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Autor: V. D. N.
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Titel: Das Paznaunerthal
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21 und 22, S. 345–348 und 363–367
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Mit Illustrationen aus dem Skizzenbuche von Mathias Schmid
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[345]

Das Paznaunerthal.

Mit Illustrationen aus dem Skizzenbuche von Mathias Schmid.


I.

Das Blankahorn.

Paznaunerthal? – Wo liegt das? – Die Frage wiederholt sich fast jedesmal, so oft von diesem reizenden Thale die Rede ist. Doch nicht lange mehr wird es in stiller Verborgenheit das Eldorado vereinzelter Naturschwärmer bleiben – durch die Arlbergbahn dem Verkehre näher gerückt, wird der bis jetzt fast unbekannte Erdenwinkel binnen Kurzem dem Fremdenzuge erschlossen und das Lob seiner eigenartigen Naturschönheiten aller Welt bekannt sein. Vorläufig bildet allerdings der theilweise schlechte und selbst gefährliche Weg noch ein Hinderniß für den häufigeren Besuch des Thales, und nur rüstige Fußgänger mit leichtem Ränzel können in dasselbe vordringen. Doch ist eine neue Fahrstraße im Werden, und da der Staat den schwierigsten und kostspieligsten Theil derselben übernommen hat, so wird das Thal nicht lange mehr der Zufahrtsstraße entbehren, die für dasselbe eine Lebensfrage geworden ist. –

Bei Tirols schöner Hauptstadt Innsbruck zweigt die neue Arlbergbahn ab und führt innaufwärts durch das an landschaftlichen Schönheiten reiche Oberinnthal. Schnell eilt das Dampfroß an den altbekannten Städten vorbei! Schon liegt Zirl, am Fuße der vielberühmten Martinswand, weit hinter uns, da ertönt der Ruf „Telfs, eine Minute Aufenthalt!“ In Telfs „eine“ Minute Aufenthalt! In der „guten, alten Zeit“, das heißt in diesem Falle noch vor Eröffnung der Oberinnthalerbahn, als noch der Stellwagen mit einschläfernder Langsamkeit die Landstraße dahinwankte, hätte wohl jeder Kutscher mit Entrüstung die Zumuthung zurückgewiesen, hier nur „eine Minute“ Rast zu halten. Und auch die Passagiere waren mit längerem Verweilen wohl zufrieden. Lag doch von je im Keller des „Löwen“ so manches Fäßchen edlen Tirolerweines, wie er in solcher Vortrefflichkeit nicht überall zu finden ist. Das wissen denn auch die fröhlichen Innsbrucker schon längst und wählen deßhalb für ihre Sängerausflüge, die immer so schöne Gelegenheit zum Trinken geben (bei dem sie trotz politischer Grenzen standhaft ihre Zugehörigkeit zum deutschen Stamme bekunden), meist den „Löwen“ in Telfs als Festort.

Rastlos eilt die Lokomotive weiter; die bequemen, elegant gebauten Aussichtswagen der Bahn gewähren einen herrlichen Ausblick nach allen Seiten. Die Hohe Mundi und die Mianinger Berge treten zurück, schon haben wir die Ausläufer des das ganze [346] Oberinnthal beherrschenden Tschürgant erreicht und sehen gegenüber das freundliche Silz liegen. Hätten wir uns nicht ein weiteres Ziel gesteckt, so möchten wir hier rasten und für einige Zeit Aufenthalt nehmen. Mit seinen nahen Wäldern und der bequemen Gelegenheit zu hübschen Ausflügen mit der Bahn und zu Fuß ist Silz in der That ein empfehlenswerther Standort für Besucher des Oberinnthals und was Unterkunft und Atzung betrifft, so ist überdies in dem hübschen, neueingerichteten Gasthaus „Zum Löwen“ bestens hierfür gesorgt. Dasselbe gilt von der „Post“ in Imst, einem der besten und besuchtesten Gasthäuser Tirols, dessen Besitzer, der wackere Postmeister Stubmair, ob seines Liberalismus von den Ultramontanen vielfach angefeindet, trotzdem sein schönes Anwesen durch Fleiß und Umsicht in seinen jetzigen blühenden Stand gebracht hat. Wünschen wir dem tapferen Kämpfer ferneres Gedeihen und eilen wir weiter, unserem Ziele entgegen! – Von schroffen, unzugänglich scheinenden Höhen schauen die geborstenen, verwitterten Mauern der von Friedrich mit der leeren Tasche zerstörten Burgen[1] auf das hastige Treiben der Neuzeit. Am Fuße des Felsens, auf dem sich einst des mächtigen und gefürchteten Starkenbergers trotzige Burg erhob, hat sich die Lokomotive ihren Weg gebahnt – nimmer überfallen des beutegierigen Zwingherrn Reisige den friedlichen Wanderer. Menschenwerk und Menschensatzungen sind hinweggespült vom Strome der Zeit, aber in ewiger, unvergänglicher Schönheit ragen die Berge empor, aus deren Mitte der silberweiße Scheitel des „Blankahorn“ hervorleuchtet.

