Der „heilige“ Vogt von Sinzig

Textdaten
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Autor: M. L.
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Titel: Der „heilige“ Vogt von Sinzig
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 247-250
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der „heilige“ Vogt von Sinzig.
Die Geschichte eines Leichnams.

„Wissen Sie, welches der wunderlichste Heilige im ganzen Rheinlande ist?“ fragte der Capitain des Salondampfers, auf welchem wir in heiterer Gesellschaft an einem wunderwollen Herbsttage von Mainz nach Bonn den Rhein hinabführen.

Der Fragesteller, einer von den auch am Rheine immer seltener werdenden Typen, welche mit den weißen Haaren des Greises den Frohsinn des Jünglings und das Gemüth des Kindes vereinigen, hatte während der mehrstündigen Fahrt nach und nach einen Kreis von Zuhörern um sich gesammelt, deren er, einer lebendigen Rheinchronik gleichend, in einem wunderbaren Gemisch von Dichtung und Wahrheit, theils Sagen und Legenden, theils Geschichtliches und Selbsterlebtes in buntester Aufeinanderfolge vorführte, stets anknüpfend an die Landschaften und Uferorte, an denen wir vorbeidampften.

Mit besonderer Vorliebe und köstlichem Humor schilderte er die verschiedenen Heiligen, die sich durch irgend welche hervorragende Thaten am Rheinstrome einen Namen gemacht haben; wie den heiligen Werner und den wunderthätigen Apollinaris.

„Sehen Sie dort auf jenem rebenbewachsenen Hügel das Städtchen Sinzig?“ fragte unser freundlicher Schiffsführer. „Dieses hat das Glück, den sogenannten heiligen Vogt zu besitzen, und der ist der wunderlichste Heilige im Rheinlande. Hat einen gar ascetischen Lebenswandel geführt, sodaß zuletzt nichts mehr an ihm war, als Haut und Knochen. Die Würmer bissen sich an seiner Leiche die Zähne aus und mußten nach langem, vergeblichem Bemühen auf dieselbe verzichten. So ist sie bis auf den heutigen Tag unverwest geblieben.“

Die Erzählung des wackeren Capitains veranlaßte mich später, dem Städtchen Sinzig und seinem todten Vogte meinen Besuch abzustatten.

Sinzig, das römische Seniacum, hat eine reizende Lage auf einer kleinen Anhöhe, welche, an der Mündung der Ahr in den Rhein sich erhebend, die fruchtbare Ebene der „Goldenen Meile“ beherrscht. Wenn der Rhein, der nachweisbar in früheren Zeiten dicht an Sinzig vorbeifloß, sich nicht von letzterem unfreundlich ab- und dem über eine halbe Stunde entfernten entgegengesetzten Thalabhange zugewendet hätte, so wäre unser Städtchen sicherlich einer der schönsten Punkte im ganzen Rheinthale. Das Panorama, das sich dem Beschauer von der aus dem höchsten Punkte der Anhöhe gelegenen Kirche aus bietet und das außer dem Rhein- auch einen Theil des Ahrthales mit dem mächtigen Basaltkegel der Landskrone umfaßt, ist besonders in herbstlicher Beleuchtung geradezu unvergleichlich, nicht überwältigend, wie die Aussichtspunkte der Hochalpen, aber unendlich lieblich durch die reiche Mannigfaltigkeit und die satten, harmonisch abgestuften Farbentöne des bergigen Hintergrundes. Diese schöne Lage mag wohl dazu beigetragen haben, daß die Frankenkönige mit besonderer Vorliebe das Palatium in Sinzig als Absteigequartier wählten und daß auch Friedrich Barbarossa, sowie mehrere seiner Nachfolger, öfters hier residirten.

Mein erster Gang in Sinzig galt der malerisch gelegenen Pfarrkirche, einer aus dem dreizehnten Jahrhundert stammenden gewölbten Basilika spätromanischen Stils, mit wenig vorspringenden Kreuzarmen, viereckigen Thürmchen zu beiden Seiten des Chores und einem achteckigen Hauptthurme über der Vierung.

