Textdaten
Autor: Karl Pauli
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Tuch
Untertitel:
aus: Das Buch für Alle, Illustrierte Familienzeitung, 44. Jahrgang 1909, Heft 13, S. 290–292 u. 294
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1909
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[290]
Das Tuch.
Erzählung von Karl Pauli.
(Nachdruck verboten.)

Es war ganz still in dem überheizten Zimmer, nur eine Uhr tickte, ein Rotkehlchen, das in einem Bauer am Fenster hing, stieß zuweilen einen leisen, piependen Ton aus, wenn es von Stange zu Stange seines Käfigs sprang, und mitunter knirschte ein kratzender Ton durch die Stille, welcher von einer Stahlfeder herrührte, die eine ungeübte Kinderhand mühsam über das Papier führte.

Der auf der Ofenbank sitzende Mann hatte die Augen halb geschlossen und starrte schläfrig vor sich nieder; der etwa neunjährige Knabe, der an dem rotgestrichenen Tisch saß und Schularbeiten machte, hockte ganz schief auf seinem Stuhl, mit dem Kopf beinahe die Tischplatte berührend, und malte mit ungeschickter Hand Buchstaben in ein Schreibheft.

Der Mann auf der Ofenbank hob endlich den Blick und ließ ihn im Zimmer umherschweifen, einmal, zweimal sah er sich der Reihe nach um, dann sank er, ein halb verächtliches, halb resigniertes Lächeln auf den Lippen, wieder in seine vorige Stellung zurück.

Viel war es freilich nicht, an dem er sein Auge weiden konnte, der Möbelvorrat des Zimmers war mit einer längs der Wand hinlaufenden Bank, einer ebensolchen um zwei Seiten des Ofens, einem viereckigen Tisch, zwei Stühlen, alles rot gestrichen, erschöpft. Als Zimmerschmuck konnte man das Vogelbauer rechnen und ein Bild, das an der Wand neben dem Ofen hing, einen Dragoner auf wild sich bäumendem Pferde darstellend, der mit geschwungenem Säbel gegen einen nicht sichtbaren Feind anstürmte. Das Pferd und der Reiter waren Farbendruck, das Gesicht des Dragoners aber, aus einer Photographie ausgeschnitten, zeigte einen so friedlichen Ausdruck und wendete sich so entschieden von der Richtung des Rittes, also auch von dem Feinde ab, daß der Gesamteindruck mehr komisch als kriegerisch wirkte. Endlich konnte man etwa noch eine riesengroße Wanduhr mit mächtigen Gewichten und großen Zahlen, einen sogenannten Seger oder Seiger, als Zimmerschmuck betrachten.

Trotz dieser Einfachheit war das verächtliche Lächeln des Mannes auf der Ofenbank nicht am Platze. War die Einrichtung auch einfach, ärmlich sogar, so unterschied sie sich doch durchaus nicht von der anderer Hütten und Häuser im ganzen Gebirge. So wie hier sah es in allen Stuben aus, wohin man auch kommen mochte, selbst bei den wohlhabenden Bauern; höchstens daß da ein gepolsterter Großvaterstuhl in der „Hölle“, wie der Platz zwischen dem Ofen und der Wand genannt wurde, stand. Was brauchte man auch sonst für Bequemlichkeiten? Für das Sitzen waren die Bänke längs der Wand und die Ofenbank da, und liegen konnte man im Bett oder im Heu draußen.

Nun, daraufhin hatte auch der Mann auf der Ofenbank, der Steinbrucharbeiter Seibt, sein Hab und Gut nicht abtaxiert. Wie wäre er auch dazu gekommen? Nein, wenn man sein Eigentum abschätzt, muß man seinen Wert gegen einen Gegenwert abwägen, und bei dieser Musterung des Mobiliars sah Seibt ein, daß er darauf bei Tilgung seiner Schulden nicht rechnen konnte.

Das war alles zusammen keine dreißig Mark wert.

