Textdaten
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Autor: Stefanie Keyser
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Titel: Das Los des Schönen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36–40, S. 605–607, 624–627, 643–646, 665–668, 683–686
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[605]
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Alle Rechte vorbehalten.

Das Los des Schönen.

Erzählung aus dem achtzehnten Jahrhundert.0 Von Stefanie Keyser.0 Mit Abbildungen von René Reinicke.

Die Dämmerstunde ist gekommen. Feierabend gebieten das Glöckchen und die eintretende Dunkelheit. Allmählich hüllt sich der ehrwürdige Hausrath, unter dem kein Stück ist, das nicht von einer Familienerinnerung umrankt würde, in graue Schleier. Nur zuweilen schimmert noch einmal ein Bronzebeschlag mit seiner verschobenen Rokokomuschel auf. Kein Laut ist zu vernehmen als das einförmige Ticken der alten Uhr, die mir die Zeit ebenso gelassen zumißt wie einst meinen Urgroßeltern.

Nun steigt der Mond gemachsam über den Dächern empor. Er lugt zwischen den Fensterbehängen durch; ein blauer Strahl fällt bis in die Tiefe des Zimmers und haftet dort, als deute ein lichter Geisterfinger auf den kleinen Krimskrams, der im verschnörkelten Glasschränkchen aufbewahrt wird.

Ueber abgeblaßten Nadelkissen, deren aufgesticktes „Pensez à moi!“ vergeblich an längst Vergessenes mahnt, über Bonbonnièren mit schnäbelnden Täubchen breitet sich ein Fächer aus von der zierlichen Form, wie sie die Damen des achtzehnten Jahrhunderts liebten. Aber kein gepudertes Schäferpaar, auf Seide gemalt, schmückt ihn. Die feinen braunen Holzstäbchen überzieht schlichtes grünes Papier, und vergilbte Schriftzüge bedecken dasselbe. Der Fächer ist eine Art Stammbuch aus der guten alten Zeit.

Und wie der Mondstrahl ihn erhellt, ist es, als würden die verblichenen Buchstaben wieder frisch und lebendig. Ich vermag die Worte zu lesen. Ach, nun verstehe ich den alten Schäker; er zeigt mir das Lied, das ihn feiert wie kein anderes unter den unzähligen, die auf ihn gedichtet worden sind: „Guter Mond, du gehst so stille.“

Aber nein! Die Strophe, auf welcher der Geisterfinger am leuchtendsten ruht, ist mir unbekannt.

„Schaust in meiner Lida Kammer,
Wo ihr Liebe, Furcht und Jammer
Am gepreßten Herzen nagt.
Send’ ihr mit der Morgenröthe,
Vor dem frommen Frühgebete,
Ein erquickend Traumgesicht.
Sag’ ihr, daß ihr Heinrich lebet
Und vergißt sein Mädchen nicht.“

Jetzt weiß ich, was er mir sagen will, der Allerweltsliebesbote. Alte Erzählungen wachen in meiner Erinnerung auf, längst zur Ruhe Eingegangene erheben sich verklungene Stimmen reden wieder.

*               *
*

Der Fächer hat die Tage seines Glanzes an einer Stätte verlebt, die nach den Begriffen jener Zeit weit von dem Ort gelegen ist, wo er nach länger als einem Jahrhundert zur Ruhe kam.

Seine Glanzzeit spielte in einem ehemaligen herzoglichen Schloß, das um seiner schlichten Bauart und Einrichtung willen zum Amtshaus herabgesetzt worden war. Ein Justizamtmann hauste darin mit seinem ganzen Anhang: dem studierten Sekretarius, dem Schreiber, Gefangenenmeister und dem „Steckenknecht“.

In einem früheren Bankettsaal saß der Herr Justizamtmann auf erhöhtem Stuhl mit schicklich gekreuzten Beinen, den rothen Mantel, das Zeichen seiner Würde, umgeschlagen, und hielt Gericht über Missethäter, sprach das Urthel zwischen streitigen Parteien und ließ unnützen Herumstreichern auf der Bank im Hof wohlverdiente Plätzer aufzählen. Ihm war der herzogliche Landestheil untergeben, soweit sein Blick nach drei Seiten von dem alten grauen, noch mit tiefen Wassergräben umzogenen Steinhause schauen konnte.

Nur gen Abend sah er in fremdes Gebiet hinein. Die Mauern und Thürme einer kleinen Grenzfestung des benachbarten Landgrafenthums schlossen am Horizont die Aussicht ab.

Aber so respektvoll seine Bauern mit den Füßen ausscharrten, wenn sie ihm begegneten, so demüthig die Bürger des kleinen Amtsstädtchens Kappen und Hüte vor ihm zogen – es trug doch kein armer Teufel Bedenken, über die hohe Schwelle des Gerichtssaales zu schreiten, um sich eines Rathes zu erholen.

„Wie der Herr, so das Gescherr“ sagt ein Sprichwort dort zu Land. Und der Herr war eine Herrin, die als Vormünderin ihres Sohnes mild, wenn auch fest die Zügel des Herzogthums führte.

Wer nun vollends einen Blick in die Amtswohnung gethan hatte, der dachte nicht daran, daß es Galgen und Rad in der Welt gebe. Da regierte die stattliche Frau Amtmännin, eine Superintendententochter, übte gegen die Honoratioren des Städtchens und der Umgegend freigebige Gastfreundschaft und ließ denen, die auf der Gerichtsbank im Hof etwas „Warmes“ bekommen hatten, ebenfalls etwas Warmes in einer Schüssel verabreichen, auf daß in ihrem Haus die Barmherzigkeit so wenig wie die Gerechtigkeit zu kurz käme.

Und wem das Herz bei der feinen und doch wirthlichen Hausfrau ungerührt blieb, dem that es sich gewiß auf, wenn er die beiden Töchter sah, wie sie jung, blühend, lächelnd dem Leben entgegengingen, immer so harmlos fröhlich, so innig Arm in Arm, wie sie jetzt an einem schönen Frühlingstage in den ehemaligen Schloßgarten hinauswandelten. Sie freuten sich über alles: über die goldene Sonne, über die in den Stachelbeerbüschen summenden Bienen und die grünen Blattspitzen der Narzissen und Maiblumen, welche wie neugierige Ohren aus der feuchten dunklen Erde der schnurgeraden Rabatten aufstiegen.

Heute war es jedoch kein müßiger Spaziergang, den sie auf den von Buchsbaum eingefaßten Kieswegen unternahmen; sie wollten häuslich thätig sein. Lotte, die Aelteste, hatte einen Korb am Arm und ein blankes Messer in der hübschen runden Hand, sie gedachte Spargel zu stechen. Die Jüngere trug einen Glaskrug mit fest schließendem Deckel. Sie hatte sich vorgenommen, einen „Potpourri“ anzulegen, [606] ein langwieriges Werk! Denn den ganzen Sommer hindurch mußte von jeder duftenden Blumenart ein Theil in den Topf gesammelt werden, damit man dann im Winter durch Lüften des Deckels die feinsten Wohlgerüche im Zimmer verbreiten konnte. Mit den Veilchen wollte Lida heute den Anfang machen.

Am Spargelbeet schürzte Lotte sorgfältig den strohgelben Rock, zog die Bänder der weiten hellen Schürze fest um das dunkelgrüne mit großen Stahlknöpfen besetzte Kamisol und begann so emsig die weißen Köpfchen in der dunklen Erde zu suchen und heraus zu graben, daß ihr das blonde, gepuderte und zu hohem Toupet gethürmte Haar in die Stirn rutschte.

„Nichts lustigeres giebt es als Spargel stechen und Eier abnehmen, immer hat man eine Ueberraschung!“ sagte sie.

„Soll ich Dir helfen?“ fragte Lida.

„Ach, das bringst Du mit Deinen Fingerchen doch nicht fertig,“ meinte lachend die Schwester. „Pflücke Du nur Deine Veilchen!“

Lida ließ die großen Augen, die, so dunkel sie waren, doch eitel Licht auszustrahlen schienen, über die Beete gleiten. Sie war schlanker, zarter als ihre Schwester, und so erschien auch ihre Tracht feiner, obgleich das blaßblaue Miederchen, der Rock von geblümtem Kattun nicht kostbarer waren. Auf dem schwarzen hochfrisierten Haar lag der Puder wie ein zarter Reif, und die zwei dadurch versilberten langen Locken, die auf das fein gefältelte Halstuch herabfielen, stachen wundersam ab gegen das nur leise gefärbte jugendliche Gesichtchen.

„Ach! alles ist umgegraben und mit Kohl bepflanzt, mit Erbsen und Bohnen besteckt!“ seufzte sie.

Lotte richtete sich auf. „Wie es in einer ordentlichen Wirthschaft vonnöthen ist.“ „Hüh! Hott!“ – Peitschenknallen schallte über die altersgraue Mauer. Sie horchte. „Da kommt der Herr Nachbar vom Markt zurück,“ fuhr sie dann fort. „Wie wohl sein Geschäft mit dem Roggen ausgefallen ist? Er hatte eine große Geldkatze umgeschnallt, als er wegritt.“

Lida lächelte. „Hast Du auch das gesehen? Natürlich, was den Herrn Domäneninspektor angeht, das muß Amtmanns Lotte wissen.“

Die Schwester antwortete nicht. Einen raschen Blick warf sie in die Runde, dann sprang sie nach der Leiter, die der Vater beim Anbinden der Weinstöcke gebraucht hatte und die noch an der Mauer lehnte. Im Vorbeilaufen pflückte sie von einem Beet ein rothes Tulipänchen und ein gelbes Himmelschlüsselchen und steckte sie auf die höchste Spitze ihrer Frisur, so daß beide keck herabnickten. Jetzt klommen die Stöckelschuhe die Leitersprossen hinauf, und ihr frisches Apfelgesicht erschien über der Mauer.

„Zu Ihren Diensten, Demoiselle,“ ertönte im selben Augenblick drüben eine kräftige Männerstimme; der Besitzer derselben mußte die Mauer scharf im Auge gehabt haben, während er vorüber ritt.

„Sehr obligiert, Herr Nachbar!“ antwortete sie und musterte die geleerten Wagen, welche nebenan in den Wirthschaftshof der herrschaftlichen Domäne einfuhren. „Nun, ist der Handel gut gegangen?“

„Wie die Demoiselle sieht. Der Proviantmeister drüben“ – er deutete nach der am Horizont aufsteigenden Festung – „hat alles aufgekauft. Es soll viel Soldatenbrot gebacken werden.“ Er zuckte die Achseln. „Na meinetwegen! Es ist ja nicht bei uns. Und die herzogliche Kammer wird zufrieden sein, wenn sie den Erlös einstreicht.“ Er schlug auf die umgeschnallte Geldkatze, daß es klirrte.

„Da springt wohl auch für den Herrn Inspektor ein Vortheil heraus?“ fragte Lotte gespannt.

„Wie sich’s gebührt!“

„Vielleicht bewilligt der Herr Kammerpräsident als Recompense für das klug ausgeführte Geschäft ein Stück Weizenland zur Nutznießung?“ meinte Lotte.

„Als Recompense,“ entgegnete der junge Landwirth bedächtig, „werde ich mir etwas anderes ausbitten: das Stück sandigen Boden droben vor dem Wald.“

Dem Mädchen blieb der kleine hübsche Mund mit dem Grübchen auf der Unterlippe offen stehen. „Ehrhardt!“ stieß sie endlich heraus.

„Ja, ja!“ bekräftigte er gelassen. „Dort würde die neue Frucht aus Amerika, der Erdapfel, gut gedeihen; und auf den setze ich ein großes Vertrauen. Die Demoiselle versteht das nicht. Die Erdäpfel tragen reichlich Frucht, nehmen mit schlechtem Boden fürlieb und reifen zur rechten Zeit. Wie oft fällt in den Waldbergen der Schnee auf den Hafer und verdirbt die liebe Feldfrucht! Die Erdäpfel könnten wohl den ewigen Hungersnöthen steuern.“

„Für arme Leute will der Herr Inspektor das seltene Gartengewächs ziehen?“ fragte Lotte und lachte unmuthig auf. „Für dieses Geschäft bedanke ich mich, wie für die ganzen Erdtoffeln.“ Sie kletterte so rasch herab wie ein Eichhorn.

„Dazu hat die Demoiselle auch Ursache,“ war die ruhig gegebene Antwort von jenseit der Mauer; dann trabte der schwere Gaul draußen weiter.

Lida hatte lächelnd zugehört. „Wenn Ihr Euch immer so zankt, wird es lange dauern, ehe ich Dir von meinem Myrthenbäumchen den Brautkranz schneiden darf. Mir wäre es zwar schon recht, wenn Du immer bei uns bliebest.“

Lottes große blaue Augen hefteten sich mit unendlicher Zärtlichkeit auf die jüngere Schwester. „Ich gehe ja nur ein paar Schritte weit von Dir weg,“ tröstete sie. „Aber sieh!“ fuhr sie in belehrendem Tone fort, „einmal will jede heirathen, und der Inspektor Ehrhardt ist ein Mann in Amt und, wenn nicht gerade in Würden, so doch in Brot, in vorzüglichem Brot. O, er kann’s auch weiter bringen! Er kann Domänenrath werden! Wenn ich ihm nur erst die verrückten Erdtoffeln ausgeredet hätte!“

Lida lachte, aber Lotte fuhr eifrig fort: „Zu nächstem Quatember kommt der Herr Kammerpräsident hierher; da denkt Ehrhardt, daß er sich verbessern wird, und dann können wir dem Vater unser Vorhaben kundthun und um seinen Segen bitten.“

Lida sah sie erstaunt an. „Wann habt Ihr das beredet?“

„Gestern,“ murmelte Lotte und bückte sich tief auf ihr grabendes Messer. „Ich holte die Milch selbst, und dann sah ich mir den Kuhstall an – weißt Du, ich habe die vielen bunten Kühe so gern – und da kam er und erzählte mir die Geschichte. Aber sage kein Wort zu Hause! Sonst spricht der Vater von allem, was möglich sein könnte, und sucht unter jedem Versprechen eine Fallthür und in jedem Wort einen Haken, an dem man vielleicht hängen bleibt. Ach, die Justiz ist ein schreckliches Ding. Ich lobe mir den Landbau.“ Das Spargelbeet war abgesucht und nun witterte Lotte förmlich mit ihrem Stumpfnäschen in die Luft. „Ich möchte doch noch einmal sehen, was Ehrhardt thut – ob er böse ist.“ Und sie kletterte abermals die Leiter hinauf.

„Lotte, was ist das für eine Aufführung! Gehört ein Mädchen auf eine Leiter?“ Die Mutter war unbemerkt herangekommen.

