« Kapitel 12 Das vierte Buch Esra Kapitel 14 »
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Sechstes Gesicht.
Der Mensch, der Welterlöser.
Das Gesicht.

1 Nach den sieben Tagen geschah es, da träumte ich des Nachts einen Traum: 2 siehe, da stieg ein ’gewaltiger‘[1] Sturm vom Meere[2] auf und erregte alle seine Wogen. 3 ’Ich schaute, siehe da führte jener Sturm aus dem Herzen des Meeres etwas wie einen Menschen hervor‘[3]; ich schaute, siehe dieser Mensch flog mit den Wolken des Himmels[4]. Und wohin er sein Antlitz wandte und hinblickte, da erbebte alles, was er anschaute[5]; 4 und wohin die Stimme seines Mundes erging, da ’zerschmolzen‘[6] alle, die seine Stimme[7] vernahmen, wie Wachs zerfließt, wenn es Feuer spürt[8]. — 5 Darnach schaute ich, siehe, es kam von den vier Winden des Himmels her ein unzählbares Heer von Menschen zusammen, um den Menschen, der aus dem Meer emporgestiegen war, zu bekämpfen. 6 Da schaute ich, wie er sich einen großen Berg losschlug[9] und auf ihn flog. 7 Ich aber bestrebte mich, Gegend oder Ort zu erkennen, woraus der Berg losgeschlagen war; aber ich vermochte es nicht. 8 Darnach schaute ich, siehe, alle, die sich gegen ihn[10] zum Kriege versammelt hatten, gerieten in große Furcht, wagten aber doch den Kampf. 9 Als er aber den Ansturm des Heeres, das auf ihn loskam, sah, da erhob er keine Hand, noch führte er ein Schwert oder eine andere Waffe[11], sondern ich sah nur, 10 wie er von seinem Munde[12] etwas wie[13] einen feurigen Strom ausließ, von seinen Lippen einen flammenden Hauch, und von seiner Zunge ließ er hervorgehen stürmende Funken: alle diese aber vermischten sich ineinander: der feurige Strom, der flammende Hauch und der gewaltige Sturm. 11 Das fiel[14] über das anstürmende Heer, das[15] zum Kampfe bereit war, und entzündete sie alle, so daß im selben Augenblick von dem unzählbaren Heer nichts anderes zu sehen war außer dem Staube der Asche und dem Dunste des Rauchs. Als ich das sah, entsetzte ich mich. — 12 Darnach schaute ich, wie jener Mensch vom Berge herabstieg und ein anderes friedliches Heer zu sich rief. 13 Da nahten sich ihm Gestalten[16] von vielen Menschen, die einen frohlockend, die anderen traurig[17]; einige waren in Banden[18], einige führten andere als Opfergaben mit sich[19].

[396]
Ist es besser, die Endzeit zu erleben oder nicht zu erleben?

Da erwachte ich vor gewaltigem Schrecken. Dann flehte ich zum Höchsten und sprach: 14 Du hast von Anfang an deinem Knechte solche Wunder offenbart und mich würdig erachtet, mein Flehen anzunehmen. 15 So offenbare mir nun noch die Deutung dieses Traums. — 16 Denn wie ich denke in meinem Sinn[20]: wehe denen, die überbleiben[21] in jener Zeit! aber noch viel mehr: wehe denen, die nicht überbleiben! 17 Denn die nicht überbleiben, müssen traurig sein; 18 denn sie kennen zwar die Freuden, die für die letzte Zeit bereit stehen, werden aber selbst nicht dazu gelangen. 19 Aber wehe auch denen, die überbleiben; ’deshalb, weil‘[22] sie große Drangsale und viele Nöte schauen[23] müssen, wie diese Träume zeigen. 20 Und doch ist es ’besser‘[24], dies, wenn auch durch Gefahren, zu erlangen, als wie eine Wolke aus[25] der Welt zu schwinden und die Dinge der Endzeit nicht zu sehen.

