem man gar oft in seine Sache hineinredet, und dem man schließlich, wenn eben seine Mittel anfangen, ihre Wirkung zu zeigen, einen berühmten Kollegen zur Seite stellt, „weil es zu lange dauert“, weil man die langsam fortschreitende Besserung nicht gleich mit den Händen greifen konnte. Geht dann alles so gut, wie er erwartet hat, dann nimmt man ihm den Ruhm und die Ehre am Gelingen der Kur ohne jede Beileidsbezeigung einfach weg, um sie unter weithinschallenden Lobeserhebungen dem zuletzt zu Rathe Gezogenen zuzuschieben. Läuft das Ding dagegen trotz der „Autorität“ schief ab, so ist natürlich der Hausarzt schuld. Man bedauert, den Berühmten nicht früher gerufen zu haben, sondern erst, als es zu spät war. Der Hausarzt aber hat den „Karren verfahren“! Dies und das hätte er verhüten sollen – das und jenes voraussehen müssen! Er hätte früher erklären sollen, daß man noch einen andern holen möge. Vier Augen sehen doch bekanntlich mehr als zwei!

„Wir haben uns an den Professor X. gewandt, und da ist es auch gleich besser geworden! Es hat sofort angeschlagen!“ heißt es dann im ersteren Falle.

„Der Professor hat gesagt, das sei eben das Schlimme, daß man ihn immer erst rufe, wenn es zu spät sei. Er könne hier auch nichts anderes mehr thun als das Todesurtheil unterschreiben,“ so wird im ungünstigen Fall gesprochen.

Der Hausarzt zuckt die Achseln und schluckt seine Pille. Er vertheidigt sich schon lange nicht mehr. Wozu auch? Das würde ihm doch nichts nützen. Ist er alt, dann macht er ein resigniertes Gesicht, ist er jung, dann schaut er ingrimmig drein. Ist er alt, dann führt er vertrauten Freunden gegenüber das alte Wort vom Fechten gegen Windmühlen an, ist er jung, dann stellt er vielleicht dreimal die Behauptung auf: „Eben als meine Mittel anfingen zu wirken, haben sie den andern geholt. Der hat nun den Ruhm und ich das Nachsehen!“ Aber er thut das höchstens dreimal. Er begegnet doch nur einem ungläubigen Lächeln.

Mit anerkennenswerther Selbstverleugnung beginnt der Hausarzt wenige Wochen später eine Kur an einem anderen Gliede der Familie. Wird der Kranke gesund, ehe man sich bemüßigt fühlt, einen zweiten Arzt zu Rathe zu ziehen, dann fragt man: „Sie haben ja diesmal den Professor nicht kommen lassen?“ „Nein!“ ist die Antwort, „es war nichts! Nicht gefährlich!“ – –

Hat ein Schneider eine Hose zugeschnitten, so weiß er ganz genau, daß sie so oder so sitzen muß, wenn sie zusammengenäht [734] ist, auch falls er sie einem Gesellen anvertraut. Er braucht nicht zu befürchten, daß ein Hutmacher kommt und die Innennähte nach außen zusammenflickt. Wie aber ist’s beim Hausarzt? Wer zählt alle die, welche sich heimlich an seiner Arbeit betheiligen? Das eine Vorrecht hat er, zuerst gerufen zu werden. Sobald jedoch die Arznei, die er verschreibt, die gewünschte Wirkung am zweiten Tage noch nicht stark ins Auge fallen läßt, dann sagt man: „Es schlägt nicht an!“ Und nun kommen Vettern und Basen, und alte und junge Freunde erscheinen auf der Bildfläche.

