Das Kind (Adolf von Wilbrandt)

Textdaten
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Autor: Adolf von Wilbrandt
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Titel: Das Kind
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–48, S. 669–675, 685–691, 702–707, 718–723, 732–738, 751–755, 766–771, 784–787, 800–803
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[669]

Das Kind.

Roman von Adolf Wilbrandt.
1.

Gertrud ging in das Bücherzimmer, das für diesen Abend in ein Rauch- und Spielzimmer verwandelt war; der große runde Lesetisch war hinausgeräumt, dafür standen drei Spieltische mit allem Zubehör, auch mit kleinen Rauchtischchen wie die Winkel eines gleichschenkligen Dreiecks da, von dem alten Pedanten Brink wie mit dem Lineal gestellt. Gertruds rosiger Träumerkopf wandte sich in der Thür zurück: „Was noch?“ fragte sie. „Kind, vergiß das Buch nicht!“ rief der Vater ihr nach. „O nein!“ sagte sie, überlegen lächelnd, und machte die Thür hinter sich zu. Die junge, noch überschlanke Gestalt ging langsam zwischen den Spieltischen durch. Ja, ja, ich hole das Buch! murmelte sie, als spräche sie noch zum Vater. Die hellen Augen wurden wieder träumerisch; unbewußt wiederholend, halb singend summte sie vor sich hin: Ja, ja, ich hole das Buch … Ja, ja, ich hole das Buch … Sie stand vor einem der hohen Büchergestelle, schaute auf die hübschen, farbigen Einbände und durch sie hindurch, ins Ferne. Von dort klang er wieder her, ihr Vers, der Vers aus ihrem Traum.

„Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor“ …

Nein, dachte sie, den Vers werd’ ich nicht mehr los. Wie sonderbar und wie feierlich klingt es. „Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor“ … Was wollt ich doch noch? Ich wollte doch was! Weiß nicht. Kann mich nicht besinnen …

In einer süßen Unruhe ging sie weiter, an den Büchern hin. „Ach,“ murmelte sie, da ihr so unbestimmt wohlig ums Herz war, „ach, ich bin so glücklich!“ – ,Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …‘

Schilcher trat geräuschlos ein, wie er pflegte, war er doch in dieser Wohnung ebenso zu Hause wie in seiner eigenen, der kleinen Junggesellenwohnung eine Treppe höher. Mit seinem einen Ohr hatte er Gertruds hingesummten Vers gehört, die kurze, hagere Gestalt blieb noch auf der Schwelle stehn und legte den Kopf auf die Seite, wie um mehr zu hören. „Was summt das Hummelchen?“ fragte er, ein wenig lächelnd. „Und immer ging sie fort. – – Was heißt das?“

Gertrud lächelte auch. „Das ist aus einem Gedicht, Onkel Schilcher, das du noch nicht kennst.“

„Was?“ sagte der alte Herr, die Augenbrauen hoch ziehend. „Gertrud Rutenberg dichtet?“

Sie schüttelte den Kopf: „Ich? O Gott! Nein! – So wenig wie du! – Ich hab’s nur geträumt.“

„Verse?“ fragte er sehr erstaunt. „Das ist mir noch nie begegnet.“

„Mir auch heute zum erstenmal; heute nachmittag. Weil ich die letzte Nacht schlecht geschlafen habe –“

„Ja, ja!“ warf er ein, mit seinem spöttischklug herzlichen Lächeln. „Vor dem ersten Fall!“

„So war ich heut nachmittag plötzlich weg – im Lehnstuhl, Onkel Schilcher – und hab’ dir so viel zusammengeträumt, es nahm gar kein Ende. Ich glaub’, es war ein ganzes Gedicht, – siehst du, im Traum, da hab’ ich Talent! – Und dieser eine Vers verfolgt mich förmlich …“

Schilcher nickte bedächtig. „Wahrscheinlich weil du den Traum noch niemand erzählt hast –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Junge Mädchen pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen … Ist dein Vater zu Hause?“

Sie nickte. Mit dem dunkelblonden Kopf nach dem Salon deutend, warf sie hin. „Doktor Wild ist da; und Lugau.“

[670] „Junge Mädchen,“ wiederholte Schilcher in seiner trockenen Art, „… pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen.“

„Dir?“ sagte sie. „Du lachst mich nur aus!“

„Wie werd’ ich. Siebzehnjährige Mädchen lach’ ich niemals aus, das sind sehr ernsthafte, ernst zu nehmende Wesen. Also ein poetischer Traum?“

„O!“ stieß Gertrud heraus. „Ein wunderbarer Traum! – Weißt du, ich lag auf einer Wiese, oder auf irgend was Grünem, unter einer Eiche, oder so eine Art von Baum. Plötzlich stand da – – Aber du lachst mich wirklich nicht aus?“

„Wie werd’ ich!“

„Plötzlich stand da ein großer, langer, alter weißbärtiger Mann vor mir, sonderbar gekleidet – hast du einmal ägyptische Priester auf Bildern gesehn? Na, so ungefähr. Und der hob eine Hand – eine schauerlich weiße Hand war’s, aber doch sehr schön – und sagte ohne weiteres ein ganzes Gedicht zu mir, warum, weiß ich eigentlich nicht. Es klang aber so feierlich, so – nun lachst du. – Nein? – Es klang wie Musik wunderschön! mir schien’s wunderschön. Und der Inhalt war –“ Sie stockte. Schilcher wartete eine Weile, dann fragte er mit seinem ernstesten Gesicht. „Und der Inhalt war –?“

„Auch sehr feierlich,“ antwortete sie etwas verlegen „von Glück und – Liebe und – – Aber als ich aufwachte, hatt’ ich es vergessen. Nur diesen einen Vers hatt’ ich noch im Ohr – den du vorhin gehört hast.“ –

„Bitte, noch einmal!“

„Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …“ Gertrud senkte ihr Köpfchen und lächelte still und glücklich vor sich hin.

Schilcher war auch eine Weile still, ganz regungslos wie gewöhnlich, denn viel mit den Gliedern zu sprechen war nicht seine Sache. Das bartlose Gesicht mit den frühen Runzeln, den starken Brauen, der gekrümmten Nase und dem vortretenden Kinn – eigentlich eine Art Nußknackergesicht – betrachtete das Mädel, an dem seine Seele so hing, mit einem langen Blick aus dem Augenwinkel, um die schmalen Lippen ging ein verstohlenes, weiches Lächeln. „Hm!“ machte er endlich und schob das Lächeln weg. „Der Vers ist übrigens eigentlich nicht ganz richtig, Gertrud. Es müßte doch heißen: Und immer ging sie vorwärts aufs offne Himmelsthor’ … Nicht?“

„Ja, ja,“ antwortete sie, dachte aber wohl an etwas anderes.

Der alte Herr schwieg wieder ein Weilchen. „Bist wohl sehr glücklich, meine kleine Gertrud?“ sagte er dann langsam.

Sie lächelte ihn träumerisch an und sagte nichts.

„Freust dich wohl sehr auf den herrlichen göttlichen?“

„Auf wen?“ fragte sie etwas hastig.

