Der 2. Glaubensartikel/Auf daß ich sein eigen sei

« Auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe Hermann von Bezzel
Der 2. Glaubensartikel
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 Offenb. 5, 9–13.
 Auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Das ist gewißlich wahr.








 Mit diesem Lobpreis der betenden Kirche klingt die Erklärung unseres zweiten Glaubensartikels, um dessen Betrachtung wir uns durch Monde versammelt haben, machtvoll aus. Alles, was gegen Jesum geredet und gedacht wird, was ihm seine Ehre nehmen und falsche Ehre geben will, alles, was ihn der Menschenseele als den nicht mehr läßt, der allein die Seele stillt, tröstet und stärkt, ist von dem einen Wort gebunden: das ist gewißlich wahr! Das Zeugnis aller Jahrhunderte im Streite, der Lobpreis aller Jahrtausende in der Heimat, das Bekenntnis der ringenden und streitenden Kirche und der Dank der verklärten Gemeinde klingt in das Eine zusammen: Jesus regiert! Seht, wenn ihr so manchmal fragt, ob dies denn wahr sei, dann fragt euch lieber, wie es denn wäre, wenn es nicht wahr wäre. 1800 Jahre Täuschung, 1800 Jahre und darüber falsche Lehre und falscher Trost; Gräber, auf die man das Kreuz gepflanzt hat, tun sich nicht auf; Sterbende, die unter dem Kreuz entschliefen, wachen nicht auf; Seelen, die man mit ihrer Sündenschuld ans Kreuz geführt hat, haben keine Vergebung. Und die Menschheit, die in ihrem tiefsten Schmerz und Leid den Tröster gefunden zu haben glaubte, hat des Trostes entbehrt. So oft an eure Seelen der Zweifel wie ein gewappneter Mann pocht, ob es denn wirklich wahr sei, daß Christus lebt, wirklich lebt, so oft sagt es ihr: Seele, was hast du noch, wenn er nicht lebt? Seele, was bleibt dir noch, wenn er nicht ist? Ich weiß wohl, einer der Dichter, den sie jetzt so viel| lieben, sagt, daß er fröhlich über den Strom hinziehe, „er rinnt mir kühlend durch die Hand, ich schau hinauf zum blauen Dom und such kein besseres Vaterland.“ Aber der Mann scheint nicht daran gedacht zu haben, daß eben der Strom auch trübe geht, und daß man ihn nicht mit der Hand fassen kann, wenn er eisig, erstarrend durchs Leben zieht. Er scheint vergessen zu haben, wie es ist, wenn am Himmel keine Bläue und kein heiteres Licht mehr winkt, wenn alles mit Wolken verhängt ist, und der Himmel selbst ehern erscheint und kein Gebet kann mehr hindurch. Sagt, wie ist es denn dann!? Dann sagt die Gemeinde: Das ist gewißlich wahr: auf dem brausenden Meere, in der stürmischen Nacht, in der einsamen Stunde, da das Schifflein bald hoch emporgehoben, bald tief versenkt wird, wacht mein Jesus, der einst durch die Wellen hindurchgegangen ist, und keine konnte ihn versenken und versehren; der einst durch die Nacht hindurchgeschritten ist, und die Nacht mußte Licht vor ihm werden; und wenn der Himmel noch so trüb erschiene und noch so hart auf mich herunterhinge, Jesus lebt! Nun ist ihm alle Gewalt gegeben, auch die Gewalt über des Stromes Wellen, auch die Gewalt über des Himmels Drohen. Das ist gewißlich wahr!

 Was ist gewißlich wahr? Gleichwie er ist auferstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Drei Stücke ihm, drei Stücke mir.


I.
 Jesus ist auferstanden, nicht bloß von den Toten – das werde ich auch – sondern er ist auferstanden vom Tode. Die Gewalt des Todes hat er zerbrochen, die Angst des Grabes hat er überwunden, den Hohn des Sterbens hat er bestanden und besiegt. Jesus ist auferstanden vom Tode. Alles, was ihn fesseln wollte, machte er frei, und alles, was ihn verletzen wollte, machte er heil, und was ihn verarmen wollte, machte er reich. Und am Karfreitagabend| heißt es: „Jesus, hinfort wird er nicht mehr sterben, da er einmal gestorben ist.“ (Röm 6, 9.) Er hat die Gewalt des Todes, er lebt: nicht in dämmernder Form, die auch einmal vergeht und aufhört, nicht von meiner Erinnerung und von meinem Gedächtnis. Denn wenn er von meiner Erinnerung lebt, dann lebe nicht ich von ihm, sondern er von mir. Jesus lebt, und wenn ihn die ganze Gemeinde verleugnen würde, und die ganze Kirche von ihm abfallen müßte, und wenn alle Dome in den Staub sänken, und alle Kreuzesbilder aus der Erde gerissen würden, und alles, was Kunst, Poesie, Malerei, Musik, Sang, Klang und Farbe ihm zu Ehren erfunden und ersonnen hat, verbliche und vertonte: Jesus lebt! Er, der auf den Lobgesängen der Erhöhten thront, unter den Chören der Seligen triumphiert, auf dem Preis der armen Sünder, die jetzt im Heiligtum ihn als ihres Lebens Heiland feiern, herrscht, Jesus lebt! Wunderbarer Gott, der so mit Ironie die Feinde straft. Sie haben das Zeichen des Spottes und der Schmach aufgerichtet und haben Jesum daran erhöht; und nun ist das Zeichen der Schmach das Zeichen der Ehre geworden.