„Ich – ich wollte,“ stotterte die Ueberraschte verlegen. „Da drüben von der Festung kommt nämlich eine Chaise herüber. Es ist der hochräderige Rumpelkasten des Platzmajors, und er ist voller Hüte mit Plumagen.“

„Es werden Offiziere sein, die auf der Gutskegelbahn Kaffee trinken wollen. Steig herab! Das Soldatenvolk braucht Dich nicht anzugucken.“

„Ach, Sie können ruhig sein, Mama,“ meinte Lotte, „die Lieutenants, die zuweilen herüberkommen, haben anderes zu thun, als mich anzugaffen. Den einen plagen seine sechs Kinder, den andern zwickt das Zipperlein in seinen sechzigjährigen Beinen.“

„Solche Leute sind gar nicht der Rede werth,“ entschied die Mutter. „Ich wollte Dir sagen, Lotte, daß der Herr Inspektor einen Korb voll Erdäpfel geschickt hat. Es wären die letzten vom vorigen Jahr. Wir wollen sie zum Abendbrot verspeisen.“

„Erdäpfel?“ rief Lotte. „Da muß ich gleich in die Küche; die kann niemand kochen als ich, das sind eigensinnige Gewächse. Gießt man das Wasser zu früh ab, so bleiben sie hart wie Seifenstückchen, sieden sie zu lange, so zerfallen sie.“ Und sie eilte der Mutter voraus zu ihren Erdtoffeln, den gefüllten Spargelkorb am Arm. Ihr Geschäft war gethan; die Schwester hatte noch nicht ein einziges Veilchen gepflückt.

Lida ging dem großen Grasgarten zu, dessen blühender Weißdornzaun sich an die zerfallende Mauer anschloß. Dort waren vielleicht die bescheidenen Blümchen zu finden, allein sie entdeckte nur wenige kaum erschlossene Knospen, während sie über die Hecke weg am Rain draußen Blüthe an Blüthe bemerkte. Rasch entschlossen schlüpfte sie durch eine Lücke des Geheges, und als sie erst im Freien war, wandelte sie die Lust an, am Garten entlang ein bißchen zu promenieren. Sie kam bis ans große geschlossene Gartenthor, da hielt sie plötzlich an. Auf dem Pfade, der von der Kegelbahn heraufführte, schritt leichten Ganges ein junger schlanker Mann. Sah der nicht aus wie ein Märchenprinz? Sein pfirsischblüthenfarbener Rock mit Silberstickerei und veilchenblauen Aufschlägen zeigte militärischen Schnitt; für diesen Stand sprachen auch die hohen weißen Gamaschen, und die Schärpe bezeichnete ihn als Offizier. Auch sein Degen war eine ernsthaftere Waffe als die Galadegen der anderen Standespersonen, welche von diesen selber spöttisch [607] „Bratspieße“ genannt wurden. Und wie er das Haupt hob, so leicht und trotzdem nicht übermüthig! Und welch ein liebes schönes Gesicht er hatte! Sie war stehen geblieben und blickte ihm entgegen wie einer Erscheinung aus einer anderen Welt.

Dann aber erröthete sie tief über diese Bewunderung des Fremden, sie drehte sich wie der Wind und war auf dem alten Weg schon wieder jenseit der Hecke, als der junge Mann in ihre Nähe kam. Allein dieser hatte die lichte Erscheinung schon bemerkt. Er zog den dreieckigen Hut von dem gepuderten Haar, das in einen langen Zopf endigte, und sprach: „Wollen Mademoiselle verzeihen, wenn ich sie anrede? Und darf ich helfen den ‚Potpourri‘ füllen? Der Rasen hier außen erscheint gleich einem blauen Tuch, so dicht stehen die Veilchen!“

„Wenn Monsieur so gütig sein will,“ flüsterte sie mit einer Verneigung.

Er blickte sie noch einmal an, als könne er sein Auge nicht abwenden von der reizenden Gestalt, die auf dem mit Maßliebchen bedeckten Rasenteppich stand wie eine Dryade so zart, so schön. Dann zog er den Stulphandschuh aus und pflückte Veilchen. Zuerst sammelte er sie in seinen kleinen Hut und reichte diesen über den mit Blüthenschnee bedeckten Weißdorn hinüber, und während sie die Blumenköpfchen herauslas, um sie in den Glaskrug zu streuen, sah er sie unverwandt an. Dann pflückte er ein Sträußchen und, den Hut unter dem Arm, bot er dasselbe ihr mit lächelnder Verbeugung an. Sie nahm es aus seinen Fingern, die Spitzen berührten sich und beide wurden roth, beide schauten zugleich auf und in die Augen ihres Gegenübers.

Wie sanft waren seine Augen! Das schwarze kecke Schnurrbärtchen, die hochgeschwungenen dunklen Brauen, die dem Gesicht ein so vornehmes Gepräge gaben, konnten den Eindruck nicht aufheben von einer tiefen fast wehmüthigen Herzenswärme, die aus den großen blauen Sternen strahlte.

„Nun, was beliebt dem Monsieur?“ ertönte eine frische Stimme, und Lotte kam eilig aus dem Spalier von Quitten heraus, das den Weg nach dem Amtshaus einfaßte.

„Ich erlaubte mir, Mademoiselle Veilchen zu sammeln, da sie hier außen häufiger blühen als im Garten,“ sagte der Fremde, sich abermals verbeugend.

Lotte faßte ihr Kleid an beiden Seiten, setzte einen Knix in das junge Gras und erwiderte: „Natürlich; dort ist mehr Sonne. Aber woher kommt der Monsieur?“

„Aus der Festung.“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Offiziers dort haben doch andere Röcke?“

„Excusez, Mademoiselle,“ sagte er. „Ich bin Lieutenant bei der Leibgarde des Herrn Landgrafen und nur für einige Zeit aus Hochdesselben Residenz mit meinem Obersten nach der Festung kommandiert, um das dortige Regiment zu inspizieren und zu kompletieren.“

„Gehört zu dem Regiment auch unser Amt?“ lachte Lotte.

Eine Röthe stieg in sein Gesicht. „Um Vergebung, ich bin wohl lästig gefallen,“ sagte er betreten. Und mit einem letzten halb schüchternen, halb sehnsüchtigen Blick auf Lida und einer höflichen Verbeugung wollte er zurücktreten.

Lida hatte unbewußt die Hand ausgestreckt, als wolle sie ihn halten. Sie blickte ihre Schwester vorwurfsvoll an.

„So war es nicht gemeint,“ lenkte diese ein, da sie nun einmal daran gewöhnt war, der schwachen zarten Schwester jeden Wunsch an den Augen abzusehen. „Ich fragte nur: ‚Woher? Wieso?‘ Das ist in Amtshäusern Brauch.“

„O, Mademoiselle sind ganz in Ihrem Recht,“ entgegnete er rasch, wenn auch immer noch eine Röthe auf seinen Wangen lag. „Ich bin sehr dreist gewesen. Allein es war staubig und öde auf der Kegelbahn, wohin die Kameraden gingen. Ich rauche nicht gern Tabak und goutiere das Bier nicht; der Weg am Garten hin erschien in der Abendsonne so verlockend. Dann sah ich Mademoiselle und glaubte, ihr einen kleinen Dienst leisten zu können. Noch einmal: ich bitte um Vergebung!“

„Da ist nichts zu vergeben,“ entschied Lotte. „Ja, in der inneren Wirthschaft da drüben ist nicht alles, wie es sein sollte, man spürt, daß keine Frau da ist. Na, die bekommt etwas aufzuräumen! Aber da Monsieur nicht bis dahin warten kann, so lade ich ihn ein“ – sie machte nochmals ein Knixchen – „zu einem Gericht Erdäpfeln. Haben Sie schon die neue Frucht aus Amerika gespeist?“

Der Offizier zögerte einen Augenblick; doch als Lida ihn gespannt ansah, nahm er mit einem, wie Lotte sich gestand, sehr feinen „très humle“ die Einladung an. Er schaute sich nach einem Eingang um, indessen das große Thor war fest geschlossen. Lida bekam schon Angst, daß bei einem Umweg nach dem Eingang die Kegelbahngesellschaft den Offizier abfangen könne; doch Lotte half.

„Dort ist ja das Loch im Weißdorn, wo ein Mann schon durchkriechen kann,“ sagte sie und wurde dunkelroth. Sofort schlüpfte der Fremde wie ein Aal herein.

„Du kannst ja den Monsieur einstweilen an Dein Lieblingsplätzchen führen,“ fuhr Lotte fort, „während ich die Eltern benachrichtige, daß wir heut einen Gast haben – und“, setzte sie in Gedanken hinzu, „wenn es Schelte giebt, sie auf mich nehme.“ Sie eilte zurück.

[624] Dem Wink der Schwester gehorsam wandelte Lida mit ihrem Begleiter dem Theil des Gartens zu, wo das Wasser der Gräben in dem Rasen eine keine Bucht bildete. Dort hatte Lida dem Zeitgeschmack gemäß eine der babylonischen Weiden angepflanzt, die noch nicht gar lange als schwanke, zufällig in einen Feigenkorb verflochtene Reiser nach Europa gekommen und von dem Dichter Pope eingebürgert worden waren. Eine kleine Urne stand unter den hängenden Zweigen; Vergißmeinnicht säumten das Ufer ein, welches Lottes üppigen Anpflanzungen von Brunnenkresse abgenommen worden war. Auf der schlicht aus knorrigen Aesten gefügten Bank ließen sie sich nieder. Die langen, mit den ersten schmalen Blättchen und Kätzchen bedeckten Zweige spielten in dem Wasser, das von der lauen Abendluft in kleinen Wellen herangetrieben wurde. Jenseit des Wassers stiegen die starken altersgrauen Mauern des ehemaligen Schlosses auf, die tiefen Fenster blinzelten in der Abendsonne wie die Augen eines greisen Kobolds.

„Welch trautes Plätzchen!“ sagte der junge Offizier, mit sichtlichem Behagen sich umschauend.

Sie nickte. „Dort von meinem Fenster aus habe ich geraden Blick darauf.“

„Wie muß es schön sein, in einer so friedlichen Heimath zu leben!“ sprach er leise, wie für sich. Und da sie ihn fragend ansah, fuhr er fort: „Ich habe nie eine solche gekannt. Mein Vater ist wie ich Offizier in der Leibgarde gewesen, meine Mutter Hofdame bei der hochseligen Frau Landgräfin. Beide starben so früh, daß mir nur eine halbverwischte Erinnerung an sie geblieben ist. Wir sind immer sehr arm gewesen. Ich wurde durch die Gnade meines Landesherrn in der Schule für Ritterbürtige erzogen, wurde Page, Kavalier, Offizier, wie man mich eben brauchen konnte. Ich weiß mich der Zeit nicht zu entsinnen, wo ich einmal mit meinem Taufnamen Heinrich gerufen worden wäre, und – lachen Sie mich [626] aus! – ich hatte manchmal eine fast schmerzliche Sehnsucht danach.“

Allein Lida lachte nicht. Seine Rede ging ihr zu Herzen. Wenn es sich nur geschickt hätte – wie gern wollte sie ihn einmal Heinrich nennen! Da das nicht wohlanständig war, suchte sie ihn wenigstens auf freundliche Gedanken zu bringen. „Aber Sie lebten doch in fröhlicher Gemeinschaft mit anderen Kindern?“

Es zuckte seltsam um seine Lippen, als er erwiderte: „Ja, wir waren unser viele, die ihr Leben pünktlich nach der Uhr zubrachten. Nur in den Vakanzen wurde es unregelmäßiger. Dann eilten alle meine Kameraden zu ihren Eltern, wenn es auch manchmal nur zu einer verwitweten einsam lebenden Mutter war, und ich mußte mich zusammennehmen, daß ich den Lehrern und Dienstleuten nicht lästig fiel. Die Ungeduld war den geplagten Präzeptoren und Dienern nicht zu verargen, sie wollten auch einmal frei aufathmen.“

Lidas Augen schimmerten feucht.

„O, man lernt sich schmal machen, wenn man überflüssig ist,“ beruhigte er mit sanfter Stimme.

„Aber jetzt?“ fragte sie, und ihr Blick glitt über seine glänzende Uniform.

Er lachte harmlos. „Jetzt besitze ich als Heimath ein Stübchen, so kahl und eng, wie es der Sold eines Lieutenants erschwingen kann.“

Das Mädchen athmete erlöst auf. Gott sei Dank, er lachte doch! „Und wie selten werden der Mansieur darin weilen,“ scherzte sie schelmisch. „In der Residenz giebt es Komödien, große Tafeln, Bälle, um die jungen Offiziers für ihre kahlen Stübchen zu trösten.“

Eine Wolke flog über seine Stirn. „Wenn der Trost nur nicht noch schlimmer wäre als das Leid,“ entgegnete er fast finster.

Seiner Zuhörerim wurde es beklommen zu Muth, sie lenkte ab. „Da oben winkt Lottchen mit einer Serviette,“ sagte sie und erhob sich. „Ist’s gefällig?“

Er stand rasch auf und nahm ihr galant den Glaskrug ab. „Ich werde doch nicht stören?“ fragte er noch einmal bedenklich.

Lida schüttelte den Kopf. „O nein, meine Schwester hat ja die Sache in die Hand genommen.“

„Aber Dero Herr Papa und Frau Mama?“ forschte er weiter.

„Meine Mutter sieht Gäste gern und mein Vater wird nicht viel davon gewahr werden. Er hat einen wichtigen Prozeß zu entscheiden; da schenkt er niemand Attention,“ beruhigte sie ihn.

Als die beiden durch den weiten Hausflur gingen mit seinen Steinbänken und dem großen Kamin in der Ecke, wo sich die vor das Amt Geladenen wärmen durften, öffnete Lotte die Thür der Wohnstube und komplimentierte den Gast herein, während Lida sich verschämt hinter ihr zu verstecken suchte.

Hier war nichts zu merken von der alten Burgeinrichtung als die tiefen gemüthlichen Fensternischen. Doch auch sie wurden durch lichte weiße Vorhänge zu heiteren Plätzchen umgewandelt. Die dicken Steinwände bekleidete eine helle Glanztapete; auf einer geschweiften, kunstvoll ausgelegten Kommode stand eine schnörkelige Vase, mit Schneeglöckchen und Leberblümchen gefüllt, und auf dem gedeckten Tisch funkelte reiches Zinngeschirr.

Der Justizamtmann sah seinem Gast höflich, aber etwas zerstreut entgegen und drehte bedächtig eine silberne Dose zwischenden Fingern.

Der junge Offizier verbeugte sich tief. „Mit des Herrn Justizamtmann Permission erlaube ich mir, mich vorzustellen: Lieutenant von Altendorn.“

Der Justizamtmann reichte ihm die Hand. Die Frau Amtmännin, die dem Gast zu Ehren eine Dormeuse mit einer Hopfenblüthe auf der Spitze aufgesetzt hatte, bat, fürlieb zu nehmen; dann sprach Lida leise das Tischgebet. Sie hatte schon Amen gesagt und noch blickte sie der Gast mit gefalteten Händen andächtig an. Man setzte sich zu Tisch. Der Hausherr schenkte den ehrlichen Frankenwein ein, die Hausfrau nöthigte, wie es schicklich war.

