Textdaten
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Autor: Franz Wilhelm Ziegler
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Titel: Der Bettler vom Capitol
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27–28, S. 417–420; 433–438
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[417]
Der Bettler vom Capitol.
Eine Erzählung von Franz W. Ziegler,
Verfasser des „Nondum“.


„Ein abscheuliches schmutziges Nest, dies Rom,“ sagte zu mir ein deutscher Kaufmann, mit dem ich mich durch die Bevölkerung arbeitete, die, einer feierlichen Ausfahrt des Papstes wegen, die Straßen füllte. „Und diese Menge von Bettlern,“ fuhr mein Begleiter fort, „ich verstehe es nicht, daß Sie aus Ihrem früheren Amte her nicht eine Wuth auf dies Gesindel haben und nicht eine stete Lust empfinden, es in eine Zwangsarbeitsanstalt zu stecken.“

„Anders lesen Knaben den Terenz, anders Hugo Grotius,“ dachte ich und schwamm, während mein wackerer Landsmann von mir getrennt wurde, gelassen in den Wogen der buntesten Menge weiter, bis ich jenseits der Tiber eine Höhe erreichte, von der ich die ewige Stadt zu meinen Füßen übersehen und mich ungestört den Gedanken überlassen konnte, die ein Rückblick auf Jahrtausende an dieser Stätte in ungeheurer Fülle hervorruft. Wer nicht Rom von Jugend auf im Herzen getragen, seine Riesengeschichte nicht auf sich wirken lassen, wer nicht mit seiner ganzen Bildung in dieser Stadt wurzelt, von deren Hügeln ein gewählter Herrscher zum zweiten Male seinen Blick über mehr als zweihundert Millionen Menschen gebietend schweifen läßt, der kann nicht anders empfinden, als mein guter Kaufmann.

Der enge Gesichtskreis, den ihm eine auf das Nächste, auf das, was zum Erwerbe erreichbar ist, gerichtete Bildung, den ihm der moderne Polizeistaat mit allen seinen Bedürfnissen und Anstalten gelassen, hat ihm den Blick, den Sinn für das Allgemeine abgestumpft; er begreift darum auch nicht, wie eine Regierung das Nächste und Nothwendigste übersehen kann, weil er eben von den ungeheuren Interessen keine Ahnung hat, die weit über diese engen Mauern hinausliegen und ihre Ketten um den Erdball schlagen.

Was soll er dazu sagen, wenn die geistlichen Richter gegen einen Vermiether, der zwei Jahre lang keine Miethe bekommen, auf einjährige Nachsicht erkennen? Muß er nicht „Gewalt“ rufen, wenn einem Cafétier die Concession entzogen werden soll, weil er in seinem Local einen Zettel angeschlagen, wonach er erklärt in demselben keine Bettler dulden zu wollen, und weil er damit gegen die christliche Liebe gesündigt? Wie kann ein Regiment, das die christliche Tugend zum Ausgangspunkt nimmt, deren öffentliche Verleugnung dulden! Für die Millionen Scudi, die noch heute zu allen möglichen Fonds nach Rom fließen, Fonds, an denen sogar die hinzurichtenden Delinquenten Theil nehmen, welche ihre letzten Stunden in einer Stiftung und unter einer Brüderschaft zubringen, die sie als Familie auf dem letzten Gange begleitet, für diese Millionen, welche wesentlich ein Tribut sind, den die Gemüthswelt steuert, lassen sich nicht polizeiliche Anstalten in unserem Sinne gründen. Mit deren Errichtung würden auch jene Fonds versiechen. In dem „non possumus“ ist eine Wahrheit; dies reizende Stück Unordnung trägt seine Rechtfertigung in sich selbst, und dies Rom ist der einzige Fleck Erde, auf dem sich Ruhe finden läßt vor den Nöthigungen der Gegenwart, der einzige Ort, an dem sich alle Mühseligen und Beladenen zusammenfinden und, Rang, Ehrgeiz, Kampf und Streit hinter sich lassend, im unmittelbaren Anschauen der Vergänglichkeit aller Herrlichkeiten dieser Welt die Gebrechlichkeit unseres Daseins fühlend, sich als Mensch zu Menschen finden können.

„Das ist ein frecher Geselle,“ würde man in jeder nordischen Residenz ausrufen, wenn ein Bettler sich in einem Café pfennigweise einige Groschen zusammen bettelte und dann, mit bescheidener Würde eine Tasse fordernd, unmittelbar neben dem Mildthätigen seinen Trank schlürfte.

In Rom geschieht das alle Tage. In der alten Race seiner Bevölkerung sind körperlich sogar die Abstufungen mehr ausgeglichen; es giebt keinen wesentlichen Unterschied außer dem zufälligen des Vermögens, der hier nicht drückend ist, wo der Nachfolger Christi weilt, welcher den Reichen das Himmelreich so weit rückte, ja fast unmöglich machte. Man lernt hier Rückert’s Worte verstehen:

„Ich bettelte bei dem, der bettelt heut’,
Und unser Beider mag sich Gott erbarmen.“

Diese Andeutungen werden genügen, sind aber, wie ich glaube, nothwendig, um dem Leser etwas von der Stimmung zu geben, die an einer einfachen Geschichte Interesse und sogar Glauben an sie finden läßt, so unbedeutend auch in ihrer heutigen Stellung die Person ist, an der sich das Stück Leben abwickelte, und so dunkel und räthselhaft selbst diese Geschichte für uns Nordländer bleiben muß, die immer Gesetz und Recht, Polizei und Staatsanwaltschaft bei der Hand haben und sich darum von der Kritik und der Anzweiflung solcher Erlebnisse nicht lossagen können wenn auch jedes Jahr ein Kaspar Hauser erschiene und, aller geordneten Sicherheit zum Hohne, unter ihren Augen ermordet würde. –

Wer im Laufe des Jahres 1861 ein Café, das ich nicht näher bezeichnen will, in der Via Condotti in Rom besuchte, dem muß, so wenig er auch geneigt sein mag, unter der Menge von Bettlern in dieser Stadt dem einzelnen besondere Aufmerksamkeit [418] zu schenken, doch ein Bettler aufgefallen sein, der sich von allen übrigen sehr wesentlich unterschied.

Es trat in das Local ein Mann von bedeutender Gestalt, ziemlich sechs Fuß hoch, im gewöhnlichen Civilanzuge, einem braunen nicht unmodernen Ueberrock, der, fadenscheinig, aber rein gebürstet, einen schlanken Körper umschloß, dessen Ebenmaß der Glieder eine graziös-natürlich vornehme Bewegung gestattete. Auf diesem Körper saß mit dem glücklichsten Ansatz des Nackens ein edler Kopf, der unter hoher Stirn und dichtem, kurz gehaltenem und etwas grauem Haar ein feingeschnittenes Gesicht zeigte, das mit der Adlernase dem Mann etwas Gebietendes verlieh, das aber jeden Augenblick durch die großen sanften blauen Augen, welche mächtig schwarze Augenbrauen überschatteten, den Ausdruck reizender Bescheidenheit annahm.

Zu meinem Erstaunen war der Mann ein Bettler, der seine Runde abwärts von mir machte, so daß ich, bevor er zu mir gelangte, Zeit behielt, ihn zu beobachten. Wenn er abgewiesen wurde, ging er mit einem unnachahmlichen Schulterzucken weiter, in dem beinahe das Mitleiden sich ausdrückte, mit dem der Franzose von einem Knauser und gemeinen Menschen sagt: „pauvre homme!“

Als er zu mir kam, reichte ich ihm, ehe er noch Zeit gehabt sein Gesuch anzubringen, etwas hier Unerhörtes, nämlich eine Silbermünze, einen französischen Franc, weil ich mir einbildete, daß der Mann, in augenblicklicher Verlegenheit befindlich, sich nur für das eine Mal auf Betteln eingelassen habe. Kaum hatte er das Stück Geld in seine schmale durchaus reine und feine Hand genommen, als er einen schnellen Blick darüber warf, mich einen Moment mit weit geöffneten Augen ansah und dann, in den freundlichsten Ausdruck übergehend, sein: „Grazie, grazie, Signore!“ vorbrachte.

Als er am folgenden Tage wieder das Local betrat, wußte er es so zu machen, daß er mich überging. Es lag darin ein Zug von Bescheidenheit, jedenfalls von Rücksicht auf seine Tributpflichtigen. Er nahm das Geld nicht, wo er es fand, er übte eine Art Staatsraison.

Diese behielt er noch mehrere Tage bei, bis ich ihm nachging und meine Steuer auf die Straße nachtrug. Ich habe aus Niemandes Munde das Italienische so schön klingen hören, und die unverkennbare Bildung des Mannes flößte mir so viel Interesse für ihn ein, daß ich ihn nach seinen früheren Verhältnissen fragte. Mit trauriger Miene antwortete er mir, er sei ein alter heruntergekommener Kaufmann, der aus Mangel an Fonds nichts Neues beginnen könne.

Da ich meinen Beitrag auf ein bescheidenes Maß zurückgeführt hatte, so wurde ich von ihm in den folgenden Tagen wieder unter die Steuerzahler aufgenommen.