Ja – Seibt hatte Schulden! Als er vor drei Jahren den alten Steinbruch über der Halde pachtete, da glaubte er, bald nicht mehr in Not und Sorge zu sitzen, sondern ein hübsches Sümmchen erübrigt zu haben. Aber es war anders gekommen, er hatte sich getäuscht, der Bruch war erschöpft gewesen, die Steine, die noch nach einer Schicht vorgelagerter gekommen waren, hatten sich als brüchig und minderwertig erwiesen. So hatte er nicht nur sein mühsam erspartes Kapital drangeben müssen, sondern hatte noch Schulden obendrein gemacht, die er jetzt, wo er wieder im Taglohn arbeitete, von seinen paar Groschen abzahlen sollte und auch zahlte. Es wäre schließlich auch noch gegangen, wenn nicht sein Hauptgläubiger, der alte Kretschmer, plötzlich gestorben, und der Erbregulierung wegen jetzt die Restschuld auf einmal von ihm verlangt worden wäre. Seibt weigerte sich zu zahlen und pochte auf sein Recht. Er könne das Geld wiedergeben, wann es ihm passe. Die Folge davon war natürlich eine Klage, in der Seibt, da über die verabredete Rückzahlung nichts Schriftliches vorhanden war, zur Zahlung verurteilt wurde.

Das war schon eine ganze Weile her, jeden Tag konnte der Gerichtsvollzieher kommen und pfänden. Was sollte der aber hier pfänden? Da ging‘s dann eben ans Häusel, des Mannes ganzen Stolz, da [291] wurde ihm das eben über dem Kopfe verkauft, das Häusel, das sein Vater unter saurer Arbeit, nach vieljährigen Mühen erworben, und in das er damals mit den Seinen in einem Rausch des Glückes eingezogen war. Ja, das Häusel war dann weg und er konnte wieder als Inlieger gehen, wie die Bettelleute, die schon gar nichts haben – er, der doch schon Unternehmer gewesen war! Diese Schande vor den Leuten! Er schüttelte ingrimmig den Kopf, wenn er nur daran dachte.

Aber vielleicht konnte das Schlimmste doch noch vermieden werden. Seine Frau war noch einmal in die Stadt gegangen, um mit dem Notar zu sprechen. Seibt hatte es nicht gewollt, denn er wußte, sie würde gute Worte geben müssen, und das wollte er nicht, denn er fühlte sich im Recht, und um sein Recht brauchte er nicht betteln! Aber sie hatte darauf bestanden. Da hatte er weiter nichts gesagt, wenn er nur nicht vom Häusel mußte, und nicht selber bitten, dann sollte es in Ordnung kommen, wie es wollte. Er wollte ja gern Zinsen und Kosten zahlen.

Eine heftige Bewegung des Schreibenden störte seinen Gedankengang. Der Junge hatte die Tinte umgestoßen und saß nun ratlos vor dem großen schwarzen Fleck, der ohne zu verrinnen auf der Tischplatte zitterte.

„Vaterle!“ rief das Kind mit weinerlicher Stimme, auf den großen Fleck zeigend.

Der Mann sah auf. Als er erkannte, welches Unglück der Junge angerichtet, rief er fast ängstlich: „Ach du mein Gott, wenn das nur die Mutter nicht sieht! Wart’ nur, Gustav, ich werd’s schnell wegmachen!“

Er nahm ein blaugewürfeltes Taschentuch, das neben ihm auf der Ofenbank lag, ballte es zusammen und versuchte damit, den Tintenklecks aufzutunken!

„So, dazu mußt du gerade das Schnupftuch nehmen, als ob keine Wischlumpen da wären?“ keifte plötzlich eine Stimme von der Tür her, und eine mittelgroße Frau, mit frischem, von der Kälte gerötetem Gesicht trat vollends in die Stube.

Der Mann versteckte das Taschentuch hinter dem Rücken und sagte verlegen: „Nu ja, ich hab’s nicht gleich bedacht. Ich erschrak halt, weil mir die Tinte so schnell umfiel!“

„Dir?“ unterbrach ihn die Frau. „Der Junge wird sie wohl wieder umgeschmissen haben, – Du Tolpatsch“ – sie ging auf das Kind los – „wie oft hab’ ich dir nicht gesagt, du sollst aufpassen! Denkst du denn, wir stehlen das Geld?“

Sie suchte den Knaben zu fassen, aber der Mann drängte sich dazwischen.