Lida sah so verklärt aus, als speise sie Ambrosia der Götter statt des kräftigen Schwarzbrotes, und der junge Gast bewies, daß er gelernt hatte, wie man in Gesellschaft sich anmuthig unterhalte.

Von dem Kompliment, welches er der älteren Schwester für die Zubereitung der aus Amerika eingeführten Erdäpfel machte, wußte er überzugehen auf die Welthändel, und da er darunter als Offizier hauptsächlich die Kriege verstand, so theilte er Nachrichten mit über den Kampf in Amerika, wo sich die Kolonien von England loszulösen strebten.

„Ein höchst verwickelter Rechtsfall,“ meinte der Justizamtmann. „Die Amerikaner erlassen Erklärungen über Menschenrechte, von denen in keinem Gesetzbuch etwas steht. Nach ihnen hat jeder Staatsbürger auf Freiheit, Leben, Eigenthum seiner Regierung gegenüber ein unveräußerliches Recht; nur nach Gesetzen, in die jeder eingewilligt hat, kann darüber verfügt werden. Eine bedenkliche Sache!“

„Und doch machen sie Fortschritte,“ sagte Altendorn. „Sie haben einen tüchtigen Befehlshaber, einen gewissen Washington, der seiner Vaterlandsliebe sogar das Opfer bringt, daß er ohne Sold dient.“

Lotte setzte den Schinkenteller, den sie herum bot, erstaunt nieder. „Umsonst? Der ist ja noch schlimmer als der Inspektor mit seinen Erdtoffeln.“ Dann wurde sie rot und duckte den Kopf, weil sie sich verschnappt hatte; allein es achtete niemand darauf. Der Amtmann folgte überhaupt nur seinen eigenen Gedankengängen, und seine Gattin drückte, wie kluge Mütter thun, in diesem Falle, wo es sich für Lotte um einen so annehmbaren Freier handelte, zwar nicht ein Auge, aber beide Ohren zu.

„Vom Krieg habe ich genug gehabt in den ersten sieben Jahren meiner Ehe,“ sagte sie. „Die Lotte hat ein Pandur laufen gelehrt, die Lida ein Franzose gewiegt. Gott sei Dank, daß das Meer zwischen uns und dem Krieg liegt!“

Ihr Mann nahm bedächtig eine Prise. „Wenn irgendwo ein Feuer aufgeht, wissen wir nicht, ob nicht vielleicht ein Brand auch in unser Haus fliegen wird.“

Einverständniß suchend sah Lotte ihre Schwester an. Da war einmal wieder die gräßliche juristische Umsicht, die allezeit Unheil witterte.

Der alte Richter nahm indeß selbst seinen Unkenruf nicht schwer; geruhig fuhr er fort: „Ich denke, jeder muß das Seine besorgen. Die Engländer mögen die Amerikaner bekriegen; ich habe meinen Prozeß zu entscheiden.“ Er hatte damit nach dem von ihm ersehnten Ziele hingelenkt, jetzt konnte er sich absentieren.

Mit einer kurzen würdigen Gebetsformel hob er die Tafel auf, bat, sich nicht stören zu lassen, murmelte noch etwas vom Corpus juris, in dem er nachschlagen wolle, und kehrte zu seinen geliebten Akten zurück.

„Es ist wegen des Holzbirnbaums,“ erklärte die Frau Amtmännin, während man sich „gesegnete Mahlzeit“ wünschte. „Der steht auf der Grenze zweier Grundstücke, und die beiden Bauern streiten sich so hitzig und lange darum, daß der Verlierende seinen Hof mit hingeben muß für die aufgelaufenen Kosten.“

Mit diesen Worten folgte sie ihrem Eheherrn, um die Studierlampe anzuzünden.

Altendorn griff nach Hut und Degen; aber es war, als werde es ihm schwer, zu gehen. Er blickte sich noch einmal um in der behaglichen Stube.

„Das sind wohl die Fenster der Damen?“ fragte er.

In der einen Nische befand sich ein großer Arbeitskorb, und auf dem Sims lag das neue Kochbuch mit dem aufgeschlagenen Rezept: „Wie Erdäpfel mit süßem Rahm und Muskatblüthen zu stofen sind.“

„Hier hause ich,“ erklärte Lotte.

„Und das hier ist Mademoiselle Lidas Platz?“ fragte er leise, als betrete er ein Heiligthum. Ein Filetzeug lag auf dem Fensterbrett neben dem „Messias“ von Klopstock. Ein kleines Spinett war dicht herangeschoben.

„Ah, Mademoiselle spielen das Spinett,“ sagte er überrascht. „Würden Sie uns nicht einen kleinen Ohrenschmaus geben? Ich möchte wohl wissen, was Ihr Lieblingslied ist.“

„Errathen Sie es nicht?“ fragte Lida lächelnd. „Giebt es ein zweites, das so viel und so aus tiefstem Herzen gesungen würde?“ Und indem sie sich auf dem hochlehnigen Stuhl vor dem Instrument niederließ, legte sie ein Notenblatt auf das kleine geschnitzte Pult. Ihre Finger berührten kaum die schwarzen Tasten, und schwirrend ließen diese die Melodie ertönen: „Guter Mond, du gehst so stille!“ Dann schloß sich allmählich ihre zarte Stimme an, leise wie der süße Ton des Rothkehlchens. Bei der Stelle:

 „Durch die Abendwolken hin“

fiel Lotte ein:

„Gehst so ruhig“ –
„Und ich fühle, daß ich ohne Liebe bin,“

sang eine weiche Tenorstimme mit. Jetzt schwiegen die beiden [627] hohen Stimmen wie athemlos, nur Lotte fuhr tapfer mit ihrem kräftigen Alt fort:

„Traurig folgen meine Blicke
Deiner stillen heitern Bahn –“

und ebenso kräftig stimmte plötzlich eine tiefe Baßstimme ein:

„O, wie hart ist das Geschicke!“

Es war der eintretende Herr Inspektor, der in dem zimmetbraunen, mit zierlichen Nesteln besetzten Rock, dem fein gefältelten Jabot und den Manschetten sich sehr „honorig“ ausnahm, wie Lotte sich befriedigt gestand. Er grüßte mit geschwenktem Hut, und ohne Unterbrechung sangen die vier jungen Stimmen weiter:

„Daß ich Dir nicht folgen kann“

mit allen den weichen schwungvollen Schnörkeln, welche jene Zeit in der Musik wie in allen Gegenständen liebte. Allmählich schob sich dabei der neue Ankömmling so ein, daß er eine Wand zwischen Lotte und dem Lieutenant bildete. Dieser merkte es nicht. Aber Lotte hatte Mühe, zu Ende zu singen vor heimlichem Lachen.

„Also hier sind der Herr Lieutenant?“ fragte Ehrhardt. „Sie waren schnell von der Kegelbahn verschwunden.“

Lotte hörte die heimliche Gereiztheit heraus. „Der Herr hat uns das Vergnügen gemacht,“ unterbrach sie ihn und zog ihren Charmanten am Aermel. Ehe der junge Offizier ein Wort zu sprechen vermochte, war der Inspektor in Lottes Fensternische verschwunden.

„Die Demoiselle hat ja gesungen wie eine Nachtigall,“ brummte er, „ich hab’s bis in den Garten gehört; da konnte sie freilich nicht am Quittenspalier sein.“

„Wie hätte ich zum Quittenspalier gehen können,“ erwiderte Lotte muthwillig, „da ich doch die Erdtoffeln kochen mußte, die der Herr Inspektor schickten und mit denen wir den Gast traktiert haben? Sie waren deliciös.“

Er zog die Stirn kraus. Seine Erdäpfel hatte der fremde Kriegsknecht in Gesellschaft seiner Herzallerliebsten verzehrt, für den hatte sie gekocht und war deshalb nicht zum Stelldichein gekommen. „Lotte!“ drohte er.

Sie kicherte vergnügt. „Ich glaube, der Herr Inspektor ist jaloux. Das kommt nur von den Erdäpfeln, das sind eigentlich Zankäpfel. – Nein, es wird nicht nach dem Rohrstock gegriffen und fortgestapft! Hier still gestanden und mir in die Augen gesehen!“ Die Ausführung dieses Befehls zog sich in die Länge. Es wurde still in der Nische bei dem Arbeitskorbe und dem Kochbuch.

Drüben an dem andern Fenster stand das zweite Paar und sah in den Abendhimmel hinein. In dem lichten Glanz, den die untergegangene Sonne hinterlassen hatte, schwamm die Mondsichel wie ein silberner Kahn, der einem glückseligen Hafen zusteuert.

„Mademoiselle lieben also auch Musik,“ sagte er, „und Sie haben dasselbe Lieblingslied wie ich; ich blase es auf der Flöte.“

„Das muß himmlisch sein,“ flüsterte sie.

„Wenn ich doch Mademaiselle Lida einmal begleiten dürfte!“ Er sprach den Namen schüchtern, aber zugleich mit unendlicher Zärtlichkeit aus. „Darf ich wiederkommen?“ fragte er kaum hörbar.

„Ja,“ antwortete sie und blickte ihm in die Augen.

Da beugte er zum Dank das Knie und küßte ihre zitternden Finger.

„Es ist ja ganz dunkel in der Stube!“ Die Frau Amtmännin trat mit dem guten Zinnleuchter ein, von dem aus die Unschlitkerze einen kleinen Lichtkreis verbreitete. Aus der einen Nische kam der Inspektor ganz verlegen zum Vorschein; aus der andern trat geräuschlos der Lieutenant. Sie stand verwundert in der hohen Dormeuse vor ihnen.

Die beiden jungen Männer entschuldigten ihr langes Verweilen und empfahlen sich.

„A revoir!“ flüsterte der Offizier, als er sich vor Lida tief verneigte. Der Amtsbote verschloß das mit Eisen beschlagene Thor hinter den scheidenden Gästen.

„Lotte, ein andermal zündest Du Licht an, wenn Herren zum Besuch da sind,“ befahl die Mutter, als die jungen Mädchen ihr „Gute Nacht“ boten. Die Schwestern eilten, daß sie über die winkelige Wendeltreppe hinauf in ihre Schlafkammer kamen. Lotte bereitete alles zur Nachttoilette vor. Während sie von dem Scheitel das Polster hob, über das die blonden Haare empor gethürmt waren, zog sie die Augenbrauen bedenklich zusammen. „Ich glaube, ich habe einen dummen Streich gemacht.“

„Wann?“ fragte Lida erstaunt.

„Eben, heut!“ war die ungeduldige Entgegnung. „Ich hätte den Offizier nicht einladen sollen.“

„O, Lottchen!“

„Und ich hätte mich auch mehr zurückhalten sollen gegen Ehrhardt,“ fuhr sie fort und bürstete den Puder mit Macht aus ihrem Haar.

„Aber Lottchen, Ihr habt Euch doch Liebe und Treue geschworen!“

„Nun ja, das mag noch sein,“ meinte die Schwester niedergeschlagen. „Einen Kuß in Ehren kann niemand wehren. Dein Lieutenant jedoch ist mir hinterher schwer aufs Herz gefallen.“

„Mir nicht,“ entgegnete Lida heiter. „Er ist der edelste beste Mensch von der Welt.“

„Wer hat Dir denn das gesagt?“

„Die innere Stimme, die mir immer auch sagt, wenn ich mir nicht zu helfen weiß: Lottchen wird schon Rath schaffen!“

Lotte drückte sie gerührt auf den Schemel vor dem kleinen, mit Musselin umkräuselten Toilettentisch und begann, ihr die langen Locken auf Papilloten zu wickeln. „Sieh! Ehrhardt gehört dem Nährstande an, der kann einen häuslichen Herd gründen. Aber die Soldaten – das ist nur der Verzehrstand, die können keine Frau erhalten.“

Lida schüttelte den Kopf. „Würdest Du Deinen Ehrhardt weniger lieben, wenn er nicht dem Nährstand angehörte?“

Die Schwester stand verdutzt. „Das weiß ich wahrhaftig nicht. Ich kann mir ihn nur denken zwischen Wagen mit Getreidesäcken und Bottichen voll Butter und Käse. – Ach!“ fuhr sie unmuthig auf, „welche überflüssigen Fragen Du immer thust, die einen nur ängstigen! Gute Nacht!“ Ein leichtes Schnarchen wie das gemüthliche Schnurren der Hauskatze tönte bald von ihrem hohen Federbett her.

Lida lag schlaflos mit weit geöffneten Augen auf den weichen Kissen. Sie wiederholte sich jedes Wort, das der junge Offizier gesprochen hatte, rief sich den Klang seiner Stimme zurück, sein schönes Gesicht mit den zärtlichen Augen. – So sah sie in die Nacht hinaus, wo längst der rosige Schein verglommen, das Mondschifflein untergegangen war und nun Stern um Stern hinter den schwarzen Festungsthürmen hinabsank.

[643] Die nächste Zeit verging im Amtshause still und gleichförmig, wie das Leben in kleinen Landstädten verläuft. Der Justizamtmann tüftelte an seinem Urtheil; die Frau gab eine Kaffeevisite; Lida pflückte am Tage aufblühende Maienglöckchen für ihren „Potpourri“, träumte von der seligen Stunde, wo der junge Offizier in seinem zierlichen Hut Veilchen für sie gesammelt hatte und schaute abends dahin, wo vom feurigen Abendroth sich die Festungsmauern abhoben, hinter denen er weilte. Nur Lotte war unsteter als sonst. Sie kam früher wie ehedem von ihrem Abendgang im Garten zurück und sie hatte sogar die Waffeln zur Kaffeevisite zu braun gebacken.

Als wieder einmal die Dämmerung hereinbrach, lief sie, fast stampfend vor Ungeduld, zwischen den Spaliergurken auf und ab, die ihre unscheinbaren Blüthen entfaltet hatten.

„Wieder bleibt er aus!“ schalt sie laut; denn sie hatte wie viele Menschen von lebhafter Gemüthsart die Angewohnheit, mit sich selber zu sprechen. „Fortzureiten, ohne mir zu sagen, wohin, warum, auf wie lange! Wenn er mich heut abermals vergeblich warten läßt, gebe ich ihm den Laufpaß.“ Und schon bei der Vorstellung dieser Möglichkeit wischte sie sich eine Thräne von den Wimpern.

Da kroch er durch den Zaun.

„Beliebt’s endlich dem Herrn?“ fuhr sie ihn an. „Ich bin gerade fertig mit meiner Promenade.“

„Nun, die Demoiselle wird sich schon noch Zeit geben, wenn sie erfährt, was ich weiß,“ erwiderte er gemächlich.

Sie blieb stehen. „Was ist’s?“

„Morgen ziehe ich meine gelbe brokatene Bratenweste an, nehme den neuen Dreimaster unter den Arm und halte bei dem Herrn Justizamtmann um die Hand seiner ältesten Demoiselle Tochter an.