So verlief vielleicht eine Woche, als ich von dem Wirthe, zu dem ich des heruntergekommenen Kaufmanns beiläufig erwähnte, erfuhr, daß der Bettler in seinem Leben nicht Kaufmann gewesen sei. „Ich wollte,“ fuhr er fort, „ich könnte den Menschen verweisen, der, ein geborener Graf, sich von Grafen und Principes nicht ernähren lassen will, sondern es vorzieht zu betteln und armen Leuten die Almosen zu entziehen, die diesen statt ihm zufließen würden.“

„Ein Graf?“ erwiderte ich. „Es mag sein, daß er sein Unglück verschuldet hat; aber jedenfalls ist er unglücklich und hat also Anspruch auf die Hülfe seiner Nebenmenschen.“

„Er hat ja Nebenmenschen, Grafen und Principes genug, an die er sich wenden kann, statt das Publicum zu belästigen,“ fiel der Wirth ein. „Diese vornehmen Herren, weil sie, wie man sagt, mit ihm verwandt sind, haben ihm vielfach angeboten, ihm mehr als hinreichenden Unterhalt zu gewähren und ihm dazu eine bestimmte Pension auszusetzen, wenn er das Betteln lassen wolle. Aber der Mensch bettelt aus Leidenschaft; er hat Alles ausgeschlagen und bettelt weiter. Ja, er ist so frech gewesen, mir einmal, als ich ihm Vorwürfe machte, zu sagen: ,Wenn ich einen Schatz fände, ich würde ihn den Armen geben und mich durch Betteln ernähren. Ich will arm sein, um das Himmelreich zu gewinnen, ich muß betteln, es ist das für mich eine religiöse Sache.‘ Dazu, Signore, durfte ich denn freilich nichts sagen; laufen doch auch Bettelmönche umher, die arbeiten könnten. Man muß das Alles ansehen. ,No possumus,‘ Signore, Sie verstehen mich schon; ma viva Garibaldi e Vittorio Emamuele!“ setzte er leise hinzu.

Von mehreren anderen Personen in Rom, theils geborenen Römern, theils Deutschen, die den größten Theil ihres Lebens in Rom zugebracht, wurde mir die Mittheilung des Wirthes bestätigt, und Alle waren betroffen über das Erstaunen, mit dem ich die Sache aufnahm. Sie kannten Alle den für mich räthselhaften Mann unter dem Namen: „Der Bettler vom Capitol“, weil er angeblich in einer der Hütten wohnte, die am Fuße desselben unmittelbar unter dem Tarpejischen Felsen errichtet sind, oder in einem der Häuser ein Unterkommen hatte, die auf dem Hügel selbst vor dem evangelischen Stifte liegen.

Die Gleichgültigkeit, mit der Alle diese wunderbare Leidenschaft für das Betteln in einem Manne aus den höchsten Ständen aufnahmen, bewies mir, daß man in Rom, dessen ganze heutige Existenz ja ein Wunder genannt werden kann, über nichts betroffen ist, und es bewies ferner, daß sich die meisten Menschen nicht die geringste Mühe geben, psychologische Probleme zu enträthseln.

Ich konnte begreifen, daß ein Mensch, träge und arbeitsscheu, die Schmach des Almosenforderns dem mühevollen Schaffen vorziehe, aber daß ein Mann, der auf Grund einer Pension seiner Sucht sich umher zu treiben und zu faulenzen erst recht genügen kann, diese Pension verwerfe, lediglich um zu betteln und, wie dieser, sich durch das schlechteste Wetter hindurchzuarbeiten, um, wie ich gesehen, von Nässe triefend einige Bajecchi zu erjagen und, oft zurückgewiesen, zuweilen sogar hart angelassen, auf diese Art die geringste, knappste Nothdurft des Lebens zu gewinnen: das Alles war ganz widersinnig, war unmöglich.

Bei aller Anstrengung meiner Phantasie war ich nicht im Stande, diese Leidenschaft, wie der Wirth und meine Bekannten es nannten, zu enträthseln. „Sollte es wirklich eine Manie zum Betteln geben?“ dachte ich, „eine Manie, die nicht einmal die religiöse Schwärmerei für sich haben kann, da ja der Mann in einen Bettelorden treten könnte?“

Mich interessirte die Sache täglich mehr, und ich nestelte mich nunmehr meinerseits an den Bettler mit einer Zähigkeit und Leidenschaft, die nur die Wissenschaft und die Liebe zu ihr verleihen können.

Endlich hatte ich den Mann soweit, daß er mir zusagte, ein Abendessen von mir anzunehmen. Er wußte, da er mich dort oft hatte heraustreten sehen, daß ich bei Spillmann, den frères provençaux Roms, zu Mittag aß, und leitete mich gleich auf den richtigen Standpunkt, indem er äußerte, „die Sache sei schwierig, da diesmal der Gast dem Wirth vorschreiben müsse, wo er essen solle, „denn,“ fügte er mit einem Blicke auf seine ganze Person hinzu, „ich würde nicht überall hin folgen können, das würde inconveniente sein.“

Ich beruhigte ihn, indem ich ihm sagte, ich würde mich ihm gern überlassen, ich sei nicht verwöhnt, er möge nur etwas bestellen, so gut es eben zu haben sei; ich würde ihm morgen Abend, wenn er im Café erschiene, auf die Straße nachfolgen und mit ihm gehen.

Wir trafen uns der Verabredung gemäß und gingen in das Häusergewühl, das hinter dem Palazzo di Venezia bis zum Capitol in unentwirrbarem Knäuel von Gassen und Gäßchen ausgebreitet liegt und in den einzelnen Häusern die engen Dimensionen wiedergiebt, mit denen sich die alten Römer hinsichts ihrer Wohnungen begnügten. Das Haus, das wir betraten, war im Eingange so schmutzig, daß ich auf dem hereingeschleppten Unrath des Estrichs mehrere Male ausglitt; endlich aber mündete der Gang oder Flur in ein ziemlich freundliches und reinliches Zimmer, in welchem ein Tisch mit zwei Couverts anständig gedeckt war. „Wir werden hier gut und billig essen,“ sagte empfehlend mein Führer, „und jedenfalls ist der Orvieto vortrefflich.“ Ich wußte, daß Römer der höheren Stände nichts lieber trinken als echten Bordeaux und ihm gegenüber den Champagner weit zurücksetzen. Da mir der römische Wein, der nur heurig getrunken wird, ohnehin schlecht bekam, hatte ich eine Weinhandlung ausgemittelt, die ausgezeichnete Medocs führte, und schickte sofort dahin, um einige Flaschen zu holen.

Es verstand sich von selbst, daß der Bettler mit Anstand aß, noch mehr aber zeigte sich die Bekanntschaft mit den feineren Produkten, wodurch wir das Leben verschönern, als er das Glas zur Lippe führte. Weder hastig, wie der Gierige nach langer Entbehrung, noch mit dem unanständigen Schlürfen sogenannter Kenner, [419] die ihre Schule bei reisenden Weinhändlern oder in Hôtels gemacht haben, sondern mit der Leichtigkeit, mit welcher der vornehme Mann das Würdige, und umgekehrt mit der Würdigkeit, mit der er das Leichte bestellt, genoß er, je nachdem das Essen und das Gespräch Gelegenheit boten, den edlen Wein ohne besondere Zurüstung, aber auch ohne stumpfe Gleichgültigkeit. Ebensowenig imponirte ihm die Cigarre, die ich ihm nach dem Essen reichte. Er wandte sich nach den ersten Zügen nur in sehr freundlichem Ton zu mir, neigte etwas den schönen Kopf wie zum dankbaren Compliment und sagte: Ah, Signore, una habanna!

Es machte mir besondere Freude, zu sehen, wie dem Manne von Minute zu Minute wohler wurde. Es war herausgekommen, daß er vom 14. bis zum 17. Jahre in Paris studirt hatte und daß er ein Französisch ohne allen Accent sprach, den ein Italiener sonst so schwer ablegt. Ich brachte das Gespräch auf sein Grafenthum, das er lächelnd kurz mit den Worten ablehnte: „una favola!“ und war durch den Anstand, den der Mann in Allem, im Sitzen und Gehen, in jeder Handbewegung, in jeder feinen Aufmerksamkeit und in seiner Mäßigkeit an den Tag legte, einigermaßen in Verlegenheit, wie ich ihm näher kommen und zu der Erklärung der Leidenschaft des Bettelns gelangen sollte. Außerdem merkte ich auch, daß er hinter meinem Betragen gegen ihn irgend eine Absicht suche, und es war gar nicht zu verkennen, daß er sofort auf die richtige Spur gelangt war, weil er das Gespräch, anknüpfend an die Eigenthümlichkeiten der Römer, auf Psychologie brachte und dann schnell fragte, ob ich Schriftsteller sei.

Als ich dies verneinte, ließ sich erkennen, daß ihm freier zu Muthe wurde. Ein ferneres Mißtrauen, das erst zu heben war und dessen Grund ich in der Politik erkannte, die damals in Rom zu großer Vorsicht aufforderte, war bald beseitigt. Es blieb nicht bei diesem ersten Rendezvous, bei dem ich nichts erreichte, es interessirte mich aber auf’s Neue für den Alten ein schöner Zug. Er hatte mich von seiner Kundschaft gestrichen, er bettelte mich weder an, noch nahm er auf der Straße etwas von mir. Es war klar, er würdigte mich seiner Freundschaft, und indem ich dem Leser die Mühe erspare, alle die diplomatischen Kunststücke auch nur zu lesen, die ich anwenden mußte, um zum Ziele zu kommen, lasse ich nunmehr den Alten genau in seiner Weise erzählen, vermöge deren er in seiner Lebhaftigkeit und unter dem Drucke der aufregenden Erinnerungen nicht dazu gelangen konnte, hintereinander fort zu referiren, vielmehr durch Fragen einleitete, auch dazu Veranlassung gab, durch Fragen der Sache mehr auf den Grund zu kommen, und so den Zuhörer in das Interesse für sein Schicksal hineinzog.

„Kennen Sie Sicilien?“ begann er.