21 Er antwortete mir und sprach: Ich will dir die Deutung des Gesichtes zeigen und will dir auch über deine Erwägungen Aufschluß geben. 22 Wenn du über die Überbleibenden ’und Nicht-Überbleibenden‘[26] gesprochen, davon ist dies die Lösung: 23 derselbe, der in jener Zeit die Drangsal bringt, der wird auch die in Drangsal Gefallenen bewahren[27], wenn sie Werke haben und Glauben an den ’Allerhöchsten und‘[28] Allmächtigen. 24 So wisse also, daß die Überbleibenden bei Weitem seliger sind als die Gestorbenen.

Die Deutung.

25 Die Deutungen des Gesichtes sind diese: wenn du einen Mann aus dem Herzen des Meeres hast emporsteigen sehen: 26 das ist derjenige, den der Höchste lange Zeiten hindurch aufspart, ’durch den‘[29] er die Schöpfung erlösen will; der wird selber unter den Übergebliebenen die neue Ordnung schaffen[30]. 27 Wenn du gesehen hast, wie aus seinem Munde Sturm und Feuer und Wetter hervorging, 28 wie er kein Schwert noch eine Waffe führte ’und doch‘[31] den Ansturm jenes Heers, das wider ihn zu Felde zog, vernichtete, das bedeutet: 29 siehe, Tage kommen, da der Höchste die Erdenbewohner erlösen wird. 30 Da wird gewaltige Erregung[32] über die Erdenbewohner fallen, 31 daß sie Kriege wider einander planen, ’Stadt‘[33] gegen Stadt, Ort gegen Ort, Volk gegen Volk, Reich gegen Reich[34]. 32 Dann, wann dies geschieht und wann die Zeichen eintreffen, die ich dir vorausgesagt, dann wird mein Sohn erscheinen, den du als Mann, der emporsteigt, gesehen hast. 33 Dann, wann alle Völker seine Stimme vernehmen, werden sie alle ihre Länder und wechselseitigen Kriege lassen; 34 so wird sich ein unzählbares Heer an einem Punkte[35] sammeln, wie du gesehen hast, daß sie von sich aus herankamen und ihn angriffen. — 35 Er selbst aber wird auf den Gipfel des Zionberges treten; 36 Zion aber wird erscheinen und allen offenbar werden, vollkommen erbaut[36], wie du [397] gesehen hast, daß ein Berg ohne Menschenhände losgehauen ward. 37 Er aber, mein Sohn, wird den Völkern, die wider ihn gezogen sind, ihre Sünden strafen[37] — die[38] sind dem Wetter gleich — ; er wird ihnen ihre bösen Anschläge und ihre künftigen Qualen vorhalten — 38 die[39] sind wie das Feuer —, dann wird er sie mühelos vernichten ’durch‘[40] sein Geheiß — das gleicht der Flamme.

39 Wenn du ihn aber ein anderes, friedliches Heer zu sich hast ’rufen und‘[41] sammeln sehen, 40 das sind die zehn Stämme, die aus ihrem Lande fortgeführt sind in den Tagen König Josias[42], ’die‘[43] Salmanassar, König der Assyrier, gefangen genommen hat; er brachte sie über den Fluß[44], so wurden sie in ein anderes Land verpflanzt. 41 Da faßten sie selber den Plan[45], die Menge der Heiden zu verlassen und in ein Land, noch weiter in die Ferne zu ziehen, wo noch nie das menschliche Geschlecht gewohnt hatte[46], 42 damit sie dort wenigstens[47] ihre Satzungen bewahrten, die sie im eigenen Lande nicht gehalten. 43 So zogen sie durch schmale Furten des Euphratflusses ein. 44 Denn der Höchste that Wunder an ihnen und hielt die Quellen des Flusses an, bis sie hinüber waren[48]. 45 Zu jenem Lande ’aber‘[49] war der Weg anderthalb Jahre weit; das Land aber heißt Arzaret[50]. 46 Daselbst haben sie dann gewohnt bis in die letzte Zeit; jetzt aber, ’da sie abermals kommen sollen‘[51], 47 ’wird‘[52] der Höchste abermals die Quellen des Flusses ’anhalten‘, damit sie herüberkönnen[53]. Deshalb hast du ein Heer, friedlich gesammelt, gesehen. — 48 Zugleich aber [sind es][54] auch diejenigen, die übergeblieben sind aus deinem Volke, die sich auf meinem heiligen Gebiete finden[55]. 49 Dann also, wann er das Heer der versammelten Heiden vernichten wird, wird er das Volk [Israel], so viel davon übrig ist, beschirmen. 50 Dann wird er ihnen noch viele große[56] Wunder zeigen.