„Aber,“ sagte sie, als traue sie ihren Ohren nicht, „es ist noch lange nicht Quatember.“

„Als ob man nur im Quatember Verlöbniß feiern könnte!“ lachte er. „Der Weg zur Frau Herzogin ist nicht abgebrochen. Ich bin hingeritten in aller Stille, nur ein Felleisen mit dem guten Rock hinter mir; ich habe mit den Herren Räthen verhandelt, und es ist mir zugesprochen worden, was ich vernünftigerweise verlangen konnte. Die Wohnräume werden ausgebaut, damit eine Frau Inspektorin Platz darin findet, mein jährliches Gehalt ist um hundert Thaler erhöht worden, und die Frau Herzogin hat mir auch die Nutznießung von einem Stück Land bewilligt.“

„Ehrhardt!“ jubelte Lotte und flog ihm um den Hals. „Den Weizenboden?“

Ein störrischer Zug trat in das frische gebräunte Gesicht mit den starken blonden Brauen und den klaren Augen.

„Ach, da bekommt er schon den viereckigen Kopf!“ jammerte sie, und die Arme sanken ihr herab.

Doch unbewegt klang seine Antwort: „Den Sandboden.“

Sie schüttelte sich vor Trotz.

Mit erhobener Stimme fuhr er fort: „Jeder Frohnbauer erhält in Zukunft neben seinem ihm gebührenden Brot und Käse Erdäpfel zur Anpflanzung.“

Sie schlug die Hände vor die Augen. „Eine Erdtoffelschule will der Inspektor gründen?“

Der junge Mann richtete sich kerzengerade vor ihr auf. „Will die Demoiselle den Inspektor Ehrhardt mit seinen Erdtoffeln oder nicht?“

[644] Sie lugte hinter dem großen selbstgesponnenen Schnupftuch hervor. Jetzt ließ er nicht mehr mit sich fackeln, das sah sie ein. „Ja!“ tönte es kläglich.

„Das ist brav. Und nun will ich Dir auch sagen: nur den Erdäpfeln verdanke ich mein rasches Vorwärtskommen. Ich habe der Frau Herzogin Vortrag thun müssen über mein Vorhaben. Es leuchtete Hochderselben ein. Sie läßt in der Musterwirthschaft, die sie auf ihrem Vorwerk eingerichtet hat, gleichermaßen den Versuch mit der amerikanischen Frucht machen und hat mir in Anerkennung meines Bemühens ein Belobigungsschreiben für meine Uneigennützigkeit zugehen lassen, worin sie mich ihrer Huld und Gnade versichert.“

Lotte trocknete ihre Thränen. „Das lassen wir unter Glas und Rahmen fassen und hängen es in unsere Visitenstube.“

Er lachte laut auf: „Kleiner Prahlhans!“, zog sie in seine Arme und küßte sie auf die rothen Wangen. Dann setzte er ernster hinzu: „Mir ist ein großer Stein vom Herzen, daß ich keine Heimlichkeit mehr vor Deinem Vater zu bewahren habe.“

„Mir auch!“ stimmte Lotte bei. „Aber in Liebessachen ist es einmal nicht anders.“

„Ja, ja,“ gab er zu. „Liebesangelegenheiten bringen vielerlei Molestierungen mit sich, unsere sind noch nicht die schlimmsten.“ Bedenklich setzte er hinzu: „Es ist doch gut, daß der Monsieur aus unserer Nachbarschaft abzieht. Lida und er schauten sich an, als ob sie vergehen wollten.“

„Wer zieht ab?“ fragte sie erschrocken.

„Euer Lieutenant,“ entgegnete er gutmüthig lachend. „Die Botenfrau, die in der Festung war, erzählte, morgen müsse der schöne junge Herr mit seinem Obersten wieder fort. Sie reisen in die Walddörfer, um Aushebungen vorzunehmen. Es ist ein großes Geklag im Land drüben.“

Lotte sah betreten vor sich hin. Was würde Lida sagen? Und doch, wozu konnte die Sache führen? Sie wußte nicht, ob sie Gott danken oder sich sorgen sollte.

Das Kammerfenster der jungen Mädchen blieb heut lange geöffnet. Sie kauerten in der tiefen Steinnische auf der Bank. Das erste Mondesviertel schien herein. Die Fliederbüsche unten im Garten entfalteten ihre Trauben, leise rauschte der Nachtwind in dem jungen grünen Laube.

Lotte hatte die ihr gewordenen Nachrichten, die Freudenbotschaft für sich, die Hiobspost für Lida erzählt.

„Nun kann man sich wieder nicht ordentlich freuen,“ klagte Lotte.

„Freu’ Dich nur!“ entgegnete Lida, „ich sehe ihn wieder.“

„Woher willst Du gar das wissen?“ fragte Lotte, halb weinend, halb lachend.

Ein sanfter Flötenton aus dem Garten unter dem Fenster schien Antwort zu geben. Es war ein rascher Lauf, der über die ganze Skala hinglitt mit dem weichen Ton der guten alten Holzflöte, die nichts von hartem Metall wußte. Dann erklang es schmelzend wie das Lied der Nachtigall: „Guter Mond, Du gehst so stille!“

„Was ist das?“ fragte Lotte.

„St!“ machte Lida ganz verklärt. „Er ist’s.“

Das Flötenspiel ging weiter, silbern glänzte der Mond, Frühlingsdüfte zogen mit dem Nachtwind an dem grauen Haus vorbei, und aus dem verwitterten Steinrahmen bogen sich ein blondes und ein schwarzes Köpfchen lauschend hernieder. Da verhallte das Lied in lang ausgehaltenem Ton. Aus dem Schatten der Hängeweide trat eine schlanke Männergestalt in den Mondschein hinaus, ein Hut ward geschwenkt, an dem die silberne Agraffe blizte.

Lida hob das Nesseltuch, das sie um den Hals geschlungen hatte. Eine Sekunde lang standen sie und der Fremde regungslos; die jungen Augen schienen die Nacht durchdringen zu wollen. In diesem Augenblick begann die Uhr auf dem Thürmchen des Amtshauses mit ihrem alten Räderwerk zu rasseln und zu ächzen und die späte Nachtstunde zu schlagen. Die lichte Erscheinung tauchte in den Schatten zurück, Lida ließ das Tuch sinken. Nach wenigen Minuten klang Hufschlag, der sich in der Ferne verlor.

„Er ist in der Nacht von der Festung herübergeritten und hat Dir ein Abschiedsständchen gebracht,“ flüsterte Lotte athemlos.

Lida lag auf den Knieen, die Hände gefaltet und sah selig und mit Thränen in den Augen zum heiteren Nachthimmel empor.

„Du lieber Gott! Giebt es denn wirklich eine solche Seligkeit auf Deiner schönen Erde? Und womit verdiene ich ein solches Glück?“

„Unberufen! Gott behüt’s!“ fiel Lotte erschrocken ein. „Beschrei’ es nicht! Ja, wenn Du auch den Kopf schüttelst – weißt Du noch, wie Ehrhardts Erbsenfeld so herrlich blühte und die Leute standen und lobten und priesen es? Am nächsten Tag kam das Hagelwetter und schlug alles in Grund und Boden.“

„Wie kannst Du dem gütigen Vater im Himmel so wenig vertrauen?“ sprach Lida vorwurfsvoll.

Lotte legte ihre Stirn in sorgenvolle Falten. „Ich weiß nicht, warum, aber ich weiß: er läßt’s zu. Das mit dem Beschreien ist ein Erfahrungssatz wie der Frost zu Pankraz und Servaz, den auch niemand erklären kann.“




Zu Himmelfahrt wurde in dem Amtsstädtchen stets das sogenannte Rondellfest gefeiert.

In dem Garten des herrschaftlichen Gutes hatten sich von früher einige Anlagen erhalten, welche den Festplatz bildeten. Steifgeschnittene Buchengänge liefen gleich Strahlen auf einem mächtigen Rasenrondell zusammen, das rings von ebenso glattgeschorenen Fichtenwänden umgeben war. Nur an der einen Seite erhob sich eine kleine Altane, auf welcher die aufspielenden Musiker, im Leben ehrsame Handwerker, zu sitzen pflegten.

Die Schankgerechtigkeit übte das Gut aus mit Rostwürsten und schäumendem Broyhan und Bier. Leicht aufgeschlagene Bänke und Tische standen bis in den großen Obstgarten hinein, der seine Blüthen auf sie herabschüttelte.

In der ganzen Umgegend war das Wort „Himmelfahrt“ gleichbedeutend mit einer Fahrt nach dem Rondellfeste. Wer irgend zu den Honoratioren sich rechnen durfte, lief auf Stöckel- oder Schnallenschuhen, mit hohem Touret oder zierlichem Haarbeutel auf dem kurz abgesichelten Rasen herum.

„Wenn es nur nicht gewittert!“ seufzte Lotte, als sie ihr Gesangbuch nahm, um zur Kirche zu gehen. Als erklärte Braut durfte sie nun offen ihre Sorge aussprechen um Ehrhardts für viele Gäste vorbereitete Garküche. Sie betete auch ehrlich das Gebet gegen Wetterschaden, wenn es gleich nicht zum heutigen Evangelium paßte.

Auf Lidas Bemerkung darüber entgegnete sie: „Dem lieben Gott muß man mit seinen Bitten ordentlich vor der Thür liegen. Man hat dann wenigstens das Seinige gethan.“ Sie wurde auch erhört. Nicht die kleinste Wolke zeigte sich am Horizont; dagegen stieg ein unerwarteter Gast an der Ausspannstelle des Gutes ab.

Lotte war eben, den feierlich langen Schweif ihres neuen Kleides in der Hand, auf den rothhackigen Schuhen aus dem Keller heraufgeklappert, wo sie dem verzapfenden Knecht das Gewissen geschärft hatte, und in die Küche gesaust, um sofort eine von der Magd gemauste Wurst zu entdecken und laut scheltend auf den Rost zurückzubefördern, als ein Reiter sein Pferd draußen im Hof anhielt.

„Der Lieutenant von Altendorn,“ rief sie, drehte sich auf dem spitzen Absatz um – und stand vor Ehrhardt, der sie halb forschend, halb mißtrauisch vom Kopf bis zu den Füßen maß. „Wo hinaus?“ fragte er.

„Zu Lida!“ rief sie und rannte fort, als brenne ihr der Kopf. „Sie soll das halbseidene rosenfarbene Kamisol anziehen!“

Weg war sie; doch von der Treppe her klang es noch: „Mine, mahle auf der Stelle den Kaffee! Und daß die Chokolade nicht überläuft! Ich komme gleich wieder; hurtig!“

Ehrhardt lachte. „Solch ein mobiles Frauenzimmerchen ist doch ein wahrer Spaß! Aber einen Sparren hat eine jede. Bei der ist’s ihrer Schwester Schatz.“

„Er ist da!“ Mit diesen Worten stürzte Lotte in ihre Kammer, wo Lida sich in aller Ruhe ankleidete. „Er kommt aus der Residenz expreß zum Rondellfest. Er hat davon erfahren, als er in der Festung war. Das hörte ich ihn zum Verwalter sagen, dem er sein Pferd übergab.“

Lida mußte sich setzen, so war es ihr in die Glieder gefahren; aber sie lächelte.

Gott sei Dank, daß ich Dir das weiße Kleid aufdisputiert habe,“ fuhr Lotte fort. „Wo ist das Sammetband um den Hals? [645] Die Jasminblüthen werden nicht in den ‚Potpourri‘ gezupft, das sage ich Dir; das Sträußchen kommt an das Mieder und die Perlenschnur von Deiner Pathe wird über das Haar geschlungen!“ Sie hatte alle Bedenken gegen diese Liebe vergessen. Irgendwo sucht sich die Romantik, die in jedem Frauenkopf haust, einen Ausweg. Nun ging sie an die eigene Toilette.

„Was für fremde Blüthen steckst Du da an?“ fragte Lida, noch immer ganz athemlos.

Lotte zwinkerte geheimnißvoll. „Ehrhardt wird Augen machen.“ Und sie befestigte auf ihrem Toupet ein Sträußchen zarter weißer lila umränderter Blumen, und mit einem ebensolchen schloß sie das fein gefältelte Busentuch.

„Erdtoffelblüthen,“ rief sie lachend; „ich habe sie von dem Gartenfleck gestohlen, den er mit der amerikanischen Frucht bestellt hat. Er hat sich nun einmal das Gewächs in seinen viereckigen Kopf gesetzt.“

„Seid Ihr fertig?“ scholl die Stimme der Frau Amtmännin von unten herauf.

„Gleich!“ rief Lotte. „Da sind die Filethandschuhe. Ach, wie Deine armen Fingerchen zittern!“

Indessen hatte sich das Rondell schon mit Gästen gefüllt. In einem Bogengang saßen die Herrn Pastoren der ganzen Umgegend mit großen dreieckigen Hüten, gravitätisch aus weißen Thonpfeifen rauchend, und spielten eine Partie L’Hombre oder Piquet. Der Arzt gesellte sich hinzu, der bei allerhand Versuchen an Retorte und Destillierkolben eine gute Tinktur gegen Kröpfe entdeckt hatte und dadurch ein wohlhabender Mann wurde. Auch der Herr Kandidat fand sich ein, der zugleich Lehrer an der neu errichteten höheren Schulklasse war und am Sonntag Nachmittag in dem langen schmalen, gleich einem Schweif hinter ihm drein flatternden Mäntelchen predigte. Er hielt sich zu den Gattinnen der Honoratioren; hatte er doch bei jeder einen „Tisch“ zur Aufbesserung seiner dürftigen Einnahme. Der Förster war von seinem Waldberg herabgefahren im grün umsteckten Wägelchen, drei lustige Jägerburschen und zwei kernfrische Töchter hinter sich, den knurrigen Teckel zwischen den Füßen.

Viele Blicke gingen hinüber nach dem jungen Fremden, der im eifrigen Gespräch mit dem Inspektor am Eingang stand. „Ein Edelmann!“ sagte bedeutungsvoll eine Frau Pastorin. „Ein Offizier!“ Die Frau Doktorin zuckte die Achseln. „Ein Windbeutel!“ verhallte es zwischen den Buchenwänden, wo der Sekretarius eben einen Tisch für das Amtspersonal aufstellen ließ.

„Da kommen sie!“ hieß es.

Die vornehmsten Personen der ganzen Landschaft erschienen, der Herr Justizamtmann nebst seiner Familie.

Alles erhob sich. Von den Spieltischen schallten laute Grüße. Die Herren schüttelten sich die Hände, die Frauen erkundigten sich nach dem gegenseitigen werthen Befinden. Jetzt nahte auch der Offizier. Die Frau Justizamtmännin bekam mit dem Instinkt aller Mütter einen Schrecken; aber als er ihr die Hand küßte, fühlte sich die Tochter eines Superintendenten doch geschmeichelt.