„Ja wohl,“ erwiderte ich, „ich habe es vor ungefähr drei Wochen verlassen.“

„O, Sie kennen sie, diese herrliche Insel?“ rief er, „diesen Juwel in der blauen Fassung des Meeres. Keine Küste empfängt den von Neapel nach Messina steuernden Fremden so imposant, wie die sicilische. Eine Reihe grünbekränzter Berge hält Wacht gegen die andrängenden Fluthen des Nordens, und hinter ihnen, wie der Feldherr hoch hinausragend, überherrscht sie alle der gewaltige Aetna, das weiße, aber glühende Haupt in den Wolken kühlend, Brust und Leib in grünen Sammt gekleidet, während von den Schultern der mächtige weiße Seidenmantel nach Süden hinabrollt, jene Weizenebene, die bis Catanea und Syracus und bis an die Höhen des Hybla ihre schimmernden Falten in Höhen und Thälern zurechtlegt und zuletzt in dem schönsten Besatz einer leuchtend grünen Waldkante abschließt.“

Er sah mich mit strahlendem Gesicht an und schwieg ein Weilchen. „Jeder,“ unterbrach ich ihn, „liebt sein Vaterland und weiß seine Schönheiten zu preisen. Aber Sie haben Recht, es ist dort ein seliges Stück dieser Schöpfung ausgebreitet, und ich habe dicht unter dem Aetna in Taormina, in Catanea und Syracus empfunden, weshalb die Alten hierher den Mythus der Ceres verlegten, und weshalb,“ fügte ich hinzu, „wie im Busen des Landes die ewigen Donner tosen, sein reicher Segen es vor Eroberern aus allen Welttheilen nicht zur Ruhe kommen ließ.“

„Sie erleichtern mir meine Mittheilungen,“ fuhr er fort, „da Sie die Gegenden kennen, in denen meine Geschichte zumeist abspielt. Und noch eine Frage: Haben Sie die Aetna-Mädchen gesehen, die Töchter der eisenfesten Bauern, die das höchste Culturland bebauen?“

„Gewiß,“ erwiderte ich, „und wenn etwa ein Mädchen dieses Schlages in Ihrer Geschichte eine Rolle spielt, so sind Sie schon von vornherein für manche Verirrung entschuldigt, in die Sie verfallen sein könnten. Ich will,“ setzte ich hinzu, „zugeben, daß der schöne, stolze Kopf dieser Frauen sich auch anderer Orten, z. B. hier in Rom, wiederfinden läßt, nicht aber der Körper. Mir ist nichts so sehr aufgefallen, als daß eine solche Gestalt auf den ersten Blick nicht größer und gewaltiger aussieht, als die anderer Frauen, daß aber, je länger man sie betrachtet, die Ausgiebigkeit der Formen in immer süßeren und mächtigeren Linien hervortritt. Es ist vielleicht das Ebenmaß, das keinen Körpertheil zu auffallend hervortreten läßt, ein Umstand, der unter unseren deutschen Frauen viel Ueppigkeit, aber selten Schönheit gestattet, jenes Ebenmaß, vermöge dessen wir uns erst in die Größe und Mächtigkeit der Peterskirche hineinsehen müssen, das jene Erscheinung erklärt. Mir ist, wenn ich eine dieser Frauen sah, immer die Venus von Milo eingefallen, zu der eine Aetna-Frau Modell gewesen sein muß.“

„Herrlich, herrlich!“ rief der Alte, nahm sein Glas und dankte mit glühenden Augen, als ich mit ihm anstieß auf Sicilien und seine Bewohner.

„In einem Orte,“ fuhr er fort, „der ungefähr im Dreieck mit Catanea und Syracus liegt, in jener Weizenebene, bin ich geboren und stamme aus einer gräflichen Familie, die ihren Stammbaum von den Normannen ableitet. Mein Vater, der völlig in den Ideen aufgewachsen war, die 1789 in Frankreich in die Wirklichkeit traten, lächelte stets sowohl über den Conte, als über die Normannenabstammung, während die Mutter, völlig Sicilianerin in ihrer Bildung oder vielmehr Nichtbildung der damaligen Zeit, um so mehr Gewicht darauf legte. Ich verlor sie bald, und als ich mit meinem vollendeten 17. Jahre aus Paris zurückkehrte, hatte ich den Vater in seinen Anschauungen fast überholt, so daß ich, als er bald darauf starb, unter den Männern meines Standes ziemlich vereinsamt dastand und mit ihnen sehr wenig innere Anknüpfungspunkte hatte. Denn sie waren damals noch stark Blutsaristokraten und hatten auch Aufforderung dazu, weil ihnen dadurch die reichen Pfründen des Landes, wie die des Klosters in Catanea, zu Gebote standen, das noch heute nur sicilische Edelleute aufnimmt, welche von bürgerlichen Klosterbrüdern bedient werden. Ich widmete mich in dieser Lage mit Vorliebe der Pflege meiner Besitzungen und sammelte dadurch und durch Studien der politischen Oekonomie Kenntnisse, die mir vielleicht von großem Nutzen gewesen sein würden, wenn mein Geschick es nicht anders gewollt hätte.

Ich lernte nämlich, kurz nach erlangter Großjährigkeit, auf einem Ausfluge zu den Höhen des Aetna ein Mädchen kennen, die ihren um Vieles älteren Bruder, einen Geistlichen, zu einem Kranken geleitete. Es war in einem jener lieblichen, bewaldeten Einschnitte, in denen für Sicilien ein köstlicher Schatz, eine Quelle entspringt, die bei uns, wie Sie wissen, nach Pennen vertheilt wird und dem Besitzer des Grund und Bodens gehört, der davon seinen Gewinn zieht.

Das Mädchen, damals vierzehn Jahre alt, war zur Quelle hinabgestiegen und brachte dem Bruder, zu dem ich mich eben gesellte, die gefüllte Schale, die dieser mit sicilianischer Höflichkeit mir anbot. Das Kind erinnerte an die kredenzende Hebe. Leicht wie eine Gazelle, stieg sie wieder hinab und kam herauf, sichtbar erfreut, sich nützlich und dienstbar erweisen zu können. Zu meinem Erstaunen sprach sie nicht das sicilianische Patois, sondern ein gutes, wenn auch noch etwas accentuirtes Italienisch, und zeigte auch im Aeußeren etwas Zarteres und Feineres, als Mädchen ihres Standes, obgleich ihr Anzug, wenn auch äußerst rein und von besserem Stoff, doch im Ganzen über die kleidsame Tracht der jungen Bauermädchen nicht hinausging. Ich erfuhr bald von dem geistlichen Herrn, während das Kind ab und zu ging, daß es eine vater- und mutterlose Waise sei, daß zwei andere Brüder als Bauern ihr geringes Erbe mit verwalteten und daß er es erzogen und unterrichtet habe.

‚Ich denke‘ sagte er, ,das bischen Wissen soll dem Mädchen nicht schaden, denn,‘ setzte er lächelnd hinzu, ,es geht nicht so weit, daß es sich als Frau eines Landmannes in ihrem Stande unglücklich fühlen würde.‘

Ich begleitete meine neue Bekanntschaft auf ihrem Wege. Bei uns Südländern ist Blick, Begierde und Besitz ein Moment. Nicht mit Unrecht stellen deshalb unsere Voreltern, die Griechen, [420] die Liebe als einen furor insanis, eine Wuth, eine Krankheit dar, wie eine Art Strafe der Venus, die, wie die Phädra klagt, ‚das innerste Mark ergreifend‘, ihre Verwüstungen anrichtet. Italiener in meinem ganzen Sein und Empfinden, hatte ich keine Ruhe, bis ich nach wenigen Monaten schon mit Nazarena, so hieß meine Geliebte, den kirchlichen Segen als Gatte erhielt.

Die Brüder, freie, aber arme Bauern, die nur einem Kloster einen mäßigen Zins entrichteten, waren mit der Partie nicht einverstanden, schmollten deshalb mit ihrem älteren Bruder, dem Geistlichen, und stellten sich erst zufrieden, als sie sich überzeugt hatten, daß ich nicht, wie der gesammte sicilische Adel, meine Aecker verpachtet hatte, sondern einen guten Theil derselben selbst bewirthschaftete, also gewissermaßen zu ihrem Stande gehörte.

Noch heute bebt jeder Nerv in mir, wenn ich an jene seligen ersten Monate meiner Ehe zurückdenke. Ich unterrichtete meine Nazarena. Frauen lernen zumeist mit dem Herzen. Sie haben Alles durch die Liebe, und ich war erstaunt, wie meine Gattin dasjenige, was ich ihr aus unsern Dichtern vorlas, schon in sich trug und ein Verständniß dafür gar nicht erst zu erschließen war. Das Kind wuchs in meinen Händen geistig und körperlich zu einer freien, edlen, hohen Gestalt empor; wie vom Kusse des Frühlings die Erde befruchtet schwillt und sprießt, so drängte sich in ihr geistige Blüthe auf Blüthe, körperlicher Reiz auf Reiz üppig hervor zu blendender und doch erwärmender Gluth und Pracht. Der Böse versucht uns gebrechliche Menschen in vielen Gestalten und auf mannigfachen Wegen, aber in keiner Weise leichter und gefährlicher, als durch die Eitelkeit. Es ließ mir keine Ruhe, ich mußte meinen Reichthum der Welt zeigen. Ich gab meine Güter in Pacht und verließ mit Nazarena die Insel, durchreiste mit ihr alle Residenzen Italiens, sog mit Entzücken die Huldigungen ein, die man ihr darbrachte, schwelgte in dem Neide derer, die sie bewunderten, setzte schließlich Paris in Aufruhr und verließ es erst, als ich zum ersten Male vernahm, daß ich nicht aus meiner Persönlichkeit heraus, sondern als Mann der schönen Frau bezeichnet wurde. Es war eine deutsche Baronin, die mich darüber in’s Klare brachte, eine Wienerin, die durch ihren Gatten der kaiserlichen Gesandtschaft angehörte. Sie war in Allem ein Seitenstück zu Nazarena, wenn man den Norden neben dem Süden darstellen will. Groß, schlank, blendend weiß, blond sah sie aus veilchenblauen Augen bald schmachtend, bald feurig, bald himmlisch unschuldig, bald so klug, daß ihr Blick bis in die Tiefen des Herzens ging. Es war die klügste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist, und, fußend auf mein entzündliches Herz und die Vorliebe, die wir Südländer, schon des Gegensatzes wegen, für die Blondinen und das Schmachtende ihres ganzen Wesens haben, hinter dem sich freilich die heißeste Gluth verbirgt, schien sie es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, die grandiose Sicilianerin vor den Augen aller Welt in ihrem heiligsten Besitzthum auszustechen und den Streit, der sich über die Vorzüge der beiden schönen Frauen in der Gesellschaft entsponnen hatte, praktisch zu lösen.