Wir lassen Landeck, das von Geschichte und Sage mit reichem Kranze umwundene, links liegen und fahren bis zur nächsten Station, Pians, der letzten vor dem Eintritt ins Paznaun. Wer hier den hochgelegenen Bahnhof verläßt, zur Thalsohle hinabsteigt und die Sannabrücke überschreitet, erreicht nach halbstündiger Wanderung die Poststraße aufwärts den sogenannten „Steg“, von welchem links der Weg ins Paznaun abzweigt. Gegenüber, auf hohem, steilem Felsen, erhebt sich die malerische Ruine des Schlosses Wiesberg, zu deren Füßen sich das kühnste Bauwerk der Arlbergbahn, der 86 Meter hohe Trisannaviadukt[2] mit der eisernen Brücke über die ganze Breite des Paznaunerthales erstreckt. Mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachten wir dieses Riesenwerk menschlichen Geistes, welcher die rohen Naturkräfte in Fesseln schlägt und sie zwingt, ihm dienstbar zu sein.

Giggl.

Wer die kleine Mühe nicht scheut und nach Wiesberg hinansteigt, dem bietet sich ein Bild von überraschender Schönheit und Großartigkeit. In grauenerregender Tiefe braust die Trisanna und vereinigt ihre Wellen mit der aus dem Stanzerthale kommenden Rosanna, um friedlich mit derselben als Sanna ihre Wasser dem Inn zuzutragen. Vor uns schweift der Blick über ein weites Thal, dessen liebliche Dörfer zerstreut auf den grünen, sonnigen Matten liegen, unterbrochen von dunklen Tannenwäldern, die sich hoch bis zum Gipfel der Berge erstrecken, hier und da überragt von einem schneebedeckten Scheitel: am linken Ufer der Trisanna die mächtige Pezinaspitze, an deren Ausläufer die altersbraunen Hütten des Weilers Falkeneyr gleich Schwalbennestern kleben, die Scheidewand zwischen dem Paznauner- und Stanzerthale bildend; ihr gegenüber auf schwindelnder Höhe mitten im Grün gebettet das anmuthige Dörfchen Giggl, und, den Fluß aufwärts verfolgend, der düstere, schluchtartige Eingang ins Paznaun. Wahrlich ein Bild, geschaffen, die Seele rein zu baden von dem Staube des Alltagslebens!

Weiter trägt uns der Fuß. Tosend, schäumend, der Rede Laut mächtig übertönend, braust die Trisanna uns entgegen. Eingeengt von hohen Felsenwänden kämpft sie sich, weißen Gischt hoch aufspritzend, zwischen gewaltigen Felsblöcken hindurch, kühn alle Hindernisse bezwingend, die ihr den Weg verlegen wollen. Mögen auch ihre Wogen zerschellen am harten Gestein, sie bahnt sich kraftvoll ihren Weg, nichts kann sie zurückhalten, ihre Wasser dem Meere zuzutragen, nach dem sie strebt – so recht das Bild eines kühnen Mannes, dessen Kraft im Kampfe mit Widerwärtigkeiten nur gestählt, nicht gebrochen wird, und der ungebeugten Muthes das hohe Ziel, das seinem Geiste vorschwebt, zu erreichen trachtet

Immer mehr verengt sich das Thal. Zaghaft windet sich das schmale Sträßchen über steilabfallendem Ufer neben senkrechten, oft überhängenden Felswänden vorbei, deren zerbröckelndes Schiefergestein den Weg besonders im Frühling durch das Schmelzen des Schnees, oder bei starken Hochgewittern gefährlich macht, was auch die hier aufgestellten „Marterln“ bezeugen.