Erst nach längeren Verhandlungen und nachdem ich einen entsprechenden Beitrag in den Kirchenbaufonds gespendet, gelang es mir, beim heiligen Vogt Zutritt zu erhalten. Ich fand ihn als wohlerhaltene Mumie in einen eleganten Glassarg gebettet. Der Leib ist theilweise von einem weißen Tuche umhüllt; um die Schläfen windet sich ein Kranz von künstlichen Blumen, und die Füße sind mit weißen Strumpfen und rothen, mit Schleifen geschmückten Schuhen bekleidet. Auf den ersten Anblick glaubt man, einen wenige Tage alten Leichnam vor sich zu haben. Die Haut, welche vollständig erhalten geblieben ist, hat nämlich ihre natürliche Farbe fast ganz bewahrt. Sie fühlt sich pergamentartig, zum Theil lederartig an und umschließt lose die steinhart gewordenen, auf ein Minimum zusammengeschrumpften Muskeln. An den Armen und Beinen treten die einzelnen Muskelbündel so scharf hervor, daß man sie äußerlich leicht unterscheiden kann.

Die genaueste Untersuchung der Mumie hat ergeben, daß sich am ganzen Körper, der sämmtliche in Brust- und Bauchhöhle befindliche Organe vollständig enthält, kein Einschnitt befindet, ein Beweis, daß keinesfalls eine künstliche Einbalsamirung stattgefunden hat, sondern daß es sich in dem vorliegenden Falle um eine natürliche, vom wissentschaftlichen Standpunkte aus äußerst interessante Mumie handelt.

Die Hände, welche nicht gefaltet und auch nicht über der Brust gekreuzt, sondern sonderbarer Weise so gelegt sind, daß sie den Oberarm der anderen Seite über dem Ellenbogengelenke umfassen, weisen noch alle Nägel auf, ebenso die Füße. Die Lippen der Mumie haben sich in Folge der stattgehabten Eintrocknung etwas verkürzt, sodaß das prachtvolle, blendendweiße Gebiß, an welchem kein einziger Zahn fehlt, sichtbar ist. Es verleiht dies dem Gesichte einen mit dem Ernste des Todes in seltsamem Contraste stehenden lachenden Ausdruck.

Die Ohren sind noch ziemlich vollständig vorhanden, dagegen sind die Augen seit einiger Zeit in einem zunehmenden Verwesungsprocesse begriffen, der sich schon durch den dem Beschauer beim Oeffnen des Glassarges entgegenströmenden penetranten Modergeruch verräth. Noch vor zwanzig bis dreißig Jahren sollen nach Angabe verschiedener Personen, die ich über diesen Punkt befragte, die Augen vollständig erhalten gewesen sein, wie auch der Kopf der Mumie früher noch reichlichen Haarwuchs getragen haben soll. Letzterer ist jetzt vollständig verschwunden. Nur mit der Loupe lassen sich noch einzelne Spuren von dunkel gefärbten Kopf- und Barthaaren erkennen. Auch bei der Nase, welche wohl in Folge irgend einer mechanischen Einwirkung plattgedrückt wurde, zeigt sich der beginnende Zersetzungsproceß.

Besonders interessant an unserem Vogte ist die an künstlichen wie natürlichen Mumien bis jetzt noch kaum in diesem Grade beobachtete Beweglichkeit der einzelnen Gelenke. Man kann z. B. das Schulter-, noch mehr das Ellenbogengelenk mit geringer Kraftanwendung bewegen. Ebenso lassen sich auch die Finger hin- und herbewegen. Dagegen ist es nur nicht gelungen, die von der Bevölkerung allgemein behauptete Beweglichkeit der Zunge nachzuweisen. Der Unterkiefer widerstand hartnäckig meinen Bemühungen, ihn abwärts zu drücken und so den Mund zu öffnen. Von Anwendung mechanischer Gewalt mußte aus naheliegenden Gründen abgesehen werden.

Wer ist nun eigentlich der heilige Vogt?

Eine endgültige Antwort wird auf diese Frage wohl nie gegeben werden können, da alle auf die Person des Heiligen bezüglichen Documente bei einem Brande verloren gingen. Wir sind daher außer der Ueberlieferung größtenteils auf die Legende angewiesen, welche in ihrer Art stets da die Lücken ausfüllt, wo der historische Nachweis nicht zu erbringen ist.