Glücklicher Weise, kann ich sagen, starb ihr Mann, und sie verließ Paris, um nach Wien zurückzukehren, als sie ihres Sieges schon halb sicher war. Die harmlose Nazarena hatte in ihrer Munterkeit und Reinheit keine Ahnungen von den inneren Schwankungen ihres Gatten, ja sie, der es gar nicht einfiel, geistig mit der hochgebildeten Baronin zu rivalisiren, freute sich unserer Unterhaltungen und ermunterte noch dazu, stolz auf ihren Mann und die Gewandtheit, die er entwickelte.

Mit der Abreise der Baronin trat meine Gattin immer mehr in den Vordergrund, und damit auch immer deutlicher der Umstand hervor, auf den jene mich aufmerksam gemacht hatte; ich war der Mann der schönen Gräfin so lange, bis ich eines Tages mit ihr nach einem der berühmtesten deutschen Bäder aufbrach und, wieder zu mir gekommen, ernstlich beschloß, ganz meiner Gattin zu leben.

Da faßte mich ein anderer Dämon: das Spiel.“

Das Gesicht des Mannes veränderte sich, ein Zug der Selbstverachtung flog darüber hin. „Lassen Sie mich kurz sein,“ fuhr er fort. „O Gott! wenn in dies kranke, gequälte Gehirn,“ rief er aus, „die Erinnerung daran zurückkehrt, wie ich Tausende auf Tausende verlor, wie ich spät Nachts, die bittersten Vorwürfe im Herzen, zur Frau zurückkehrte, wie sie dann wie ein Kind mich empfing, immer freudig, immer freundlich, wie sie sogar, als gälte es, mir eine herzliche Freude machen, alle Juwelen, die ich ihr geschenkt, hergab, um sie zu verkaufen und – o Gott! – zu verspielen.“

Der alte Herr litt sichtbar. Ich faßte seine Hand und sagte ihm einige beruhigende, aus seiner damaligen Jugend und Unerfahrenheit hergenommene entschuldigende Worte. Aber er zog seine Hand aus der meinigen, als wäre er der Berührung nicht werth, und rief schmerzlich: „Wenn ich jetzt auf meinem harten Lager zuweilen in heißem Gebet auf einen Augenblick Vergebung zu finden hoffe, dann tritt mir dies freundliche, liebevolle Gesicht mit den Juwelen entgegen, und ich bin vernichtet!“

„Ich hatte,“ fuhr er nach einer Pause fort, „meine Besitzungen verkaufen lassen müssen und noch so viel gerettet, daß ich einige Jahre bescheiden leben und vielleicht im Staatsdienst Anstellung und Unterhalt finden konnte. In höchster Verzweiflung entdeckte ich dies Alles meiner Frau. Da brach sie in lauten Jubel aus: ,Wir gehen also wieder nach Sicilien, in mein Vaterland, es wird sich doch eine Hütte für uns erwerben lassen; ich arbeite für Dich,‘ rief sie freudestrahlend, und indem sie mich halb verschämt mit dem schönsten Geständniß überraschte und mir in die Arme fiel, ,ich arbeite für ein Drittes! “

„Gott sei Dank!“ rief ich aus beklommener Brust, „Sie sind gerettet!“

„Auch ich glaubte es damals,“ fuhr er fort. „Mir lebte ein weitläufiger, aber wohlwollender Verwandter in einer der kleinen deutschen Residenzen als Gesandter. Er war der Mann, mich zu den diplomatischen Studien, von denen ich eine Zukunft erwartete, anzuleiten. Ich zog zu ihm und begann nach seinem Rathe in stiller Eingezogenheit die Lücken meines Wissens auszufüllen. Unglücklicher Weise wurde er schon nach wenigen Monaten zurückberufen, und nun nahm sich meiner vorzugsweise ein sehr unterrichteter Mann, ein französischer Gesandtsschaftssecretair, an, dem aus natürlicher Dankbarkeit auch meine Frau mit mehr Vertrauen als anderen Männern begegnete. Leider hatte das herrliche Kind eine große Freude an Überraschungen, und da in dem jungen Mann ein vortrefflicher Zeichner von uns erkannt war und sie bemerkt hatte, daß ich an seinen Zeichnungen großes Gefallen fand, war es ihr, wie ich dies gleich sagen will, obgleich ich erst nach Jahren darüber in’s Klare gelangte, in den Sinn gekommen, sich von ihm heimlich unterrichten zu lassen und mich dann mit ihren Werken, sobald sie nur einige Vollendung erlangt hätten, zu überraschen. [433] Nach einer kurzen Pause fuhr der Bettler in seiner Erzählung fort: „Ich hatte die italienische Gewohnheit behalten, nach dem Essen meinen Kaffee in einem Kaffeehause oder öffentlichen Garten zu nehmen, dort die Zeitungen zu lesen oder literarisch und politisch zu verkehren, und diese Stunden benutzte meine Frau zum Unterricht. Zum diplomatischen Corps gehörte auch ein Russe, der eben so häßlich als verliebt, eben so boshaft als feig war. Dem Franzosen war er schon lange feindlich gesinnt, und in seiner tückischen Manier gründete er seine Rechnung auf meinen sicilianischen Charakter, auf die sprüchwörtliche Eifersucht meines Volkes und, was gewissermaßen eine Religionsforderung in solchen Fällen ist, auf einen raschen Dolchstoß, der ihn ohne Gefahr, in aller Unschuld von seinem verhaßten Feinde befreien konnte.

Der Franzose, wie ich nunmehr weiß, war eine durchaus harmlose Natur, der als verlobter Bräutigam mit idealer Treue an seiner Braut hing, der aber, Jedermann gern gefällig, so unangenehm ihm auch die Forderung meiner Gattin durch die Heimlichkeit der Ausführung war, zum Unglück der schönen Frau nichts abschlagen konnte, mit französischer Liebenswürdigkeit und dem Leichtsinn seines Volkes auf die Sache einging und sich auf den guten Ausgang des Unternehmens im Voraus freute.

Der Russe hatte es vortrefflich verstanden, mich nach und nach von fernher aufmerksam zu machen. Immer entschuldigend, wußte er mich mit Nadelstichen zu reizen, und da meine Frau ein paar Mal rasch Papiere versteckt hatte, wenn ich unvermuthet in ihr Zimmer trat, war mein Gemüth den Insinuationen des Menschen so weit zugänglich, daß ich eines Tages meine Kaffeestunde unterbrach und auf Nebenwegen nach Hause eilte. Als ich mich durch die Gärten rasch näherte, bemerkte ich noch, daß eine Dienerin meiner Frau, die wir aus Italien mitgebracht, schnell und wie erschrocken von einem Fenster zurücktrat und in die inneren Zimmer eilte. Mein Verdacht ging nun zur Ueberzeugung über. In größter Hast erreiche ich das Haus, stürme die Hintertreppe hinauf und höre, als ich das leere Arbeitszimmer meiner Frau erreichte, die Vorderhausthür auf- und zugehen. Ich stürzte an’s Fenster und erkannte den Legationssecretair, der das Haus verließ und um die Ecke verschwand. Der nächste Gegenstand meiner Rache, die heiße Lust, sie sofort zu kühlen, ließen mich an gar nichts Anderes denken. In wenigen Sätzen war ich meinem Opfer nachgesprungen, aber als wäre es von der Erde verschlungen, war es verschwunden und auch nicht in seiner Behausung aufzufinden. Noch heute ist es mir unerklärlich, wie es zuging, daß ich mich indem allerdings kleinen Orte gegen Abend in freiem Felde wiederfand, daß ich erst dort an Nazarena selbst dachte und Rachegedanken in mir aufloderten.

Sie zur Rede zu stellen, das fiel mir nicht ein; ihre Schuld war für mich so klar, daß sie anzuhören mir gar nicht in den Sinn kam und ich sie unbedingt niedergestoßen haben würde, wenn mich nicht die Sucht den Franzosen zu opfern ganz und gar erfüllt hätte, so daß alle meine Sinne, zunächst von ihr abgelenkt, darauf gerichtet waren, ihn zu erreichen. Je mehr ich Nazarena geliebt, je höher stieg nun in mir die Wuth, ich sah sie im Geiste vor mir, die ich so rein und unschuldig in die Arme genommen, ha! und ich erblickte sie schon blutend zu meinen Füßen, ich raffte mich, als ich bald fluchend, bald lachend sie an meinem inneren Gesichte vorüberführte, zur That auf und sank wieder zurück, wenn das Bild vor mir auftauchte, wie sie mit ihrem freundlichen Gesicht mir die Juwelen reichte.

Durch das Spiel, durch die Sorge um meine künftige Existenz durch die anhaltenden Studien der letzten Zeit mußten meine Nerven gelitten haben; ich war wie vernichtet, brach, als ich eine kurze Strecke gegangen, wieder zusammen und war weinend auf einen Grabenrand niedergesunken, als eine Chaise leer vorüberfuhr und der Kutscher mich fragte, ob mir etwas fehle und ob ich nicht aufsitzen wolle. Wohin? Der Kutscher nannte eine naheliegende große Handelsstadt. In Gottes Namen, rief ich, saß auf und langte Abends an. Die Nacht hindurch schüttelte mich ein Fieber, und ich wäre vielleicht in eine längere Krankheit verfallen, wenn nicht am Morgen ein herbeigeeilter Arzt mir zur Ader gelassen hätte. Meine ganze Habe trug ich schon seit längerer Zeit in Wechseln bei mir und wollte eben einen derselben realisiren, als ich auf dem Posthofe einen alten Bekannten, einen Attaché vor der spanischen Gesandtschaft in Paris, traf, mit dem ich dort studirt hatte. Er sagte mir, daß er als Courier nach Wien gehe, und setzte scherzend hinzu: ‚Wenn Sie den leeren Platz neben mir benutzen wollen, sind Sie in wenig Tagen in Wien.‘ Gott weiß, wie es zuging, daß ich den Vorschlag annahm.“ Er schwieg ein Weilchen.