Endlich haben wir das gefürchtete „G’fäll“ hinter uns, das Thal wird allmählich breiter, und aus dem Schatten des Waldes tretend, erblicken wir vor uns am rechten Ufer der Trisanna das erste Dorf des Thales „See“. Sei gegrüßt du trauter Erdenwinkel, der mir so freundlich lacht! Wie wohl ist mir stets unter den gastlichen Dächern deiner schmucken Holzhäuschen geworden, wenn ich in den getäfelten, traulichen Stuben den ernsten oder heiteren Gesprächen deiner biederen Bewohner lauschte! Wie angenehm berührt die freundliche Gefälligkeit, mit der das schlichte Völkchen dem Fremden entgegenkommt, der ihm nicht, wie so oft anderwärts, als Ausbeutungsobjekt dient! Gerne gesellt sich ein altes Bäuerlein oder ein Weiblein mit schwerem Rückkorb, während des Gehens noch an einem dicken Wollstrumpf strickend, zu uns, auf Fragen freundlich Auskunft gebend. Unaufgefordert zeigen sie das Geburtshaus ihres Landsmannes Mathias Schmidt,[3] des „Chrischtes-Maler“, wie er im Volksmunde heißt, auf den nun auch die Paznauner anfangen stolz zu werden, obgleich er, wie ein biederer Alter meinte, „in der Religion der mindeste sei von seinen Brüdern.“ Zum besseren Verständnisse des Ausdrucks „Chrischtes-Maler“ sei hier bemerkt, daß dieser nicht Bezug hat auf „Christus-Maler“, worauf man vielleicht durch die frühere Kunstrichtung des Meisters als Heiligenmaler geführt werden könnte; sondern sein Großvater hieß „Christian“, und dessen Kinder und Enkel werden nach ihm die „Chrischtes-Buben“ benannt. Auf Seite 348 führt uns der Künstler das bescheidene Häuschen, welches früher seinem Vater gehörte, im Bilde vor.

Was im Paznaun so angenehm berührt, das ist der Sinn für Ordnung und Reinlichkeit, der sich überall bemerkbar macht. Ist das Thal auch nicht wohlhabend, so sieht man doch nirgends den Schmutz und die ruinengleichen Wohnungen, die besonders im Vinggau den traurigen Eindruck des Verfalles und des Elendes machen; ebenso wenig trifft man Bettler oder bettelnde Kinder.

Reizend nehmen sich in dem üppigen Grün von Wiese und Wald die von den Einflüssen der Witterung gebräunten Häuser, die oft noch zierlich angeschindelt und bemalt sind, mit ihrem reichen Blumenschmuck vor den Fenstern aus. Und wenn hinter denselben das jugendfrische Gesicht einer hübschen Paznaunerin erscheint, so ist das gewiß kein Grund, den Blick schneller abzuwenden.

Ueberall macht sich das Bestreben geltend, den heimathlichen Herd in gutem Zustande zu erhalten und nach Kräften zu verschönern. Aber auch ihrer Todten vergessen die Paznauner nicht und schmücken die Gräber mit Blumen, so dem Kirchhofe mit seinen einfachen Kreuzen ein freundliches Gepräge verleihend. Wie poesievoll muthet uns der schöne Brauch an, daß nicht bezahlte, in ihrem traurigen Dienste stumpf gewordene Todtengräber, sondern Freundeshände [347] dem Dahingeschiedenen die letzte Ruhestätte bereiten! Freunde und Nachbarn beten an seinem Sterbelager, auf ihren Schultern tragen sie ihn hinaus und übergeben ihn dem Schoße der Muttererde. –

Doch lassen wir die Todten ruhen, und wenden wir uns wieder der schönen Gotteswelt zu, die uns mit so eigenem Zauber umfängt. Verlockend zieht die Pezinaspitze immer wieder den Blick auf sich, und wohl dem, der sich die geringe Mühe, die ihre Besteigung erfordert, nicht verdrießen läßt: eine herrliche Aussicht ist der Lohn für verhältnißmäßig wenig Anstrengung. Zwar beschränkt das unmittelbar vor uns liegende Blankahorn die Aussicht nach Westen, doch links davon erblickt man die großartigen Formen der Kuchenspitze, der sich die Silvrettagruppe anschließt, daneben den eisbedeckten Piz Buin, die Jamthalergletscher und das zerklüftete Fluchthorn. Im Süden ragen die gewaltigen Riesen des Engadin hervor, neben ihnen die Kaunser- und Oetzthalerferner. Daran reiht sich das Wilde Kaisergebirge, der Solstein bei Innsbruck und das Wettersteingebirge mit der Zugspitze. Nach Norden zieht sich das Kalkgebirge hin, welches mit der Passeierspitze das Panorama abschließt. Hat das Auge lange genug geschwelgt in dem Anblicke der herrlichen Rundsicht, so mag der Abstieg nach Langestheye beginnen, der über den unvergleichlich schönen Kapplerberg nach dem lieblichen Kappl führt, wo uns in dem saubern, freundlichen Gasthaus „Zum Löwen“ bei herrlichem Weine und guten Forellen Erquickung winkt.