„Na, Du –“. „Ja, weißt Du –“. „Hör’ einmal, das würde mir aber doch zu lange dauern!“ „Das sieht doch alle Welt, daß das weiter nichts ist als ein kleiner Erkältungsfall! Ich begreife nicht, daß der alte Müller nicht damit fertig wird! Da hat z. B. Gustchen von einem Mittel gehört, das würde ich doch einmal versuchen! Wenn’s nichts nützt, schadet es wenigstens nichts! Ich glaube, Kamillenthee und Citrone kommt dazu und gestoßener Kandis. Und Pimpernellenessenz soll auch sehr gut sein! Immer mit zwei Tropfen anfangen und mit einem Theelöffel voll aufhören! Sollte das aber alles nichts fruchten, dann hat Tante Alwine noch etwas: Tropfen! Die sind gut! Hilgers Wilhelm haben sie auch geholfen! Und was Scheibners Marien ihre Schwiegermutter ist, die hat die Tropfen bei ihrem Jüngsten angewendet, als ihn die Aerzte schon aufgegeben hatten. Und nun lebt er heute noch! Er steht in Dresden bei den Gardereitern! Du kannst Dich ja vorher erkundigen bei Scheibners, wenn Du ganz sicher gehen willst.“

Die empfohlenen Mittel werden natürlich angewendet. Erst das von Gustchen. Es hilft jedoch nichts. Die Tropfen von Tante Alwine werden in Aussicht genommen, auf die hat der Kranke seine ganze Hoffnung gesetzt, von wegen der Vorgeschichte, die sie haben: einer, den die Aerzte verloren geben, nimmt die Tropfen und wird wieder gesund, endet nicht im Grabe, sondern tritt in die Garde, kommt nicht ins Schattenreich, sondern zur schweren Kavallerie, wo sie bekanntlich keine Schwindsuchtskandidaten brauchen können – das ist doch keine Kleinigkeit! Vorher werden indessen noch einmal Erkundigungen eingezogen. … Ja, es ist so! Man hat das Mittel angewendet und es hat gewirkt; zudem ist es von einem Arzt verordnet, aber nicht von so einem neumodischen, sondern von einem bewährten, nun leider längst verstorbenen Praktikus; es feiert im nächsten Halbjahr das golbene Jubiläum. Schon der Großvater hat es in seiner Familie angewendet und immer mit Erfolg. Warum sollte es da Doktor Müllers Patient nicht auch nehmen? Es ist ihm zwar, als ob es seit einigen Tagen besser ginge, und Doktor Müller hat das auch gefunden, allein besser ist besser: die Tropfen werden verschluckt.

Als der Hausarzt nach einigen Tagen wiederkommt, bemerkt er zu seinem Befremden, daß sich der Zustand verschlimmert hat. Er kann das gar nicht begreifen! „Was haben Sie denn nur gemacht?“ fragt er kopfschüttelnd. Nach längerem Hin und Her kommt die Geschichte mit den Tropfen an den Tag. Zwei tiefe Falten graben sich in die Stirn des Doktors. „Daß doch die Leute das Quacksalbern nicht lassen können!“ fährt es ihm heraus.

„Aber es hat geholfen!“ wendet man ihm ein, und der Fall von Scheibners Schwiegermutter und ihrem Sohn, dem Kavalleristen, wird ausführlich berichtet. Doktor Müller macht ein Gesicht, als ob er Zahnweh hätte. „Das will ich gar nicht in Abrede stellen! Aber dann hat der Fall anders gelegen! Zwischen Magenkrankheit und Magenkrankheit ist ein Unterschied, und es können zwei Menschen lungenkrank sein und doch grundverschieden behandelt werden müssen. Ich hätte Ihnen die Tropfen auch verordnen können! Das, was Sie da mit so viel Vertrauen eingenommen haben, ist ein altes, längst bekanntes Mittel. Für Ihren Zustand jedoch ist es zu scharf.“

Die Tropfen werden infolgedessen bei Seite gesetzt, und die erste Medizin kommt wieder zu Ehren, die den Patienten schon einmal auf den Weg der Besserung gebracht hat. Aber es vergehen acht – es vergehen vierzehn Tage, und es will nicht besser werden. Da kommt ein Neffe aus der nahen Residenz zu Besuch. Er findet Tantchen recht verändert. Es wird ihm berichtet, daß Tantchen krank ist und welches Organ ihres etwas schwächlichen Körpers von der Krankheit ergriffen sei. „Hm,“ macht er bedenklich, „wer behandelt Dich denn?“