„Mein Lieber,“ unterbrach ich ihn, „Sie sind, wie ich glaube, bisher wahr gewesen. Sie gestehen mit Schmerz, aber Offenheit Ihr Spiel und die davon untrennbare Zerrüttung ein, ich kann mir auch denken, daß Sie in blinder Leidenschaft die junge Frau [434] für schuldig hielten, daß Ihre Energie durch die ungeheure Schwere des Unglücks, das Sie vermeintlich betroffen, so weit gebrochen war, daß Sie nichts mehr hören und sehen wollten und nun in jene schlaffe Passivität verfielen, welche Menschen, Alles hinter sich zurücklassend, wie ein Bankerottirer, in die Welt hineineilen läßt, ohne Plan und Ziel; aber bekennen Sie, daß in Ihren Worten: ,ich weiß nicht, wie es zuging, daß ich den Vorschlag annahm,‘ in sofern eine Ungenauigkeit liegt, als Sie sich nicht eingestehen wollen, daß die Baronin in Wien einen Antheil an Ihrem Entschlusse hatte, daß Sie, nachdem alle Stützen Ihres Daseins gebrochen, in ihr eine geistige Anlehnung suchten. Ich begreife, wie schwer dem Katholiken die Ohrenbeichte werden muß, aber, so sehr ich auch dagegen eingenommen bin, so erkenne ich doch heute und in diesem Augenblick, daß etwas Gutes an der Sache ist, nämlich die Nothwendigkeit, gründlich mit sich abzurechnen und volle Wahrheit zu sprechen.“

„Es ist nicht zu leugnen,“ erwiderte er nach einigem Schweigen, „daß die Baronin an meinem raschen Entschluß Antheil hatte, aber ich kann nicht zugeben, daß dies, wie Sie blos andeuten, Liebe zu ihr war; es war ein schwankendes Gefühl, in welchem ich, wie Sie richtig meinen, vorweg die Wonne fühlte, mich ihr entdecken, bei ihr Theilnahme und Trost für meine Leiden finden zu können.

War ich doch schon glücklich, auf der Reise an der Seite meines alten Bekannten zu sitzen, wie uns überhaupt das Unglück mit unwiderstehlicher Gewalt auf Alles zurückführt, was an frühere, glücklichere Tage erinnert. Ich will auch zugeben, daß die Baronin, als ich mich ihr entdeckte, es als ein Glück pries, daß ich den Legationssecretair nicht erreicht, oder gar an meiner Frau einen Doppelmord begangen hätte; daß sie es war, die es mir als eine Fügung des Himmels deutete, daß ich in halbbewußtlosen Zustand verfallen, daß mich der Kutscher und ich den Courier getroffen; daß sie es war, die mir bewies, wie es ganz natürlich gewesen, daß ich meine Gattin nicht wieder gesehen, daß diese ja auch nichts anderes werth sei, als verlassen und hülflos zu bleiben, und daß gerade darin die einzige, intensive, nachhaltige Rache liege. So redete sie mich in die Ueberzeugung hinein, daß ich ganz wohl gethan, und wie der Mensch sehr gern geneigt ist, sich selbst zu belügen, fand ich mich jetzt noch lobenswerth, daß ich so menschlich gewesen, ja, ich glaubte, daß Alles, was ich ohne Nachdenken gethan, doch im Grunde in Folge der still in mir wirksam gewesenen Vernunft geschehen sei. Eine innere Untreue war also nicht vorgegangen, jedenfalls keine äußere, die sich von selbst ausschloß, da die Baronin sich mit Plänen der Wiederverheirathung trug, die über meine Person, mit der ja doch eine Verbindung jetzt rechtlich nicht möglich war, weit hinauslagen. Aber ich will zugeben, daß die Sünde der Schwankungen in Paris wie jede Schuld, fortwirkte und zum Unglück führte.“

„Nun lassen wir das,“ fiel ich ein, „wo blieb Ihre Gattin?“

„Das Schicksal wollte, daß damals mein König auf längere Zeit in Wien zum Besuch war. Ich wurde ihm vorgestellt, gefiel und bekam die Aussicht, in einer unserer Legationen eine Stellung zu erhalten. Ich ergriff diesen Gedanken, schon weil er mir die Möglichkeit eröffnete, außerhalb Italiens zu leben, mit Begierde, und so kam es, daß unter den äußerlichen Zerstreuungen und den Studien für meine künftige Carriere mich die Nachricht, die Ungetreue sei bald nach mir verschwunden, fast theilnahmlos ließ, und dies um so mehr, als mir bald darauf gemeldet wurde, daß wenige Tage nach ihrer Abreise auch der Legationssecretair, angeblich um nach Frankreich zurückzukehren, den Ort verlassen habe. Alles, was je Leichtsinniges und Frivoles über die Frauen geschrieben und gesagt worden, nahm mein kranker Geist wie einen kühlenden Heiltrank auf. Sie sind Alle gleich, dachte ich, und es bildete sich bei mir zur Gewißheit aus, daß die Buhlerin sich mit ihrem Geliebten in der Welt ebenso umhertreibe, wie dies damals nach der in den politischen Convulsionen erfolgten Vermögenszerrüttungen vieler Familien an so mannigfachen Beispielen und in nächster Nähe zu sehen war.

Indessen konnten diese Erlebnisse und Erschütterungen auf meinen Organismus nicht ohne Einwirkung bleiben, der, so kräftig auch an sich, doch unter der Herrschaft der größten Leidenschaftlichkeit stand. Ich verfiel in eine Krankheit, ich glaube ein Nervenfieber, das mich auf Monate niederwarf und in bewußtlosem Zustande niederhielt. Als ich mich in einer der vortrefflichen Heilanstalten Wiens wiederfand, war mir das Leben zur Last, und die Theilnahme und schonende Aufmerksamkeit, die mir nach den ersten Ausgängen von meinen Bekannten zu Theil wurden, trösteten mich nicht, verstimmten mich vielmehr, ja erfüllten mich mit Mißtrauen, weil ich mir einbildete, die Baronin habe etwas von meinem Unglück verrathen, oder dasselbe sei auf anderem Wege der Gesellschaft bekannt geworden. So viel ist gewiß, daß ich mich seitdem nie wieder zu der alten, frischen Energie habe erheben können. Ich war damals, wie überhaupt die Menschen gern Alles außen suchen, was in ihnen vorgeht, sehr geneigt, die Umwandlung in mir auf das deutsche Klima, auf den Umgang mit den Deutschen zurückzuführen; denn mir konnte nicht entgehen, daß ich seitdem eine elegische Stimmung beibehielt, die den activen Muth in mir vermindert, den passiven aber vielleicht erhöht hat; und so lebte ich meine Tage still für mich hin und war in dieser Monotonie des Daseins kaum gewahr geworden, daß darüber zwei Jahre verflossen waren.

Da erhielt ich einen Brief von dem Russen, durch Vermittlung der russischen Gesandtschaft. Er war mit schwacher Hand geschrieben und meldete mir, daß sein Verfasser im Duell einen Stich durch die Lunge bekommen, daß er nur noch wenige Tage zu leben habe und daß er sich gedrungen fühle, mir zu gestehen, daß meine Frau bei dem Legationssecretair Zeichen-Unterricht genommen, um mich zu überraschen; daß er sehr wohl gewußt, wie die Unglückliche völlig unschuldig sei, daß er aber der Lust nicht habe widerstehen können, mich dem Franzosen auf den Hals zu hetzen; daß er eigentlich weder mir, noch meiner Frau habe wehe thun wollen und aufrichtig seinen Fehler bereue. Er meldete mir zugleich, daß Nazarena Alles bis auf die nothdürftigste Kleidung verkauft, daß sie seine Börse, sowie die des Legationssecretairs ausgeschlagen, sich mit der größten Hoheit und Würde benommen und, so viel er habe erfahren können, mit ganz geringen Mitteln die Reise nach Italien angetreten habe. Schließlich bat er um Verzeihung, und ich gestehe, daß dieser Schurke mir so sehr Schurke schien, daß ich Anfangs glaubte, das Ganze sei eine Erfindung des Ungeheuers, um mich auf’s Neue auf die Folter zu spannen. Ich lief auf die französische Gesandtschaft und bat dort einen der höheren Beamten unter Vorgabe literarischer Zwecke, mir darüber Auskunft zu verschaffen, wo sich jetzt der Legationssecretair aufhielte.