Die Heiligengeschichte weist Dutzende von Beispielen auf, in denen der Körper heiliger Personen Jahrhunderte später, „einen [249] lieblichen Wohlgeruch ausströmend, so gut erhalten aufgefunden wurde, als ob der Tod erst gestern eingetreten wäre“. Bei der Wundergläubigkeit der Bevölkerung lag es daher nahe, daß man die Unverweslichkeit als ein Wunder betrachtete und den Vogt, obgleich er nicht im Besitze von Legitimationspapieren, ja nicht einmal eines verbürgten Namens war, als Heiligen ansah, auch ohne daß die Canonisation von Rom aus erfolgt wäre.

Ueber die Herkunft des Vogtes erzählt nun die Legende, er sei Hausvogt und Schloßcaplan der Kaiserin Helena, der Mutter Constantin’s des Großen, gewesen, die in Sinzig residirt habe. Geschichtlich läßt sich dies nicht nachweisen, doch leitet der Volksmund die Namen verschiedener Sinziger Localitäten von hohem Alter von der Anwesenheit jener Kaiserin ab.

Besagter Vogt nun zeichnete sich durch einen exemplarisch reinen Lebenswandel aus und legte besonderen Eifer in Bekehrung der Heiden im Rhein- und Ahrthale an den Tag. Von den vier bei der Beurtheilung eines Heiligen in Betracht kommenden Haupttugenden: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung habe er sich besonders letzterer in hohem Grade beflissen und durch beispiellose Abtödtung in Speise und Trank seinen Leib so sehr kasteiet, daß er nach dem Tode der Verwesung nicht anheim fallen konnte, sondern der Nachwelt als leuchtendes Muster zur Nachahmung erhalten blieb.

Kaiserin Helena ließ ihren Vogt sodann in einer von ihr erbauten Gruft neben der heutigen Kirche beisetzen, wo er ungestört ruhte, bis vor etwa zweihundert Jahren einer frommen alten Frau im Traume ein Engel erschien, der ihr befahl, an der betreffenden Stelle nachgraben zu lassen. Dies geschah, und so wurde der Leib des heiligen Vogtes entdeckt – der bekannte „liebliche Wohlgeruch“ fehlte auch in diesem Falle nicht – und in die Kirche gebracht.

Nach einer andern wesentlich abweichenden Lesart lebte der Heilige als Schloßvogt bei einem römischen Großen in dem benachbarten dicht am Rhein gelegenen Rigomagus, jetzt Remagen, und führte ein nichts weniger als heiliges Leben; im Gegentheil war er unter seinen leichtlebigen Genossen geradezu einer der schlimmsten. Nach einer schweren Krankheit, von welcher seine in’s Grab mitgenommene Magerkeit her datirt, bekehrte er sich zum Christenthum und zog sich in das obere Ahrthal zurück, wo er sich als Klausner fern vom Weltgetümmel frommen Uebungen hingab. Nur der Teufel, der ihn mit allen möglichen Mitteln wieder in die Welt zurückzuführen suchte, störte ihn in seiner Einsamkeit. Aus Aerger über die Hartnäckigkeit des Gottesmannes warf der Teufel einmal nach ihm mit einem Beile, das jedoch nicht sein Ziel, sondern einen Felsen traf. Das Loch, das hierbei entstand, wird heute noch gezeigt, ebenso wie die unter dem Namen „Teufelslei“ bekannten, wirr durch einander liegenden Felsblöcke, mit welchen Satanas eines Tages einen bis an den Himmel reichenden Thurm bauen wollte, bis der Einsiedler diesen durch einen kräftigen Segensspruch zum Einsturze brachte und den Teufel aus dem Ahrthale vertrieb. Letzterer spukt seitdem nur noch in den Rothweinen, welche an den Schieferabhängen des Thales gezogen werden und deren Feuer schon von Vater Arndt in seinen „Ahrwanderungen“ gebührend gewürdigt wird.