„Du schlägst den Jungen nicht!“ sagte er, die Hand vorstreckend. „Wo so viel in die Brüche geht, wird’s wohl auf einen Tropfen Tinte auch nicht ankommen.“

Die Frau hatte sich währenddessen des Taschentuchs bemächtigt und dasselbe ausgebreitet. Gerade in der Mitte hatte sich die aufgewischte Tinte gesammelt. Es war wie ein schwarzer Klumpen in der Mitte des Tuches.

„Nu guck’ dir das Tuch an!“ rief die Frau. „Grade als ob du alles –“

„Du sollst still sein!“ unterbrach er sie rauh und riß ihr mit einem hastigen Griff das Tuch weg, es wieder in die Tasche steckend. „Wenn sie einem das Dach überm Kopf wegnehmen, dann wird‘s wohl das dumme Tuch auch nicht ausmachen!“

Er setzte sich wieder auf die Ofenbank, steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine von sich.

Nach einer Weile sagte er: „Du hast wohl nichts ausgerichtet?“

Die Frau, die in eine Ecke des Zimmers getreten war, dort den Korb, den sie trug, niedergesetzt und ihr Umschlagtuch aufgehangen hatte, gab keine Antwort. Aber nach einer kleinen Weile fing sie heftig an zu weinen.

„Na ja!“ sagte er, „ich hab’s ja gewußt! Es ist kein Halten mehr!“ Er starrte eine Weile vor sich nieder und fuhr dann auf: „Hab‘ ich etwa nicht bezahlt? Hab’ ich nicht jeden Pfennig, den wir übrig hatten, hingetragen? Mit seinen zwei Händen kann man doch allein kein Vermögen verdienen!“ Er sank wieder in sich zusammen und sagte nach einer Weile traurig: „Nun sag’ nur wenigstens, wie’s war! Was hat denn der Notar gesagt?“

„Es wäre zu spät, hat er gesagt, der Gerichtsvollzieher hätt’s schon in den Händen, und der Obervormund bestände auf der Versteigerung, wenn auch nicht viel dabei herauskäme!“

Der Mann nickte mit dem Kopfe, als habe er ähnliches erwartet. Eine Weile saß er regungslos, dann hob er plötzlich wie drohend den Arm und rief: „Vom Häusel geh’ ich nicht – vom Häusel nicht!“

Die Frau antwortete nichts, sie stellte ein paar Steingutteller auf den Tisch, ging an den Ofen, um einen mächtigen Topf voll Kartoffeln daraus hervorzuziehen, und stürzte den Topf auf dem Tisch um, so daß die Kartoffeln einen großen Haufen bildeten. Dann setzte sie sich mit dem Jungen an den Tisch, und beide fingen an, die Kartoffeln abzuschälen und große Berge vor sich aufzuhäufen.

Mürrisch setzte sich auch Seibt hinzu und beteiligte sich an dem Geschäft.

Als sich jeder genug Kartoffeln geschält hatte, schob Frau Seibt das Salzfaß in die Mitte des Tisches, holte dann aus dem Ofen eine mächtige Bunzlauer Kanne mit Kaffee, setzte neben jeden eine Tasse, die sie vollgoß, und das Abendessen begann. Jeder steckte eine von seinen Kartoffeln auf sein Taschenmesser, führte sie so zum Salzfaß, steckte sie dann in den Mund, worauf er den Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunterspülte.

Als das Essen vorbei war, erhob sich die Frau. „Jetzt marsch in die Kammer!“ rief sie dem Knaben zu, der sich gehorsam erhob und sich entfernte. „Und wir gehn auch,“ fuhr sie fort, als sie sah, wie sich der Mann wieder auf die Ofenbank setzte.

„Geh nur,“ gab der zur Antwort, „ich kann doch nicht schlafen!“

„Na, was ist denn das für ein Getue!“ rief die Frau ungeduldig.

„Leg dich nur nieder!“

„’s ist mir noch zu früh!“

„Ach was! Unnütz das Licht verbrennen! Das gibt’s nicht. Geh du nur mit!“ Sie hatte sich bei diesen Worten der Lampe genähert, die an einem Draht von der Decke herabhing und sie ausgeblasen.

„Ich geh nicht mit – geh nur!“ sagte Seibt in einem Tone, der keinen Widerspruch aufkommen ließ.

Die Frau schien das einzusehen und entfernte sich langsam und vorsichtig wegen der Dunkelheit, die jetzt in der Stube herrschte.