,Das ist leicht,‘ antwortete mir der Herr, ,Sie fragen nach Niemand Anderem, als nach meinem Schwager, der vor zwei Jahren seinen Abschied genommen, weil er mit dem jetzigen Gouvernement unzufrieden ist, sich damals sofort verheirathet hat und seitdem als Privatmann und bereits glücklicher Familienvater auf seinen Gütern in der Picardie lebt.‘

Ich bedurfte aller Anstrengung, um mich auf den Beinen zu erhalten und die Straße zu gewinnen. In meiner Behausung ergriff mich ein unendlicher Schmerz, der sich glücklicherweise in dem lindernden Balsam löste, welchen die Natur dem Menschen als Gesellin mitgab. Alle Liebe, die ich je zu meiner Frau gefühlt, drängte sich in die leidenschaftlichste Sehnsucht nach ihr zusammen, und so rüstete ich mich in der größten Hast zur Abreise nach Sicilien; denn da allein, bei ihren Brüdern, konnte die Unglückliche Schutz und Beistand gesucht haben. Wie immer, überflügelte die Hoffnung, ein Kind unserer heißen Wünsche, alle Befürchtungen. Ich hatte ja den Brief des Russen in Händen, ich konnte mich ja entschuldigen bei den Brüdern, ich mußte ja bei meinem Weibe Verzeihung finden, bei ihr, die alle meine früheren Verirrungen so liebevoll mit ihrem Herzen gedeckt hatte; sie mußte ja mich, den Reuigen, aufnehmen, denn ich war ja selbst elend geworden, ich hatte ja selbst gelitten, wenn auch durch meine Schuld, so doch im Grunde ihretwillen. So geneigt ist der gebrechliche Mensch, sich selbst zu entschuldigen, und als ich nach wenigen Tagen abreiste, erbauten sich in mir Vorsätze und Pläne, ja schon eine ganze Zukunft auf dem schmalen Grunde der mir gebliebenen Mittel, die ich sparsam schonte und ängstlich zusammenhielt. Endlich betrat ich in Messina sicilischen Boden. Es war dies zu der Zeit, als die Reaction noch ihre Opfer aus der voraufgegangenen Revolution suchte, und da ein Namensvetter von mir zu den Compromittirten gehörte, ich überdies einige Aehnlichkeit mit ihm haben sollte, reichte dies hin, mich eine Woche dort aufzuhalten, indem man mir den Paß abnahm; indessen weil bei einer Sperrung aller Häfen eine Flucht nicht möglich war, man auch wohl halb und halb an der Identität mit dem Gesuchten zweifelte, gestattete man mir freie Bewegung im Orte.

[435] Ich glaubte bald zu bemerken, daß man mich beobachte. Denn als ich Abends auf der Palazzata mich erging, trat plötzlich, und bevor ich noch ihr Gesicht sehen konnte, eine männliche Gestalt in ländlicher Tracht vor mir wie betroffen zurück, schien dann aber, indem ich von ihr unter allerhand ersichtlichen Vorwänden umkreist wurde, mich im Auge zu behalten. Im Gefühl meiner politischen Unschuld kümmerte mich das wenig, und als ich derselben Gestalt wieder in der Dämmerung auf dem Monte dei Capuccini begegnete, versuchte ich gar nicht unter den breiten, tief in die Augen gedrückten Hut zu sehen, denn ich hoffte, da mich ganz andere Dinge beschäftigten, mit den Agenten der Polizei, welche diese aus allen Schichten der Gesellschaft geworben hatte, außer Berührung zu bleiben.

Am folgenden Tage meldete sich bei mir ein Vetturin, der von meinem Wirth gehört haben wollte, daß ich nach Taormina zu reisen beabsichtige. Er sei, sagte er, von dort, fahre leer zurück und stelle mir deshalb einen sehr billigen Preis, ja er erbot sich sogar, da gegenwärtig wenig gereist werde, mich für eine geringe Summe nach Catanea und selbst nach Syracus weiter zu befördern. Es war mir dies wie ein gutes Zeichen des Schicksals; ich willigte freudig ein, und da ich noch an demselben Abend meinen Paß erhielt, fuhr ich am andern Morgen ab.

Ich hatte schon alle Himmel im Herzen, denn ich näherte mich ja meinem geliebten Weibe; ich hoffte sie zu finden, ein Kind im Arm, ich lag in Gedanken zu ihren Füßen, es wogte in mir auf und ab von Schmerz und Wehmuth, von Liebe und Lust.

Jedem, der nach langer schmerzlicher Trennung in die Heimath zurückkehrt, mag sie lieblich entgegenlächeln, zumeist dann, wenn ihm dort eine Hoffnung, eine Lösung von Schmerzen dämmert. Ich kam aus dem Siechhause, ich kam aus dem Winter, dem Eise und Schnee Deutschlands, ich betrat mit dem Frühling den Boden des Vaterlandes, das selbst dem Festland Italien gegenüber leuchtet wie ein vollendetes gefirnißtes Landschaftsgemälde im Vergleich zu einem Werke, das dieses letzten Glanzes entbehrt.

Als ich hinauskam in die Landschaft, dahinfuhr bald durch die haushohen Cactushecken, bald durch das Grün der Orangenwälder und der ewig durstigen Limonengärten, und dann plötzlich der weiteste Blick sich eröffnete links über das blaue Meer, rechts über Weizenfluren, die sich in den reichsten Geländen emporwinden von Thal zu Berge, strotzend von Segen, bekränzt von tausendjährigen Oelbäumen, die regellos ihre knorrigen Zweige hinausstrecken in das Veilchenblau des Himmels und in ihrem überschleierten, matten Grün alles Scharfe und Harte der Farben vermitteln: da jubelte es in mir laut, es wurde gewiß in mir, ich mußte noch einmal glücklich werden.

Man verläßt, wie Sie wissen, kurz vor Taormina den Wagen, der mühsam sich den Fahrweg emporwindet, um von der andern Seite rascher zu dem Orte emporzusteigen, über dem sein berühmtes altes Theater thront. Zwischen zwei Felskuppen eingebaut, werden von der natürlichen Böschung die marmornen Sitze gedeckt, von denen unsere griechischen Voreltern die gewaltigen Tragödien hörten, welche jeden Augenblick die dunklen Mächte, das düstre Geschick vor uns aufrollen, während das Auge des Zuschauers über Land und Meer bis in die unendliche Ferne dahinschweift und dann wieder dicht vor sich, so nahe, als könne man ihn ergreifen, den Aetna erblickt, in dessen Brust die Donner rollen und hereinzubrechen drohen, vernichtend wie der Zorn der Götter.

Ich hatte den Riesen schon einigemal vom Wege erblickt und hatte dann aufgejauchzt vor Freude, denn er war ja der Schauplatz meiner ersten Liebe; meine ganze Seele bebte, und ich eilte nach Taormina empor, weil ich wußte, daß ich von dort die Region sehen und unterscheiden konnte, in der mein Weib leben mußte.

Kaum war ich eine Viertelstunde gegangen und wollte einen schmalen Bach passiren, der in tiefem Einschnitte dahinströmt, als unerwartet, um eine Felsenecke hervortretend, zwei Männer mich faßten, den Unbewaffneten niederwarfen, ihm die Hände banden, ihn dann aufrichteten und schnell aufwärts in das Geklüft des Gebirges führten.

Alles war das Werk weniger Augenblicke, und ich fing kaum an, meine Lage zu begreifen, als ich erschreckt zusammenbebte, denn ich erkannte, an eine offnere Stelle des Weges gelangt, die Brüder meiner Frau, die Aetna-Bauern. Auf meine Fragen gaben sie keine Antwort; ich bat, mir nur zu sagen, ob Nazarena bei ihnen sei, aber sie blieben stumm. Um meinen raschen Tod konnte es ihnen nicht zu thun sein, denn die zum Morde geeignetsten Schlünde lagen schon hinter uns. Immer vorwärts trieben sie mich durch die bald eingebrochene Nacht über Geröll durch trockene Wasserbecken hinauf, über Felsen und durch Waldungen hinweg, durch Felder und Weingärten, bis wir gegen Morgen bei einer Hütte anlangten, die ich als Wohnung des ältesten Bruders erkannte.

Ich wurde hineingeführt, entfesselt, erhielt Brod und Wein und wurde auf ein Lager verwiesen, das die Brüder bewachten.

Gegen Mittag trat der älteste Bruder, der Geistliche, ein und fragte mich, ob ich zu beichten gedächte. Ich hielt nun meinen Tod für beschlossen und zwar einen langsamen, qualvollen Tod, weil man sonst wohl gleich ein Ende mit mir gemacht haben würde. Ich lehnte daher die Beichte ab und würde den Mördern kalten Trotz entgegengesetzt haben, wenn mich nicht die unendliche Sehnsucht, Nazarena und unser Kind zu sehen, auf das Heftigste ergriffen hätte. Instinctmäßig fühlte ich, daß bei diesen Leuten jede Bitte vergeblich sei; ich war auch dazu nicht geneigt, vielmehr erfüllte mich der Ueberfall an der Schwelle meiner Hoffnungen, das Tückische in meiner Behandlung mit Wuth, und ich konnte mich nicht enthalten, die härtesten Verwünschungen gegen die Brüder auszustoßen. ,Ihr seid Mörder, das weiß ich, verruchte Mörder, die nicht einmal Herz haben für ihre leibliche Schwester, die ihr nicht das Glück gönnen, zu wissen, daß ihr Gatte unschuldig war. Leset,‘ rief ich, indem ich dem Geistlichen den Brief des Russen gab, ,leset, durch welche Schurkerei ich getäuscht wurde, und dann, wenn Nazarena erfahren, wie ich dazu kam, sie für schuldig zu halten, dann schlachtet mich stückweise, so langsam Ihr wollt.‘

Der Geistliche, nachdem er gelesen, faltete die Hände zum Gebet und sagte dann jubelnd zu seinen Brüdern: ,Seht Ihr, unsere Schwester, wie sie es auf die Hostie uns geschworen, war unschuldig. Ich halte das Bekenntniß des Verleumders in der Hand, es betheuert diese Unschuld ihr eigener Gatte, er liegt bereuend zu unseren Füßen: sie, die Reine, ist aufgenommen von der heiligen Jungfrau und genießt dort den Lohn für ihr treues Märtyrerthum.‘ ,Sie ist todt?‘ rief ich aus und brach dann ohnmächtig zusammen.