„Doktor Müller!“

„Ach Du lieber Gott!“ sagt der junge Mann lachend, „der alte Müller mit seinem Senfspiritus? Ist denn der immer noch nicht tot? Und zu dem habt Ihr immer noch Vertrauen? Der hat sich doch mit seiner Methode lange überlebt! Das ist auch noch so einer von der alten Schule! Der geht natürlich von seinen mächtigen Medizinflaschen nicht ab! ‚Alle Stunden einen Eßlöffel voll!‘ Nein, da giebt es gottlob jetzt ganz andere Heilverfahren! Thu’ mir den einzigen Gefallen, Tantchen, und laß das Ding nicht hängen! Fahre Du einmal mit mir nach der Residenz zum Doktor X.! Das ist ein junger Mann auf der Höhe der neuesten Wissenschaft, ein Mann der Zukunft und jetzt bei uns der beliebteste Arzt. Und Glück hat er mit seinen Kuren! Man kann kaum einen Platz bekommen in seinem Wartezimmer!“

Tantchen fährt mit nach der Residenz. Es ist etwas windig an dem Tage und ziemlich unfreundlich – naßkalt; Tantchen friert, besonders an den Füßen. Endlich ist man am Ziel und der Doktor X. ist zum Glück an dem Tage zu sprechen, man erobert auch einen der ersten Plätze im Wartezimmer, hat also Aussicht, vorgelassen zu werden. Und richtig – es gelingt! Tantchen berichtet von ihrem Leiden, und der Doktor X. untersucht infolgedessen das kranke Organ. Als das vorüber ist und die Patientin noch mehrere Einzelheiten liefern möchte, sieht der Vielbeschäftigte des öfteren nach der Uhr. Es warten eben noch einige Zwanzig draußen, die auch noch an die Reihe kommen sollen. Endlich geht Tantchen mit einem Rezept zu Pulvern und rosigen Hoffnungen ihrer Wege. Sie darf zwanzig Mark dafür bezahlen und erhält noch die Weisung, das nächste Mal nicht Montags zu kommen, da sei der Andrang zu stark. Tantchen hat allerdings den Eindruck, als ob der Herr recht zerstreut gewesen wäre, und als ob sich der alte Müller daheim für seine Mark, die er für jeden Besuch bekommt, eingehender mit ihrer Sache beschäftige, allein sie unterdrückt diesen Gedanken als sündhaft und schreitet weiter, dem Cafe zu, wo sie und der Neffe die Zeit bis zur Heimreise zu verbringen gedenken. Es ist dort zum Erdrücken voll und sehr heiß – aber es regnet jetzt, und man ist froh, unter Dach und Fach zu sein. Es zieht empfindlich an der Thür, wo man Platz nehmen muß, und Tantchen hat sich warm gelaufen …

Auf der Heimreise schon werden die verordneten Mittel eingenommen, und vor dem Schlafengehen wird noch ein Pulver eingerührt. Tantchen schläft ein, bald aber erwacht sie unter seltsamen Beängstigungen. Sie fühlt sich matt, es liegt ihr wie Blei in allen Gliedern, sie hat heftiges Herzkopfen und Athmungsbeschwerden. Sie richtet sich auf und wartet eine Weile – es wird schlimmer. Und jetzt stellt sich gar ein kalter Schweiß ein – großer Gott, wie wird ihr nur! So hat sich Tantchen immer einen Schlaganfall gedacht … Endlich greift sie nach der Klingel. – Dokor Müller wird aus dem Bett geholt; er kommt auch gleich, der gute alte Herr. „Um Gotteswillen, liebe Frau Schulze, was haben Sie denn gemacht?“ fragt er verdutzt, während er seinen Stock mit dem Elfenbeinknopf in eine Ecke lehnt.

„Nichts! Nichts!“ versichert sie. Aber endlich, durch seine Kreuz- und Querfragen in die Enge getrieben, kommt es sehr gegen ihren Willen an den Tag: ja, sie ist in der Residenz gewesen und hat sich dort wahrscheinlich erkältet.

„Das würde sich wohl kaum so schnell und auf diese Weise zeigen,“ widerspricht der alte Herr, während er ein Rezept schreibt. „Waren Sie etwa bei einem Arzte?“ setzt er sarkastisch hinzu.

„Du lieber Himmel!“ kreischt Tantchen laut auf, „es wird doch nicht von den Pulvern sein!“ und vor Todesangst zitternd, bekennt sie ihre Untreue.