Ullmich.

Abend ist es geworden. Leise verklingen die Glocken, die den kommenden Feiertag einläuten. Vor den Häusern sitzen die Männer, in stiller Beschaulichkeit ihre nimmer erkaltende Pfeife rauchend; Weiber und Mädchen stehen plaudernd, an den unvermeidlichen Wollstrümpfen emsig nadelnd, zusammen.

Allmählich bricht dann die Nacht herein, eine klare, wunderbare Mondnacht voll zauberischen Reizes. Lautlose Stille liegt über Berg und Thal, nur von ferne dringt das Rauschen der Trisanna oder der Schrei eines Nachtvogels an das Ohr. Kein Mißton unterbricht die hehre Einsamkeit, die ganze Natur athmet Ruhe, Frieden. Im klaren Mondlicht heben sich die schneebedeckten Zacken der mächtigen Fastnichtsspitze in scharfen Umrissen vom nächtlichen Himmel ab. Doch was bewegt sich dort oben? Sind das nicht menschliche Gestalten, die aus dem Schatten des Felsens treten? Schwer bepackt, hart an die Felswand gedrückt – kaum scheint es möglich, daß dort ein Pfad führt – schreiten sie vorwärts. Sie machen Halt; nur einer der Männer wagt sich weiter vor. Plötzlich blitzt es auf; in weiten Sätzen, einen Schrei ausstoßend und den Pack wegwerfend, flieht der Voranschreitende, verfolgt von Zweien, deren Waffen im hellen Mondschein glitzern. Des Ersteren Gefährten sind verschwunden, als hätte sie der Boden verschlungen. Grenzwächter und Schwärzer sind an einander gerathen – selbst noch auf diesen unwirthlichen Höhen wogt der Kampf ums Dasein! Und welches sind wohl die Kostbarkeiten, um deren Erlangung diese Menschen ihr Leben wagen? Die benachbarte Schweiz liefert billigen Tabak und Kaffee, und erst seitdem im eigenen Lande der Zoll auf letzteren bedeutend erhöht wurde und dadurch der Preis stieg, nahm der Schmuggel wieder neuen Aufschwung.

Selten kommt es indessen zu scharfen Reibungen zwischen Grenzwächtern und Schwärzern, da diese, die sich vor allem die Befolgung des „elften“ Gebotes angelegen sein lassen, in ihrer angeborenen Gutmüthigkeit den ihnen nachspürenden Finanzern in richtiger Würdigung ihres mühevollen Berufes keinen Groll nachtragen, um so weniger, als letztere bei der Ueberzahl der Schwärzer fast immer den kürzeren ziehen, oder die „Gefoppten“ sind. So wurde einmal ein größerer Zug verabredet, an dem sich auch ein junger Bursche betheiligen sollte, dessen Schuhwerk jedoch erst einer gründlichen Reparatur bedurfte, die in der gegebenen, kurzen Frist nicht mehr ausgeführt werden konnte. Doch unser Bursche weiß sich zu helfen. Der Schuster hat soeben für einen Finanzer ein Paar neue Stiefel fertig gemacht, die leiht sich unser Bursche und geht nun wohlgemuth mit den Schwärzern, während der berufseifrige Grenzwächter daheim über den langsamen Schuster flucht. – Die Erzählung derartiger Erlebnisse aus dem Schmugglerleben, heiterer und grausiger, bildet ein Hauptvergnügen der Paznauner für die langen Winterabende, und es ist ergötzlich zu sehen, wie bei spaßhaften Geschichten den sonst so ernsten Paznaunern der Schalk um Mund- und Augenwinkel zuckt.