Nach dem Tode des Klausners blieb sein Körper unverwest. Da Niemand da war, ihn zu begraben oder zu verehren, so hoben ihn die mitleidigen Wellen der Ahr auf ihren Rücken, trugen ihn thalabwärts und setzte ihn bei Sinzig in der Nähe der Brücke wohlbehalten an’s Gestade. Gar bald sammelte sich daselbst eine zahlreiche Menge, welche sich stritt, was mit dem Fremdling anzufangen sei. Endlich gewann die Ansicht die Oberhand, daß dies ein sogenanntes „Pestmännchen“ sein müsse, das Tod und Verderben bringe, wohin es komme, und es wurde daher der Entschluß gefaßt, die Leiche wieder in die Ahr zu werfen, um das der Vaterstadt drohende Unheil abzuwenden und es irgend einem der nahegelegenen Rheinorte freundnachbarlichst zuzuschicken. Aber siehe da, der Körper wurde auf einmal so schwer, daß ihn ein Dutzend der stärksten Männer nicht von der Stelle zu heben vermochten. Da erkannte man denn deutlich, daß man es mit einem Heiligen zu thun habe, und führte ihn, der auf einmal wieder federleicht geworden, mit Sang und Klang nach Sinzig.

Das Städtchen hatte dies nicht zu bereuen; denn der heilige Vogt vergalt die ihm erwiesene Gastfreundschaft dadurch, daß er die Einwohnerschaft vor ansteckenden Krankheiten bewahrte und bewirkte, daß Sinzig in den schweren Kriegen viel glimpflicher behandelt wurde, als die Nachbarstädte. So weit die Legende, wie sie sich im Volksmunde erhalten hat.

Gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts kam der gute Vogt etwas in Mißcredit. Sei es, daß er in seinen alten Tagen der Ruhe pflege und nichts mehr mit dieser verderbten Welt zu thun haben wollte, oder daß die Wundergläubigkeit der Sinziger abgenommen hatte, kurz die frühere pietätvolle Verehrung war gänzlich verschwunden. Nicht einmal sein ehrwürdiges Alter schützte ihn vor dem Muthwillen der übermüthigen Jugend.

So fand man ihn einmal an einem israelitischen Festtage in der Hausflur einer jüdischen Familie, welche in Folge dessen gezwungen war, das dadurch verunreinigte Haus von oben bis unten noch einmal zu scheuern. Da die Urheber dieses schlechten Witzes nicht ausfindig zu machen waren, blieb obendrein auf dem Vogt noch der Verdacht lasten den für sein Alter äußerst unpassenden Scherz selbstständig ausgeführt zu haben. Indeß fand sich gar bald Gelegenheit zu glänzender Wiederherstellung seines früheren Ansehens.

Während des siebenjährigen Krieges kamen nämlich die Franzosen als ungebetene Gäste auch nach Sinzig. Einer derselben schnitt – vielleicht aus Muthwillen – der Mumie ein Stück aus der Schulter und nahm es beim Abmarsch in seinem Tornister mit. Er kam auch glücklich bis zu dem benachbarten Schwalbenberge. Plötzlich begann das Stück in seinem Tornister zu rumoren und in einer fremden Sprache zu sprechen. Gleichzeitig vermehrte sich das Gewicht des Tornisters immer mehr, bis er ihn endlich nicht mehr weiter zu schleppen vermochte. Schließlich warf er ihn auf einen Bagagewagen, aber vier Pferde vermochten ihn nicht von der Stelle zu bringen. Nach langem, vergeblichem Bemühen blieb nichts anderes übrig, als dem Heiligen das geraubte Stück zurückzugeben, das dann an der betreffenden Stelle wieder eingesetzt wurde.

Im Jahre 1794 wurde abermals die Ruhe des heiligen Vogtes gestört, und zwar wieder durch die Franzosen. Diese begnügten sich aber diesmal nicht blos mit einem Stücke, sondern packten die Mumie sorgfältig ein, um sie als Merkwürdigkeit nach Paris zu schicken. Damals begannen bekanntlich die Franzosen das später noch mehr ausgebildete System einzuführen, die bemerkenswerthesten [250] Kunstwerke und Seltenheiten aus Feindesland nach Paris zu befördern, wie man sich naiv ausdrückte, „im Interesse der Gelehrten“, welche dann nicht mehr nöthig hätten, das Material für ihre Studien in der halben Welt herum zu suchen, sondern es auf einem Punkte vereinigt fänden.