Der Amtmann dankte ihm würdevoll gelassen auf seinen ehrerbietigen Gruß. Dann, bevor er sich zu seiner Partie setzte, sagte er leise zu seiner Gattin: „Hab’ ein Auge auf die Lida, daß ihr der adelige Fant nichts in den Kopf setzt!“

Die Amtmännin ängstigte sich, damit sie doch etwas that; ein anderes Hilfsmittel fiel ihr nicht ein.

Längst hatten sich die Augen des Offiziers und Lidas gefunden und waren nicht wieder von einander gewichen. Jetzt stand er vor ihr. „Da bin ich schon wieder,“ begann er heiter. „Werden Sie mich fortschicken? Bin ich zu aufdringlich?“

„Ich wußte, daß Sie wiederkommen würden,“ antwortete sie einfach.

„Wirklich? Wußten Sie es?“ flüsterte er beglückt und sah ihr tief in die schwärmerischen Augen.

„Ich bin auch da,“ weckte Lotte das Pärchen aus seiner Versunkenheit. Sie hatte bemerkt, daß man die beiden beobachtete, und stand gleich einer Gluckhenne bereit, sie unter ihre Fittiche zu nehmen. „Nun, Ehrhardt, mache den Herrn Lieutenant mit den Herren bekannt, den Frauenzimmern will ich ihn präsentieren.“

In Ansehung des Schmuckes aus Erdtoffelblüthen würde der Inspektor den Teufel vorgestellt haben, wenn Lotte es verlangt hätte, wie viel lieber den hübschen jungen Kavalier. Der machte ihm seine Aufgabe nicht schwer. Wie es das feine neue Komplimentierbuch vorschrieb, sprach er mit jedem von denjenigen Dingen, für welche dieser muthmaßlich Theilnahme hegen mußte. Die Frauen klärte er darüber auf, wie die neuen Schminkpflästerchen von den Damen des Hofes verwendet wurden, um die Röthe der Wangen zu heben, einem unregelmäßigen Gesicht etwas Pikantes zu geben – wenn er auch lächelnd die Achseln dazu zuckte. Die Landwirthe – und das waren sämmtliche Pfarrherren und Angesessene der Gegend – benachrichtigte er, daß die Kammer des Landgrafen große Tuchankäufe gemacht habe zur Ausrüstung von neu ausgehobenen Regimentern, daß die Wollpreise dadurch sehr gestiegen seien und man wohlthue, sofort loszuschlagen. Und Ehrhardt vollends war ganz Ohr, als er über die Verschönerung des Gartens, die der Bräutigam seiner Lotte zulieb plante, allerhand Rathschläge zu ertheilen vermochte: wie man aus einem versumpften Tümpel, aus zerbröckelnden Tuffsteinen und einem grasüberwachsenen bärtigen Steinbild eine Grotte des Neptun herstellen könne. Der Landgraf lasse nach dem Muster von Versailles herrliche Wasserkünste anlegen und habe auf die höchste Spitze eines Hügels eine mächtige Wasserleitung befohlen.

„Ja,“ sagte ein Handlungsreisender, der am Morgen mit Scheren, Nadeln, Messern den Frauen aufgewartet hatte, „die Bauern drüben haben schweren Frohndienst, um die Wasserleitung von den Bergen nach dem Garten hinüber zu bringen.“

„Und doch soll das Geld ausgegangen sein,“ brummte der Förster.

„Aus dem armen Volk läßt sich wohl Blut und Schweiß, lassen sich Thränen pressen, aber kein Gold,“ schloß der stets zur Opposition neigende Doktor.

Ein trauriger Ausdruck flog über das Gesicht des jungen Offiziers; er erinnerte sich an die Auftritte, die er bei der Aushebung erlebt hatte. Aber das alles verschwand, als jetzt Lotte, Hand in Hand mit Ehrhardt an ihm vorübergehend, ihm zurief: „Wollen Sie eine Tänzerin zur Menuett, so tummeln Sie sich, gleich geht’s los!“ Altendorn eilte zu Lida hin und forderte sie mit tiefer Verbeugung auf. Ringsum sah man einen Augenblick [646] nur gebeugte Rücken von Herren und gleichsam in die Erde sinkende Damen. Und schon hoben die Geigen ihre lockende Weise an.

„Meine Lida hat den Herrn von Altendorn auf einem Spaziergang kennengelernt,“ ließ sich die Frau Amtmännin vernehmen, um zu entschuldigen, daß ihre Tochter mit einem Offizier tanze; denn man wußte damals bei einem solchen nie genau, ob er aus Abenteuerlust, um schiffbrüchiger Verhältnisse willen oder wegen bodenloser Armuth in den wenig angesehenen Stand gerathen sei. „Er hat ihr dabei einen Dienst erwiesen.“

Vielleicht wäre durch die mütterliche Angst aus dem Veilchenpflücken noch eine Lebensrettung geworden, allein die Lust am Tanz verhinderte die fromme Lüge. Der Herr Kandidat forderte sie zu einem Ehrentänzchen auf. Der Doktor chassierte kreuzfidel, wenn auch die Beine etwas knickend unter der langen Bratenweste hervorkamen, mit der Frau Pastorin davon, die auf der hohen Frisur noch einen Federputz trug, der in drei Stockwerken emporstieg.

Alt und jung, groß und klein traten zur Menuett auf dem Rondell an. Selbst des Pfarrers achtjähriges Lieschen breitete ihr safranfarbenes Röckchen zierlich gegen Schulmeisters kleinen Fritz aus, der im Besitz des ersten Haarbeutels feierlich auf sie zu stolzierte.

Wenn der Tanz eine Darstellung der Liebe in Fliehen und Nahen, in Schäkern und Schmollen und in endlicher zärtlicher Vereinigung ist, so war es eine gesunde frische Art der Liebe, welche das Brautpaar vorführte.

„Wenn ich nur nach dem alten Bücklingstanz noch ein ganzes Rückgrat habe,“ meinte Ehrhardt und verbeugte sich. „Was hat die Jungfer Naseweis zu lachen?“

Lotte machte mit impertinent gehobenem Kinn einen tiefen Knix. Es ist mir immer lächerlich, wenn ich vor dem Herrn Inspektor mich so tief verneigen soll.“ Und sie schwenkte sich an seiner Hand, daß ihr amaranthfarbiger Rock die Frau Subkonrektorin fast aus der Reihe fegte.

Anders faßte das junge Paar die Menuett auf. Schon die Art, wie der Lieutenant seine Tänzerin mit hochgehobener Hand auf ihren Platz führte, schien anzudeuten, daß er ihre Partnerschaft als hohes Glück angesehen haben wolle. Und wie er nun in leichtem Schritt vorging, an ihr vorüberglitt, wie ihre Augen festgehalten wurden durch seinen Blick, während sie auseinanderschwebten, darin sprach sich etwas aus, das über das lustige Heute hinausging. Immer in gemessenem Tempo, steigerte sich doch der Tanz des jungen Paares, zu dem die Herzen den Takt schlugen. Jetzt gingen sie auseinander; Lida versank, den Fächer entfaltend und in langer Verneigung von der schelmischen Anmuth zu tiefer Demuth übergehend, während er rückwärts schreitend die Hand mit leicht zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger hoch hob, als richte er sich in zierlichem Uebermuth empor. Heiß glühten beider Wangen auf, als sie jetzt gehobenen Schrittes sich wieder nahten, um doch nur die Fingerspißen zusammenzufügen und sich in wohlabgemessener Entfernung zu umkreisen.

Mit scharfem Geigenstrich schloß der Tanz. Die Paare zerstreuten sich. Man nahm ein Schälchen Kaffee; die Herren schenkten mitgebrachten Malaga ein, die Frauen packten aus Körben handhohe Kuchenscheiben aus, die an die kleinen Mündchen der Töchter schwierige Aufgaben stellten, und die jungen Leute vergnügten sich in hergebrachter Weise.

Lotte machte einen abschreckenden Rundgang bei dem Dienstpersonal ihres Bräutigams, und dieser führte die Geistlichkeit an seine Erdäpfelbeete, um die neue Frucht ihrer Fürsprache zu empfehlen.

Auch Altendorn und Lida verließen das Rondell. Ohne Verabredung suchten sie die stilleren Wege auf. Sie hielt den Fächer schützend gegen die Strahlen der Abendsonne, welche durch die Zweige fielen. Von Zeit zu Zeit tauschten sie ein Wort über den weichen Zephyr, der an ihnen vorüber säuselte, über eine Goldammer, die auf der höchsten Spitze einer Hagebuche ihr letztes Liedchen sang.

So waren sie aus dem Garten des Gutes in den menschenleeren des Schlosses gelangt und, wie durch geheimen Zauber gezogen, sahen sie sich plötzlich wieder an dem Lieblingsplätzchen Lidas unter der Hängeweide. Wie sie dort von flüsternden, abgebrochenen Worten, leisen Seufzern, innigen Blicken zu den zusammengefügten Händen gekommen waren, wie Lida endlich, von Altendorns Arm umschlungen, an seiner Brust lag, wie sich zitternd, schüchtern die jungen Lippen zu einander fanden das hätte keines von ihnen zu sagen gewußt.

„Mein süßes Mädchen!“ flüsterte er. „Mein geliebtes Herz – ach, mein einziges Eigenthum! Aber wenn diese Hände auch arm sind, sie sollen Dich dennoch durch das Leben tragen.“

„Ich gehe mit Dir durch Noth und Tod.“

„Du glaubst an mich?“

„Wie an meinen Gott.“

In tiefer Rührung beugte er das Knie vor ihr. Und wie sie sich dann lange und tief in die strahlenden Augen sahen, da ging von Seele zu Seele das feierliche Gelöbniß, sich Liebe und Treue zu halten nicht nur für diese kurze Spanne Erdenzeit – nein für die ganze selige Ewigkeit.

Dann richtete er sich auf und sagte: „Es wird freilich nur ein einfaches Los sein, das ich Dir zu bieten vermag. In meiner jetzigen Charge kann ich nicht bleiben,“ fügte er hinzu, plötzlich sehr ernst werdend, „das verbieten gewichtige Gründe. Allein ich will mich zu dem Regiment versetzen lassen, das drüben in der Festung steht. Ein paar Lieutenants sind dienstuntauglich, man braucht Ersatz. Und an Anwärtern auf meinen Platz in der Leibgarde fehlt es nicht. Werde ich meinem lieben Mädchen auch noch gefallen, wenn ich aus dem schönen Rock in den schlichten dunklen geschlüpft bin?“

„Wird sich der Kavalier nicht sehnen nach dem Hof, den glänzenden Sälen, dem Lichtmeer der Feste?“

Ein langer Kuß machte das Nein, das auf jeder Lippe schwebte, überflüssig.

„Lida! Lida!“ klang es von fernher.

„Das ist Lottchen,“ sagte Lida, sich von der Bank erhebend. „O, sie muß zuerst unser Glück erfahren.“

Das junge Paar ging zurück. Es wurde wieder still auf der Stätte, wo eben zwei heiße Herzen sich für ewig gefunden hatten; nur die langen Zweige der Weide säuselten schwermüthig weiter, als hafte an ihnen eine Erinnerung an die Thränen, die nach des Psalmisten Worten vor Jahrtausenden ein seiner Heimath entführtes Volk vergoß, als es an den Wassern von Babylon saß und weinte und seine Harfen an die Weiden hing, die darinnen sind.

[665] Auf dem Rondell herrschte Festfreude. Da war niemand verwundert, daß Amtmanns Töchter plötzlich sich in den Armen lagen und lachten und weinten zu gleicher Zeit; auch nicht, daß die beiden jungen Paare in der an diesem gesegneten Tage so viel besuchten Geisblattlaube verschwanden, während das würdige Elternpaar mit andern Wohlgeborenen eine Menuett zu Vieren tanzte, die für künstlicher aber weniger aufregend galt als die zu Zweien. Es erschien ebenso allen natürlich, daß der junge Fremde so fröhlich sich an den roh gezimmerten Tisch der Honoratioren zwischen die beiden vornehmsten Mädchen setzte: es standen so gute Dinge darauf. Hatte doch die Frau Pastorin einen Konsistorialvogel gespendet, einen Truthahn, mit dem sie sonst nur bei der Kirchenvisitation aufwartete. –

Zum Abschied drückten sich alle Gäste des Rondellfestes die Hände, warum nicht auch der junge Offizier und die liebliche Lida, wenn es auch ein wenig lange dauerte? Der Splitterrichter gab es damals nicht viel, jeder gönnte dem andern sein Pläsier. Und daß die jungen Mädchen dann eiligst in ihre Kammer hinauf huschten, fiel weder den Eltern noch der müden Magd auf – es schlug ja schon die Mitternachtsstunde.

Lida hatte zwar gezögert, ihr war zu Muthe, als müsse sie vor den Eltern niederknieen und sie um Verzeihung bitten, daß sie selbständig über ihr Schicksal entschieden hatte, als müsse sie um ihren Segen flehen für den geschlossenen Bund. Aber Lotte zog sie mit fort. „Der Vater will schlafen gehen, er sieht sich schon nach der Zipfelmütze um; da kommst Du ihm sehr in die Quere. Und der Mutter ist auch Ruhe zu gönnen, sie hat viel mit dem Doktor tanzen müssen, und was macht der für Sprünge! Morgen wird schon alles zum Klappen kommen. Sieh, drüben in Ehrhardts Stube ist noch helles Licht, dort sitzt Dein Heinrich vor meines Inspektors neuem Schreibpult und verfaßt den Brief, in welchem er um Dich anhält. Er muß ja mit dem Morgengrauen wieder fort, der arme Mensch, hat nicht länger Urlaub erhalten und sie haben ihm eine so elende Mähre aus den Trainpferden ausgelesen. Na, wenn Ihr erst da drüben wohnt, holen wir Euch alle Sonntage in unserer Chaise ab.“ Damit fuhr sie in ihr Bett und schlief bald den Schlaf der Gerechten.

Lida aber blickte hinüber nach dem Gutshofe, bis das Licht, das ihr leuchtete, endlich erlosch. –

Als das erste Frühroth leuchtete, sah ein Paar anderer Augen dem Abreitenden ernst und bedenklich nach. In dem Tumult des Festes war Ehrhardt, angefeuert von einem guten „Bischof“, den sein Schwiegervater in der großen Terrine von Meißner Porzellan zum Besten gab, von dem fröhlichen Wesen seiner Braut fortgerissen worden und nicht recht zur Besinnung gekommen. Und als er dann allein dem jungen Offizier gegenüber saß und dieser sein ganzes Herz ihm aufschloß, das liebevolle, anschlußbedürftige, das immer einsam und verlassen gewesen war – da hatte er den Muth nicht finden können, zur Bedachtsamkeit zu mahnen. Es war ihm unmöglich, mit sorgenvollen Worten den Jubel zu verkümmern, den dieses junge Gemüth zum ersten Mal empfand über die Geliebte, die Braut, wie sie dem Jüngling in seinen Träumen vorgeschwebt hatte, über eine traute Häuslichkeit, die der Mann erhoffte. So erwiderte er die innige Bitte des jungen Schwagers, ihm ein Freund zu sein, nur mit festem biederem Händedruck.