 Als im Jahre 1793 in Frankreich aller Glaube an Gott abgeschafft wurde, und die Göttin der Vernunft in Gestalt eines feilen Weibes auf dem Altar von Notre-Dame hingestellt ward, ging ein Priester an den Hochaltar und riß den Kruzifixus vom Kreuze und sprach: es genügt nicht, daß man den Tyrannen des Leibes, damit meinte er Louis XVI., hinrichtet, es muß auch der Tyrann der Seele zerschmettert werden. Und mit diesen Worten trat er das Bild des Gekreuzigten in den Schmutz. Das war im Jahre 1793. Und nach zwanzig Jahren gründete und stiftete Friedrich Wilhelm III., der edle Preußenkönig, das Zeichen des „Eisernen Kreuzes“. Er wußte keine größere Ehre für die Tapferkeit seiner Truppen und kein zarteres Erinnern an seine geliebte Gemahlin Luise, als das Zeichen des Kreuzes.

|  Im Jahre 1848 hat Georg Herwegh den blöden Vers gemacht, der ebenso frevelnd ist: „Reißt die Kreuze aus der Erden, alle müssen Schwerter werden, Gott im Himmel mag’s verzeih’n!“ 1859, nach der Schlacht von Magenta, hat H. Dunant in Genf das Zeichen des „Roten Kreuzes“ gestiftet; er kannte kein besseres Zeichen zum Ausdruck der Liebe, Treue und Hilfsbereitschaft in Kriegszeit, als das Zeichen des Kreuzes. Heilige Ironie Gottes! Und noch eines. Am 30. Mai 1778 starb in einem Hause in Faubourg Saint Germain bei Paris der Philosoph, der am meisten über Jesum gespottet hat, der Freund Friedrichs des Großen von Preußen und seiner Schwester Friederike Wilhelmine von Bayreuth. Einige Tage vor seinem Tode sagte er: in 25 Jahren wird kein vernünftiger Mensch mehr in der Bibel lesen; die Bibel wird in der Rumpelkammer ihren Platz finden; denn sie ist doch nur das Zeichen der Torheit und des Wahnsinns der Leute. Genau nach 25 Jahren, 1803, wurde die große englische Bibelgesellschaft gegründet und aus ihr heraus nach 9 Jahren die große, gesegnete Württemberger Bibelgesellschaft zur Verbreitung heiliger Schriften.

 Seht, das ist Gottes Ironie in der Weltgeschichte. Jesus lebt! Sie haben ihn wohl schon tausendmal tot gesagt, und er hat ihre Bande zerrissen; sie haben ihn schon tausendmal geleugnet, doch sie sind hingegangen und er lebt. Sie haben ihn mit ihrem Scharfsinn aufgelöst und mit ihrer Zweifelsucht ihn geleugnet, aber alle seine Zweifler und Leugner sind hingezogen: „Jesus Christus gestern und heute und derselbige auch in Ewigkeit.“ (Hebr. 13, 8.) Wunderbar! Alle die Darstellungen gegen Jesum, all die Zweifel sind 1600 Jahre alt; also hat man in 1600 Jahren nichts anderes fertiggebracht, als die Zweifel zu erneuern, die schon unter Julian bereits Celsus, der große Kreuzes- und Christusfeind, ausersonnen hat. Wo es so steht, da hat es keine Not. Jesus lebt!

|  Und er lebt in Gloria: „lebet und regieret in Ewigkeit.“ „Setze dich zu meiner Rechten, bis daß ich lege deine Feinde zum Schemel deiner Füße.“ (Ps. 110, 1.) Er lebt mit der Gewißheit, daß das letzte Wort nicht die Lüge, sondern die Wahrheit hat; er lebt mit der frohen Fernsicht auf die Zeit, da alle Reiche seines Herrn und seines Christ sein werden. (Off. 11, 15.) Er lebt mit der triumphierenden Größe, daß einst alle vor ihm niedersinken werden: die einen mit Freuden, die andern mit Grauen.