Seibt blieb allein.

Die Dunkelheit war ihm aber unangenehm; er stand auf und versuchte die Lampe wieder anzuzünden. Da er sich aber an dem noch heißen Zylinder die Finger verbrannte, ließ er ab davon und nahm seinen alten Platz wieder ein. Er wollte nachdenken, wie er sich aus seiner mißlichen Lage reißen könnte, aber er dachte eigentlich nichts, als daß es doch sehr schön sein müßte, wenn jetzt jemand eintreten würde, der ihm sagte: Seibt, du bist immer ein anständiger Mensch gewesen, hier hast du das Geld! – oder es käme ein Brief von seinem Rechtsanwalt, daß der Gegner plötzlich auf eine Pfändung verzichtet habe, und er also einstweilen noch nicht zu bezahlen brauche.

Da wurde von außen ans Fenster geklopft.

Seibt öffnete den Schieber, der nach außen führte. „Wer ist denn da? Was soll denn sein?“ Er runzelte die Stirn. War das am Ende schon der Gerichtsvollzieher? Aber seine Miene heiterte sich auf, als er den draußen sprechen hörte. „Kommen Sie nur, Herr Markus!“ sagte er.

Aber der draußen schien nicht zu wollen. „Seibt,“ sagte Markus, ein Produktenhändler aus Wiegandstal, der oft in die Gegend kam, „wollen Sie sich eine Mark verdienen? Begleiten sie mich bis Raslau. Ich muß morgen nach Lähn und komme nicht mehr hin, wenn ich nicht heute noch Raslau erreiche. Nun hat’s mir aber gestern schlecht geträumt, so daß ich nicht gern allein gehen möchte in der kalten Nacht durch den langen Wald im tiefen Schnee, obwohl ich kein Geld bei mir habe, nicht einen Pfennig. Es ist halt so eine Einbildung von mir. Kommen Sie, gehen Sie mit, ich geb’ Ihnen sogar zwei Mark, wenn Sie wollen!“

Seibt war’s zufrieden. Ein Weg von zwei Stunden hin und zurück und dafür zwei Mark! Um so viel zu verdienen, mußte er sonst länger und angestrengter arbeiten. Und da kam ihm auch der Gedanke, wenn er Markus seine Not klagte, der hatte Geld, vielleicht würde er ihm helfen. Aber hatte er nicht gesagt, er hätte kein Geld? Na, Geld hatte der schon, und bei sich hatte er sicher auch welches, und wenn er sagte, er hätte keines, dann hatte er erst recht viel! Für nichts und wieder nichts gab der doch kein Geld aus, um sich den kurzen Weg begleiten zu lassen!

Unter diesen Gedanken hatte er sich fertig gemacht, und sie waren schon eine Weile gegangen, als Seibt auf einmal umkehrte und dem fragenden Markus antwortete: „Ich komme gleich wieder, will mir nur das Beil holen. Man weiß ja nie, wem man in der Nacht im Walde begegnet!“

*

Als Seibt am nächsten Morgen aus der Kammer in das Wohnzimmer trat, fand er seine Frau schon am Waschfaß; sie sagte nichts darüber, daß er noch einmal weggewesen und erst spät nach Hause gekommen war, sie mochte wohl denken, er wäre noch einmal im Wirtshaus gewesen, um seinen Kummer zu vertrinken. Sie meinte bloß, als er sich am Tisch niederließ, und sie wie gestern einen Berg Kartoffeln vor ihn hinschüttete: „Gib auch das Tuch her, ich wasch’ grade.“

Er sah sie an, ohne sie zu verstehen.

„Das Schnupftuch,“ erklärte sie ungeduldig, „das du gestern voll Tinte geschmiert hast!“

„Ach so!“ Er fuhr mit der Hand in die Tasche, zog sie aber leer zurück. „Es wird in der Kammer liegen!“

Sie ging hinein, kam aber gleich darauf wieder und brummte ärgerlich: „In der Kammer liegt’s nicht.“

„Es muß drinnen liegen,“ sagte er heiser. „Sieh nur ordentlich nach!“

„Es liegt aber nicht drinnen!“ antwortete sie bestimmt.