So schön auch Kappl ist, müssen wir doch weiter ziehen. Hier und da treffen wir eine Kapelle oder ein Feldkreuz, das frommer Glaube am Wege aufgestellt hat; dann gemahnen uns die sich wieder häufiger findenden „Marterln“, daß wir ein gefährliches Stück Thal durchwandeln. Jetzt im fröhlichen Sonnenscheine, den lachenden, blauen Himmel über sich, kann man es nur schwer begreifen, mit welcher Zerstörungswuth hier oft die entfesselten Naturkräfte hausen. Wenn aber die zahlreichen Quellen und Bächlein, die mit ihren zierlichen,

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Mathias Schmid’s Geburtshaus im Dorfe See.

milchweißen Wasserfällen so viel zur Verschönerung des Thales beitragen, zu verheerenden Wildbächen anschwellen, Häuser wegreißend und üppige Wiesen und fruchtbare Felder mit Schlamm und Steinen bedeckend, sodaß die Thalbewohner im spät eintretenden Frühling mühsam ihre Aecker säubern und das zu Thal geschwemmte Erdreich im Rückkorbe wieder bergan tragen müssen; oder wenn im endlos langen Winter Alles unter metertiefem Schnee begraben liegt, jeder Verkehr gehemmt ist und der Donner der Lawinen die Menschen aus dem Schlafe schreckt – dann begreift man wohl, warum die Paznauner so kühl bleiben beim Lobe ihres Heimaththales und fragen, was denn hier Schönes zu finden sei, es sei doch ein so „laads“ (unschönes) Thal. Der Landmann beurtheilt eben die Schönheit einer Gegend nicht nach ihren landschaftlichen Reizen, sondern nach dem Erträgniß, das ihm Grund und Boden gewähren, und damit ist es im Paznaun nicht am besten bestellt; müssen doch fast alle Lebensmittel, selbst Getreide und Mehl, hineingetragen werden. Ueberdies sind vielleicht im ganzen Thale nicht hundert Häuser zu finden, die auf vollständig lawinensicheren Plätzen stehen. Besonders gefürchtet ist der über einen Kilometer breite Lawinenzug hinter Ullmich mit dem ominösen Namen „Zum todten Mann“. Ein Luftzug, der Ruf eines Menschen, der Pfiff einer Gemse kann die Ursache sein, daß die Lawine plötzlich mit Donnergetöse auf der Jochhöhe losbricht. Der ungeheuere Luftdruck wirft mit unwiderstehlicher Gewalt ganze Strecken des schönsten Waldes nieder, knickt die stärksten Bäume wie schwaches Rohr – selbst auf weite Entfernungen erzittern die Häuser und dringt der feine Schneestaub durch die kleinste Ritze. Wehe Dem, den die Lawine plötzlich überrascht, er ist rettungslos verloren! Wenn sie, wie das in langen, strengen Wintern sich ereignet, mit ihrem Schnee die ganze Breite des Thales ausfüllt, sodaß selbst die Trisanna in ihrem Laufe gehemmt ist, bis sie sich gewaltsam wieder Bahn bricht, so ist oft wochen-, ja monatelang für das einzige Fuhrwerk des Thales, den kleinen, nur von einem Pferde gezogenen Postkarren von Ischgl, die Straße versperrt und die Post muß zu Fuß mittelst Rückkorb befördert werden.

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aus: Die Gartenlaube 1885, Heft 22, S. 363–367
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Das Fluchthorn.

An den hübschen Weilern Vergreß und Versall vorbei wandern wir das Sträßchen, das bald hinab zur Thalsohle, dann wieder in ziemlich starker Steigung aufwärts führt. Ein steter Wechsel der Scenerie bietet sich hier dem Auge dar. Nie wird die Landschaft monoton; bei jeder Biegung zeigen sich dem Blicke neue Bilder, die das Auge entzücken. In wunderbarem Kontraste wechseln großartige Hochgebirgsbilder mit Ansichten voll einfacher Anmuth. Hier liegen auf grüner Halde eng an einander gedrängt die braunen Hütten eines malerischen Dörfchens, über dem sich der ernste Bannwald erhebt, es schützend vor den Unbilden und Gefahren der wilden Hochlandsnatur.