„Nun, auf den ersten Ball.“

„Ja, ja!“

„Den ersten Ball, den du selber giebst! – Wenn wir nur erst im Ballkleid prangen – Rosen im Haar, oder Gott weiß was … Wirst du auch noch fertig?“

Sie lachte. „Beruhigen Sie sich, Herr Oberappellationsrat. Regen Sie sich darüber nicht auf!“

„Werd’ mich also nicht aufregen. Danke.- Der erste Ball, den man selber giebt, siebzehn Jahre alt. – Ja, das ist nun auch eines von den Gefühlen, die ich nie gekannt habe! Der erste Ball – die Hochzeit – die Kindtaufe – diese drei höchsten Momente, die sind mir entgangen.“

Gertrud, die nun neben ihm stand – die lange Person war größer als der kleine Herr – hob sich auf den Zehen, im Uebermut, um auf die kleine Glatze zu sehn, die zwischen seinen etwas struppigen, emporgesträubten Haaren wie ein Teich im Schilf lag. „Ach, du armer Mann“, sagte ihre liebe, streichelnde Stimme. „Du bist wohl sehr unglücklich?“

„Könnt’s nicht sagen, nein!“ erwiderte er mit seiner trockenen Ruhe. „Erstens freu’ ich mich mit Gertrud Rutenberg sehr auf ihren ersten Ball. Zweitens hab’ ich diese Gertrud Rutenberg vor siebzehn Jahren taufen helfen und – und liebe sie ja ungefähr wie ein eignes Kind. Und drittens –“

„Und drittens?“ fragte das Mädchen, da er inne hielt. Ihr ganzes kluges Gesichtchen lachte. „Und drittens denkst du noch zu heiraten?“

„Ne, das doch nicht. Aber wenn wir eines Tages Gertrud Rutenberg verheiraten, dann werd’ ich ja auch dabei sein; das heißt später, später, so ein zehn Jahre hat es wohl noch Zeit!“

Gertrud sah ihn über die Schulter an, sagte aber nichts. Sie war schon wieder bei ihrem Traum, in ihr summte es wieder mit der Priesterstimme. „Und immer ging sie fort …“

2.

„Guten Abend, Schilcher!“ sagte jetzt Rutenberg, der Vater, der mit Lugau und Wild vom Salon hereintrat. „Da ist ja wieder die ganze Whistpartie beisammen. Ihr seht, die Spieltische sind schon fertig, könntet gleich dableiben und euch niedersetzen.“

„Ja, das könnten wir wohl,“ entgegnete Doktor Wild, dessen volles Gesicht wie gewöhnlich von Behagen glänzte, „aber schöne Leute haben ihre Pflichten. Wir müssen uns erst durch den Frack und die weiße Weste unwiderstehlich machen, sintemal es ein Ballfest ist. Was würde Gertrud sagen, wenn ihre drei Haus-Adonisse nicht ihre Schuldigkeit thäten, um vollkommen schön zu sein!“

Wild sah seine Kollegen mit den vortretenden Humoristenaugen an und lächelte einen Augenblick. Sie waren alle drei nicht schön, Lugau, Wild und Schilcher, neben dem kleinen „Nußknacker“ Schilcher stand der Doktor breit und mächtig da, aber leider viel zu dick, und der viel kürzere Lugau war fast noch dicker, sodaß ihn die Freunde den „Schneeball“ nannten, weil er wie die Blüten des Schneeballs sich so allmählich aufgerundet hatte. Nur Rutenberg war ganz wohlgebaut, stattlich, ein echter nordischer Germane mit regelmäßigen, kräftigen Zügen und strahlend blauen Augen. Doch im Humor, konnte man wohl sagen, waren sie alle gleich, ein stadtbekanntes „vierblättriges Kleeblatt“, das schon lange zusammenhielt; zwei Witwer, zwei Junggesellen, drei von ihnen sehr dem Whist ergeben, das damals – im Herbst 1880 – noch nicht so wie jetzt vom Skat abgelöst worden war. Rutenberg, der vierte, saß lieber daneben als Zuschauer, allein oder mit seiner Gertrud, seiner geliebten „Puppe“. So dachte er auch heute zu thun, während seine Puppe tanzte; darum sagte er, die Hand auf einen Spieltisch legend. „Alles ist da, ihr Männer, auch den Geist des Strohmanns hab’ ich eingeladen, denn ohne den Strohmann könnt ihr ja nicht leben. Vergeßt nur nicht das Wiederkommen, und zur rechten Zeit!“

Wild verneigte sich. „Hast’s schon einmal gesagt, danke ergebenst für die Wiederholung.“

„Lieber Wild,“ bemerkte Rutenberg, „wir haben unvergeßliche Beispiele von vergeßlichen Junggesellen! – Er wandte sich zu Gertrud: Nun, Kind? Das Buch! Ich warte auf das Buch!“

„Heiliger –!“ rief das Mädel aus. „Vergessen!“

Die drei Whistspieler lachten. Wild sah die Tochter und dann den Vater mit seinen glänzenden Augen triumphierend an. „Es scheint,“ sagte er, „die Vergeßlichkeit beschränkt sich nicht auf zu dick gewordene Junggesellen –“

„Ja, ja!“ schmunzelte Schilcher. „So ein siebzehnjähriges Junggesellchen vor dem erstes Ball!“

Der kleine runde Domänenrat Lugau nahm nun auch das Wort, seine redseligen Arme mitbewegend. „So war’s auch damals mit der Grete, meiner kleinen Nichte, – heute abend kommt sie. Gab auch ihren ersten Ball, konnt’ es nicht erwarten! Ganz in Rosa, sah aus wie ein Flamingo stundenlang ging sie in träumerischer Erwartung durch die Zimmer, – so!“

Er versuchte es nachzumachen, wie das seine Art war, es saß ihm in den Gliedern, er konnte es nicht lassen. Der „Schneeball“ bewegte sich träumerisch, schmachtend hin und her, es war aber doch mehr, wie wenn eine Kugel auf zwei Rädchen rollte. „Und dann“ fuhr er fort, „dann sah sie wieder in den Spiegel, gradaus, seitwärts, rückwärts, – so!“

Er machte es wieder nach, wie seine Grete in den Spiegel schaute. Gertrud lachte, zuletzt unbändig, sie lachte sich auf einen Stuhl. „Ach“, sagte sie dann, „wie anmutsvoll spielen Sie so ein junges Mädchen! Jeder Jüngling muß sich ja in Sie verlieben, Herr Domänenrat.“

„Es war so!“ rief Lugau eifrig aus. „Auf Ehre!“

Jetzt lachten alle.

„Also, das Buch!“ sagte Rutenberg. Gertrud schnellte vom Stuhl empor: „Ja, jetzt hol’ ich das Buch!“

Sie ging wieder am nächsten Büchergestell entlang, mit [671] den Augen suchend; dabei kam ihr aber auch der Traumvers wieder und das süße Träumen im Blick. Indem sie an den bunten Rücken der Bücher mit der streichelnden Hand entlang strich, summte sie gedankenlos vor sich hin, als wäre sie allein: „Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor …“

Doktor Wild, der sie auch so gut kannte, – ihr Arzt seit der Kinderzeit – beobachtete sie heimlich, mit Vergnügen; er sah, wie sie träumte. Ihm kam auch schon die Lust, eine seiner üblichen Schnurren und Komödien zu spielen. Nicht zu ihr, sondern zu Rutenberg gewendet, warf er in seiner raschen Weise hin: „Ja, aber meine lieben Freunde, was hilft das? Es ist sehr zu fürchten, daß das Zauberfest heute abend etwas angespritzt wird –“

„Wieso angespritzt?“ fragt Lugau.

„Nu, ich meine, etwas getrübt; etwas ungemütlich. Denn die Depeschen im Abendblatt –“

Gertrud drehte sich zu ihm herum. „Was für Depeschen?“ fragte sie.

„Ist das Abendblatt schon da?“ fragte Schilcher.

„Allerdings“, sagte Wild und nickte sehr ernsthaft; „Ich hab's schon durchflogen.“ Er zuckte gegen Gertrud die Achseln, mitleidig: „Häßliche Depeschen! Störung des lieben Friedens; oder, um es mit einem kurzen Wort zu sagen: Krieg! – Ja, mein Herz, was hilft’s. Was man schon seit achtundsiebzig fürchtet, ist nun eingetroffen: die grande nation und das ‚heilige’ Rußland haben sich richtig verbündet und was sie von Deutschland verlangen, ist ein bißchen viel!“

Er wiederholte, da er das Mädchen langsam blaß werden sah: „ist ein bißchen viel!“

„Was verlangen sie denn?“ fragte Gertrud stockend.