„Da laß es halt liegen, wo’s will!“ schrie er wütend. „Laß mich endlich mit dem Fetzen in Ruhe!“

Dennoch ging er selbst in die Kammer und suchte überall, aber er fand auch nichts. Dann stand er lange überlegend da, zog endlich die Sonntagsjacke und die langen Hosen an, gleichsam um die Frau glauben zu machen, er habe weiter nichts in der Kammer zu tun gehabt, als sich umzuziehen.

„Nun?“ sagte die Frau, als er heraustrat.

„Was denn?“

„Hast du das Tuch?“

„Hast du denn nichts im Kopfe wie den elenden Lappen!“ schrie er sie an. „Jetzt hab’ ich’s satt, und wenn ich Lust hab’, schmier’ ich noch zehn solche Tücher in die Tinte, und schmeiß’ sie dann auch noch weg!“ Er nahm die Mütze vom Nagel und schritt der Tür zu.

[292] „Wo willst du denn hin?“ fragte die Frau etwas eingeschüchtert.

„Wo soll ich denn hingehen?“ sagte er in demselben unwirschen Tone, „ich muß doch versuchen, Rat zu schaffen, einer muß sich doch um was kümmern, so mir nichts dir nichts läßt man sich doch nicht bei Wind und Wetter vom Häusel jagen!“

Die Frau sah ihm bekümmert nach, ein schwerer Seufzer hob ihre Brust. Er würde nichts ausrichten, das wußte sie, und wenn sie wirklich vom Häusel müßten – sie wagte den Gedanken gar nicht auszudenken. Sie ging wieder in die Kammer und suchte noch einmal nach dem Tuch. Es mußte ja da liegen, wo sollte es denn sonst sein! Aber Sie fand es nicht, es steckte weder in der Jacke, die Seibt gestern getragen hatte, noch lag es in der Kammer. Er mußte es also doch wohl verloren haben. Sie wollte ihn fragen, wo er überall gewesen sei, beschloß aber dann, lieber nicht mehr davon anzufangen, weil es ihn zu verdrießen schien.

Nach ein paar Stunden kam der Mann zurück, seine Augen glühten, sein Gang war nicht so sicher wie sonst.

„Na, siehst du,“ sagte er, die Mütze auf den Tisch werfend, „ich hab’s doch noch ins reine gebracht! Mit dem Verkaufen ist’s vorderhand nichts!“

Die Frau schwankte vor Freude bei dieser Nachricht so sehr, daß sie sich an der Wanne festhalten mußte. Aber das zeigen von Gefühlsäußerungen ist auf dem Lande nicht Brauch, sie sagte daher auch weiter nichts als: „Da hat dir wohl einer was geborgt?“

„Wird schon so sein,“ erwiderte er ausweichend.

„Wer denn?“ Sie sah ihn neugierig an.

Er warf ihr einen zornigen Blick zu und sagte dann: „Was geht denn dich das an! Kümmre dich um deine Sachen!“

„Aber sei doch nicht so komisch! Ich muß doch wissen, wem wir Geld schuldig sind! Wenn dir nun was passiert?“

„Mir passiert nichts!“ schrie Seibt. „Nimm du dich nur in acht, daß dir nichts passiert!“ Er hob die Hand, als wolle er sie schlagen.

„Du Lümmel!“ rief die Frau verächtlich. „Wenn du betrunken bist –“

Sie konnte nicht weiter reden, denn ein Faustschlag traf sie mitten ins Gesicht.

Das war der erste Schlag, den sie erhielt, seitdem sie verheiratet waren. Sie sagte kein Wort, schweigend wischte sie sich die Tränen aus den Augen und ging hinaus.

Als Gustav aus der Schule kam und die Mutter am Waschfaß stehen sah, sagte er: „Muttel, wenn du wäscht, da wasch’ nur auch gleich das Tuch mit, das der Vater gestern in die Tinte getaucht hat!“

Leise, damit es der in der Kammer schlafende Seibt nicht hörte, antwortete sie: „Sei still von dem Tuch! Der Vater ärgert sich schon genug, daß er’s verloren hat. Sag nichts mehr davon – hörst du!“

Gustav nickte. Er hielt es für sehr begreiflich, daß der Vater ärgerlich war, das Tuch verloren zu haben, denn es hatte gewiß großen Wert. Er erinnerte sich wenigstens, daß er fürchterliche Prügel bekommen, als er einst eines verloren hatte, und das war ein altes, geflicktes gewesen, nicht ein so gutes neues, wie das, das der Vater verloren hatte.