Aber jetzt, wo der nüchterne Werkeltag heraufgraute, wo die frische Morgenluft ihn anblies, vergingen die leuchtenden Bilder des Himmelfahrtsfestes – wie Seifenblasen, dachte er unbehaglich; und die trennenden Klüfte, über welche die jungen Herzen Brücken, schimmernd gleich Regenbogen, geschlagen hatten, gähnten tief und kalt ihn an.

Und auch in der Familienstube des Amtshauses sah es am andern Morgen bedenklich aus, als auf den Frühstückstisch das feierlich große Schreiben niedergelegt wurde, das Heinrich vor seiner Abreise dem Inspektor zur Besorgung übergeben hatte. Nachdem es der Amtmann unter dem athemlosen Schweigen seiner Familie gelesen und alle von dem Inhalt benachrichtigt hatte, trat eine Stille ein, die den beiden Mädchen das Herz zuschnürte. Nur die Dose knarrte leise, als der Amtmann eine Prise nahm.

„Verzeihen Sie,“ flüsterte Lida bittend, „vergeben Sie mir; ich konnte nicht anders.“

„Ich bin auch verlobt gewesen und habe nichts gesagt,“ rief Lotte, um den Zorn auf sich abzulenken.

„Davon ist nicht die Rede,“ entgegnete der Vater, das Schreiben zusammenfaltend. „Verlöbnisse werden gemeiniglich zwischen den zwei betreffenden Personen abgeschlossen, ohne Zuziehung der natürlichen Vormünder.“

Die Mutter trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn. „Das habe ich nicht gedacht. Meine Tochter einen Offizier heirathen! In diese Armuth hinein! Wenn ich denke, wie die alte Hauptmännin drüben in der Festung sich ihr Mäßchen Bier unter der alten zerschlissenen seidenen Saloppe selbst heimträgt, und mir sagen muß: so geht Deine Lida auch einmal herum!“

Lida sah sie mit den großen dunklen Augen an; trotz des Schmerzes, den sie über den Kummer der Mutter empfand, lag ein Lächeln auf ihren Lippen: ach, welches Glück, für ihn sorgen zu dürfen! Seligkeit wäre es, keine Erniedrigung! Lotte kam ihr zu Hilfe. „Du brauchst Dir das Bier nicht zu holen. Ich lege ein Fäßchen von unserem Haustrunk in Euren Keller.“

„Es ist nicht von Bier und alten Saloppen die Rede,“ lenkte der Amtmann die Verhandlung wieder auf den richtigen Weg, „sondern von einem Heirathsantrag, den Lieutenant von Altendorn unserer Lida macht. Er setzt mit anerkennenswerther Offenheit seine Verhältnisse auseinander. Die Dürftigkeit derselben wollen wir für jetzt dahingestellt sein lassen. Auch daß er, wie ich trotz seines Schweigens über diesen Punkt genau weiß, aus der Leibgarde ausscheiden muß, weil er dort nie ein [666] bürgerliches Mädchen heirathen darf, auch das will ich nicht weiter in die Wagschale legen, obgleich dieser Umstand schon einen Stein des Anstoßes abgiebt für eine respektable Familie, wie wir sind. Für uns muß maßgebend sein, daß die Sache noch nicht spruchreif ist. Er will sich versetzen lassen, doch er ist noch nicht versetzt; er will um Erlaubniß bitten, heirathen zu dürfen, aber er hat sie noch nicht. Bevor seine Angelegenheiten so geordnet sind, wie er beabsichtigt, kann er billigerweise kein bindendes Wort von uns verlangen. Mit diesem Bescheid mußt Du Dich vertrösten, Lida, ich werde ihm denselben eröffnen. – Und nun, mein Schatz, schenke mir den Kaffee ein; ich habe ein schwieriges Urtheil[WS 1] zu fällen, ein Grenzstein soll auf dem Rain verrückt worden sein, und die Männer, welche als kleine Jungen bei dem Setzen desselben Ohrfeigen bekommen haben, damit sich die Stätte ihrem Gedächtniß einpräge, werden eidlich vernommen.“

Nach beendetem Frühstück begab sich jedes an sein Geschäft. Lotte ging in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Da knarrte die Thür hinter ihr, und Lida schlich herein, eine große Schürze vorgebunden. „Schicke die Magd in den Garten! Die Mutter will die Bohnenbeete gejätet haben. Ich will Dir helfen.“

Lotte stand wie versteinert. „Du wolltest ja Rosenblätter in Deinen ‚Potpourri‘ sammeln?“

„Das kann ich am Nachmittag thun,“ sagte Lida und sah die Schwester schüchtern an. „Ich möchte gern ordentlich kochen lernen. Aber nicht den Lammsbraten; den trägt’s für uns einmal nicht. Rüben sind wohl billig? Ich will sie putzen. Ist das zu viel Butter zum Schmoren?“ Sie maß das Stückchen bedenklich mit den Augen.

„Du armes Mäuschen,“ jammerte Lotte, „Du hungerst wohl gar auf Vorrath? Ich schicke Dir schon einen Lammsbraten und auch eine Büchse mit Butter.“

„Ach, das einfache Essen schmeckt ganz gut,“ lachte Lida; Du sollst sehen, welch schöne Bettelmannssuppen ich aus Wasser, Brot und Milch kochen lerne. Die Bauern essen sie auch und sind stark dabei.“

„Nein, Du schlägst Eier hinein,“ befahl Lotte nachdrücklich. „Ich schicke sie Dir durch die Botenfrau.“

So bereitete die eine sich freudig auf die Armuth vor, und die andere gab ebenso freudig alles weg, was sie hatte.

„Wie schnell die Jugend ihre Sorgen in den Wind schlägt!“ seufzte die Mutter schweren Herzens, als sie mit dem Schlüsselbund auf ihrem täglichen Rundgang vom Keller nach dem Boden hinaufstieg. Ist das nicht in der Küche ein Gezwitscher, als sei ein Nest lustiger Finken ausgeflogen?“

Allein das fröhliche Gezwitscher hielt nicht lange an. Am Abend hallte ein tiefer Seufzer durch die jetzt einsame Küche. Er kam von Lottens Mund, der des Seufzens gar nicht gewohnt war. Sie kauerte vor dem Herde und brachte das große Feuerzeug in Ordnung. Die Magd war wieder einmal nicht vorsorglich gewesen, sie war mit dem Vesperbrot zu den Arbeitern auf den Krautacker gelaufen und würde nachher eine Stunde mit Stahl und Stein kippen müssen, wenn die Abendsuppe gekocht werden sollte. Es war ja kein Zunder mehr da, und Lotte beschäftigte sich damit, neuen zu brennen.

„Ein elendes Geschäft!“ murmelte sie. Kaum züngelt das Flämmchen auf aus dem alten Linnengespinnst, so wird der Blechdeckel darauf gedrückt, daß es nur ein wenig schwelen darf und ausgehen muß. Gerade wie im Leben!“

„Das will ich mir doch verbeten haben!“ Ehrhardt, der durch die Thürspalte gelugt hatte, trat lachend herein. „Was philosophierst Du da für dummes Zeug zusammen?“

„Wäre es doch dummes Zeug!“ seufzte sie weiter und drückte abermals ein lustiges Flämmchen aus. Aber denke Dir, wie der Vater den armen Altendorn beschieden hat. In einem ganz steifen Brief sagt er ihm, es scheine allerdings, als habe Lida den Herrn in Affektion genommen. Da indessen der Herr noch nicht recht adjustiert sei, so erachte er es für geboten, daß jetzt nichts festgestellt werde, sondern erst des Herrn Lieutenants Angelegenheiten geordnet werden müssen, bevor der Vater sich zu expektorieren habe. Nun denk’ einmal, wenn Dir gesagt worden wäre: ‚Die Lotte hat den Herrn Inspektor in Affektion genommen.‘“

Ehrhardt zog nachdenklich die Stirne kraus. „Ich würde die Rede, in unser ehrliches Deutsch übersetzt, so verstanden haben: die Lotte ist in den Inspektor bis über beide Ohren verliebt.“

„Ehrhardt!“ fuhr sie auf. Er sah sie übermüthig an. „Hoffentlich will die Demoiselle nicht widersprechen.“

Sie hatte sich schon besonnen, senkte den Kopf und seufzte: „Ach, Ehrhardtchen!“

Er musterte sie prüfend: so nachgiebig und „Ehrhardtchen“! Da wollte sie etwas. „Nun heraus mit der Sprache! Wo soll ‚Ehrhardtchen‘ helfen?“

Jetzt war die Schleuse aufgezogen. „Ach, wenn Du das thun würdest! Sieh, der Vater will den Brief mit der Postkutsche schicken, die einmal dazu verordnet sei. Nun kommt die aber erst übermorgen hier durch, und der Schaffner ist immer betrunken, und die alte Karre fällt aus einem Loch ins andere. Wie leicht kann der Brief da mit in einem Loche stecken bleiben – was eigentlich nicht schade wäre,“ sezte sie mit echt weiblicher Logik hinzu. „Nein, lache nicht! Denke Dir nur, wie lange der arme Mensch auf Antwort warten soll, wenn er sie überhaupt jemals bekommt. Und kein tröstendes Wörtchen von Lida! Das ist zu arg! Komm’ mir nicht mit einer Vernunftpredigt, die habe ich Dir auch nicht gehalten, sondern ich bin ans Quittenspalier gelaufen, bis die Vorbehalte des Vaters und die Aengstlichkeiten der Mutter überwunden waren.“

Er blickte sie an. Ein Sonnenstrahl fiel durch das tiefe vergitterte Küchenfenster gerade auf den zu ihm emporgerichteten Mädchenkopf, daß das blonde Haar unter dem Puder förmlich glitzerte. Die Vernunft verzog sich. Er schlang seinen Arm um sie und sagte: „Nun weiter!“

„Wie war denn das mit den Wollpreisen?“ fragte sie listig. „Hattest Du nicht Lust, einmal drüben in der Residenz Erkundigungen einzuziehen? Wenn Du nun bald dazu thätest und das furchtbare Schreiben mitnähmest, dann könntest Du auch ein Briefchen von Lida als Trost beigeben. Nein, schüttle nicht den Kopf! Das Quittenspalier mit seinen Geheimnissen kann auch nicht vor dem Katechismus bestehen, und der liebe Gott hat dennoch seinen Segen dazu gegeben.“ Sie streichelte ihm die gebräunte Wange. „Du mit Deinem verständigen Blick könntest Dir die Verhältnisse auch einmal in der Nähe ansehen. Man bekäme doch eine richtige Einsicht.“

„Schmeichelkätzchen!“ drohte er, aber er ließ sich streicheln und schmeicheln und gab endlich ganz weich den Bescheid: „So melde dem Herrn Papa, daß ich morgen in die Residenz reise und seine Antwort mitnehmen will!“

„Ehrhardtchen!“ Sie flog ihm um den Hals.

Derweilen war der Zunderkasten ausgebrannt. „Das ist recht,“ rief sie lustig. Es hat doch einmal sich ausflackern dürfen. Drücke die Flämmchen aus, wer will, ich nicht!“




Am nächsten Tage ritt Ehrhardt nach der Residenz des Nachbarlandes ab, begleitet von einem Knecht; er ein Felleisen mit Wollenproben, der Knecht einen Hafersack hinter sich auf den breiten Rücken der starken Eisenschimmel.

[667] Bei dem Inspektor der großen Domäne an der Grenze hielt er Nachtrast und besprach mit ihm die Angelegenheit des Wollhandels. Der aber schüttelte den Kopf, meinte, die da drüben seien nicht geeignet zu Geschäftsverbindungen, wußte viel zu erzählen von unsinniger Verschwendung des Hofes, die den Seckel geleert habe, von Bedrückung des Volkes, von Spionage und Willkür, die dort Hand in Hand gingen. Das waren keine guten Nachrichten. Doch Ehrhardt mußte zugestehen, daß Lotte recht gehabt habe, wenn sie rieth, man solle sich die Verhältnisse einmal mit eigenen Augen ansehen.

Nachdenklich ritt er am andern Morgen von dem Schlagbaum des Herzogthums zu dem Grenzpfahl hinüber, der die Farben des Vaterländchens trug, dem sein vermuthlicher Schwager angehörte. Sofort erkannte er, daß die Aecker in der Bearbeitung sehr zurück waren. Aber eine Frage an einen Bauern, der mit seinem elenden Kuhgespann des Weges zog, wurde nur mit einem mißtrauischen Blick beantwortet. Der nächste sagte finster: „Die Frohnden!“

Bei guter Zeit langte er in der von dem Freund empfohlenen Ausspanne an, die vor den Mauern der Residenz für seinen Zweck bequem gelegen war, da er dort, wenn er nicht Nachtherberge nehmen wollte, von Paßscherereien verschont blieb.

Als er seine Pferde versorgt hatte, ging er durch das mit Wachen stark besetzte Thor in die Residenz hinein. Die große Hauptstraße führte in mannigfachen Windungen nach dem weiten Schloßplatz. Es fiel ihm auf, daß die Leute so gedrückt aussahen, daß sie ihn scheu anblickten, als er ein neuerbautes Palais bewunderte. Marmorstufen führten zu der Eingangspforte, über der ein zierlich geschweifter Balkon schwebte; Amoretten mit Bogen und Pfeil und lodernden Fackeln schmückten, in Stuck ausgeführt, die Fassade.

„Wem gehört dieses Schlößchen?“ fragte er einen Arbeiter, der die Straße vor dem kleinen Prachtbau aus einer großen Gießkanne sprengte.

„Das ist Monbijou,“ antwortete der Mann, „und gehört der Gräfin Wildern.“

Ehrhardt schnalzte mit den Fingern. Landbekannt war der Ruf der Gräfin Wildern, die mit dem verstorbenen Prinzen Klothar auf sehr innigem Fuße gestanden hatte und trotz der durch den Tod ihres Verehrers gelockerten Fühlung noch immer für allmächtig bei Hofe galt. Er wandte sich zum Gehen.

Da blieben plötzlich die Leute mit abgezogenen Kappen und Hüten stehen. Ein glänzender Aufzug nahte vom Schloßplatz her. Zwei riesige Lakaien trugen eine ganz vergoldete Porte–chaise. Hinter den Scheiben zeigte sich ein wundervolles Frauenbild. Aus dem tiefen Ausschnitt eines mit Spitzengekräusel überrieselten aurorafarbenen Seidenkleides hob sich die üppige Büste; eine Schnur von Perlen schmückte den schlanken Hals. Eine Agraffe von großen Brillanten im Haar verursachte zusammen mit dem Ohrgehänge ein solches Gefunkel, daß man geblendet fast das schön geformte Gesicht übersah. Nur die kleine schwarze Fliege, das Schönheitspflästerchen, fiel ins Auge; sie war dicht an die vollen Lippen gesetzt, als nasche sie von dem erdbeerrothen Mund.