 Wiederum ein weltlicher Dichter sagt: als der Herr Jesus Heerschau gehalten hat, da hat er die Seinen gefragt: „wollt ihr mir dienen?“ Und ihr Blick sagte ihm: „nichts Köstlicheres als das!“ Und ihre Hand legte sich in die seine und sie bekannten: „nichts ist herrlicher als das!“

 Er ist erstanden vom Tode, lebet und regieret in Ewigkeit. Wenn die Zeit ausgeschlagen haben wird, wenn die Weltenuhr stille steht, wenn die letzte Minute der Welt gekommen ist, dann wird man den Vorhang geteilt sehen, der Zeit und Ewigkeit scheidet und dann wird man des Menschen Sohn sehen in großer Kraft und Herrlichkeit. Der Purpur, den sie aus Spott ihm anlegten, ist zum majestätischen Herrschergewande geworden; die Dornenkrone, die sie zum Hohne ihm aufs Haupt setzten, ist zur Strahlenkrone der majestätischen Liebe gewandelt; das Zepter, das sie ihm höhnend in die Hand drückten, ist vollkommene, selige Gewalt geworden. – Es geht in der Passionszeit immer wieder durch unser Herz die hohe Freude, so tief und schwer sie auf uns liegt: „Jesus hat überwunden!“ Es ist wie ein Siegesstolz für den ärmsten Christen, für das zerrissenste Gemüt, für den einsamsten Pilgrim: Gott sei Dank, er hat gesiegt! Denn so – das hoffe ich doch von euch allen – stehen wir zu Christus, daß jedes gute Wort, das ihr über ihn hört, jedes Zeugnis über ihn, das zu euch dringt, jeder Dank gegen ihn, den| euer Ohr vernimmt, euer Herz hoch aufjubeln läßt: es ist ja der Geliebteste, dem wir alles gönnen; er ist ja der, dem unser Herz gehört.


II.

 Drei Stücke für ihn, drei Stücke für uns: ihm dienen in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit. „Denn er ist darum für alle gestorben, daß, die da leben, hinfort nicht ihnen selbst leben, sondern ihm, der für sie gestorben und auferstanden ist.“ (2. Kor. 5, 15.)

 Was ist der Inhalt deines Lebens? Ach, mein Christ, sehr wenig: Mühe, Arbeit, Enttäuschung, Vorsatz, Anfang – und am Ende ist’s ein Nichts. Auch der tätigste Mensch ist in seinem Leben wie Gras, und auch der angesehenste ist wie eine Blume auf dem Felde. Wenn der Wind darübergeht, so ist er nimmer da, und wenn der Gluthauch aus der Wüste herkommt, so ist er vorüber. Es vergeht all die Zeit ungenützt, in der und mit der du dir selber dienst; und wenn du so Jahrzehnte arbeitest, ist es kein Vergleich mit einem einzigen stillen Stündlein, in dem du sagst: „Bei dir, Jesus, will ich bleiben und dir dienen.“

 Der Ertrag eines Lebens, und wenn es noch so reich angelegt, noch so glänzend ausgenützt und noch so weitkreisig wäre, ist nichts gegenüber dem, was ein armes Kind tun kann, das da spricht: ich diene Jesu.

 Als Val. Herberger, der Dichter des Liedes: „Valet will ich dir geben,“ sein neunjähriges Kind, seinen Lieblingssohn, zum Sterben segnete, fragte er das Kind: „stirbst du gerne?“ „Warum soll ich nicht, ich gehe ja zu meinem Heiland!“ „Woher weißt du es denn, daß er dein Heiland ist?“ „Du hast es mir oft gesagt und ihn mir gezeigt!“ „Wenn ich es dir aber nun nicht recht gesagt hätte?“ Da breitete das sterbende Kind die Arme weit aus und sagte: „so hat er für mich am Kreuze gehangen!“

|  Das ist ein Zeugnis, von welchem der Herr spricht: „daß du solches den Klugen und Weisen verborgen hast und hast es den Unmündigen geoffenbart, ja, Vater, also ist es wohlgefällig gewesen.“ (Matth. 11, 25 u. 26.) Dieses Bekenntnis des sterbenden Knäbleins ist mehr wert als die ganze Theologie der Orthodoxen und Modernen, wenn sie nicht leben unter dem Kreuze. Dieses Bekenntnis eines arbeits- und erträgnislosen Lebens ist größer, als alle Kirchenregierung, Kirchenbaupläne, Kirchengedanken, wenn das Herz nicht Jesum erwählte.