Er hielt es daher für sehr begreiflich, wenn er den Vater in den kommenden Nächten schwer aufseufzen hörte, und sagte auch der Mutter nichts davon, denn er wollte nicht, [294] daß die sich auch wieder zu grämen anfange. Und so war denn weder von dem Geld, das sich Seibt geborgt, noch von dem Taschentuch in der einsamen Hütte mehr die Rede.

*

Der Winter verging, der Frühling zog ins Land.

Der Wechsel brachte für die Bewohner der Seibtschen Hütte keine Veränderung, eintönig flossen die Tage dahin. Das Einvernehmen zwischen den Eheleuten war zwar wieder hergestellt, allein ein wirkliches, echtes war es nicht mehr – nicht durch die Schuld der Frau, denn sie hatte längst vergeben, derartiges war in ihrer Umgebung doch so etwas Gewöhnliches, daß sie sich selbst komisch vorgekommen wäre, den Schlag ihrem Manne nachzutragen.

Aber Seibt selbst war anders, er war aufbrausend und bösartig geworden.

Eines Tages kam Abwechslung in ihr eintöniges Leben. Es war so gegen Mittag, da zog das halbe Dorf bei der Hütte vorüber dem Walde zu – alle aufgeregt und hastend, laut sprechend und streitend.

Als Seibt vor die Hütte trat, um zu erfahren, was es gäbe, rief ihm einer zu: „Im Walde liegt einer erschlagen. Gestern haben sie ihn gefunden, jetzt[1] sind die Gendarmen mit dem Staatsanwalt da!“

„Erschlagen? Wer ist’s denn?“

„Das weiß niemand. Der Tote liegt wohl schon sehr lange, denn die Füchse sollen ihn ganz zerfressen haben.“

„So – so!“ sagte Seibt zerstreut. „Wer hat ihn denn erschlagen?“

„Das weiß noch kein Mensch. Aber sie werden’s schon ’rauskriegen! Ein Mörder verrät sich ja immer selbst!“

„Na,“ meinte Seibt, „so manchen Mord hat man auch nicht ’rausgekriegt!"

„Gehst du nicht mit?“ fragte der Nachbar.

„Nein,“ entgegnete Seibt, „ich kann so was nicht sehen.“

Er trat ins Haus zurück und ging in die Kammer.

Als seine Frau nach Hause kam, fragte er sie, ob sie nichts von dem Morde gehört hätte.

Sie brachte in der Tat genauere Nachricht, man wußte jetzt, wer der Erschlagene war. Es war der Händler Markus. Bei einem anderen hätte auch die Tat nicht so lange verborgen bleiben können, aber Markus war nicht verheiratet, und zog oft monatelang im Lande umher. Es war also nicht aufgefallen, daß er nirgends gesehen worden war.

„Der Markus!“ meinte Seibt. „Das hab’ ich mir immer gedacht, daß sie den einmal um die Ecke bringen. Der ging immer allein, wie oft hab’ ich nicht gesagt, daß ihm gewiß noch einmal was passieren werde.“

„Er muß bei uns vorbeigekommen sein!“ sagte die Frau. „Merkwürdig, daß er nicht ’reingekommen ist! Er ging sonst doch nie vorbei, ohne vorzusprechen. Du hast ihn ja auch schon ein paarmal durch den Wald geführt.“

„Ja – ja,“ sagte Seibt, „jetzt ist er halt tot. Wir können ihn nicht wieder aufwecken.“

Dann ging er hinaus, setzte sich auf den Brunnenrand und blieb sitzen, bis die Frau ihn ans Schlafengehen mahnte.

„Was sitzt du denn da und starrst in die Nacht!“ sagte sie. „Du hast ihn doch nicht erschlagen!“

„Wen denn? Was denn? Sei doch so gut, und red’ du kein so albernes Zeug, du dumme Gans! Ich werd’ so wie so noch Lauferei und Schererei genug haben, weil er gerade an dem Abend hier vorbeigehen mußte!“

Er erhob sich seufzend und ging hinein. Lange hörte ihn die Frau sich ruhelos auf seinem Bette wälzen.