„Die Herausgabe von Luxemburg, Livland, Kurland und auch Jütland –“

„Im Abendblatt?“ stammelte Gertrud.

Wild zuckte wieder die Achseln: „Ja!“

„Aber – – Aber das ist ja infam!“ rief das Mädchen aus.

„Was wollt’ es nicht!“ sagte Wild. „Freundlich ist es jedenfalls nicht.“

Sie sah den Doktor zaghaft an, nun ganz blaß geworden. „Und das alles können wir Deutschen natürlich nicht herausgeben?“

„Nein“, fiel er ihr ins Wort, sich scheinbar ereifernd, „nein, das können wir nicht! Luxemburg und Jütland, Livland und Kurland – das können wir nicht! Das ist ganz unmöglich!“

Gertrud blickte in ihrer Hilflosigkeit umher und sah, daß alle sonderbar heiter waren. „Worüber lächeln Sie?“ sagte sie zu Lugau.

Der Domänenrat rieb seine Hände. „Ueber die Andacht, meine liebe Gertrud, mit der Sie immer wieder auf Doktor Wilds Erfindungen eingehen. Und ein ganz klein bißchen auch über Ihren Lehrmeister in der Geographie!“

„Ah!“ rief das Mädchen, etwas verlegen. „Luxemburg und Jütland – richtig – das gehört uns gar nicht –“

„Und das andre auch nicht!“

Mit seinem ernsthaftesten Gesicht bemerkte Wild. „Fräulein Gertrud hatten ohne Zweifel in den Geographiestunden etwas Besseres zu thun …“

„Ich?“ fiel sie ihm ins Wort. „Was denken Sie!“ – Ihre rosigen Wangen wurden aber doch noch röter, ihr fiel ein, daß es wirklich schon damals anfing, das mit ihrem Arthur. In einer Geographiestunde, das wußte sie, hatte sie sich zuerst so recht an ihn festgedacht … „Immer haben der Herr Doktor solche Späße im Kopf!“ sagte sie geschwind, um die allgemeine Aufmerksamkeit von sich abzulenken.

„Was soll so ein alter Doktor sonst thun, meine liebe Gertrud?“ erwiderte Wild. „Wenn man nicht gesund genug ist, um so wie früher zu praktizieren, dann verfällt man auf Allotria. Spaß und Ernst – wie’s nun gerade kommt. Wie ein anständiger Mensch für alle Fälle zwei Krawatten im Frack hat – eine schwarze und eine weiße, so hat man auch Spaß und Gruft im Kopf! – – Wünsche also einen ungetrübten Abend, ohne Krieg wegen Jütland, und auf Wiedersehn!“

Er winkte Lugau, mit ihm zu gehen; in diesem Augenblick trat der alte Brink, der Diener, herein, um in seiner förmlichen Manier und mit seiner gedämpften Stimme zu melden, daß Fräulein Gertrud auf einen Augenblick zum Fräulein in die Küche kommen möchte. Das „Fräulein“ war die unverheiratete Schwester Rutenbergs, die seit dem Tode seiner Frau das Haus führte.

„Ah!“ sagte Wild, scheinbar sehr erstaunt. „Auch Fräulein Gertrud hat schon Wirtschaftssorgen!“

„O ja,“ entgegnete das Mädchen heiter, „auch mein Kopf kann schon mit Beidem aufwarten, mit Spaß und mit Ernst! – Auf Wiedersehn beim Whist!“ – Damit war sie schon draußen, dem alten Brink nach.

Wild folgte ihr mit den Augen. „Glückliches Geschöpf!“ murmelte er neidlos.

„Glücklicher Vater!“ setzte Lugau hinzu, mit einem kleinen Junggesellenneid; er hatte, wie Schilcher, nie geheiratet. Die Beiden grüßten und gingen.

Rutenberg, der heute vor Lebenslust strahlte – er gehörte zu den Leichtbewegten, „himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt –“ setzte sich auf einen der Spieltische. „Glücklicher Vater – o ja! – Aber das Buch hab’ ich noch immer nicht.“

„Schlechte Erziehung,“ sagte Schilcher trocken, der sich in seine Lieblingsecke gesetzt hatte.

„Natürlich,“ antwortete Rutenberg nur. – „Ich such’s also selber!“

Er trat an ein Büchergestell, aber mit einem vergnügt ratlosen Gesicht. „Gott mag wissen, wohin das Kind dieses Buch verkramt hat!“ – Er zog ein paar Bücher aus ihren Reihen hervor, schüttelte den Kopf, steckte sie wieder hin. Ebenso heiter wie zuvor wandte er sich dann wieder zu Schilcher und strahlte ihn mit den blauen Augen an, ohne zu sprechen.

„Was kuckst du so?“ fragte der in seiner Ecke.

Rutenberg lachte nur so vor Vergnügen – „Nimm ’ne Cigarre, Alter.“

Schilcher schüttelte den Kopf. „Warum ich so kucke? – Ich bin sehr fidel, Schilcher. – Das heißt, es geht mir gut. Ich beneide mich.“

„Habe nichts dagegen,“ murmelte der kleine Herr.

„Das Kind – – das Kind ist doch entzückend, Schilcher.“

„Hat das Buch verkramt.“

„Ist aber doch entzückend, Schilcher.“

Das gute Nußknackergesicht konnte sich nicht länger enthalten, mitvergnügt zu lächeln. „Meinetwegen!“ stieß er heraus.

„Und auch gut erzogen“ behauptete Rutenberg jetzt.

„Zu weich,“ sagte Schilcher.

„In der richtigen Freiheit, Alter, und darum so gut geraten.“

„Bringt dir aber das Buch nicht.“

„Der erste Ball!“ warf Rutenberg ein.

Schilcher mußte wieder lächeln. „Na ja, meinetwegen!“

Rutenberg, in seiner jugendlichen, glücklichen Unruhe, nahm wieder einen Band, betrachtete ihn, steckte ihn wieder hin. „Dieses verflixte Buch,“ sagte er mit einer Art von Genuß, „wird kein menschliches Auge jemals wiedersehn! – – Ja, was ich sagen wollte … Ich glaube wahrhaftig, Alter, ich war nie so glücklich. Hab’ heut’ nachmittag lange drüber nachgedacht, und mir ist so dankbar zu Mut. Was sich der Mensch wünschen kann, das hab’ ich – – nein, das zwar nicht: meine gute Frau ist fort. Aber es ist doch merkwürdig, was ich alles habe. Gute alte Freunde – eiserne Gesundheit – Freude an der Arbeit – ein schönes Vermögen, das ich mir selber geschaffen –“

„Und es wächst ja noch,“ bemerkte Schilcher.

„Thät nicht nötig, Alter. Aber meine brave Fabrik, die läßt sich ja nicht lumpen, will mich durchaus zum richtigen Millionär machen … Und meine gute Vaterstadt wächst auch und gedeiht, eine unserer hübschesten alten Städte, nicht? Gute, heitere Leute, nicht verschopenhauert, nicht weltwehkrank, thun das Ihre und leben gern! – – Ja und dann dieses Kind. Ihr so merkwürdig ähnlich, beinahe wie eine Fortsetzung meiner guten Frau –“

„Hat aber auch viel von dir,“ murmelte Schilcher. Rutenberg lächelte. „Das thut auch nichts, Alter! Mir deucht sogar, die Mischung ist gut! – Ein sehr liebes Kind, Schilcher.“

„Mein einziges; aber ein Prachtstück, so frisch, so gut, so drollig, so zärtlich – und poetisch auch – – na, kurz, diese Gertrud!“

Schilcher wollte nichts sagen, dieser redselige Rutenberg hatte ihn in eine Weichheit hineingeredet, die ihm beinahe [674] unmännlich vorkam. Die großen strahlenden Augen schauten ihn aber gar so auffordernd an. „Freilich!“ brummte er.