Im Abendlichte erglänzen die hohen Gipfel der das Thal scheinbar abschließenden Bodemer- und Rothwandspitze; in rosige Gluth getaucht leuchtet die mächtige Valülla, deren kahle Schrofen schon hinter Kappl sichtbar werden. Die Seele voll von den Eindrücken, welche die wunderbaren Naturschönheiten in uns hervorriefen, erreichen wir endlich den Hauptort des Thales, das idyllische Ischgl, dessen schlanker, grüner Kirchthurm uns schon längst entgegenwinkte, und das auf einer vordringenden, im Laufe der Jahrhunderte von dichtem Rasen überzogenen einstigen Gletschermoräne liegt. Behauptet doch Ludwig Steub, der emsige Forscher auf etymologischem Gebiete, der Name Ischgl stamme von Insula, und in der That macht die Beschaffenheit des hier ansehnlich breiten Thales den Eindruck eines ehemaligen Seebeckens. Ischgl macht mit seinen aus Stein erbauten Häusern mit den wuchtigen Dächern einen sehr behäbigen Eindruck, und vor Jahren, als noch die Saumrosse den Verkehr mit dem benachbarten Engadin vermittelten, saßen hier reiche Handelsherren, die aber fortzogen, als sich dem Handel und Verkehr bessere Wege erschlossen. Jetzt ist dem rührigen Völkchen von Ischgl nur noch der Viehhandel verblieben, um den sich auch alle Interessen nicht blos Ischgls, sondern des ganzen Paznauns drehen, da er fast die ganze Einnahmsquelle bildet.

Ischgl verspricht in Zukunft, wenn erst eine bessere Straße hergestellt ist, ein reizender Sommerfrischort zu werden, wozu es durch seine außerordentlich schöne Lage und die wunderbar reine und kräftige Luft sich eignet. Auch für gute Unterkunft ist – bei bescheidenen Ansprüchen – in den drei Gasthäusern, deren Besitzer wetteifern, den Wünschen ihrer Gäste nach Thunlichkeit gerecht zu werden, bestens gesorgt. Wie anheimelnd sind die zierlich getäfelten, mit altväterlichem Hausrathe geschmückten Zimmer auf der „Post“, von deren Fenstern man eine herrliche Aussicht genießt! Ischgl ist auch besonders als Standquartier geeignet, um von hier aus Partien durch das Fimberthal auf das Fluchthorn, in die Jamthalergletscher, Valüllaspitze etc. zu unternehmen, was namentlich die Engländer thun, denn es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß das in Deutschland fast unbekannte Paznaun von Engländern schon längst besucht wird.

[364] Einer der reizendsten Ausflüge von Ischgl ist der in das Fimberthal, das Amthor in seinem „Tirolerführer“ als „ein wahres Eldorado alpinen Hochgenusses“ bezeichnet. Besonders lohnend ist die Partie über die Alpe Vid, die allerdings etwas beschwerlicher ist, dafür uns aber eine Fülle der herrlichsten, hochalpinen Landschaftsbilder vor Augen führt. Von Ischgl aus steigt der Weg über den Kalvarienberg anfangs etwas steil empor, dann aber zieht er sich fast eben durch Wald und Wiese an der


Abtragen des Alpennutzens.

Wallfahrtskapelle Pardatsch vorüber bis zur zwei Stunden entfernten Alpe Boden. Häufig begegnen uns auf diesem vielbegangenen Wege fromme Beterinnen, die der malerisch gelegenen Kapelle zueilen, hin und wieder auch ein rothwangiges Mägdelein, das trotz schwerer Last eilig dahinschreitet, um das Erträgniß der Alpenwirthschaft zu Thal zu tragen. Wer aber den Weg über Vid einschlagen will, muß bei dem großen Feldkreuz, das sich in einiger Entfernung von Pardatsch links erhebt, den durch den Wald aufwärts führenden Pfad verfolgen. Bald bleibt der Wald zurück wir erblicken die ersten Heuhütten, und immer bergan schreitet der Fuß in dem weichen Wiesenteppich, der sich weit zu unsern Füßen ausbreitet.

Endlich ist die Alphütte erreicht, und während uns der freundliche Senne ein einfaches Mahl bereitet, versenken wir uns in den Anblick der uns umgebenden Natur, deren bestrickendem Zauber sich unsere Sinne willenlos gefangen geben. Fast zögernd betritt der Fuß die von saftigem Madaun bedeckten Matten, die von einer Fülle der seltensten Alpenblumen durchzogen sind und dem Botaniker eine reiche Ausbeute von außerordentlicher Schönheit und Mannigfaltigkeit gewähren. Ueberall sind fleißige Hände beschäftigt das duftende Bergheu einzutragen, manchmal trifft der langgezogene Juhschrei der Heuenden unser Ohr; denn trotz der schweren und mühseligen Arbeit, welcher Männer und Mädchen vom Grauen des Morgens bis in die sinkende Nacht obliegen, sind sie fröhlich und guten Muthes, wenn nur das Wetter günstig ist. Das einfache Mahl bereiten sie in eigenen Kochhütten, deren äußerst kunstlose Konstruktion uns der Künstler in dem nebenstehenden Bilde vorführt. Die Milch zum Kochen liefern ihnen die

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Mahlzeit der Bergheuer.
Originalzeichnung von Mathias Schmid.