„Wo haben Sie denn das Rezept?“ Er liest und lacht dann. „Ja – das hätte ich Ihnen auch verschreiben können. Es ist ein ganz vortreffliches Mittel, aber bei Ihnen wagte ich nicht es anzuwenden. Es regt die Herzthätigkeit zu sehr an, und Sie haben einen kleinen Herzfehler, den man berücksichtigen muß. Sie haben mit dem Kollegen natürlich nur von Ihrem gegenwärtigen Leiden gesprochen, und da hat er selbstverständlich nur das von der Krankheit ergriffene Organ untersucht. Er hatte es wohl sehr eilig?“

„Allerdings!“

„Sehen Sie, hätten Sie mir etwas von Ihrer Absicht gesagt, so hätte ich Ihnen ein Briefchen mitgegeben, um den Kollegen auf mancherlei aufmerksam zu machen, was der Hausarzt durch jahrelange Behandlung eines Patienten bemerkt, was man berücksichtigen muß und nicht auf den ersten Blick sieht. Aber da muß es immer hinter dem Rücken des Arztes gehen! Ich habe ja nichts dagegen, wenn ein zweiter Arzt zu Rathe gezogen wird, dann hat [735] man die Verantwortung nicht allein! Na, nehmen Sie jetzt, was ich Ihnen hier aufgeschrieben habe, und das Ding wird sich wohl geben!“

Frau Schulze gehorcht und ihr Zustand macht sich wieder. Sie lobt seitdem den alten Müller und schwört sogar auf seinen Senfspiritus. Allein der alte Müller stirbt und ein junger Arzt, der von Frau Doktor Müller sehr warm empfohlen wird, übernimmt die Praxis. Er macht seine Aufwartung, und es geht nicht wohl anders, man muß ihn als Hausarzt nehmen.

Tantchen bekommt einen recht häßlichen Katarrh. Der junge Doktor Meyer hat sie, seit er da ist, schon öfter behandelt und immer mit Erfolg. Dieser Katarrh jedoch will seinen Mitteln nicht weichen. Anfangs trank sie Selterswasser mit Milch, dann machte sie nasse Umschläge, dann aber – lieber Gott, der Mensch hat doch eigentlich so gut wie gar nichts verordnet! Viel Milch soll sie trinken und viel Butter essen – das ist doch keine Medizin! In dem größten Raume, der ihr zur Verfügung steht, soll sie schlafen – sie kann doch das Nest nicht im Salon aufbauen! Die Arme über einem Stock im Rücken, soll sie bei offenem Fenster täglich viermal eine Viertelstunde tief Athem holen – das wird viel nützen! Zwei Stunden täglich soll sie spazieren gehen – dazu hat sie gleich Zeit! Mit kaltem Wasser soll sie sich allabendlich vor dem Schlafengehen abreiben – daß sie ein Narr wäre und sich noch mehr erkältete! Pillen hat er dann noch verordnet – nun, die nimmt sie. Das ist doch wenigstens eine ordentliche Medizin, die man in der Apotheke holt. Milch kann sie nicht trinken, die erregt ihr Ekel, und Butter will sie auch nicht essen. So lange sie sich denken kann, hat sie bloßes Fett aufs Brot grstrichen und sich immer wohl dabei befunden. Der Katarrh wird zu Anfang des Herbstes schlimmer. „Führen Sie denn aber auch alles gewissenhaft aus, was ich Ihnen gerathen habe, Frau Schulze? Ich traue Ihnen nicht recht!“ fragt Dokor Meyer.

„Na, ich werde doch! Ich verschlucke ja schon das zweite Hundert Pillen!“

Der Neffe, welcher Tantchen damals überredet hat, mit nach der Residenz zu fahren, kommt wieder zu Besuch. „Wie lange hast Du denn das Gekrächze schon, Tantchen?“ erkundigt er sich theilnehmend, und man giebt ihm Auskunft. „Hm“ – macht er wie damals, „wer behandelt Dich denn?“

„Doktor Meyer.“

„Doch nicht der junge Mensch, mit dem wir gestern abend Billard gespielt haben?“ wendet sich der Residenzler an den Sohn des Hauses.