*

Seibt hatte recht, er hatte Lauferei und Schererei, denn er wurde ein paarmal vor Gericht gefordert, wo er durchaus sagen sollte, ob Markus an dem Abend an seinem Hause vorbeigegangen war oder nicht, wann er ihn zuletzt gesehen habe und so weiter.

Seibt erklärte, daß Markus öfter bei ihm gewesen sei, wann zuletzt, das wisse er nicht. Mehr sagte er nicht aus, wie scharf auch die Herren vom Gericht in ihn drangen.

So mußten sie ihn endlich in Ruhe lassen, und die Angelegenheit schien vergessen zu sein.

Der erste, der wieder etwas davon hörte, war der kleine Gustav.

Es war eines schönen Sommermorgens, Gustav saß in der Schule und lauerte darauf, daß die Glocke bald schlagen werde, denn er freute sich schon auf das Mittagessen, da klopfte es auf einmal an die Tür des Schulzimmers, der Lehrer wurde hinausgerufen und kam gleich darauf mit einem großen Herrn im schwarzen Anzug wieder zurück.

Der Herr grüßte freundlich, stellte sich vor die erste Bank und sagte: „Hört mal, Kinder, da hab’ ich unterwegs ein wunderschönes, noch ganz neues Taschentuch gefunden. Das hat gewiß einer von euch verloren, und ich möcht’s dem Verlierer gern wiedergeben, denn man darf, das wißt ihr ja, gefundene Sachen nicht behalten. Nun, kennt einer von euch das Tuch?“

Er hatte bei diesen Worten ein blaues Taschentuch hervorgezogen und breitete es jetzt, es an den oberen Ecken haltend, vor den Kindern aus. Das Taschentuch zeigte in der Mitte einen großen Tintenfleck.

Einen Augenblick starrten die Kinder neugierig auf das Tuch, dann klang eine helle Stimme: „Das ist meinem Vater sein Tuch! Ich kenn’s an dem Klecks, und er hat’s auch schon lange gesucht. Der wird eine Freude haben, daß es wieder da ist!“

Der große Herr im schwarzen Rock sah über die Brille hinweg zu dem kleinen Schreier hinüber. „So – so? Wie heißt du denn, Kleiner?“

„Gustav.“

„Weiter!“

„Gustav Seibt.“

Der große Herr wendete sich zu dem Lehrer und sagte halblaut: „Ist das derselbe Seibt, der schon ein paarmal verhört wurde?“

Der Lehrer neigte langsam das Haupt, ein unendlich mitleidiger Blick traf den kleinen Gustav, der noch immer erwartungsvoll dastand.

„Na, da komm, Gustav,“ sagte der große Herr, „da wollen wir deinem Vater das Tuch bringen! – Sorgen Sie, daß die anderen Kinder so lange hier bleiben,“ fuhr er in beinahe strengem Tone zu dem Lehrer fort, dann faßte er Gustav, der aus seiner Bank herausgekommen war, an der Hand und verließ mit ihm das Schulzimmer.

Unterwegs wunderte sich Gustav nicht wenig über die Schweigsamkeit des freundlichen Herrn; er mochte ihm erzählen, was er wollte, der Mann sagte nichts, und als er ihn einmal ansah, da sah sein Gesicht gar nicht mehr so freundlich aus, sondern so ernst und strenge, daß er sich zu fürchten anfing.

Als sie das Haus erreicht hatten, sahen sie Seibt auf dem Brunnenrand sitzen.

Der kleine Gustav riß sich los, eilte auf seinen Vater, der das Kommen der beiden nicht bemerkt hatte, zu und rief in lauter Kinderart: „Vaterle, freu’ dich, der Mann da hat das Tuch mit dem Tintenklecks gefunden, und ich hab’s in der Schule gleich erkannt!“

Seibt hatte sich erhoben, als er den Fremden sah; Leichenblässe zog über sein Gesicht, die Kniee wankten unter ihm, er war nicht imstande, ein Wort hervorzubringen.