51 Da sprach ich: Herr Gott, zeige mir, weshalb ich den Mann aus dem Herzen des Meeres habe aufsteigen sehen. Er sprach zu mir: 52 Wie niemand erforschen noch erfahren kann, was in des Meeres Tiefen ist[57], so kann niemand der Erdenbewohner meinen Sohn schauen noch seine Gefährten[58], es sei denn zur Stunde ’seines‘[59] Tags.

53 Dies ist die Deutung des Traums, den du gesehen hast. Deshalb aber ist dir, dir ganz allein, dies offenbart[60],

54 weil du das Eigene verlassen,
dich dem Meinigen[61] gewidmet
und nach meinem Gesetze geforscht hast;

[398] 55 du verwandtest dein Leben auf Weisheit

und nanntest Vernunft deine Mutter[62].

56 Deshalb habe ich dir dies gezeigt, denn es giebt einen Lohn bei dem Höchsten. — Nach dreien Tagen ’aber‘[63] will ich weiter mit dir sprechen und dir schwierige[64] und wunderbare Dinge erklären.

Schluß.

57 So ging ich von dannen und wandelte durch das Gefilde, voll Lob und Preis gegen den Höchsten, um der Wunder willen, die er zu seiner Zeit[65] ’wirkt‘[66]: 58 er regiert ja die Stunden, und was in den Stunden geschieht[67]. So blieb ich dort drei Tage.