Die Ortsgeschichte von Sinzig hat leider nichts darüber aufbewahrt, ob die Stadt gegen die Wegnahme des Vogtes protestirte. Wie es scheint, hat man die französischen Truppen gewähren lassen, um bei Bemessung der Kriegslasten möglichst günstig wegzukommen. Vielleicht hat man auch im Stillen gehofft, der Vogt werde, als echter Heiliger, den Weg in die Heimath zurückfinden.

Diese Hoffnung sollte nicht getäuscht werden. Nach dem Einmarsche der Alliirten in Paris gelang es nämlich einem bei der Armee befindlichen Sinziger, den heiligen Vogt zu entdecken, der, mit einigen ägyptischen Mumien zusammengeworfen, sich sechszehn Jahre lang nach dem grünen Rheinstrome gesehnt hatte. Der Entdecker interessirte den Freiherrn von Stein für diese Angelegenheit, und während so mancher von den Franzosen geraubte Kunstschatz in Paris verblieb, befand sich die Mumie ausdrücklich unter den im Friedensvertrage bedungenen Gegenständen, deren Herausgabe zu erfolgen hatte. Dieselbe langte im Herbste 1815 in Köln an und wurde von da aus in pomphafter Procession nach Sinzig gebracht, empfangen von dem endlosen Jubel der Bevölkerung, welche während der langjährigen Abwesenheit des guten Vogtes sich in den schweren Kriegsläuften oft des früheren Helfers in der Noth erinnert hatte.

Freiherr von Stein vermuthete, der Vogt sei ein Ahn der auf der Landskron ansässig gewesenen Seitenlinie seines Hauses, die ihr Erbbegräbniß in der Kirche zu Sinzig gehabt haben soll. Arndt erzählt in seinen „Rhein- und Ahrwanderungen“: „Bald nach der Rückkehr des heiligen Vogtes aus Paris sah ich den Minister von Stein in Nassau, welcher scherzend und lachend zu mir sagte: ‚Wissen Sie, was für ein Heil mir widerfahren ist? Ich kann nun nimmer verderben; ich habe jetzt auch einen katholischen Heiligen und Fürbitter in meinem Hause, einen alten Ahn und Vogt von Landskron; war vielleicht in seinen Lebenstagen ein weidlicher Trinker und Raufbold, und hat ihm wohl nicht geträumt, daß er einmal unter die Heiligen versetzt werden würde!‘“

Welche Versuche die Franzosen mit dem Vogte angestellt haben, ist nicht bekannt geworden. Eine Broschüre aus dem Jahre 1812 erwähnt desselben und vermuthet in ihm eine Mumie arabischen Ursprunges, jedenfalls irrthümlich, da sowohl Schädelbildung wie Gesichtsausdruck den rein germanischen Typus zeigen. Wenn man dem Volksmunde glauben darf, wurde er unter Anderem in Oel gesotten, weil man glaubte, balsamische Stoffe in ihm zu finden. Dieses ölige Experiment scheint übrigens unserem Vogte nicht gut bekommen zu sein. Wenigstens datirt sich von seiner Rückkehr ab der Ausfall der Haare, sowie die Zerstörung von Nase und Augen.

Was sagt nun die Wissenschaft zu dem „Wunder“?

Bekannt ist, daß die alten Aegypter durch Anwendung von gerbstoffhaltigen und balsamischen oder auch nur salzigen Stoffen ihre Todten, welche nach Entfernung der Eingeweide meist mit einer Mischung aromatischer Harze oder Asphalt angefüllt wurden, künstlich zu mumificiren verstanden.