Was sagst du?“

„Freilich!“ sagte ich. – – „Mein Patenkind. – Gut, daß wir sie haben, Rutenberg.“

„Ja, gut, daß wir sie haben. Wenn mir’s zuweilen leid that, Schilcher, daß sie immer älter wurde, dieses süße Göhr, dieser kleine zierliche, spaßige, verrückte Engel, unser Trudelchen –“

Schilcher nickte, mit fast geschlossenen Augen. Er hatte ja nichts als die Trudel. Er hatte sie ja unsinnig lieb.

„Daß ich keinen Zauberstab hatte,“ fuhr der poetisch werdende Rutenberg fort, „um das süße Ding damit anzurühren ,Bleib so wie du bist, kleines Spielzeug! kleiner Menschentraum!‘ dann dacht’ ich zum Trost an die Zeit, die nun da ist, Schilcher. Jungfrau Gertrud Rutenberg, siebzehn Jahre alt, ein großes, denkendes, reizend ernsthaftes Geschöpf –“

„Das die Bücher verkramt,“ warf Schilcher ein, gegen seine Weichheit kämpfend.

„Unser Kamerad,“ fuhr der Vater unbeirrt fort, „unser Mitmensch, unsre – unsre Antigone –“

„Die nicht weiß, daß Jütland zu Dänemark gehört.“

„Die aber ein richtiges deutsches Mädchen ist; eine feine Seele – eine gute, vornehme Seele – und dabei doch immer noch unser Kind! Unser langer, magerer, reizender Liebling, ja, ja, unser Liebling; denn du alter Heuchler, dem ich bis in den tiefsten Grund seines schwarzen, grimmigen, galligen Herzens sehe, du hast sie auch so lieb wie dich selbst! Ja, du, Oberappellationsrat Gottfried Schilcher!“

Lieber,“ sagte Schilcher tonlos und stand dabei auf. – „Nun wollt ich aber eigentlich bei dir ’ne Postkarte schreiben.“

3.

Die Thür zum Salon öffnete sich und hinter dem melden wollenden Brink ward ein hochgewachsener junger Mann sichtbar, der den untersetzten alten Diener überragte. „Mein lieber Brink,“ sagte der auffallend hübsche Bariton des jungen Mannes, „Sie brauchen Arthur van Wyttenbach nicht anzumelden!“ Er schob Brink mit einer leichten, eleganten Bewegung ein klein wenig beiseite, nur so viel, daß er an ihm vorbeischlüpfen konnte, und trat geschwind in das Bücherzimmer. Ein mattes, flüchtiges Lächeln ging über das noch sehr junge Gesicht, die schwarzgekleidete schlanke Gestalt machte eine etwas gesucht nachlässige, aber doch auch ehrerbietige Verbeugung. Darauf warf er das schöngekräuselte Haar zurück, das ihm in die niedrige Stirn fiel, und heftete die kleinen grauen Augen wohlwollend auf Schilcher und verbindlich auf den Hausherrn. „Entschuldigen die Herren gütigst,“ sagte er mit der einschmeichelnden schönen Stimme, „wenn ich stören sollte –“

„Bitte, Sie stören nicht,“ fiel Rutenberg ihm ins Wort. Er wandte sich zu Schilcher. „Herr van Wyttenbach, ein junger – Freund unsres Hauses.“

Schilcher, dem ein Anflug von Unbehagen über das faltige Gesicht ging, machte eine seiner trockenen Handbewegungen; „Herr van Wyttenbach ist mir bekannt.“

„Jawohl, ich habe die Ehre,“ warf der junge Mann leicht und doch verbindlich hin. „Wer wird den Herrn Oberappellationsrat nicht kennen!“ Er verneigte sich nochmals ein wenig gegen den Hausherrn und sprach in fließender Rede fort: „Sie erwiesen mir soeben die Auszeichnung, Herr Rutenberg, mich einen Freund Ihres Hauses zu nennen. In dieser Eigenschaft, auf die ich stolz bin, hab’ ich mir die Freiheit genommen, an diesem festlichen Abend ein unbedeutendes Zeichen der Huldigung darzubringen und die liebenswürdige Königin des Festes damit zu begrüßen.“

Er hob den großen, farbenprangenden Blumenstrauß ein wenig, den er in der rechten Hand hielt die andere hielt seinen schwarzen Hut.

„Ich denke mir,“ fuhr er dann fort, „Fräulein Gertrud wird noch beschäftigt sein, die letzte Hand“ – er lächelte – „an das große Kunstwerk zu legen, ihre Balltoilette zu vollenden, meine ich. In diesem Fall haben vielleicht Sie die Güte, ihr diesen schlichten Blumengruß zu Füßen zu legen.“

„Mit Vergnügen,“ entgegnete Rutenberg höflich. „Ich danke Ihnen. Nehmen Sie Platz, wenn’s gefällig ist.“

„Ich wünsche durchaus nicht zu stören,“ sagte Herr van Wyttenbach rasch, „Sie haben ja selber noch Toilette zu machen und so weiter, nur auf einen Augenblick!“ Er setzte sich, Rutenberg auch. – „Der große Moment ist nun also gekommen,“ fuhr der Jüngling fort. „Der erste Ball! In welcher freudigen Erregung mag das junge Herz da schlagen …“

Er hielt lächelnd inne und blickte zur Decke hinauf.

Schilcher, der sonst so Unbewegliche, begann auf seinem Stuhl zu rutschen und warf dem Hausherrn einen Blick des Mißvergnügens zu. Indessen, Rutenberg schien das nicht zu bemerken, in etwas kerzengerader Höflichkeit erwiderte er. „Sie werden den Ball mit meiner Tochter eröffnen, hör’ ich.“

„Eine Ehre, auf die ich stolz bin!“ entgegnete Wyttenbach, wieder mit einem leichten Lächeln. „Unter diesen besonderen Umständen ist der Tanz natürlich ein Vergnügen für mich, das ich zu schätzen weiß – wenn ich auch sonst nicht mehr der unreife Jüngling bin, den dieses Herumspringen beglückt. Für ernsthafte Männer wird natürlich der Tanz zu dem, was er wirklich ist: zu einer Spielerei – einer ‚angenehmen’ – na ja, mag sein. Aber doch eigentlich zu einer geistlosen Geschäftigkeit der Beine, des unteren Menschen – also des niederen Menschen. So denke auch ich, meine Herren; halte eigentlich schon zu Ihnen – zu Ihnen. Nur die Galanterie gegen die Damen zwingt mich natürlich noch“ – – er verbesserte sich „legt mir die angenehme Pflicht auf –“

„Zu springen,“ ergänzte Schilcher trocken.

„Zu tanzen,“ schloß Wyttenbach seinen Satz.

„Schadet Ihnen nichts,“ bemerkte Schilcher.