  1. Syr et ecce ventus magnus; ebenso Aeth Ar¹ Arm.
  2. Dan. 7,2.
  3. Syr et vidi et ecce ipse ventus ascendere faciebat de corde maris tanquam similitudinem hominis; vgl. Aeth. Ar¹.² Arm. Der Passus ist im Lat wegen des gleichen Anfangs überschlagen.
  4. Dan. 7,13.
  5. Lat quae sub eo videbantur = τὰ ὑπ’ αὐτοῦ βλεπόμενα (Hilg.).
  6. Syr (Arm) liquescebant = ἐτάκησαν, Lat ardescebant = ἐκάησαν (Hilg.).
  7. griech. Konstruktion; vgl. Rönsch, Itala und Vulgata S. 438.
  8. Mich. 1,4.
  9. Dan. 2,45.
  10. πρὸς αὐτόν.
  11. Vas bellicosum = σκεῦος πολεμικόν (Hilg.) = כְּלִי מִלְחָמָה.
  12. Jes. 11,4.
  13. Stil hebräischer Visionen.
  14. et concidit; der Sing. ist von πάντα ταῦτα abhängig.
  15. quod bezieht sich auf πλῆθος = multitudo.
  16. πρόσωπα (Hilg.).
  17. Juden und Heiden, Fromme und Gottlose.
  18. Die Juden der Gefangenschaft.
  19. Anspielung an Jes. 66,20 Lupton. Heiden bringen Juden als Opfergaben herzu.
  20. Wohl = בְּלִבִּי.
  21. Vgl. 1 Thess. 4,15.
  22. propter hoc: wird im Folgenden näher ausgeführt.
  23. רָאָה schauen = erleben.
  24. Syr (Aeth) melius; Hilg. konjiziert für Lat facilius felicius.
  25. לַעֲבֹר מֵהָעוֹלָם; oder vielleicht besser: durch die Welt zu gehen = לַעֲבֹר בָּעוֹלָם.
  26. Syr Ar¹ et de iis qui non derelinquentur.
  27. Zur Form vgl. Bensly S. 16.
  28. Syr (Aeth Ar¹) altissimum et fortissimum.
  29. Wellhausen, Skizzen VI, S. 236, A. 1, erklärt die Stelle richtig als Mißverständnis eines hebr. אֲשֶׁר־בּוֹ = δι’ αὐτοῦ; Lat verstand δι’ αὑτοῦ.
  30. dispono = διατίθημι oder διατάσσω. — Beachte den Beruf des Christus, Welterlöser zu sein; hiervon sprach also schon das Judentum. — Ob die herkömmliche Erklärung, daß der mysteriöse Titel des Christus „Menschensohn, Mensch, Weibessohn, Mann“ aus Dan. 7 stamme, richtig ist, erscheint mit sehr fraglich. Man erinnere sich der Spekulationen über den „himmlischen Menschen“ bei Paulus, Philo, den Rabbinen und Gnostikern.
  31. enim für autem vgl. zu 6,8.
  32. ἔκστασις διανοίας Dt. 28,28 (Hilg.).
  33. Lat M civitas, so Aeth Ar¹ Arm.
  34. Matth. 24,7. Jes. 19,2.
  35. Nach Offenb. Joh. 16,16 in Armagedon.
  36. Hebraisierend; vgl. Gesen.-K., Hebr. Gramm. §120d.
  37. ἐλέγξει τὰ προσελθόντα ἔθνη τὰς ἀσεβείας αὐτῶν.
  38. Diese Deutungen passen nicht eben gut; doch ist der Text nicht zu ändern; ein ähnlicher Fall 12,18.
  39. Diese Deutungen passen nicht eben gut; doch ist der Text nicht zu ändern; ein ähnlicher Fall 12,18.
  40. Syr per legem.
  41. Syr (Ar¹) advocantem et colligentem.
  42. Lat M Oseae, Lat S A* Syr Ar² Josiae. Historisch richtig wäre natürlich Hosea; doch kann Josia bereits ein Fehler des hebr. Verf. sein; vgl. Ap. Bar. 1,1.
  43. „quem“ Mißverständnis des hebr. אֲשֶׁר (Wellhausen).
  44. D. h. den Euphrat הַנָּהָר.
  45. Wörtlich: da gaben sie sich selber den Rat.
  46. Daß die 10 Stämme so weit, in unbekannter Ferne wohnen, nimmt man deshalb an, weil man sie in den bekannten Ländern nicht findet.
  47. גַּם־שָׁם.
  48. Jos. 3,15f. — Dies soll erklären, warum man zu den 10 Stämmen nicht gelangen kann.
  49. Vgl. zu 6,8.
  50. = אַרֶץ אַחֶרֶת terra alia Dt. 29, 27; vgl. oben V. 40 (Schiller-Szinessy, vgl. Schürer³ II, 357. A. 39) — Syr (Ar²) Arzaph ארזף.
  51. Syr cum futurum est, ut venirent; vgl. Aeth Ar¹.².
  52. Syr·(Aeth) prohibebit.
  53. Jes. 11,15f.
  54. Syr ergänzt, dem Sinne nach nicht unrichtig, salvabuntur.
  55. Dieser Satz scheint eine nachträgliche Hinzufügung zum Stoffe zu sein.
  56. נִפְלָאוֹת רַבּוֹת גְּדֹלוֹת.
  57. Ob dies wirklich die ursprünglich im Stoffe angelegte Deutung ist, erscheint sehr zweifelhaft. Daß der Zug überliefert ist, mag man daher vermuten, weil er sehr seltsam ist: nach der eschatologischen Dogmatik kommt der Christus vom Himmel, nicht aus dem Meere. Wenn der Stoff mythologischer Art ist, so liegt der Gedanke an einen Gestirngott nahe, der aus dem Meer auftaucht, zum Himmelsberg emporsteigt, seine Feinde mit seinen glühenden Strahlen verbrennt und dann sein Friedensreich stiftet.
  58. Das ist das Heer der Engel, die ihn begleiten.
  59. Syr (Aeth Ar¹.² Arm) in die eius; die jüd. Tradition redet häufig von „den Tagen des Messias“.
  60. Griech. Konstruktion, etwa: ἐφωτίσθης ταῦτα (Hilg.).
  61. Lat circa mea = πρὸς τὰ ἐμά ἐσχόλασας.
  62. Spr. 7,4.
  63. Vgl. zu 6,8; Syr autem.
  64. βαρύς = כָּבֵד.
  65. Lat per tempus = κατὰ καιρόν (Volkmar).
  66. ἐποίει verlesen für ποιεῖ (Volkmar). Oder Mißverständnis des Ps. עָשָׂה.
  67. Lat et quae sunt in temporibus inlata = καὶ ὅσα ἐν τοῖς καιροῖς φέρεται = וַאֲשֶׁר בָּאוּ בָעִתִּים.
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