„Derselbe!“

„Aber Tantchen, nimm mir’s nicht übel, das ist riesiger Leichtsinn! Der Mensch hat ja noch keine Erfahrung, er macht seine Experimente mit Dir! Nein, ich bitte Dich, mit einem solchen Katarrh ist nicht zu spaßen! Thu’ mir den einzigen Gefallen und laß das Ding nicht hängen! Fahre Du einmal mit mir nach X. zum Professor Y. Das ist ein alter erfahrener Herr und Spezialist in der Sache! Fiele mir ein, mich hier zum Versuchsobjekt herzugeben!“

„Du weißt immer etwas!“ sagt Tantchen ärgerlich. „Doktor Müller war damals zu alt, und der neue ist nun wieder zu jung! Wie muß denn der beschaffen sein, den Du gelten läßt?“

Doch das Ding geht ihr im Kopfe herum. Damals mit dem alten Müller hat der Neffe Unrecht gehabt, allein jetzt … Doktor Meyer ist wirklich noch recht jung. Tantchen läßt sich überreden und fährt zu Professor Y., aber sie sagt es vorher dem Doktor Meyer, dem Arzt ohne Erfahrung. „Thun Sie das nur, Frau Schulze,“ sagt er. „Der Professor ist ein sehr tüchtiger Mann. Aber befolgen Sie dann auch, was er verordnet! Sagen Sie ihm, daß Sie einen Herzfehler haben und viel an Rheumatismus leiden – und nehmen Sie ihm nichts übel!“ Er drückt die Augen ein wenig zusammen und sieht sie verschmitzt an. Tantchen reist also und erwischt glücklich den Spezialisten, und da er nicht nur wegen seinen Kuren, sondern ebenso wegen seiner Grobheit berühmt ist, so sagt er ihr erst einige Liebenswürdigkeiten, die daheim den Doktor Meyer ein für allemal aus dem Hause verbannen würden, und als sie klagt, daß es sich gar nicht bessern wolle, erklärt er ihr rund heraus, sie solle nicht zuviel verlangen, der Arzt sei kein Wunderthäter, und wenn alle Patienten wieder genesen wollten, würde kein Mensch mehr auf Erden sterben. Bei ihr stehe viel auf dem Spiel, sie sei lungenkrank und möge ja gewissenhaft ausführen, was man ihr anrathe. „Trinken Sie viel Milch und essen Sie viel Butter! Schlafen Sie in dem größten Raume, den Ihre Häuslichkeit bietet!“ u. s. w. Es folgt Stück für Stück Doktor Meyers Verordnung. Dann verschreibt der Herr noch etwas. „Noch möchte ich Ihnen rathen, bei offenen Fenstern zu schlafen!“

Tantchen läßt das Rezept sofort machen. Du liebe Zeit, das Medikament ist ihr schon vorgestellt: es sind Doktor Meyers Pillen.

Zu Hause berichtet sie dem Doktor Meyer: „Der Professor hat ganz dasselbe verordnet wie Sie!“

„So – so! Na, jetzt thun Sie’s natürlich?“ meint lachend der junge Arzt. „Ja, die Aerzte sind schreckliche Menschen, Frau Schulze, vor gar nichts haben sie Respekt, nicht einmal vor dem Salon!“ Mit einem belustigten Gesicht empfiehlt er sich.

Tantchen befolgt jetzt gewissenhaft, was der Professor gerathen hat, und später ebenso gewissenhaft, was Dokor Meyer räth. „Ich lobe mir meinen Hausarzt, der meine Natur kennt!“ Tantchen ist kuriert. –

Als Tantchen nach Jahren stirbt, kommt mit der übrigen Verwandtschaft auch der Neffe zum Begräbniß, der es immer so gut mit ihr gemeint hat. Er grüßt den Doktor Meyer ziemlich steif. „Tantchen könnte heute noch leben!“ versichert er nach dem Begräbniß den gläubig aufhorchenden Verwandten, „aber ihr war nicht zu helfen! Sie hatte ja nie einen ordentlichen Arzt. Erst den alten Müller mit seinem Senfspiritus – dessen Mittel hätte bei uns kein Kind mehr eingenommen – und dann gar diesen jungen Menschen! Der hat doch nur seine Experimente mit ihr gemacht!“ – –

Armer Hausarzt!