Der Fremde war rasch herangetreten, und als er bemerkte, daß sich Seibt zur Flucht wandte, rief er: „Machen Sie keine Dummheiten, Seibt! Sie sind ein vernünftiger Mann, und es wird sich alles finden. Wenn Sie Reue zeigen und gestehen, kommen Sie vielleicht viel besser weg, als Sie denken. Geben Sie die Hände her!“

Wie vor den Kopf geschlagen gehorchte Seibt.

Die Frau, die bei Gustavs Freudengeschrei aus dem Hause geeilt war, kam gerade dazu, sie sank in die Kniee, schrie laut auf und riß den kleinen Gustav an sich, seinen Kopf an ihrer Brust bergend, damit er die Schmach seines Vaters nicht sehen sollte. Ihr verzweifelter Blick begegnete dem irrenden Auge ihres Mannes, und sie, die noch eine Minute vorher ahnungslos gewesen, wußte jetzt alles. Wieder schrie sie auf und hob die Arme zum Himmel.

Seibt, dem die Hände gefesselt waren, lief mehr als er ging vor dem Beamten her, um außer Hörweite seines Hauses zu kommen, den Kopf tief gesenkt, mit den Augen den Boden suchend.

*

Das Verfahren nahm nur sehr kurze Zeit in Anspruch. Seibt hatte alles gestanden, auch daß er, als sie vom Hause fortgegangen waren, zuerst nicht die Absicht gehabt hatte, Markus umzubringen. Dann aber habe er doch die Axt geholt. Was er sonst aussagte, daß er Markus erst gebeten hätte, ihm das Geld zu leihen, daß dieser ihn darauf angeschrieen habe, ob er ihn berauben wolle, und dann auch gedroht habe, daß er ihn anzeigen wolle, und ihn dann, als er ihn zu beruhigen versucht, tätlich angegriffen habe, wurde mit Zweifeln aufgenommen. Notwehr lag jedenfalls nicht vor, denn Seibt war ein starker Mann, und Markus klein und verwachsen. Daß Seibt behauptete, er habe sich seiner nur schwer erwehren können, schien unwahrscheinlich, auch daß er ihn nur erschlagen, weil er fürchtete, angezeigt zu werden. Jedenfalls hatte er dem Toten die Brieftasche genommen – das war überführend.

Das Tuch hatte zweihundert Schritte vom Tatorte entfernt hinter einem Baume gelegen. Seibt sagte aus, er habe es dem Toten, als er ihm die Brieftasche aus dem Rock zog, über das Gesicht geworfen und es dann vergessen, erst zu Hause sei er an das Fehlen des Tuches erinnert worden; als er aber in der nächsten Nacht wieder zu dem Toten geschlichen sei, um es zu holen, sei es verschwunden gewesen, wahrscheinlich hätten es die Füchse verschleppt, er habe es jedenfalls trotz verzweifelten Suchens nicht gefunden.

Der Tat selbst war Seibt geständig. Das Urteil war ein Todesurteil.

Ein Gnadengesuch einzureichen, lehnte Seibt ab. „Es hat noch kein Seibt im Zuchthaus gesessen,“ sagte er, „ich will nicht der erste sein.“

Als der Tag der Hinrichtung gekommen war, und Seibt sich allein mit dem Geistlichen in der Zelle befand, meinte er zögernd: „Herr Pastor, ich hätte halt noch eine recht große Bitte!“

Der Geistliche sah ihn erwartungsvoll an und gab ihm mit einem Blick das Zeichen zum Reden.

„Sehen Sie, Herr Pastor, wenn es möglich wäre, da möchte ich gern auf meinem letzten Gange die Augen mit dem Tuch verbunden bekommen, mit dem ich für meinen Jungen die Tinte aufgewischt hab’ – Sie wissen ja schon! Sehen Sie, das war meine letzte gute Tat, als ich für meinen armen Jungen die Tinte aufwischte. Ich wollte ihm helfen, daß er keine Prügel kriegte, ich wollte ihn beschützen vor dem Zorn meiner Frau. Ich bin ihm immer ein guter Vater gewesen, und daran soll mich das Tuch erinnern und mir die Hoffnung stärken, daß dort oben vielleicht auch ein guter Vater sitzt. – Herr Pastor, wenn’s möglich ist, geben Sie mir das Tuch mit!“

Der Wunsch des Unglücklichen wurde erfüllt. Man legte ihm das Tuch sogar mit in den Sarg.



Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: Jetzt