Der junge Mann lächelte etwas gezwungen . „Gewiß nicht! – Gewiß nicht! – Außerdem ist es ja eine gesunde körperliche Bewegung – wie schon die Alten bemerkten und wenn Plato das Gehen für die gesündeste Motion erklärte, so –“

Er konnte nicht zu Ende sprechen, Gertrud erschien eben in der Thür, zu seiner Verwunderung noch im Hauskleid, aber mit einem entzückend strahlenden, zugleich auch ein bißchen verlegenen Gesicht. Indem sie ihm flüchtig zunickte und noch stehen blieb, sagte sie: „Brink hat mir’s verraten. Ein Bouquet für mich!“ Wyttenbach war aufgestanden mit einer seiner elegantesten Verneigungen kam er auf sie zu. „Allerdings,“ sagte er, das „r“ wie ein Lieutenant schnarrend, „diese armen Blumen, verehrtes Fräulein Gertrud, möchten Sie begrüßen.“ Wie zur Entschuldigung zuckte er die Achseln. „Das Beste, was unser rauher deutscher November hergab –“

„Das Treibhaus,“ setzte Schilcher hinzu. Gertrud hörte das nicht, sie nahm die Blumen und schaute sie zärtlich an. „O wie dank’ ich Ihnen!“ sagte sie mit fast kindlicher Freude. „O wie bin ich glücklich!“

Sie war aber zu eilig gewesen, der junge Mann hatte noch allerlei zu sagen, mit einer geschickt tändelnden Bewegung nahm er ihr den Strauß wieder aus der Hand und bewegte ihn vor ihr hin und her, wie wenn er damit salutierte. „Die Blumen brauchten zwar nicht deutsch zu sprechen,“ setzte er darauf seine Rede fort, „denn sie haben bekanntlich ihre eigne Sprache, aber sie möchten Ihnen doch auf deutsch ein paar Worte, ein paar Verse sagen:

‚Der Süßen Süßes!‘ spricht ein Dichterwort
‚Der Blume Blumen!‘ wagen wir zu sprechen.
Doch wir verbessern uns sofort:
Der Knospe will man Knospen brechen.
Du Knospe denn, die sich zur Blume heut’ erschlossen,
Nimm Knospen hier und Blumen zu Genossen!“

Nun erst überreichte er ihr das Bouquet, mit feierlichem Lächeln, dann wandte er sich zu den Männern zurück. „Meine Herren,“ sagte er, auf einmal zehn Jahre älter geworden, „verzeihen Sie mir diese kleine lyrische Schwärmerei!“

Das Mädchen hatte mit rührend großen Augen bewegungslos zugehört, während ihr Dichter die Verse mit seiner schönen Stimme sprach, da sie nun den Strauß wieder in der Hand hielt, die vor Freude leise zu zittern anfing, dankte sie über ihn hinweg mit einem verstohlen liebevollen Blick. Sie versenkte ihr feines Näschen, ihr ganzes Gesicht in die duftenden Blumen, küßte sie heimlich, nur Arthur konnte es sehn. Aus dem Bouquet heraus klang dann ein leises, kaum vernehmbares, glückseliges Lachen.

Unterdessen beugte sich Rutenberg zu Schilcher hinunter und sagte ebenso leise: „Ein etwas süßes, fades Herrchen was?“

[675] „Ein Hansquast!“ flüsterte Schilcher.

Gertrud strahlte wieder den Dichter an. „Und wie dank’ ich Ihnen für die schönen Verse! Die müssen Sie mir aufschreiben –“

Mit einer geringschätzigen Bewegung lehnte Wyttenbach diese Zumutung ab.

„Ich verlang’ es!“ sagte sie wie eine kleine Herrscherin, doch dann lieblich bittend. „Sie müssen!“ – Jetzt lief sie zum Vater, den sie so von Herzen liebte, und hielt ihm den Strauß hin, daß auch er daran riechen, sich mitfreuen sollte. „Nun, Ballväterchen?“ sagte sie, als er das gethan hatte, und streichelte ihm die blühenden Wangen trotzig mit dem Strauß. „Deine Trudel geht nun und macht sich schön. Könnt’st das wohl auch thun, du. Bitte, wart’ heute nicht wie gewöhnlich bis zum allerletzten Augenblick!“

„Nein, nein, ich werd’ mich anständig benehmen, Trudel,“ erwiderte der Vater. Er legte ihr eine Hand an die warme und so weiche Wange; es that ihm gar gut. Auf Schilcher hinunterblickend, deutete er mit dem Kopf auf das Kind, voll Liebe und Wohlgefallen. Sein Blick schien zu fragen: Hab’ ich vorhin zu viel gesagt? bin ich nicht sehr glücklich? – Dann fragte er auch noch mit der Stimme durch ein leises „Hm?“

„Hm!“ erwiderte Schilcher einverstanden.

Rutenberg wandte sich zu dem jungen Mann „Sie entschuldigen uns, Herr van Wyttenbach.“

„Bitte sehr“ fiel dieser ein „der sich zu entschuldigen hat, das bin ich!“ – Er nahm seinen Hut, den er vor dem Versesprechen aus der Hand gelegt hatte, wie um nun auch zu gehn.

Schilcher war aufgestanden, er nahm Rutenbergs Arm und zog ihn langsam zur andern Thür, die in Rutenbergs Wohnzimmer führte. „Ich schreib’ noch erst meine Postkarte bei dir,“ sagte er: „Brink will sie dann in den Briefkasten stecken. Im Gehn setzte er leise hinzu, nachdem er den jungen Mann zum Abschied mit der Hand gegrüßt hatte. „Und ich trinke einen Schnaps auf dies Zuckerwasser …“

„Gut zum Tanzen, Schilcher!“ flüsterte Rutenberg, harmlos vergnügt, mit einer kleinen Daumenbewegung auf Wyttenbach zurückdeutend. „Ballfutter!“ – Damit gingen sie aus der Thür.

[685]
4.

Herr van Wyttenbach hatte sich, während die beiden Alten noch in Sehweite waren, mit einer förmlichen Verbeugung von Gertrud verabschiedet, als sie verschwanden, blieb er an der Salonthür stehn, warf das schöngekräuselte Haar zurück und lächelte das Mädchen zärtlich an. Die Stimme ein wenig dämpfend, doch nur so, daß sie noch Wohllaut behielt, fragte er, indem er die Lippen spitzte. „Also ich hab’ Ihnen etwas Freude gemacht, meine süße Gertrud?“

Sie nickte liebevoll. „Die Blumen – und ihre Sprache! Ach, ich bin so glücklich!“

„Sind Sie glücklich, Gertrud?“

„Ich kann Ihnen so nicht sagen,“ antwortete sie, „wie ich glücklich bin! – ,Und immer ging sie fort’ … Ich muß Ihnen noch einen Traum erzählen –“

Sie sollte aber ihren Traum heute nicht zum zweitenmal los werden. Arthur legte plötzlich einen Finger auf die Lippen und deutete mit dem Kopf hinter sich nach der Thür. Nun hörte sie auch Schritte dort, und Brinks verschleierte Stimme. Es wollte offenbar jemand kommen, man sprach hin und her. Arthur zuckte entsagend die Achseln, Gertrud, die siebzehnjährige, stampfte auf die Erde; sie fühlte, wie sie diesen Jemand haßte.

Richtig, dachte sie, da kommt das Ungetüm! Die Salonthür ging auf, eine lange Gestalt, ebenso lang wie Wyttenbach, ebenso schwarz gekleidet, erschien auf der Schwelle. Es war ein junger Mann mit blassem Gesicht, mit sehr ernsten Zügen, den weichen schwarzen Hut hielt er in der Hand. Den kenn’ ich ja, dachte Gertrud, die ihn mit herzlichem Widerwillen ansah, da er sie so störte. Zu ihrem Erstaunen zitterten ihm die Lippen eine Weile, ehe er mit etwas unsicherer Stimme zu sprechen anfing. „Entschuldigen Sie, Fräulein Rutenberg –!“

„Ach ja, wir kennen uns,“ sagte sie nun gutmütig, seine Aufregung entwaffnete sie. „Herr von Hiller, nicht wahr –“

Der junge Mann lächelte, im ersten Augenblick etwas schmerzlich, aber schnell gefaßt. „Sie verwechseln mich mit einem andern, mein Fräulein,“ sagte er schlicht. „Waldeck ist mein Name.“

„O!“ stieß sie erschrocken aus. „Verzeihen Sie! – Ja, ja, nun seh’ ich –“

„Was ist da zu verzeihen,“ unterbrach er sie, „Sie haben mich ja nur ein paarmal gesehn. Ich wollte mir erlauben, Ihren Herrn Vater – wohl etwas spät – in einer besonderen Sache – – Aber ich höre eben, hier ist heute Ball. Ihr Herr Vater wird also nicht mehr zu sprechen sein, vielleicht könnt’ ich morgen –“

[686] Gertrud schüttelte den Kopf. „Ach nein! Wenn Sie hier etwas warten wollten – er zieht sich an, aber er ist bald wieder da. Mit seiner Toilette“ – sie lächelte ermutigend – „dauert es nicht lange! Ich werd’ ihm sagen lassen, nicht wahr, daß Sie auf ihn warten …“

Na, dachte sie, während sie sprach, ich bin doch freundlich genug gegen das Ungetüm!

