Textdaten
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Autor: Emil Adolf Roßmäßler
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Titel: Der Fliegenzustand
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 366–367
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Teil 24 der Artikelreihe Aus der Menschenheimath.
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[366]
Aus der Menschenheimath.
Briefe des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler
Vierundzwanzigster Brief.
Die Insektenverwandlung. 4. Der Fliegenzustand.


Die Maskerade ist aus. In seiner letzten wahren Gestalt erscheint nun jedes Insekt im vierten der Zustände, in welche das Insektenleben schärfer abgetheilt ist, als das irgend einer andern Thierklasse. Die wissenschaftliche Sprache nennt sie nun Fliegen, weil nun erst ihre Flügel, wenn sie überhaupt deren haben sollen, vollkommen entwickelt und zum Fliegen tauglich sind.

Die meisten Insekten erwachen zum Fliegenzustande aus einem todtenähnlichen Schlummer, den ich Dir in meinem vorigen Briefe als Puppenzustand bezeichnete. Nur die Libellen und Heuschrecken und die wanzenartigen Insekten schlummern als Puppen nicht. Du erinnerst Dich aus einem früheren Briefe [1], daß man danach die Insekten in solche mit und in solche ohne Verwandlung eintheilte.

Für die ersteren ist der Uebertritt in den Fliegenzustand in den meisten Fällen mehr als ein bloßes Erwachen aus langem Schlummer, als ein Anlegen einer neuen Gestalt, als ein Beziehen einer neuen Wohnung. Es ist für viele geradezu ein Auferstehen zu einer neuen ganz anderen Thätigkeit, zu anderen Bedürfnissen, anderen Gewohnheiten, anderen Fähigkeiten.

Denke an die vielen Insekten, die Du kennst; vielleicht fällt Dir eben jetzt, da ich Dich aufmerksam mache, zum ersten Male ein, an wie vielen derselben sich die eben gethane Aeußerung bestätigt.

Erinnere Dich an die Biene. Faul und unbehülflich steckte sie als Larve in der Zelle, die sie sich nicht selbst gemacht hatte, und ließ sich von ihren kinderlosen Tanten füttern – denn so muß man die Arbeitsbienen, die unfruchtbaren Schwestern der Königin, der wahren Landesmutter, betrachten – die auch nachher die Zelle mit einem Wachsdeckel verschlossen und so in ein langes Faulbett für die aus der Larve werdende Puppe verwandelten. Vergleiche nun in Gedanken mit jener trägen Larve die Biene, die daraus geworden ist. Wie sich mancher lernfaule Mensch es wünschen würde, ist über sie im Schlafe, im Schlafe der Puppenruhe, die Weisheit gekommen. Ohne Unterricht, ohne Uebung, ohne es einmal gesehen zu haben, denn sie konnte über den Rand ihrer Zelle nicht hinwegsehen, ist aus einem völlig Unfähigen ein fleißiger und geschickter Arbeiter geworden, der den Menschen zum Vorbilde dient.

Den umgekehrten Fall zeigt uns der Seidenspinner. Er hat in der Puppenruhe seine ganze frühere Kunstfertigkeit verschlafen. Mit ihr hat er freilich auch das Werkzeug und den Stoff verloren, den kostbaren Seidenfaden zu spinnen, den er freilich nun auch nicht mehr nöthig hat. Was ist denn übrigens an dem Schmetterling von der Raupe noch übrig? Nichts. Nicht die Gestalt, nicht ein einzelnes Glied, nicht die Form der Nahrung, die er bedarf. Von den sechzehn zweierlei Füßen der Raupe sind nur sechs übrig geblieben, die keiner von beiden Arten der Raupenfüße gleichen. Die Kurzsichtigkeit der zwölf winzigen einfachen Raupenaugen ist für den weit dahin flatternden Schmetterling in die Fernsichtigkeit der zwei großen zusammengesetzten Augen umgewandelt. [367] gewandelt. Die kräftigen Beißzangen, womit die Raupe die Maulbeerblätter zerschrotete, sind in die hohle spiralig auf- und abrollbare Saugzunge umgewandelt, mit der der Schmetterling den süßen Saft aus dem untersten Grunde der Blüthen herauspumpt, der nun seine einzige Nahrung ist. Aus dem im hellen Sonnenschein mit unersättlicher Gefräßigkeit in seinen Eingeweiden das Maulbeerlaub in Seide verwandelnden Wurme, ist der lichtscheue Vogel geworden, der wie eine olympische Göttin nur tropfenweise den süßen Nektar nippt.