 In seinem Reiche unter ihm leben und ihm dienen. Ihm dienen, wann er will, wie er will, wo er will und womit er will. Will er, daß ich ihm mit meinem täglichen Abnehmen diene, mit der Hingabe von Kraft und Frische, mit der Darbietung und Darbringung all dessen, was ich mein Eigen zu nennen glaubte, so sei es recht. Und will er, daß noch einmal meine Kraft wiederkehrt und auf Jahre hinaus noch diese Kraft ihm diene, so ist es auch recht. Will er, daß ein gebrochenes Leben, wie dort das Weib das Salbengefäß zerbrach und die köstliche Narde auf ihn ausströmte, ihm diene, so sei es recht. Und will er, daß ein gehaltvolles Leben ihm diene, so sei er gepriesen.

 Wundersam! Ihm dienen in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit – jetzt und einst!

 „Jetzt bin ich sündig, der Erde zugeneigt, das hat mir bündig sein Heiliger Geist gezeigt.“ Immer wieder falle ich in die alte Sünde, immer wieder in den alten Wahn. Mein Tun ist verkehrt und meine Arbeit mißraten.

 Was muß das sein, wenn einmal ein Tag kommt, an dem es heißt: „jetzt kannst du ihm in ewiger Gerechtigkeit dienen. Fürchte nicht, daß noch einmal dein Fuß gleitet, dein Auge falsch sieht, dein Ohr falsch hört, deine Zunge falsch spricht; du bist frei!“ Darauf geht ja unser ganzes Verlangen.

|  Ich habe vor dieser Bibelstunde wieder, ach, wie oft schon, das letzte Gespräch Augustinus mit seiner Mutter Monika, wie es im zehnten Kapitel des neunten Buches seiner Bekenntnisse steht, gelesen. Dort, an der Meeresküste geht die Mutter mit ihrem Sohne lustwandelnd und es kommt durch die Seele, daß dieser der letzte Tag ihres Lebens sei. Sie sagt: „ach, mein Sohn, ich sterbe gerne; denn der Wunsch, um den ich immer bat, ist mir erfüllt worden: ich habe meinen Sohn bei Jesus.“ – Und höher stiegen wir, so schreibt er, dahin, wo das Wort seinen Ursprung nimmt und der Gedanke anhebt; höher stiegen wir und ließen die Erde hinter uns. „Was wird es sein, wenn ich dich seh’ und dort vor deinem Throne steh!“

 Ja, was wird es sein, in ewiger Gerechtigkeit ihm dienen.

 Und in ewiger Unschuld. Jetzt bin ich immer wieder schuldig; das Meine mengt sich in das Seine; die Ichliebe zerstört die Jesusliebe, die Eitelkeit gefährdet die Demut. Es ist, wie wenn der Spiegel unseres Innenlebens immer wieder von einem öden Hauch angerührt und überlaufen würde. Was wird es dann sein, wenn wir gar nicht mehr wissen, was es um Sünde ist! Wenn die Sünde wie ein Traum hinter uns liegt, wenn wir, ich rede töricht, uns noch so sehr mühen müßten und wüßten doch nicht, was Sünde ist und wie man sündigt! Was wird es einmal sein, wenn wir uns besinnen, wie es sein möge, wider Christus und ohne Christum zu leben, und wir können es nicht mehr; das heißt: in ewiger Unschuld dienen.

 Und nun ist mir jeder Erlöste lieb; nicht gleichgültig wie jetzt, wo ich denke oder sage: „der oder die steht viel zu tief unter mir, um mich zu beleidigen!“ Oder: „dieser Mensch kann mich gar nicht beleidigen, denn ich sehe ihn nicht und kenne ihn nicht.“ Nein, dann ist mir auch der Gleichgültige bedeutsam, der Fernstehende nah, und, der meinem Herzen vordem so schwer war, ist mir nun besonders teuer. Was wird das sein!

|  Seht, ich kann mir kein Liebesverhältnis auf Erden denken – Freundschaft, Ehe, sonst eine Bezogenheit welcher Art –, das nicht immer wieder Enttäuschungen erlebt, erleben muß, um auf seine Wahrheit erprobt zu werden. Jede Ehe hat Momente, in denen eines an dem anderen irre wird. Diese Momente hat Gott verordnet, damit eines das Andere trage und eines für das Andere bete. Jede Freundschaft hat Scheidewege, an denen man zueinander sagt: „Willst du zur Rechten, so gehe ich zur Linken, oder willst du zur Linken, so gehe ich zur Rechten, nur laß uns auseinandergehen!“ (1. Mos. 13, 9.)