„Zu gütig, mein Fräulein,“ erwiderte der andre mit seiner sonderbar gepreßten Stimme, die das Mädchen so weich und liebenswürdig gemacht hatte.

„Aber jetzt entschuldigen Sie mich,“ fiel sie ein, mit einem Blick auf ihr Hauskleid, „ich muß nun endlich fort, ’s ist die höchste Zeit! – Wenn Sie Waldeck heißen – ach Gott, wie konnt’ ich, dann sind die Herren ja alte Freunde, nicht wahr?“

Wyttenbach nickte: „Schulfreunde, jawohl.“

„Ich lasse Sie also allein – Sie können ja von alten, alten Zeiten miteinander sprechen.“ – Ueber ihren Strauß hinweg warf sie rasch noch einen zärtlichen Blick auf Arthur, ganz verstohlen, wie sie dachten; er war aber doch nicht verstohlen genug, denn der Herr Waldeck fing ihn auf. „Auf Wiedersehn!“ rief sie, „bald!“ – Mit anderer Stimme und einer ihrer gelernten leichten Verbeugungen wandte sie sich dann zu dem andern „Adieu, Herr – – Waldeck!“

Sie errötete nachträglich, daß sie ihn „Hiller“ genannt hatte, und lächelte und huschte hinaus.

Waldeck sah ihr nach. Seine starken, dunkelblonden Brauen zogen sich zusammen, als dächte er an den heimlichen Blick mit dem sie Arthur eben angestrahlt hatte. Er zuckte, als ihm nun Arthur eine Hand auf die Schulter legte; er schien merkwürdig erregt zu sein. „Nun, Waldeck?“ sagte Arthur. „So düster?“

„So heiter?“ fragte Waldeck zurück.

„Das ist ’ne komische Frage. Warum sollt’ ich nicht heiter sein? Wenn irgend ein Mensch dazu Ursache hat, so hab’ ich – –“

Er unterbrach sich, nach einem neuen Blick auf den alten Schulfreund, mit dem er als Junge so manchen lustigen Streich ausgeführt hatte. Gutmütig, wie er im Grunde doch war, legte er ihm wieder eine Hand auf den Arm: „Uebrigens, wenn ich dir mit etwas nützlich sein kann, so disponier’ über mich. Du siehst so aus, alter Junge, wie wenn du Sorgen hättest, – brauchst du vielleicht ‚Kies’? oder ‚Schotter’, wie der Oesterreicher sagt? Ich hab’ im Augenblick ’heidenmäßig viel Geld’!“

Offenbar wider Willen lächelnd, sah Waldeck den jungen Krösus freundlich an. „Ein guter Kerl bist du doch!“

„Daran hast du hoffentlich nie gezweifelt,“ warf Wyttenbach hin. „Also – brauchst du Geld?“

„Gott sei Dank, nein. Weder das, noch sonst was! – Es geht dir also gut.“

„O ja,“ sagte Wyttenbach, die kleinen Augen vor Vergnügen noch kleiner machend. „O ja, mehr als gut! – Ich werde jetzt solid. Ich werde jetzt un homme sérieux.“

„Schon? – Dann bist du ja mit vierzig ein Greis!“

Wyttenbach lächelte überlegen, sein braunes Schnurrbärtchen in die Länge ziehend. „O, ich werd’ es schon verstehen, mein Junge, mich jung zu erhalten! – Von allem etwas, weißt du, und von nichts zu viel: Arbeit, Ruhe, gutes Leben, zuweilen eine Reise zur Auffrischung, ein viertel Jahr auf dem Lande, denn meine entschiedene Absicht ist, Großgrundbesitzer zu werden. Das gehört jetzt mit dazu, und mit Recht! Das giebt dir festen Boden unter den Füßen, giebt dir eine gesunde Existenz, eine solide Weltanschauung, Ansehen und Einfluß. Später laß‘ ich mich dann in den Reichstag wählen –“

„Und dein Großgrundbesitz,“ fragte Waldeck, „wer verwaltet den?“

„Ich selbst, wer denn sonst? Eine Thätigkeit muß der Mensch haben, natürlich, das ist der kategorische Imperativ des Lebens … Ich studiere jetzt erst eine Weile Landwirtschaft und Nationalökonomie, dann mach’ ich noch eine kleine Reise um die Erde – das gehört mit dazu –“

„Und dann heiratest du,“ ergänzte Waldeck, mit einem unwillkürlichen Blick auf die Thür, durch die vorhin das junge Mädchen hinausging.

„Wahrscheinlich!“ sagte Wyttenbach lächelnd.

„Und heut’ – wirst du hier tanzen.“

„Naja!“ – Wyttenbach lächelte wieder, aber matt, resigniert. „Ich bin ja noch in dem Alter, wo man herumhopsen muß. Und überhaupt – eine Zeit lang muß ich die Kindereien noch mitmachen. Obgleich ich eigentlich, kann ich dir sagen, mit all diesen Jugendeseleien ziemlich fertig bin –“

„Bist wohl schon sehr blasiert?“ fragte Waldeck, nach einem neuen düsteren Blick auf die Thür.

„Die Sachen verlieren ja natürlich mit der Zeit ihre Reize! Indessen, wenn man noch jung ist –“

Waldeck unterbrach ihn wieder, mit einem etwas unsicheren Anlauf. „Und – durch was für einen Glücksfall willst du das alles erreichen, wenn man fragen darf?“ Wyttenbach trat einen Schritt zurück, sein glattes, hübsches Gesicht verzog sich: „das möcht’st du wohl wissen,“ sagte er vergnügt. „Das ist mein Geheimnis. – Adieu!“

Er ging zur Salonthür.

„Adieu!“ rief ihm Waldeck nach.

Mit der blasierten Grazie eines Prinzen öffnete Wyttenbach die Thür und stieß sie vor sich her.

5.

Fritz Waldeck stand eine Weile, ohne sich zu rühren, dann seufzte er langsam, tief, er wußte nicht warum. Ein schwer wütiges Gefühl lag ihm so breit und voll auf der Brust. Der wird nicht umkommen, dachte er, der macht seinen Weg … Und diese hübsche Figur aus Chinasilber scheint der Gertrud Rutenberg gar so gut zu gefallen …

Er versank in diesen Gedanken wie in weichen Moorgrund; er kam nicht wieder heraus. Vielleicht hatte er schon lange so dagestanden, auf demselben Fleck, als endlich die andere Thür, die zu Rutenbergs Wohnzimmer, aufging und der Hausherr erschien. Die noch so jugendliche breitschulterige Gestalt war nun für den Ball gekleidet, ins Knopfloch hatte Rutenberg eine Rose gesteckt, die ihm Gertrud durch die kleine Jungfer aus ihrem Arthur-Strauß geschickt hatte. Hinter ihm, etwas später, kam Schilcher, noch in seinem Hausrock.