Sieh unsere erste Figur an. Die große Seejungfer (Aeschna grandis) demaskirt sich eben. Die Puppe, die uns Figur 9 des vorigen Briefes[2] gezeigt hat, verließ das Wasser, um nimmer wieder dahin zurückzukehren. Sie klammerte sich mit den spitzen Klauen ihrer sechs Beine fest an einem Grashalm am Rande des Wassers an. Sie war schon nicht mehr Puppe; es war fast blos die Puppenhaut, die sich so zu ihrer eigenen Vernichtung befestigte. Ueber dem Rücken platzte sie und nun zieht die ihrer Erlösung zueilende Libelle ihre Beine aus den Beinfutteralen. Kopf und Brust ist schon frei und eben zieht sie, wie der Taschenspieler ein großes Tuch aus einem Eie ihre großen zusammengeknitterten Flügel aus den Flügelfutteralen der Puppenhaut. Nach wenigen Minuten sind sie straff und fest und nun fliegt das kräftige Thier im schnarrenden Fluge hinaus in die warme Sommerluft, um Beute, Verwandte ihrer eigenen Klasse, zu erhaschen. Suchen wir jetzt – es ist gerade die Zeit dazu – an den Uferpflanzen an Teichen und Gräben nach den abgestreiften Puppenhäuten der Libellen; sie sehen täuschend wie zur Ruhe dasitzende Thiere aus; wenn Du sie aber abnehmen willst, so zerbrechen die hohlen Gespenster leicht unter dem leisen Druck der Finger.

Die Wespe, Fig. 3, kehrte eben mit vollen Backen von Bretterwänden und Barrieren heim. Sieh Dir die Latten Deines Gartenstaketes an und Du wirst bemerken, daß Wind und Wetter, Regen und Schnee die glatte gelbliche Oberfläche des neuen Holzes in eine graue zottige verwandelt hat. Diese feinen grauen Zotten sind die durch die Verwitterung sich ablösenden Holzzellen und diese sind wieder das Baumaterial des bekannten grauen löschpapiernen Wespennestes. Die Wespe geht gleich nach ihrem Ausschlüpfen aus der Puppenhülle an ihr Hauptgeschäft, an die Erbauung ihres schönen vielzelligen Familienhauses, worin sie ihre Kinder erzieht. Ueberhaupt ist die Sorge für die Nachkommenschaft die Hauptaufgabe, ja bei vielen fast die einzige Thätigkeit des Insektenlebens im Fliegenzustande. Manche Insektenarten nehmen als vollkommene Insekten nicht einmal Nahrung zu sich. Sie kriechen aus der Puppenhaut, legen Eier und – sterben. Für sie lag Genuß und Freude blos in dem Larvenzustande.

Die große Heuschrecke, Fig. 4, wendet weniger Mühe an. Sie legt ihre Eier in eingehüllten Klumpen [3] in Erdlöcher, die sie mit ihrer Legscheide bohrt, die ihr auch dient, zwischen ihren zwei Klappen die Eier hinabgleiten zu lassen.

Der kleine, zierliche Schmetterling, Fig. 2, ist der mächtige Mahner, im Sommer nicht durch den Undank der Vergessenheit unseren treuen Winterpelzen zu lohnen. Es ist die Pelzmotte, deren Bild ich Dir in einem früheren Briefe versprochen habe. Wenn er Abends um die Flamme Deiner Lampe schwirrt, so vergiß nicht, Deinen Pelz vor ihm zu sichern, denn er ist dann bereit, ihm seine unsichtbar kleinen Eierchen aufzuhängen.

So habe ich Dir denn in sechs langen Briefen von der Insektenverwandlung erzählt. Das Mitgetheilte ist nur ein Tropfen aus diesem Meere von Wundern. Vielleicht reicht es aber aus, Dich zu befähigen, wenigstens anzuregen, selbst Mehr zu finden. „Suchet, so werdet ihr finden“ ist auch hier ein Aufruf, der den ihm Folgenden reichlich mit erhebenden Freuden belohnt.