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Charakterkopf aus dem Paznaunerthal.

Ziegen, die sie bei sich haben, ihre Lagerstätte zu dem kurzen Schlafe, der ihnen gegönnt ist, schlagen sie in den Heuschobern auf. Wochenlang verweilen die Heuer in den Bergwiesen, nur Samstag Abends gehen sie in ihr heimathliches Dorf, um dem sonntäglichen Gottesdienste beiwohnen zu können.

Ein älterer Mann mit kühner, scharfer Adlernase in dem von Sonne und Wind fast gerötheten Gesicht giebt uns auf unsere Frage um den Weg nach Boden bereitwilligst Auskunft, indem er uns anweist, das „Saßcalunern“ Joch zu überschreiten. Der fremdklingende Name erregt unsere Aufmerksamkeit, und wir werden belehrt, daß hier einst „romantische“ Leute seßhaft waren. Und in der That weisen eine Menge Namen und Ausdrücke, ja selbst die scharfgeschnittenen Züge der Einwohner, besonders der Männer, auf romanische Abstammung hin.

Wir nehmen unsern Weg nun auf das Saßcalunerjoch zu, auf dem sich ein paar äußerst interessante, zerklüftete Felsblöcke erheben, die den Eindruck einer zerfallenen Riesenburg machen, und zwischen deren Trümmern ein tiefer, schwindelerregender Abgrund gähnt. Bald sind auch die ersten Alphütten, die sogenannten „Paznauner Thayas“ erreicht. Wir eilen einer herrlichen Gruppe prachtvoller Zirbelbäume zu, und nun erblicken wir auch zu unserer angenehmen Ueberraschung in geringer Tiefe die einsame Alpe Boden. Von den freundlichen Wirthsleuten herzlich empfangen, lassen wir uns nach so langem Marsche die trefflichen Forellen und Hühner mit Himbeergelée bestens munden und schlafen in den reinlichen Betten mit dem Wunsche ein, es möchte an mehr Orten nach des Tages Mühen ein so prächtiges Alpenwirthshäuslein zu treffen sein. – Von der Alpe Boden gelangt man in zwei Stunden an den Fuß des Fluchthorns, dessen zerklüftetes Gestein unsere Anfangsvignette zeigt, und unter dem sich der Fimbergletscher ausbreitet; hier bietet sich somit Dem, der nicht gewillt ist, gefahrvolle Hochtouren zu unternehmen, die schönste Gelegenheit, mühelos die Gletscherwelt in nächster Nähe betrachten zu können.

Um das Paznaunerthal in seiner ganzen Länge kennen zu lernen, ist es nöthig, wieder nach Ischgl zurückzukehren. Dem Laufe der Trisanna aufwärts folgend kommt man nach Ueberschreiten der ersten Brücke zu dem Weiler Paznaun, von dem das Thal seinen Namen hat, und erreicht in einer Stunde auf sehr angenehmem Wege über Wiesen und schöne Wälder das malerische Matson, das wegen seiner wunderbar schönen Lage besonders erwähnt zu werden verdient. Nach Verlauf einer weiteren Stunde betreten wir das letzte Dorf des Thales, „Galthür“, das, auf grüner Terrasse liegend, das Bild eines anmuthigen Alpendörfchens bietet und das mit dem vielgepriesenen Vent im Oetzthale getrost um den Preis der Schönheit zu ringen vermag.

Galthür bildet einen günstigen Ausgangspunkt für große Gletschertouren, wie auf den Piz Buin und Vermontthale, auf die Jamthalergletscher und die Silvrettagruppe. An zuverlässigen Führern fehlt es hier nicht, und das Gasthaus des klugen und unternehmenden Herrn Mattle gewährt gute Unterkunft. Auf freistehender Höhe ragt die im Jahre 1622 neuerbaute Kirche empor, um die sich die friedlichen Hügel der Todten scharen, und Niemand, der diese geheiligte Stätte betritt, ahnt wohl, welch erbitterter Kampf hier vor ein paar Jahren stattfand, bei dem selbst Grabkreuze ausgerissen wurden, um als Waffen zu dienen. „Hie Preußen,“ „hie Oesterreicher“ erklang der Schlachtruf im Kampfe um liberale oder ultramontane Herrschaft. Unter den „Preußen“ waren die Liberalen, unter den „Oesterreichern“ die Ultramontanen verstanden, an deren Spitze der Kaplan nebst seiner Köchin sich befand. Da sich auch Weiber und Mädchen als streitbare Amazonen auf die Wahlstatt begaben, so kam es, daß so mancher Haarzopf der zornmüthigen Schönen auf dem Schlachtfelde verblieb. Das Endresultat des Gefechtes war, daß der Kaplan versetzt wurde und die ärgsten Heißsporne für ein paar Wochen Zeit bekamen, ihr heißes Blut hinter schattigen Mauern etwas abzukühlen.