Als ich wieder erwachte, richtete mich der Geistliche auf. ‚Meine Mission,‘ sagte er, ,ist die der Versöhnung und des Friedens, ich nehme keinen Theil an der Rache der Brüder, ich habe gefleht und gebeten, ich habe ihnen zugerufen: die Rache ist Gottes, in der Hand der Menschen ist sie ein zweischneidiges Schwert; aber sie haben geschworen, geschworen auf den Leib Christi, es ist keine Lösung möglich.‘ ,Ich will auch nicht leben,‘ sagte ich, ,ich will es nicht, laß sie bald ein Ende machen, bald, recht bald, mich fesselt nichts mehr an diese Erde.‘ ‚Nichts?‘ sagte er und winkte den Brüdern, die uns einen Augenblick verließen und dann eintraten, zwischen sich einen zweijährigen, goldgelockten Knaben, einen Engel an Schönheit und Unschuld unter diesen dunkeln Gestalten.

Im Augenblick begriff ich, daß dies mein Sohn sei, und schloß das Kind in die Arme, das weinend sich schließlich meinen Liebkosungen überließ. Die Brüder gingen an ihr Geschäft und ließen den Geistlichen und den Knaben bei mir, den ich nach und nach gewann. Ich hatte jetzt für nichts mehr Sinn und Ohr, ich lebte nur in dem Knaben, ich schenkte ihm, was ich Blitzendes an mir hatte, und man ließ mich nun volle vierzehn Tage mit dem Kinde leben und thun, was ich wollte, ohne mich sehr genau zu beachten, da man gemerkt hatte, daß mich das Kind mehr fesselte, als tausend Banden.

In dieser Zeit brachte mir der Geistliche die Geschichte Nazarena’s bei, und ich glaube, daß ich mir das Gehirn an der Wand zerschmettert haben würde, wenn mich nicht mein Kind an das Leben gefesselt hätte.

Die Unglückliche war mit der gewöhnlichen Post bis an die Alpen gefahren. Da schon waren ihre Mittel so gering geworden, daß sie den rauhen Paß zu Fuß überschritten und sich eine Erkältung zugezogen hatte, die, da sie solche nicht abwarten konnte, den Todeskeim in ihren jugendlichen Körper legte. Aber sie war soweit gelangt, daß die Gewässer abwärts liefen, dem lieben Heimathlande entgegen. Als freue sich das Kind des Vaterlandes, hatte sie zum ersten Male in dieser Verlassenheit, in diesem Elende, sein Leben empfunden; da hatte sie allem an dunkler Felswand [436] gesprochen mit Gott und der heiligen Jungfrau und hatte gebetet, ihr Leben anzunehmen für das ihres Kindes. Mit dem heiligen Muthe, den nur das Gefühl der Mutter dem Weibe geben kann, hatte sie sich aufgerafft, hatte zum ersten Male an die Thüren geklopft und hatte gebettelt um dürftige Nahrung für das Kind, das sie unter dem Herzen trug. Oft abgewiesen, oft als leichtsinnige Dirne gescholten, hatte sie geduldet, ganz allein, nur Gott im Himmel zum Beistand und ihre Thränen als Tröstung. So war sie von Ort zu Ort bald auf zerrissenem Schuhzeug, endlich auf nackten Füßen nach Florenz gekommen. Dort hatte sie auf Linderung gehofft, denn sie hatte dem Bruder, dem Geistlichen, geschrieben, ihm geklagt, daß der Gatte sie aus unbegründeter Eifersucht verlassen, und hatte um einiges wenige Geld poste restante gebeten. Allein sie fand nichts vor, denn der Brief war in den damaligen Revolutionswirren nicht angelangt. Zur äußern Noth hatte sich noch der Kummer gesellt, auch von den Brüdern verstoßen zu sein, die sie vielleicht auch für schuldig hielten, und so war sie, den Tod im Herzen und im Körper, weitergeschlichen, hatte oft Nachts sich wie ein wildes Thier in einer Felsspalte hungernd und frierend bergen müssen, aber die Mutterpflicht hatte sie so lange aufrecht erhalten, bis sie eines Abends, ausgehungert, bleich, verstört, eine Bettlerin, bei ihren Brüdern angeklopft hatte.

Diese waren anfangs geneigt, ihr keinen Glauben zu schenken; als sie jedoch auf die geweihte Hostie ihre Unschuld betheuert, hatten sie dieselbe mit aller Liebe und Sorgfalt umgeben, deren sie fähig waren, hatten ihre eigenen kleinen Ersparnisse geopfert, um ihr Gutes zu thun, und als das Kind sich ihrem Schooße entwunden, hatten sie eine Amme für dasselbe bereit. Mit Allem, was die Unglückliche stärken konnte, hatten sie gesucht ihr zu helfen, indeß die liebevollste Pflege so wenig wie heißes Gebet hatten die Krankheit heben können, welche, nach den Geboten der Natur, nur die Frucht bis dahin aufgehalten hatte. Nazarena verschied bald; an demselben Orte, an dem ihre Wiege gestanden, hauchte sie ihr junges Leben aus. Sie, die als reines Kind in die Hände des geliebtesten Mannes gegeben war, sie, die noch vor wenigen Jahren, in Fülle der Gesundheit schwimmend, um diese Hütte spielte, war dahingesunken durch die Schuld des Mannes, an dessen Schutz sie gewiesen war durch das Gesetz und die Ordnung Gottes, hingeopfert durch die Schuld ihres Gatten.

Der Geistliche weinte mit mir, und wenn er auch mein Betragen nicht durch die Eifersucht, der ich unterlegen, rechtfertigen konnte, so suchte er doch in seinem liebevollen Gemüthe Alles auf, was meine Schuld zu mindern vermochte. Dagegen hatte ich von den Brüdern noch kein Wort vernommen; sie beobachteten in meiner Gegenwart ein düsteres Schweigen, waren aber sichtlich erfreut, daß Vater und Kind täglich mehr zusammenwuchsen, daß es mir eine Lust war, alle kleinen Sorgen für letzteres zu übernehmen, und daß ich diese Sorge nur ungern für Augenblicke an eine alte Verwandte und Dienerin des Hauses abtrat. Mir that jede Mühe, die mir das Kind machte, wohl, es war mir, als könne ich durch die Pflege desselben einen Theil der Schuld gegen die Mutter abbüßen.

Als ich eines Tages gegen den Geistlichen diese Gedanken äußerte und hinzufügte, daß mir noch eine kleine Erbschaft zufallen müsse, daß ich dann Mittel genug hätte, dem Knaben eine gute Erziehung zu geben, und daß ich mein ganzes Leben einzig und allein dieser Aufgabe opfern würde, antwortete er mit einem leisen Seufzer nur: ,Sie haben geschworen!‘

Nicht die Furcht vor dem Tode selbst, obwohl mir die Liebe zum Kinde auch wieder Liebe zum Leben eingeflößt hatte, aber die ungewisse Verschiebung des Mordes, das Ueberlegte, Geheimnißvolle der Ausführung flößten mir Schrecken ein, und ich bat den Geistlichen, dahin zu wirken, daß bald mit mir ein Ende gemacht würde.

‚Ein Ende?‘ sagte er, ,es giebt schlimmere Strafen, als den Tod,‘ und entfernte sich, indem er traurig sprach: ,ich kann es nicht wenden und ändern, sie haben geschworen!‘

Von diesem Augenblicke an gerieth ich in die äußerste Unruhe. Was können diese Schrecklichen wollen, was kann in ihren Augen schlimmer sein, als der Tod? Je mehr ich darüber nachdachte, je mehr verwirrten sich meine Gedanken, und, ich brachte qualvolle Nächte zu.

Da, eines Tages, obwohl kein Festtag oder Sonntag war, bemerkte ich, daß die Brüder nicht zur Arbeit gingen, sondern festliche Kleider angethan hatten. Gegen Abend traten sie bei mir ein und hatten den Knaben, dem ebenfalls ein festliches Kleidchen angezogen war, zwischen sich. Der Geistliche war in vollem Ornat und auf dem Tische waren statt der Lampe Kerzen angezündet.

Der Geistliche war sichtlich bewegt und stand schweigend hinter den Kerzen.

Der jüngste der Brüder erhob zum ersten Male seine Stimme und sprach: ‚Liebst Du das Kind?‘ Mich durchzuckte der Gedanke, die Unmenschen wollten es ermorden, und mit übernatürlichen Kräften stürzte ich mich auf die Brüder, um ihnen mein Kind zu entreißen.

‚Teufel aus der Hölle!‘ rief ich ihnen zu, ,mein Kind, meinen Sohn, den Sohn Eurer Schwester, wollt Ihr opfern, opfern vor meinen Augen? Mit meinen Zähnen werde ich ihn vertheidigen, wenn Ihr mir die Hände abgehackt habt.‘ Sie überwältigten mich, und ich beruhigte mich, als der Geistliche herzutrat und sagte: ‚Mein Amt sollte Dich belehren, daß ich bei einer Blutthat nicht gegenwärtig sein kann. Höre den Bruder, das Leben Deines Kindes wird in Deine Hände gelegt werden, Du allein kannst es sichern.‘ ‚Nun, so gebt mir mein Kind und laßt mich ziehen,‘ rief ich, ‚ich liebe es mit allen Kräften meiner Seele; ich werde es erziehen, mein Leben soll eine fortgesetzte Reue sein, ich will nichts weiter, als mein Kind, das Kind meiner unglücklichen Nazarena.‘ ‚Nenne sie nicht Dein,‘ fiel der jüngere Bruder ein, ‚denn Du hast sie verstoßen, dem Elende preisgegeben, hinausgetrieben in die Weite wie einen Hund, der verenden konnte auf freiem Felde oder im Schnee der Gebirge, ein Fraß für die Vögel. Sie, die Tochter ehrlicher, obwohl unbegüterter Landleute, die Freude, der Stolz ihrer Familie, hat an die Thüren geklopft und um Speise und Trank gefleht als Bettlerin, während sie das Kind als Pfand der Liebe zu Dir unter dem Herzen trug, während sie das Kind, von Gott und Natur Deiner Pflege empfohlen, von Dir aber verstoßen, mit ihrem Herzblut nährte, das sie aus den dürftigen Brosamen, die sie erbettelte, nicht ersetzen konnte.‘

Ich stöhnte unter den Qualen der furchtbaren Erinnerung, welche der Bruder in mir wachrief.