„Ich stehe Ihnen jetzt zu Diensten,“ sagte Rutenberg. „Mit wem habe ich – –“

Er unterbrach sich selbst; der schlanke, blasse junge Mann stand wie ein Fragezeichen vor ihm. Es war ihm, als hätte er schon eine ähnliche Erscheinung gesehn, und doch war ihm diese fremd. Er sah in ein tiefernstes, kühnes, geistiges Gesicht, es erinnerte ihn an eine Büste von Schiller, die er vor Zeiten gesehen hatte. Der junge Mann gefiel ihm, eine gewisse sonderbare Schwermut in den starken Zügen ging ihm gleich zu Herzen.

„Entschuldigen Sie, Herr Rutenberg,“ sagte Waldeck schlicht, die magern Wangen flogen aber rötlich an. „Ich komme zur unrechten Zeit –“

„Durchaus nicht,“ erwiderte Rutenberg. „Bis die ersten Gäste kommen, und das dauert noch lange, hab’ ich nichts zu versäumen. Also –“

Nach einem ungewissen Blick auf Schilcher der regungslos bei der Thür stand, fiel Waldeck ihm in die Rede: „Dann verzeihn Sie. Ich hätte eigentlich mit Ihnen allein –“

„Ist mein Freund da zu viel?“ fragte Rutenberg, gemütlich lächelnd. „Er ist eigentlich wie mein zweites Ich. Indessen, wenn Sie wünschen –“

Schilcher wandte sich stumm zur Thür.

Mit einer hastigen, etwas eckigen Bewegung suchte ihn der Jüngling jetzt zurückzuhalten. „Ach nein! Bitte, bleiben Sie Herr Oberappellationsrat. Unter diesen Umständen … Es könnte vielmehr gut sein … Es wird mir nämlich so furchtbar schwer, ich meine, das, was ich sagen will. Vielleicht bring’ ich’s leichter heraus, wenn der Herr Oberappellationsrat da ist – den ich doch schon kenne. Ich habe nämlich die Ehre –“

„Wir kennen uns, ich weiß,“ murmelte Schilcher. Er warf einen freundlichen, ermutigenden Blick auf Waldeck und lehnte sich in seiner kurz entschlossenen Art an den nächsten Tisch.

„Also, wie Sie wünschen!“ sagte Rutenberg, in dem sich die angeborene Ungeduld nun doch zu regen anfing. Er lud den jungen Mann ein, sich zu setzen. „Ihr werter Name, mein Herr –!“

[687] „Eh’ ich Ihnen den sage,“ fiel Waldeck ein, indem er sich niedersetzte, „gestatten Sie mir drei Worte … Es handelt sich um eine – eigene, delikate Sache; und es wird mir so schwer, den Anfang – – wie ich beginnen soll, mein’ ich –

Rutenberg lächelte. „Nun, so überlegen Sie sich’s; wir haben ja Zeit!“

„Sie sind gar zu gütig … Ich hab’ also das Unglück gehabt, Herr Rutenberg, mein Herz an Ihre Tochter zu verlieren –“

Rutenberg stand auf. Diese gänzlich unerwartete Mitteilung fuhr ihm in die Glieder. Schilcher rührte sich nicht. Auch Waldeck saß ohne Regung da; er atmete nur tief, als hätte er das eine Weile gar nicht gethan, und ward wieder blaß, noch blasser als vorher.

„Bitte, erschrecken Sie nicht!“ fuhr er dann mit einer Art von Lächeln fort, das den gutherzigen Rutenberg wieder rührte. „Wenn Sie etwa fürchten sollten, es könnte das gegenseitig – ach nein, so steht’s nicht. Das Fräulein kennt mich so wenig – daß sie mich verwechselt …“

Rutenberg setzte sich wieder.

„Daß sie mich verwechselt … Mein Fall ist so eigentümlich. Eh’ ich es wagen würde, mich dem Fräulein zu nähern – das ich leider schon zu oft, zu viel gesehen habe –“

„Entschuldigen Sie,“ nahm nun Rutenberg doch das Wort. Der junge Schiller da schien ihm allmählich ein junger Don Quichote zu werden. „Sie reden nun schon einige Zeit, aber ich muß Ihnen offen bekennen, noch versteh’ ich kein Wort.“

„Ja,“ stammelte Waldeck, „das mag wohl sein … Eh’ ich es also wagen würde, mich dem Fräulein zu nähern, möchte ich von Ihnen hören – muß ich von Ihnen hören – ob Sie je gestatten würden, daß der Sohn Ferdinand Waldecks Ihre Tochter heiratet.

Rutenberg stand wieder auf, diesmal schoß ihm aber das Blut ins Gesicht. In seine leuchtenden, menschenfeindlichen Augen stieg eine plötzliche Glut, seine Hände zogen sich zusammen. „Ferdinand Waldecks?“ fragte er.

Waldeck erhob sich nun auch. „Ja“ antwortete er.

Schilcher nickte jetzt vor sich hin, er hatte bisher kein Glied gerührt. Da die andern aufgestanden waren, setzte er sich nieder.

„Versteh’ ich Sie recht?“ fragte Rutenberg, den sein Gefühl, wie so oft, fortzureißen anfing. „Ferdinand Waldecks, der damals – – damals nach Amerika floh? Der sich das Leben nahm?“ – Der junge Mann nickte, mit einem schmerzhaften Zucken. – „Der aus der Welt ging, weil er in ihr keinen Platz mehr hatte – weil er ein verlorener Mensch, ein Verbrecher war?“

„Herr –!“ rief Waldeck aus.

Rutenbergs Empörung war aber nicht mehr aufzuhalten: „Der ein Betrüger und ein Schurke war,“ fuhr er fort, „bis in seinen Tod?“

Der unglückliche Fritz Waldeck bebte. Zwischen den völlig farblosen, zitternden Lippen stieß er hervor: „Herr, das lü – –!“

Er brach aber ab. Mit einer überraschenden Gewalt, eine Hand aufs Herz legend und dann an die Stirn, erstickte er sichtbar, was er sagen wollte, und zwang sich zur Ruhe. Ihm kam auch wieder etwas Blut in die Lippen. Erst nachdem er sich ganz gefaßt hatte, sagte er mit Haltung und sogar mit Würde: „Sie sagen da nicht die Wahrheit, mein Herr!“

„Hm –!“ murmelte Schilcher, nur so vor sich hin.

Rutenberg warf einen Blick auf Schilcher, sein altes lebendiges Gewissen, er suchte sich dann ebenso zu fassen wie der Junge da. „Na ja,“ fing er weich und unsicher, fast etwas verlegen an „es thut mir leid. Sie sagten ja – – Sie sind also der Sohn. Der Fritz, den ich als Kind – – Jetzt ist mir auch, als seh’ ich in Ihnen das Kind. Es macht mir kein Vergnügen, bei Gott nicht, jemandem weh zu thun … Was aber Ihre Behauptung betrifft, daß ich nicht die Wahrheit sage – Sie sind jung – sehr jung –“

„Verzeihen Sie,“ entgegnete Waldeck mit fast heiserer Stimme, „wenn ich trotz meiner Jugend wiederhole, Sie haben nicht das Recht, meinen Vater so zu nennen, wie Sie ihn nannten. Es ist nicht die Wahrheit!“

Rutenberg sah den jungen Fritz Waldeck eine Weile schweigend an, er murmelte unverständlich, er bewegte die Brauen, die Lider. Doch kein Don Quichote, dachte er, doch mehr Friedrich Schiller … „Ich will Ihnen was sagen, junger Herr,“ nahm er endlich das Wort. „Gehn Sie wieder. Es ist besser so. Sie können mich nicht bekehren, und ich kann nicht lügen – obwohl Sie vorhin meinten, ich könnte es. Wozu uns böse Worte sagen. Sie mögen ein guter Sohn und ein guter Mensch sein. Eine – eine Art von Antwort hab’ ich ja schon gegeben –“