 Das wird alles auch einmal aufhören. Ich werde in ewiger Unschuld nichts anderes mehr atmen als Liebe. Aber nicht die schwächliche Liebe, welche den Namen Liebe gar nicht verdient, weil sie Leidenschaft ist; nicht die ärmliche Liebe, welche die Augen gegen die Fehler des Nächsten schließt, um nicht enttäuscht zu werden und aufhören zu müssen. Sondern jene Liebe, die dem Nächsten auf den Grund sieht und in ihm nichts erkennt als Jesu Bild.

 Das ist nicht ein holder Traum, sondern manchmal gibt Gott, vielleicht nach einem Abendmahlsgenuß, vielleicht in der Abschiedsstunde von Sterbelagern, in sonstigen einschneidenden Vorgängen im Menschenleben, solche Minuten, wo auf einmal jeder Mensch uns wert ist und wir bitten, jedem Menschen etwas sein zu dürfen.

 Das sind aber nur „leuchtende Zwischenräume“. Dann kommen immer wieder die öden Tage, wo man nur einen Menschen trägt und nur einen Menschen liebt, und der eine Mensch ist das eigene Ich.

 Doch es kommt eine Zeit, da ich unschuldig bin, da ich mich nicht mehr auf den Abend fürchten muß, an dem der Herr sagt: „tue Rechenschaft von deinem Haushalte!“ (Luk. 16, 2), sondern da ich den Abend herbeisehne, weil er nichts anderes ist, als ein| neuer Morgen. Es kommt die Zeit, wo ich an jedem Abende eines Ewigkeitstages sagen darf: „Siehe Herr, das Pfund hat zehn andere gewonnen!“ (Luk. 19, 16.) Das heißt: ihm dienen in ewiger Unschuld.

 Und endlich, ihm dienen, nicht nur in ewiger Gerechtigkeit und Unschuld, sondern auch in ewiger Seligkeit. Daß alle meine Wünsche, soweit sie über mich hinausreichen, erfüllt werden; daß alle meine Gedanken, soweit sie von mir gewichen sind, erhört werden; daß all mein Sehnen, soweit es nicht an mich gebunden ist, gestillt wird – das ist Seligkeit. Oder daß ich’s ganz kurz sage: daß meine Wirklichkeit und seine Wahrheit, sein Ideal und mein Wesen eines werden – das ist Seligkeit!

 Seht, vor ihm steht das Bild, das er von mir im Herzen trägt. Ich habe es verzeichnet, ich habe es übermalt, ich habe es geschminkt, ich habe es entstellt. Und darum wendet er sein Antlitz von mir und spricht: „Das ist nicht das Bild, das ich von dir trage, ich kenne dich nicht.“

 Und so geht das ganze Leben darüber hin, daß man die Schminke und den Heuchelschein von sich wegtilgt, wegwäscht im Blute Jesu, daß man das Zerrbild und die Karikatur des Heiligen von sich bannt.

 Wenn es dann zum Sterben geht, fleht die Seele: „Erkenne mich, mein Hüter, mein Hirte, nimm mich an!“ Und er antwortet: „Ich bin ein rechter Hirte und erkenne die Meinen.“ (Joh. 10, 14.) Nun erkennt der Künstler wieder sein Bild; denn Sterbensnot und Lebensangst und Leidensschwere und Todesernst haben das Unechte und das Ungute, das Scheinwesen und das Falsche aus dem Bilde ausgetilgt und weggetan. Nun ist es wahrhaftig wieder Gottesbild geworden. Das heißt: „in ewiger Seligkeit ihm dienen.“

 Mit diesem frohen Ausblick laßt uns von der heiligen und seligen Wahrheit des zweiten Glaubensartikels Abschied nehmen.|

Laß mir nie kommen aus dem Sinn,
Wie viel es dich gekostet,
Daß ich erlöset bin.

Und aus solcher Bitte wird sein gnadenreiches und gewisses Wort wahr und teuer werden: „Dieweil du hast behalten das Wort meiner Geduld, will ich dich auch behalten.“ (Off. 3, 10.) „Wer kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn? (Röm. 8, 39.)

 So helfe er uns zu einer gnadenreichen Passion und lasse in die Leiden unseres Lebens die österliche Freude hinein- und herüberklingen: Daß ich sein Eigentum sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit.

 Was wird es sein, wenn ich nicht mehr der sein werde, der ich bin, sondern der sein werde, der ich sein soll.

Amen.



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