,Du hast,‘ fuhr er fort, ‚tausendmal den Tod verdient, doch Du bist Sicilianer, hast Muth und fürchtest ihn nicht; eben weil Du aber tausendmal den Tod verdient hast, sollst Du ihn täglich kosten, ganz, wie unsere Schwester ihn stückweise und tropfenweise hat erleiden müssen.‘ Ich sah ihn mit hohlen Augen an, denn ich verstand ihn nicht.

,Du hast,‘ fuhr er fort, ‚dies Kind zum letzten Male berührt und es das Deine genannt; Du hast es verstoßen, noch bevor es das Licht der Welt erblickte, wir haben es gerettet, in unsere Arme hat es sterbend die Mutter gelegt, es ist das unsrige. Wir werden es erziehen und werden dafür arbeiten, sollte uns auch das Blut unter den Nägeln hervorspringen, aber wir werden es sofort ermorden, wenn Du eine Sylbe von den Bedingungen abweichst, die wir Dir stellen.

Von heute ab darfst Du Dich nur durch Betteln ernähren, Du darfst Dich keiner Arbeit unterziehen, Du darfst keine Unterstützung annehmen, die Dir für mehr als einige Tage das Betteln entbehrlich macht, Du darfst in keinen Bettelorden eintreten, wodurch Du des Schamgefühls überhoben würdest. Du sollst betteln, betteln wie unsere Schwester gethan, aus Noth, aus Hunger, Du sollst den Schmerz erfahren, von der Thür gejagt und gescholten zu werden. Du sollst betteln, so lange Dein Leben auf natürlichem Wege vorhält, Du darfst demselben nicht ein Ende machen. Brichst Du eine dieser Bedingungen, giebst Du Dich je Deinem Sohne zu erkennen, wenn er Dir unter die Augen kommt – dann soll eine Viper nicht leben, die das adlige Blut seines Vaters in sich trägt, das Blut, in dem nicht Treu und Glauben gewesen vor und nach seiner Schandthat. Wir lassen Dich nicht schwören. Menschen Deiner Art sind mit keinem Eide zu fesseln, sie sind nur durch Furcht und Interesse zu leiten. Das wenige Geld, das Du mitgebracht, haben wir im Besitz und werden es für den Knaben verwalten; für ihn und die Welt bist Du todt. Du hast Dich nach Rom zu betteln, dort haben wir Gelegenheit, Dich zu beobachten.‘

Die furchtbare Energie dieser Natursöhne hatte mich niedergedrückt; ich fühlte weniger das Elend, das mir bevorstand, als den Schmerz, mich von meinem Kinde zu trennen, und warf mich flehend vor den Männern nieder, nur um das Eine bittend, daß [438] mir die Aussicht gelassen würde, noch einmal im Leben meinen Sohn zu umarmen, wenn ich drei Jahre lang die Bedingungen gehalten, die man mir auferlegt hatte. Ich erinnerte daran, daß ich, als ich die Schwester verlassen, sie ja für schuldig gehalten, daß ich, wie sie, Sicilianer sei und wir in solcher Lage Alle zu übereilten Schritten fähig wären.

Zu meinem Erstaunen gerieth ungeachtet aller Demuth, die ich in diese Worte gelegt, der Bruder in Heftigkeit. ,Du irrst Dich in uns und in der Zeit; wir und dies Volk sind in den letzten fünf Jahren, von denen Du den größten Theil auswärts zubrachtest, andere geworden. Wir haben Euch kennen gelernt. Du sprichst von sicilianischer Eifersucht? Aber Eure Marcheses und Contes haben ihre Weiber in das Bett des Fürsten legen können und sich die allerhöchste Besudelung zur Ehre gerechnet. Euere Priester haben arme, gefallene Dirnen mit Bußen verfolgt, unsere Regierung hat die stärksten Strafen gegen Verletzung der Sittengesetze auferlegen können, Ihr habt vor den Unglücklichen ausgespieen; aber bei Euren Töchtern war dies zu entschuldigender Fehltritt, und wenn eine Prinzessin der Welt zum Scandal lebte, sicherte sie der Hof und ihr Rang, weil, wir haben es gehört, ein Regent gesagt hat: das wilde Blut der Fürsten könne nicht anders, und müsse entschuldigt werden. – Schurke!‘ rief er immer leidenschaftlicher geworden aus, ,Du hast in unserer Schwester das Bauermädchen, nicht die geborene Gräfin gesehen. Ware sie Letzteres gewesen, so hätte sie eine Dirne sein können, und Du hättest sie nicht hinausgejagt.‘

Der Geistliche trat hinzu, und ich hörte nur noch die Worte: ,Wir haben eine lange Abrechnung mit dieser Brut, der Tag der Abrechnung wird kommen.‘ Ich sah, es war keine Rettung; der politische Haß war zur Privatrache hinzugetreten und hatte ihr die tiefe, fressende Schärfe gegeben und zugleich das Mittel, sich vor sich zu rechtfertigen durch den Hinweis auf das Allgemeine, dem man opfere.

‚Machen wir ein Ende,‘ sagte rauh und kurz der ältere Bruder, und nun traten Beide an das Crucifix und die linke Hand auf das Haupt meines Sohnes, die rechte auf den Leib Christi gelegt, schwuren sie feierlich dies Kind zu ermorden, wenn sein Vater eine der gestellten Bedingungen bräche.

Dann rissen sie mich, während das Kind schrie und weinte, vom Lager empor, auf das ich niedergesunken war. Der ältere Bruder nahm ein Messer, schnitt ein Stück Brod ab und steckte es mir in die Tasche; darauf ergriffen mich Beide, führten mich hinaus bis an die Grenze ihres Besitzthums und stießen mich über dieselbe hinweg in die dunkle Nacht.“

Der Erzähler schwieg; er kam mir vor, als wäre er plötzlich älter geworden, einzelne, dicke Tropfen fielen vom Auge, und er war sichtlich erschlafft.

Mich hatte die Lösung des psychologischen Räthsels nicht so unter seine Herrschaft genommen, daß ich nicht den Gedanken in mir hätte sollen aufkommen lassen, es müsse ein Mittel geben, sich dem Banne zu entziehen.

„Aber konnten Sie,“ rief ich, „sich denn nicht an die Behörden wenden?“

Er sah mich erstaunt an. „Ich verstehe Sie,“ sagte er dann ruhig, „denn ich bin in Deutschland gewesen; aber es scheint, daß Sie Sicilien und sein Volk nicht genug studirt haben. Ich habe hier schon die Erfahrung gemacht, daß ich auf räthselhafte Weise beobachtet werde. Es giebt kein Loskommen von einem sicilianischen Schwur, und selbst Ihre Behörden würden dagegen vergeblich kämpfen. Wer sein eigenes Leben verachtet, ist Herr des Lebens aller Menschen, also auch dessen meines Sohnes.“

„Er lebt? Kann Ihr Name so sehr Geheimniß sein, können Ihre Blutsverwandten nicht von Ihnen Nachricht haben, kann nicht dem Sohne von Ihrem Elend Mittheilung gemacht werden, daß er den Bann bräche und zu Ihnen dränge?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Mein Sohn weiß nichts von seiner Abstammung und seinem Namen. Der geistliche Onkel hat ihn früh aus Sicilien gebracht, ihm ist der Weg zu Nachforschungen verschlossen, und ich glaube wirksam verschlossen, weil er sich, wie es scheint, für den illegitimen Sohn des Geistlichen hält.“

„Wissen Sie, wo er lebt?“

„Daß ich es weiß,“ sagte der alte Mann schluchzend, „ist das Herbste, was mir auferlegt ist. Ja, ich weiß es, und man hat es mich, wie ich glaube, absichtlich wissen lassen,“ rief er weinend. „Ich darf ihm nicht nahen, nicht ein einzig Mal nahen. O! Sie können mir es nicht nachdenken, nicht nachfühlen, was ich leide, wie meine ganze Seele zu ihm drängt und ich die heißen Thränen hinunterschlucken muß, wenn er vorbeizieht, der schönste Officier der päpstlichen Armee, wenn er dicht an mir vorüberschreitet an der Spitze seiner Compagnie.“

Der Unglückliche war so angegriffen, daß er sich kaum erholen konnte. Es war späte Nacht. Ich gab ihm den Arm bis an den Fuß des Capitols, doch wir sprachen kein Wort.

Am anderen Tage trat er wie gewöhnlich in das Café, aber kaum hatte er begonnen seine Runde zu machen, als er mit einer Bewegung, die deutlich errathen ließ, daß ihm unwohl sei, abbrach und mit einem bedeutsamen Blick auf mich schnell hinausging.

Ich folgte ihm. „Was ist Ihnen?“ fragte ich.

„Es ist vorüber,“ sagte er, „aber ich habe Sie um eins zu bitten.“

„Von Herzen gern erfülle ich es; was ist es?“

„Aendern Sie,“ sagte er, „ich bitte darum, Ihr Café; ich weiß nicht wie es zugeht, doch ich kann in Ihrer Gegenwart nicht mehr betteln. Aus diesem Café aber ziehe ich den größten Theil des Wenigen, dessen ich bedarf, um nicht zu verhungern, denn ich darf ja auch nicht einmal mich durch Hunger tödten.“

Ich versprach es ihm und sah ihn seitdem fast gar nicht. Am Tage vor meiner Abreise lauerte ich ihm in der Via Condotti auf, theilte ihm mit, daß ich Rom verlassen würde, und fragte ihn, ob ich irgend etwas für ihn thun könne.

„Nichts, als für mich beten, daß ich auf natürlichem Wege bald sterbe,“ sagte er, drückte meine Hand und mit einem wehmüthigen „addio, addio!“ verschwand er in der nächsten Seitengasse.