In nicht seltenen Fällen übernimmt aber auch die Natur ohne weiteres Hinzuthun die Mumificirung von Leichen, indem sie ihnen unter besonders günstigen Umständen die erste Bedingung, durch welche ein Fäulnißproceß überhaupt möglich ist, nämlich die Feuchtigkeit, rasch entzieht. Je trockner die Luft ist, besonders wenn noch regelmäßig anhaltende starke Strömungen derselben dazu kommen, desto häufiger lassen sich Fälle von natürlicher Mumificirung beobachten. Beispielsweise werden Menschen- oder Thierleichen in den Sandwüsten Afrikas und Arabiens, wenn sie durch eine Sandschicht gegen Raubthiere geschützt werden, in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu Mumien ausgedörrt, welche nicht mehr der Verwesung anheimfallen. Auf den canarischen Inseln, in Mexico und Peru, wo scharfe Winde, besonders in den Gebirgen, die rasche Austrocknung der Leichen veranlassen, sind natürliche, mehr oder weniger gut erhaltene Mumien durchaus nichts Seltenes.

Aber auch in weniger heißen Klimaten kommen, allerdings ziemlich vereinzelt, Fälle von natürlicher Mumienbildung vor. Bekannt ist z. B., daß in einem Gewölbe des Kapuzinerklosters zu Palermo (vergl. „Gartenlaube“ 1879, Nr. 4), im Kloster auf dem großen St. Bernhard, sowie in dem sogenannten Bleikeller der Domkirche zu Bremen in Folge von Austrocknung Leichen erhalten bleiben. Das lehrreichste Beispiel für den vorliegenden Fall bieten jedoch die in der Mönchsgruft oder eigentlich Unterkirche der Capelle auf dem Kreuzberge bei Bonn aufbewahrten Mumien ehemaliger Mönche des Medikantenordens.

Bis zur Ankunft der Franzosen im Jahre 1794 befanden sich daselbst vierhundert wohlerhaltene Leichen, welche meist schon mehrere Jahrhunderte der Verwesung trotzten. Die meisten derselben wurden begraben, nachdem die Franzosen die Särge geraubt hatten. Gegenwärtig sind noch etwa ein Viertelhundert Mumien vorhanden, welche, in düstere Ordensgewänder gehüllt, mit ihren fromm gefalteten Händen oder über der Brust gekreuzten Armen auf den Beschauer einen ergreifenden Eindruck machen.

Ganz genau dieselben Bedingungen finden wir in dem Gotteshause zu Sinzig; denn auch jenes liegt, wie die Kirche auf dem Kreuzberge, auf der Spitze eines Hügels und besaß früher eine nunmehr verschüttete Unterkirche, welche dem einen oder andern der benachbarten adeligen Geschlechter als Begräbnißstätte diente. Durch die angebrachten Oeffnungen fand lebhafter Luftzug statt, welcher die allmähliche Austrocknung der Leichen verursachte. Als weiteres begünstigendes Moment trat noch hinzu, daß der Untergrund des Hügels aus porösem, trockenem Gestein besteht, das durch Absorption von Feuchtigkeit den Vertrocknungsproceß beschleunigen half. Eine Bestätigung der Annahme, daß die Mumie mit solchem Gestein in Berührung gekommen, ergab die chemische Analyse einiger der Haut anhaftenden Partikelchen einer grauweißen Masse, welche sich als kohlensaurer Kalk von tuffsteinartiger Structur herausstellte.

Bis zu welchem Grade die Austrocknung fortgeschritten ist, ist aus der Thatsache ersichtlich, daß die ganze Mumie nur ein Gewicht von dreizehneinhalb Pfund aufweist.

Für die Richtigkeit unserer auch von Professor Dr. Schaafhausen in Bonn getheilten Annahme, daß die Mumificirung der Leiche sich durch beschleunigte Austrocknung vollzogen habe, spricht unter Anderem auch der Umstand, daß, wie oben erwähnt, Augen und Nasentheile in zunehmender Verwesung begriffen sind. Während nämlich früher die Mumie in einem trockenen und luftigen Gelasse aufbewahrt war, ist sie seit Restaurirung der Kirche in einen dumpfen, feuchten Raum untergebracht worden. Die Feuchtigkeit begünstigte die Verwesung und hatte zunächst die Zerstörung der nicht mit der schützenden pergamentartigen Haut bedeckten Körpertheile zur Folge; sie dürfte, allmählich fortschreitend, in nicht zu ferner Zeit den zweiten Tod des guten Vogtes herbeiführen.

Ob damit wohl die Wundergläubigkeit der Menge etwas erschüttert werden wird?

M. L.