Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Das unterirdische Berlin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 96
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[96] Das unterirdische Berlin. In früherer Zeit waren die Keller in Berlin nichts weiter als Räume zur Aufbewahrung verschiedener Lebensmittel und angenehmer Getränke. Die zunehmende Bevölkerung hat ihnen eine andere und höhere Stellung angewiesen, indem sich die Keller allmählich in Wohnungen für Tausende von Menschen verwandelten. Andere erhoben sich sogar zu dem Range von beliebten Vergnügungslocalen und Frühstücksstuben. Die Keller emancipirten sich und wurden ein gesuchter Artikel von großer socialer Bedeutung. Freilich ist zwischen Keller und Keller noch immer ein großer Unterschied, wie zwischen einem strahlenden Brillanten und gemeinen Kieselstein. Auch hier berühren sich die äußersten Gegensätze der Gesellschaft, die jammervollste Armuth und der glänzendste Luxus. Es giebt in Berlin Kellerwohnungen, bei deren Anblick den Menschenfreund ein tiefer Schauder erfaßt, elende feuchte Löcher ohne Luft und Licht, von deren Wänden das Wasser herniederläuft, deren Boden mit Pilz und Schimmel bedeckt ist, bewohnt von traurigen, hinfälligen Gestalten, von scrophulösen Kindern, blödsinnigen Greisen, oder der Hefe des Lasters. Hier herrscht Jahr aus Jahr ein Noth, Hunger und Krankheit, der gräßliche Typhus und das Heer der epidemischen Krankheiten. Einige Stufen höher steht der Keller des armen Handwerkers, der eine bessere Wohnung noch nicht bezahlen kann. Vorzugsweise liebt der poetische Flickschuster die unterirdischen Räume, aber auch andere Gewerbe haben eine besondere Neigung für Kellerwohnungen, wie die Barbiere und Fleischwaarenhändler, unter denen Einzelne in den bescheidenen Räumen ein nicht unbedeutendes Vermögen mit der Zeit zusammensparen. Ebenfalls zu dem Geschlecht der Kellerwürmer gehört der „Budiker“ oder Victualienhändler, der meist ein glänzendes Geschäft mit den ersten Lebensbedürfnissen macht und öfters aus seinem Keller in die erste Etage emporsteigt, um als Rentier sein Leben zu beschließen. Gewöhnlich aber zieht er es vor, bis zu seinem Ende Käse, Butter und Heringe zu verkaufen, seine Kunden zu bedienen, trotzdem er Hauseigenthümer geworden ist und sein Geld auf sichere Hypotheken ausleiht. —

Zahllos ist das Heer der Frühstücks- und Speisekeller in ihren verschiedenen Abstufungen und Schattirungen, Die niedrigste Stellung nimmt hier der sogenannte „Bumskeller“ ein, der von den Arbeitern, Tagelöhnern und Bummlern fast ausschließlich besucht wird. Man findet daselbst wunderbare Getränke von zweifelhaftem Geschmack und Farbe, die unter dem Namen Kaffee oder Chocolade für 6 Pfennige die Tasse verabreicht werden, Diners zu 21/2 Silbergroschen, Coteletten und Beefsteaks von höchst verdächtiger Natur und als Compot jene riesigen sauren Gurken, deren bloßer Anblick schon hinreicht, gelinde Anfälle von Cholera hervorzurufen. Die Hauptsache ist jedoch weniger das Essen als das Trinken, worin von einzelnen Stammgästen in der That das Außerordentlichste geleistet wird. Die ganze Atmosphäre duftet nach saurem Weißbier, dem Berliner Nektar, und nach Nordhäuser Korn, der zur besseren Verdauung des Weißbiers nicht immer mäßig genossen wird. Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn sich die Gemüther leicht erhitzen und Handgreiflichkeiten vorkommen, die meist mit der Herausbeförderung des Ruhestörers zu enden pflegen. Dieser hat dabei den Vortheil, die Kellertreppe statt hinuntergeworfen heraufgeworfen zu werden.

Einen glänzenden Contrast zu dem Bumskeller bildet der feine Delicatessenkeller, in dem sich besonders nach dem Theater die bessere (?) Gesellschaft einzufinden pflegt. Derselbe ist stets höchst elegant, zuweilen luxuriös eingerichtet, mit Sammttapeten, schwellenden Divans, Rococospiegeln, Gemälden und strahlenden Kronleuchtern versehen. Außer dem gemeinschaftlichen Salon giebt es hier eine Reihe von einzelnen Cabineten für besondere Gesellschaften, welche allein für sich bleiben wollen. Manche Mysterien werden hier gefeiert, mancher kleine Roman abgespielt, obgleich die Polizei die Geheimnisse der besonderen Cabinete nicht länger dulden wollte und zu diesem Zwecke die Thüren aushoben und durch leichte Vorhänge zum Leidwesen so mancher zärtlichen Paare ersetzen ließ. Dennoch fehlt es nicht an kleinen Abenteuern, heimlichen Rendezvous, und noch immer bieten die Delicatessenkeller in Berlin dem Novellisten einen reichen Stoff und manches piquante Kapitel für seine socialen Studien. —

Den Schluß bilden die „Verbrecherkeller“, von der Polizei geduldete Vergnügungslocale für notorische Diebe, Strolche, liederliche Dirnen und ähnliche gefährliche Individuen. In diesen unterirdischen Höhlen, von Fusel und mephitischen Ausdünstungen erfüllt, hält das Laster ungeschoren seine Orgien. Bei den Klängen eines wüsten Leierkastens oder einer verstimmten Violine dreht sich im wilden Taumel der Auswurf der Gesellschaft, die Elite der Verbrecherwelt. Hier feiert der berüchtigte Gauner seine Triumphe und freut sich der Anerkennung seiner Standesgenossen, hier macht der junge Anfänger auf der Verbrecherbahn Bekanntschaften, die für sein ganzes Leben entscheiden, hier findet er Freunde, Helfer und die Geliebte, für die er stiehlt und im Nothfalle mordet. Es herrscht eine bacchantische Wildheit, eine unbeschreibliche rohe Lust und Ausgelassenheit in diesen Räumen, wüstes Geschrei, toller Lärm, dazwischen das Jauchzen der ausgelassenen Dirnen, der gröhlende Gesang der Männer, unterbrochen durch einen plötzlichen Streit, wobei die Messer blitzen und nicht selten schwere Verwundungen vorkommen. Mitten in dem höchsten Wirrwarr wird es plötzlich todtenstill, die Musik verstummt, Alles flüchtet nach der Thür und zu den verborgenen Ausgängen, die jedoch von der Sicherheitspolizei besetzt sind. Es findet eine Razzia statt, um einige gefährliche Verbrecher auszuheben. Dazu dienen diese Keller, wo man sicher ist, die ganze saubere Gesellschaft anzutreffen. Wenige Augenblicke später werden eine Anzahl von Dieben, die sich bisher allen Nachstellungen zu entziehen gewußt, unter bewaffneter Begleitung und mit den nöthigen Handschellen versehen, aus dem Tanzlocal nach der Hausvoigtei abgeführt. In dem Verbrecherkeller ist es dunkel geworden, und nur in der Nähe sieht man noch einige verdächtige Schatten, die vor dem dämmernden Morgenlicht verschwinden und in ihre heimlichen Spelunken sich verbergen.