Ehrhardt erwachte aus seinem Staunen, als ein zur Begleitung nebenherschreitender Lakai ihm den Hut vom Kopfe schlug.

Er wollte auffahren, dem Kerl nach. Aber der Arbeiter hielt ihn am Rock fest und warnte in einem Ton, der die Berechtigung des Bedienten anerkannte: „Es ist ja die Gräfin Wildern,“ Ehe Ehrhardt antworten konnte, ließen sich von der andern Seite Trommelwirbel hören, glänzende Uniformen blitzten auf: die Wachtparade der Leibgarde marschierte nach dem Schloßplatz.

Der Inspektor unterdrückte seine Empörung und ging hinter der Porte-chaise her, dem militärischen Aufzug entgegen. Vielleicht war das Glück ihm hold, und er begegnete Altendorn, konnte ihm einen Wink geben, daß er nach der Parade ihn sprechen wolle.

Wahrhaftig, der junge Offizier, der die Soldaten führte, war der Gesuchte. Indeß, welch sonderbaren Ausdruck trug das sonst so sanfte Gesicht! Täuschte er sich, oder verschärften sich wirklich die Züge, je näher er kam, bis zur schroffsten steinernen Unnahbarkeit? Und welches Leben erhob sich in dem vergoldeten Gehäuse! Ein Hin- und Herbiegen, daß der leicht umhüllende Flor wie ein Nebelwölkchen von den Schultern sank, ein Fächerwedeln, als sei der goldene Schrein ein feuriger Ofen.

Jetzt schritt der junge Lieutenant an der Porte-chaise vorüber. Er grüßte mit der Grazie, die jede seiner Bewegungen auszeichnete, aber seine Augen waren niedergeschlagen, so daß nur der Schatten der dunklen Wimpern auf den Wangen zu schauen war. Mit verzehrender Glut hingen die Blicke des schönen Weibes an der Jünglingsgestalt.

Was war das? Und warum lachte der zweite Offizier so eigenthümlich und häßlich vor sich hin?

Ehrhardt konnte nicht weiter darüber grübeln.

Altendorn schritt eben an ihm vorbei. Jetzt erblickte er ihn, und plötzlich war der finstere Ausdruck verschwunden; eine helle Röthe flog über sein Gesicht, voll gespannter Erwartung heftete sich sein Blick auf den Freund.

Und als Ehrhardt beruhigend ihm zuwinkte, ach, wie dankbar schauten da die eben noch so strengen Augen darein!

„In einer Stunde bin ich zu Haus,“ rief Altendorn dem Inspektor halblaut zu.

Lotte hatte doch recht! Mochten die Verhältnisse so verzwickt sein, wie sie wollten, den armen Menschen durfte man nicht auf die Folter spannen. In diesem Gedanken fragte Ehrhardt einen der Umstehenden nach der Wohnung des Lieutenants und suchte dann nach einer Stunde, die ihm überlang vorkam, das ihm bezeichnete Haus auf. Es war ein ärmliches Stübchen, in welches er gewiesen wurde. In der Thür kam ihm Altendorn schon entgegen.

Ehrhardt drückte ihm herzlich die Hand und übergab ihm zuerst des Amtmanns Schreiben. Der Offizier wechselte beim Lesen die Farbe, allein er sagte gefaßt: „Ich durfte keine andere Antwort erwarten.“

Trotz aller früheren Bedenken war der Inspektor jetzt herzlich froh, daß er ihm als Balsam das Briefchen von Lida geben konnte. Altendorn wandte sich ab und trat damit zum Fenster. Natürlich, er küßte den kleinen Ring, den Ehrhardt durch das Papier hindurch gefühlt hatte!

Inzwischen warf der junge Landwirth einen prüfenden Blick auf das Stübchen. Ringsum kahle Wände, auf dem Tisch, noch in Papier gewickelt, ein kleiner Imbiß, den der glänzende Offizier sich wohl selbst mitgebracht hatte.

„Und ich habe Lida nichts zu geben,“ vollendete Altendorns Stimme traurig das Zeugniß von Armuth. das seine Umgebung ausstellte, während sein Blick an dem schlichten Reif haftete, den er an den kleinen Finger gesteckt hatte. Ehrhardt wollte schon ein tröstendes Wort sagen, als plötzlich ein blitzender Strahl von der Fensterbank her ihm ins Auge fiel. Er kam von einem funkelnden Schmuckstück, das dort lag im grellsten Gegensatz zu der ärmlichen Umgebung.

Altendorn war dem Blick Ehrhardts gefolgt; eine dunkle Röthe schoß in sein Gesicht. „Um Gotteswillenl“ rief er. „Nicht einmal in Gedanken darf dieser Schmuck mit Lida in Verbindung gebracht werden. Er muß auch sofort wieder aus dem Haus. Ich habe nur noch keinen Boten gefunden.“

[683] Rasche Schritte erklangen auf der Treppe, und ein Offizier trat über die hohe Schwelle. Es war die kräftige Gestalt und das wüste Gesicht dessen, der vorhin auf der Straße so häßlich gelacht hatte. „Besuch?“ fragte er enttäuscht.

„Ein Freund, den ich bei der letzten Aushebung von jungen Mannschaften kennen lernte,“ sagte Altendorn und machte die Herren mit einander bekannt.

Lieutenant von Sorben maß den Inspektor mit einem raschen Blick. „Nun, vor einem Freund werden Sie keine Geheimnisse haben. Ist es wahr, was auf der Parade erzählt wurde? Sind Sie des Teufels, daß Sie sich in das alte Rattennest, in den Pulverthurm versetzen lassen wollen und sogar daran denken, sich dort zu verheirathen?“ Und als Altendorn bestätigend nickte, fuhr er spöttisch fort: „Verlangt mich zu wissen, ob Sie das erreichen werden.“

„Ich bin nicht Leibeigener,“ entgegnete Altendorn kurz.

Ehrhardt bemerkte ein ganz leises Achselzucken des fremden Offiziers; dann fügte derselbe lachend hinzu: „Das Glück kommt immer an den Unrechten. Wenn mir angeboten würde, die ausgezeichneteste Mariage im ganzen Land zu schließen, in Monbijou zu wohnen, das schönste Weib zu haben und die allerhöchste Gunst obendrein zu bekommen, ich würde meine Fortune nicht so von mir stoßen.“

Heinrich hatte sich hoch aufgerichtet. „Wenn wir Freunde bleiben sollen – kein solches Wort mehr!“

Der Andere zuckte abermals die Achseln. Schon wieder im Begriff zu gehen, bemerkte er die blitzenden Sterne auf der Fensterbank. „Dies Souvenir sollte ich kennen,“ meinte er und nahm es in die Hand, bevor Altendorn dazwischen treten konnte.

„Ein Medaillon mit einem pfeildurchbohrten Herzen?“ Er pfiff leise vor sich hin.

„Sie sind unzart, Sorben,“ sagte Altendorn ernst. „Das Medaillon ist verloren worden und wird zurückgegeben werden.“

„Vorausgesetzt, daß es zurückgenommen wird.“ entgegnete der Andere nachdrücklich. Und als Altendorn auffuhr, fragte er kurz: „Wurden Sie etwa bei dem letzten Fest die Diana los, welche auf dem Naturtheater im Schloßgarten Sie schlafenden Endymion embrassierte oder wenigstens embrassieren wollte? Die Darstellung war sehr lebhaft und soll frei erfunden gewesen sein. Denn die Mythologie weiß nichts davon, daß Endymion das Gesicht abwendete und dann eiligst Reißaus nahm.“ Er schlug ein lautes Gelächter auf. „Sind Sie ein Thor! Solche Amourschaft zu refusieren! Das Weib war schön mit dem keuschen Halbmond auf der hohen Frisur und dem kurzgeschürzten Florröckchen. Und wie meisterhaft stellte sie ihre schmachtende Liebe in der großen Pantomime dar!“

Altendorn ballte in zorniger Qual die schlanken nervigen Hände.

„Echauffieren Sie sich nicht,“ beruhigte ihn Sorben, noch immer lachend. „Ich bin überzeugt: das pfeildurchbohrte Herz hat Ihnen Diana heimlich in Ihre Pelztoga gesteckt und Ihr spröder Nacken hat empört das goldene Joch gesprengt.“ Er besichtigte die zerrissene feine Kette, die an dem Medaillon hing.

„Wollen Sie es übernehmen, das verlorene Schmuckstück der Gräfin Wildern im Namen des ehrlichen Finders zu überbringen?“ fragte Altendorn, mühsam seine Fassung bewahrend.

Sorben dachte nach. „Ich werde mich dadurch nicht gerade einschmeicheln, aber das ist mir egal. Lange halte ich mich hier doch [684] nicht mehr, und es soll mir ein Plaisier sein, den Aerger der schönen Personage mit anzusehen.“

Er versenkte das Medaillon in die mit Silber bordierte Westentasche und ging.

Altendorn athmete auf. „Wie will ich Gott danken, wenn all dieses unwürdige Treiben hinter mir liegt!“

Dem Inspektor schnürte eine unbestimmte Angst die Brust zusammen. Würde sein armer junger Freund je dahin gelangen? Welche unheimliche Fäden waren es, die ihn zu umspinnen drohten?

Heinrich kämpfte sichtlich mit sich, er wollte wohl erklären – da knarrte abermals die Treppe. Ein spitzes Klopfen ertönte und hereintrat in goldgesticktem Rock und langer Bratenweste ein älterer Herr mit feinem Gesicht.

„Herr Hofrath!“ rief Heinrich, überrascht dem alten Herrn entgegentretend und sich tief verneigend.

Ehrhardt erwartete, daß der Besuch sich aus seiner gebückten Stellung erheben werde, aber dieser behielt sie bei; der Rücken bildete eine horizontale Linie, nur das Gesicht trug er steil emporgerichtet. Es war die Stellung, in welcher der Hofrath seinem gnädigsten Herrn Vortrag zu halten hatte, und sie war ihm zur andern Natur geworden.

Kühl fragend fiel sein Blick auf Ehrhardt. Als dieser sich zurückziehen wollte, sagte Altendorn: „Wenn des Herrn Hofrathes gütiger Besuch meiner Angelegenheit gilt, so bitte ich, Sie wollen sich nicht abhalten lassen von dero Geschäft. Dieser Herr wird, wenn das Glück mir hold ist, mein Schwager.“

Aus dem kleinen faltigen Gesicht zuckte ein rascher Blick zu Ehrhardt hinüber. „So bitte ich, mich zu pardonnieren und, wenn meine Rede peinlich sein sollte, bedenken zu wollen, daß dieselbe treu gemeint ist. Lieutenant von Altendorn,“ fuhr er sehr ernst fort, „ich komme nicht als Hofrath, der einfach nach Befehl seines Herrn die Supplikanten zu bescheiden hat, sondern als Freund Ihres verstorbenen Vaters. Lassen Sie ab von Ihrem Vorhaben, es führt Sie ins Verderben!“

Heinrich stand ebenso ernst ihm gegenüber. „Ich danke Ihnen von Herzen dafür,“ entgegnete er ehrerbietig, „daß Sie sich der alten Freundschaft erinnern. Aber ich kann die Warnung nicht für mich nutzbar machen. Ich habe gewußt, daß man meinem Entschluß Widerstand entgegensetzen werde, nicht nur von Seiten meiner Vorgesetzten und Kameraden, sondern auch von Seiten der Familie, welcher ein armer Lieutenant ein unwillkommener Schwiegersohn ist. Jedoch es gilt mein ganzes Lebensglück, und so muß ich hier auf meinem Gesuch bestehen, wie ich dort mich bemühen muß, mir Liebe und Anerkennung zu erwerben.“

Die Finger des alten Herrn bewegten sich krampfhaft in den fein gefältelten Manschetten. Er drückte den Degengriff nieder, daß die Spitze hoch empor schnellte. „Hören Sie mich, Heinrich! Ich kann und darf nichts weiter sagen – aber von Lebensglück wird für Sie nach diesem Schritt nicht mehr die Rede sein.“

Ein finsterer Zug trat in Altendorns Gesicht, er schüttelte entschieden den Kopf. „Ich muß auf meinem Gesuch beharren.“

Es arbeitete verzweiflungsvoll in dem Gesicht des alten Herrn. „Und schweigen zu müssen! Nun denn! Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen sagte,“ sprach er dann mit gepreßter Stimme. „Ich wasche meine Hände in Unschuld. – Er aber, Monsieur,“ wandte er sich an Ehrhardt, „sage Er Seinem Schwiegervater, er soll die Hochzeit nicht beeilen. – Wozu noch mehr Unglückliche machen?“ murmelte er schon im Gehen. Altendorn gab ihm ehrfurchtsvoll das Geleite.

„Es ist so weit gekommen,“ sagte dieser, als er wieder allein mit Ehrhardt war, „daß alles vor einer schönen Schlange zittert. Vergiß die unwürdigen Erörterungen!“

Ehrhardt jedoch blieb nachdenklich. „Die Worte des alten Herrn schienen mir auf etwas Wichtigeres zu deuten als auf die abgewiesenen Zudringlichkeiten eines Frauenzimmers,“ antwortete er kopfschüttelnd.

„O, Du glaubst nicht, wie wichtig gerade solche Dinge von den Hofleuten genommen werden,“ erwiderte Heinrich. „In kurzer Zeit wird diese Wichtigkeit verschwunden und der Altendorn vergessen sein – und das ist alles, was ich wünsche.“

Trotz dieser beruhigenden Worte lastete auf Ehrhardt ein Druck, den er nicht überwinden konnte. Er dankte für die Aufforderung, sich die Residenz zu besehen, schützte die weite Rückreise vor und nahm nur wenige Bissen von dem kleinen Frühstück, das ihm der junge Offizier anbot. Er war froh, als er auf dem Heimweg wieder lostraben konnte. Was lag denn nur Beängstigendes in der Luft dort in der Stadt? –

Auch zu Haus wußte er nicht klar zu sagen, was ihm eigentlich Sorge mache. Selbst unter vier Augen konnte er es seiner Braut nicht begreiflich machen, daß dem Lieutenant eine Gefahr zu drohen scheine. Sie lachte ihn aus. Die Attacke der schönen Frau, die der junge Offizier so mannhaft abgewiesen hatte, machte ihr Spaß. Mit Gewalt konnte diese galante Dame ihn doch nicht in ihr Monbijou schleppen. Der alte Hofrath mit seiner unterthänigen Figur erregte nicht weniger ihre gute Laune. Der würde wohl eine Gänsehaut bekommen haben bei dem bürgerlichen Namen der Braut! Und dann hatte Lotte einiges über ihre Ausstattung mit Ehrhardt zu sprechen, was natürlich auch ihn auf heitere Gedanken brachte.