Auch im Spaße necken sich die Paznauner gern, indem die Bewohner des oberen Thales denen des unteren und umgekehrt diese den ersteren „eines anhängen“. So wird in Galthür von einem sehr sparsamen „Seeer“, der nicht zu bewegen war, zu Kirchenzwecken etwas beizusteuern, erzählt: Einst mußte er Gevatter stehen, und als der Geistliche bei der Taufceremonie die übliche Frage an ihn stellte: „Was verlangst Du von der Kirche Gottes?“ antwortete er schnell, Konsequenzen befürchtend: „Kan Kreizer, umsüst hob’ ich’s hertraga, umsüst trag’ ich’s wieder ham oh!“ (Keinen Kreuzer, umsonst habe ich es [das Kind] hergetragen, umsonst trage ich es wieder heim auch!)

Bei Virl, eine halbe Stunde hinter Galthür, mündet das kleine Vermontthal ein, das in ziemlicher Eintönigkeit nicht viel des Interessanten bietet, bis man nach dreistündigem Marsche auf schlechtem, steinigem Wege zur Bielerhöhe gelangt, von welcher aus sich die Gletscherwelt dann allerdings in imposanter Größe

Die Felsen von Saßcalun.

[367] zeigt und einen wahrhaft überwältigenden Eindruck macht. Der Abstieg von hier aus ins Montafon ist wohl etwas weiter, aber nicht so steil wie über Zeynis.

Von Galthür bis zum Zeynisjoche ist wegen der hohen Lage Galthürs die Steigung nur mäßig und führt über moosige, oft von Gräben durchzogene Wiesen. Auf der Paßhöhe befindet sich ein dem Wirthe in Galthür gehörendes Alpenwirthshaus, an das man aber keine großen Ansprüche stellen darf. – In einiger Entfernung davon erhebt sich hart an der Grenze von Paznaun und Montafon eine kleine Kapelle, in deren unmittelbarer Nähe ich bei meinem letzten Besuch einen Maler vor einer Feldstaffelei sitzen sah. Da ich schon in Galthür erfahren hatte, daß Mathias Schmid gegenwärtig auf Zeynis weile, so vermuthete ich sofort, daß mein lange gehegter Wunsch, den Künstler persönlich kennen zu lernen, erfüllt werden sollte. Und so war es auch. So Manches, was in diesen Artikel verflochten wurde, verdanke ich seinen anregenden Mittheilungen, von denen Gebrauch gemacht zu haben er mir hoffentlich nicht übelnehmen wird.

Die Majestät der Berge, die weltverlorene Einsamkeit, der schroffe Jochübergang mit der Kapelle, die sich in scharfen Konturen von dem düstern Horizonte abhebt, gaben unserem Meister Schmid den Impuls zu einem ergreifenden Sittengemälde „Verlassen“, zu welchem er hier die landschaftliche Studie malte und das aufs Neue dazu beitragen wird, seinen Ruhm zu erhöhen und die Zahl seiner Freunde und Verehrer zu mehren.[4] – Und nun noch einen Scheidegruß und einen letzten Blick zurück zu dir, du schönes Thal! Will’s Gott, seh’ ich dich wieder im nächsten Sommer! Vielleicht locken diese anspruchslosen Schilderungen mit den Blättern aus denn Skizzenbuche von Mathias Schmid noch manchen Anderen in deinen Zauber!

V. D. N.




  1. Näheres über diese Kämpfe findet sich in Hermann Schmid’s fesselndem Roman: „Friedel und Oswald“.
  2. Siehe „Gartenlaube“ 1884, Nr. 33.
  3. Portrait und Biographie von Mathias Schmid finden unsere Leser in der „Gartenlaube“, 1884, Nr. 37.
  4. Wir haben das Vervielfältigungsrecht dieses Bildes für die „Gartenlaube“ erworben und freuen uns, dasselbe seiner Zeit unseren Lesern vorführen zu dürfen.
    Die Red.