Und Lida vollends ahnte nichts von Unheil. Sie sammelte Rosenblätter in ihren „Potpourri“ und malte sich aus, wie lieblich der Wohlgeruch sein werde in ihrem zukünftigen engen Stübchen dort drüben hinter dem alten Pulverthurm. –

Endlich kam der entscheidende Brief. Altendorn hatte einen Expreßboten drangewendet, um die Nachricht schnell und sicher an Lida gelangen zu lassen. Er war zu dem Regiment in die Festung versetzt und hatte die Erlaubniß erhalten, sich zu verheirathen.

Wenn der Oberst auch höhnisch gelacht hatte, als er ihm die Eröffnung machte – was kümmerte es ihn, den Glücklichen? Er wollte dem Boten auf dem Fuße folgen, nur vorerst noch die nöthigen Dienstgeschäfte abwickeln und sich in die neue schlichte Uniform kleiden.

Die beiden Mädchen eilten in ihre Kammer. Lida hatte ja noch einen Brief allein für sich zu lesen, und Lotte mußte die Seligkeit mitgenießen.

Die Mutter seufzte und rieb sich die Stirn mit Lavendelwasser. Der Justizamtmann erklärte, er müsse ein Gläschen Aquavit nehmen. Er begab sich hinab in die Apotheke, wo um diese Zeit immer ein Kreis von Honoratioren sich einfand, vor allem der Arzt, der alte „Ueberall und Nirgends“. Und eine Magenstärkung sowohl als eine Zerstreuung konnte er brauchen.

Als er nach einer Stunde zurückkehrte, sah er wunderlich betroffen aus. An der Grabenbrücke des Amtshauses begegnete er dem Inspektor, der eben vom Markt nach Hause ritt. Auch dieser war verstört, und die Hand, welche er dem Schwiegervater vom Pferd herunter bot, zitterte. Die beiden Männer sahen sich in die Augen und nickten dann wie im stillen Einverständniß.

„Ich kann’s da droben nicht sagen,“ begann Ehrhardt und wandte das Gesicht ab.

„Das ist Sache der Mutter,“ erwiderte der Amtmann mit gepreßter Stimme.

Droben schloß er sich mit seiner Frau ein, und bald tönte Schluchzen aus der Studierstube. Aber es sänftigte sich nach nicht zu langer Zeit. Der Zusprache ihres Eheliebsten kam bei der Amtmännin ein Gefühl zu Hilfe, das tief in ihrem Herzen lag.

[685] „Der junge Mann dauert mich vom Grund der Seele,“ sagte er, „und es ist ein großer Schmerz für unsere Lida. Aber es ist – ich möchte sagen ein poetischer Schmerz, wohingegen das Nagen am Hungertuch als ein ganz erbärmliches Schicksal erscheint. Und das wäre doch das Los des armen Kindes gewesen. Theile Lida mit, wie Gott der Herr über ihren Herzenswunsch entschieden hat, und dann – hier liegt Dein Gesangbuch, mein Schatz!“ Er zog die Uhr aus der Tasche. „Es ist Zeit, ins Amt zu gehen; es stehet noch ein Versöhnungstermin. Wo ist meine Allongeperücke und mein Mantel?“




„Verkauft!“ Mit diesem Ausruf stürzte Altendorn am Nachmittag in Ehrhardts Stube. „Verkauft! Siebentausend Mann verhandelt an England, um in Amerika die aufständischen Kolonien niederwerfen zu helfen! Hohn des Schicksals! Gegen die sollen wir kämpfen, welche jedem Menschen das Recht auf sein armes Leben zusprechen.“

Ehrhardt drückte ihm die Hand, zu antworten vermochte er nicht.

Mit versagender Stimme erzählte Altendorn: „Zugleich mit mir traf bei dem Regiment in der Festung der Befehl ein, sich marschbereit zu machen. In der Residenz werden die verhandelten Truppen zusammengezogen. Nicht ganz tausend Thaler für den Mann ist der Preis.“ Er drückte die Faust vor die Stirn. „Giebt es denn kein Mittel, aus diesem Elend loszukommen?“

Man sah ihm an, wie er seinen Kopf zermarterte, um einen Ausweg für sein Herz zu finden. Er konnte doch nicht desertieren, der Fahne, dem Herrn, denen er Treue geschworen, den Eid brechen! Und dann wäre ihm auch kein anderes Schicksal gefallen als das, welches jetzt über ihn verhängt war: er hätte in fremdem Land seinen Degen verdingen müssen.

Dem Inspektor schnürte der Jammer die Brust zusammen. „So nimm Deinen Abschied, armer Freund,“ brach er aus. „Ich gebe Dir Unterkunft, bis Du ein Plätzchen gefunden hast, auf dem Du Fuß fassen kannst. Ich vermag das mit Hilfe der amerikanischen Frucht. Suche Dein tägliches Brot da, wo es aus der guten Mutter Erde heraus wächst!“

Heinrich wehrte verstört mit der Hand ab. „Halte mir nicht das Paradies Deiner Tagelöhner vor Augen. Ich kann meinen Abschied nicht nehmen, der Preis dafür ist zu hoch. Er ist mir bereits gestellt worden durch ein Billet, welches der Kurier zugleich mit dem Befehl zum Ausmarsch mir überbrachte. Ich soll zurückversetzt, verabschiedet werden, ganz nach meinem Belieben, wenn ich“ – Ekel verzerrte sein Gesicht – „wenn ich die Wildern heirathe. Du siehst, mir ist nicht zu helfen. Und es ist gut, daß ich in den Tod geschickt werde; denn Lida ist für mich verloren. Ich thörichter Knabe! Bin ich denn von Sinnen gewesen, als ich das Schicksal eines edlen Mädchens an das meine fesseln, Lida aus frohen glücklichen Verhältnissen in mein armseliges Dasein hineinziehen wollte?“ Er schlug sich vor die Stirn.

„Lieber Gott!“ rief Ehrhardt, „mache Dir doch aus der menschlichsten Empfindung keinen Vorwurf! Wenn man sich verliebt, will man heirathen.“

„Hat ein solcher Sklave wie ich ein Recht auf menschliches Empfinden?“ fragte Heinrich mit einem Ausdruck von Hohn, den Ehrhardt diesem sanften Gesicht nie zugetraut hätte. „Auf keinen der jungen Burschen hat der hohe Handelsherr ein so gutes Recht als auf mich. Er hat mich gefüttert von Kindheit auf und verschachert mich nun wie Du Dein –“

„Ich bitte Dich,“ wehrte Ehrhardt entsetzt ab.

„O!“ lachte Altendorn höhnisch, „der Kriegsheld unseres Jahrhunderts, der große König Friedrich von Preußen, hat es offen ausgesprochen, als man wegen unseres Durchzuges durch sein Land verhandelte. Voll Verachtung hat er gesagt, es sei billig, daß er von den durch sein Land ziehenden Soldaten des Fürsten den Viehzoll erhebe, da sie ja wie Vieh verkauft würden.“ Er stampfte mit dem Fuß auf.

Den Inspektor schüttelte ein Frost. „Trage es wie ein Mann!“ stieß er hervor.

Heinrich rang nach Fassung. „Es bleibt mir nichts weiter übrig,“ entgegnete er mit zuckenden Lippen. Er drückte die Hand vor die Augen und beugte das Haupt dem Schicksal.

„Wissen Sie es drüben?“ fragte er tonlos nach einer Weile.

Ehrhardt nickte.

Altendorn raffte sich auf. „Ich muß ein Ende machen, mich allen so schnell als möglich aus den Augen bringen. Es ist das Einzige, was ich noch für die von mir so unbesonnen in widrige Verhältnisse gestürzte Familie thun kann.“ Er hakte den Degen ein und nahm den schlichten, mit eisenbeschlagener Krempe versehenen Hut. –

Heute sah es anders aus in der Familienstube als damals, da Heinrich sie zum ersten Male betrat. Am Fensterplatz bei dem Spinett lag Lida zusammengesunken in dem Sessel, während Lotte mit rothgeweinten Augen neben ihr stand, ihr Haupt stützend und streichelnd. Die stattliche Frau Amtmännin trug noch die Morgenhaube und verhüllte beim Eintritt des Offiziers aufs neue das verweinte Gesicht. Der Hausherr, der an den Anblick von menschlichem Elend gewohnt war und auf seinem verantwortungsvollen Posten gelernt hatte, sich zu beherrschen, kämpfte doch sichtlich mit seiner Bewegung beim Anblick des unglücklichen jungen Mannes, den er vor kurzem noch in voller Jugendfreude gesehen hatte.

Und es war auch ein anderer, der eintrat, um ewigen Abschied zu nehmen. Die Sorgen der letzten Zeit, der schwere Schicksalsschluß, der über ihn ergangen war, hatten die weichen Züge geschärft, die jugendliche Gestalt gefestigt. Der Jüngling war zum Manne geworden. Wohl wurde sein Antlitz noch einen Schein bleicher, als er Lida erblickte. Sein ganzes Herz trat in seine Augen. Er hätte hinfliegen, niederknien, sie in seine Arme schließen mögen. Aber er bezwang sich. Er hatte kein Recht mehr auf sie. Gefaßt trat er zum Justizamtmann. „Vergeben Sie mir,“ sprach er in bebendem Tone, „daß ich in Ihr friedliches Heim das Unglück getragen habe. Gott weiß es, mein Herzblut würde ich gern darum geben, könnte ich damit das Gedenken an mich aus Ihrem glücklichen Familienleben verwischen.“

Lida hatte sich bei seinen Worten aufgerichtet; jetzt kam sie mit fliegenden Schritten heran.

„Heinrich, das könntest Du wollen?“ rief sie. „Du könntest mir das Höchste nehmen wollen, was ich besitze, die Erinnerung an Dich? – Und Du bittest um Verzeihung? Ich danke Dir, o, ich danke Dir für alles Glück, das Du mir gabst, das mein Dasein verklärte, mir den wahren Inhalt des Lebens erschloß. Wenn auch ewiger Verzicht das Ende ist, Deine Liebe bleibt doch die Krone meines Lebens.“

Da breitete er die Arme aus, sie sank an sein Herz und legte das Haupt an seine Brust. So standen sie still, kaum athmend, ein seliges Lächeln auf den Lippen. Hoch über den Erdenschmerz trug ihre Liebe sie empor.

Dann nahmen sie in einem langen, langen Kuß Abschied für – wie sie fest glaubten – nur für diese Zeitlichkeit. – –

Der Fächer war das letzte Erinnerungszeichen, welches sie von ihm erhielt. Er sandte ihn durch Ehrhardt, der es nicht hatte über das Herz bringen können, den rasch gewonnenen und ebenso [686] rasch verlorenen Freund ohne ein Lebewohl ziehen zu lassen, dem Einsamen nicht noch einmal zu sagen, daß eine Stätte bleibe, wo er nie würde vergessen werden. Als schon die Trommeln Lärm schlugen, übergab ihm Heinrich das schlichte Geschenk. Er hatte das Lied, dessen wehmüthige Melodie seine und Lidas Liebe begleitete, darauf geschrieben, und jenen kleinen Vers hinzugedichtet.

Ehrhardt sah ihn dann ausmarschieren. Still und gefaßt führte der Lieutenant seinen Zug hinweg.

Auf dem Balkon von Monbijou beugte sich das schöne Weib heraus; schwarzer Trauerflor mit bleichen Perlen war zu hohen Puffen auf das Haupt gethürmt, die Watteaufalte des dunkelvioletten Kleides flog wie ein Trauermantel hinter ihr her. Sie lehnte sich weit über das vergoldete Gitter, sie warf ein Papier herab, das, an einem kleinen vergoldeten Pfeil befestigt, gerade auf die Hand des jungen Offiziers fiel, die den gezogenen Degen hielt. Ohne aufzusehen, schüttelte der es ab, als sei es ein widriger unreiner Gegenstand.

Der Offizier mit den wüsten Augen, der mitging, um in der neuen Welt Fortune zu machen, hob das Zettelchen auf.

„Noch ist es Zeit,“ las er und sah höhnisch nach dem Balkon zurück, wo eben die Gräfin halb ohnmächtig in die Arme ihrer Kammerzofe glitt. Sein rauhes Lachen verklang in dem Rasseln der großen Trommeln.

Heinrich aber ging mit dem leichten eleganten Schritt, welcher den Offizieren der Leibgarde eigen war, davon, auf Nimmerwiederkehr. – –

Es ist keine Nachricht von ihm zurückgekommen. Doch wenn von Spiritismus und Geisteroffenbarungen die Rede ist, dann wird eine alte Familiengeschichte erwähnt, wonach einst ein nach Amerika verkaufter Offizier seiner Braut Anzeige gethan habe, als er starb. Im Mondschein saß sie am Fenster und gedachte seiner. Da flog es plötzlich wie eine Geisterhand über die Saiten des Spinetts, in langer Skala die Töne streifend, gleich einem Hauch verwehend. Von jener Stunde an war sie überzeugt, daß er von dieser Erde geschieden sei, und auch ihre minder gläubigen Angehörigen kamen zu demselben Schluß, als nach Monaten die Zeitungen über eine große Schlacht berichteten, welche in jenen Tagen die verkauften Soldaten für die Engländer geschlagen hatten.

Auch für Lida war das Leben kurz bemessen; sie hatte das traurig schöne Schicksal derer, die früh sterben, sie lebte in der Erinnerung ihrer Angehörigen als jugendliche Gestalt fort, der einzige wehmüthige Schatten in dem glücklich aufblühenden Familienkreis Lottens, die es wirklich infolge der Erdtoffeln ihres Eheherrn bis zur Frau Domänenräthin brachte. –

Eine letzte Spur von Lidas Dasein zeigt die alte Ausgabe des „Messias“, die ihren Namen als den der Eigenthümerin trägt. Mit nun vergilbter Tinte sind die Verse der sterbenden Maria, der Schwester der geschäftigen Martha, angezeichnet:

„Traum, der mit Weinen begann und endet mit dem Weinen des Todes,
Traum des Lebens, du bist ausgeträumt.“


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Der Mond ist am Himmel höher gestiegen, sein Strahl aus dem Zimmer verschwunden. Der Fächer mit seinem verblichenen Verslein ist zurückgesunken in die Dunkelheit wie das arme junge Paar, von dessen Liebe er nach einem Jahrhundert noch Zeugniß ablegt. Aber auch jener Herrscherstamm ist von der deutschen Erde verschwunden, der einst seine Wasserkünste mit dem Schweiß der Unterthanen, mit ihren Thränen bezahlte. An der Grenze, welche die an England verhandelten Deutschen passierten, hält jetzt der Reichsadler Wacht, daß nicht die Knochen eines einzigen Musketiers fremdem Vortheil geopfert werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Urthel