„Verzeihen Sie,“ sagte Fritz Waldeck und trat in seiner blassen Erregung einen Schritt näher zu Rutenberg hin. „Ich kann so nicht gehn. Diese Beschimpfung, diese Entehrung meines toten Vaters –“

„Herr!“ rief Rutenberg, in dem es wieder überwallte, „wer hat ihn denn beschimpft, wer hat ihn denn entehrt, als sein eigenes Leben und sein eigener Tod?“

Er glaubte jetzt zu hören, daß sich auf Schilchers Stuhl etwas rührte; sogleich zwang ihn ein inneres Unbehagen, einen Blick hinüberzuwerfen: richtig: aus dem guten, klugen Nußknackergesicht sahen ihn die blaßgrauen Augen ganz still und doch wie um etwas mehr Ruhe bittend an. Naja! dachte Rutenberg, einen Augenblick verstimmt, dann einverstanden, und knöpfte am Rock über seiner Brust „Junger Mann,“ sagte er ruhiger, „ich war sein Freund, als Sie noch ein Kind waren. Sie waren auch noch ein Kind, oder nicht viel mehr, als er meine Freundschaft, mein Vertrauen täuschte – bitte, reden Sie nachher – als er uns alle täuschte, die wir ihm vertraut hatten, und – – ja, und dann davonging, auf Niewiederkommen. Es war diese tolle Zeit, vor Dreiundsiebzig, die hoffentlich auch nie wiederkommt, wo die neuen Gründungen über Nacht in die Höhe schossen wie Pilze, und die Millionen kamen und gingen wie die Seifenblasen und die guten Namen mit ihnen! Damals gründeten Sie auch diese gottverfluchte Bank – und Ihr Vater mit. Und weil ich ihm glaubte – nicht den andern, verstehen Sie wohl, sondern ihm, ihm, dem grundgescheiten und gründlich eingeweihten und ehrlichen Ferdinand Waldeck – so gab ich mein sauer erworbenes junges Geld hinein, mehr und immer mehr. Und wenn ich doch einmal zauderte, wenn ich zweifelte – Gieb nur her! schrieb er, gieb nur her! es steht gut, wir blühen, wir gedeihen, wir machen rasende Geschäfte, du wirst Millionär dabei! – Ja, und endlich – krach! Wie loses Pulver flog alles in die Luft. Alles war hin. Herr, ich jammere nicht um das Pulver, um das Geld. Ich hab’s längst verschmerzt. Wenn meine Fabrik damals in Gefahr kam, durch diese vielen Aderlässe zu blutarm zu werden und umzufallen, sie hat sich wieder erholt, und wie! Aber um Ferdinand Waldeck hab’ ich’s nie verschmerzt – werd’s auch nie verschmerzen. Er hat seine Ehre, seine Seligkeit – – Und nun rühren Sie nicht länger auf, was ich da in mir habe; lassen Sie mich, gehn Sie fort!“

Waldeck Sohn schüttelte jedoch den Kopf, als wollte er durch die stumme Bewegung sagen: Ich kann noch nicht gehn! Er drehte den Hut zwischen den zitternden Händen, ungelenk wie ein Bauernknecht. In seinen übergroß gewordenen Augen leuchtete aber eine unverzagte Flamme, die das abgemagerte Gesicht verklärte und verschönte. Mit überraschend klarer Stimme erwiderte er dann: „Sie sagen die Wahrheit nicht, Herr Rutenberg, weil Sie sie nicht wissen. Nicht ein Betrüger war mein Vater, sondern betrogen wie Sie. Die andern, die andern hatten ihn getäuscht. Und das trieb ihn dann in die Verzweiflung, in den Wahnsinn und in den Tod!“

„Herr, beweisen Sie das!“ rief Rutenberg aus. „Worten glaub’ ich nicht. Worte, Worte hatte auch Ihr Vater, die waren alles, was er uns zurückließ. Dann – fort übers Meer – und dann in die andere Welt!

„In die andere Welt,“ wiederholte Waldeck mit bitterem Lächeln. „Dahin ging er ja, weil er es nicht mehr aushielt, in dieser Welt so beschimpft zu leben. – und weil die Verzweiflung ihm den Verstand verwirrt hatte. Noch auf dem Sterbebett hat mir meine Mutter – die nie eine Lüge auf der Seele hatte, glauben Sie mir das – noch in der letzten Stunde, eh’ sie das Bewußtsein verlor, hat sie mir beteuert: dein Vater war ohne Schuld! Aber die blinde Wut der Menschen, die giftigen Verleumder brachen ihm das Herz –“

Jetzt fuhr Rutenberg wieder in die Höhe. „Junger Mensch, von wem reden Sie? Wer sind die Verleumder? – Geben Sie [688] besser acht, was Sie sagen. Sie können weder Ihren Vater noch Ihre Mutter aus dem Grabe rufen, schaffen Sie Beweise, die für Ihren Vater und Ihre Mutter zeugen –“

Waldeck zuckte hilflos die Achseln.

„Oder reden Sie nicht von giftigen Verleumdern! – Als diese Bank damals in den Erdboden versank, und nichts als einen wertlosen Haufen bedruckter Papierbogen auf der Welt zurückließ – und der oberste dieser Schurken, der Direktor, mit seinem Sekretär in irgend ein unbekanntes Land verduftete – warum blieb Ihr Vater nicht da, wo sein Platz war, und stellte sich dem Gericht, um sich zu reinigen – wenn er sich schuldlos fühlte? Warum ging er auch, bei Nacht und Nebel, über den Ocean? Warum that er nichts, gar nichts, um es gut zu machen? Warum wurde er still wie das Grab, statt für seinen guten Namen zu reden und zu zeugen, so lang’ er noch Atem hatte? – Herr, wenn so die Unschuldigen handeln, dann kenne ich die Welt nicht. Ich hab’ Ihre Mutter bedauert, ich kann Sie bedauern aber Ferdinand Waldeck –“

Er machte mit dem Arm, den er erhoben hatte, einen langen Strich nach unten durch die Luft „So tief, wie die Erde ist,“ setzte er dann mit der ganzen Kraft seines überströmenden Gefühls hinzu, „ist der Abgrund zwischen mir und ihm!“

„Und seinem Sohn,“ ergänzte der unglückliche Waldeck langsam, nachdem er wieder einen tiefen Atemzug gethan hatte. Er trat hinter sich und stieß dabei gegen einen der Spieltische. Auf den blickte er dann verstört. „Ich hab’ also meine Antwort,“ murmelte er, nachdem er sich eine Weile gesammelt hatte. „Also leben Sie wohl“ – Er ging zur Thür.

„Sie haben keine Beweise?“ fragte Rutenberg hinter ihm her, um doch noch etwas zu sagen.

Der Jüngling schüttelte den Kopf. „Die hier verlangt werden, nein, die nicht. – Ich kann die Toten nicht aus dem Grabe rufen. O, Sie haben recht. – Dennoch weiß ich, mein Vater – –“

Er brach aber mit einem Seufzer ab, der tief aus der Brust stieg. Mit überraschend frühreifer Würde verneigte er sich darauf gegen beide, und sagte zu Rutenberg: „Ich bedaure, wenn ich Sie an so einem Tage des Vergnügens störte. Leben Sie wohl!“

Etwas taumelnd, dann wieder fest und sicher kam er aus der Thür.

6.

Die beiden, die zurückblieben, waren eine Weile still. Daß er immer wie aus Holz geschnitzt dasitzt, dachte Rutenberg, der seitwärts auf den regungslosen Schilcher blickte; manchmal ist’s doch unerträglich. – „Hm!“ machte er selber endlich, um die Stille zu unterbrechen. „Ferdinand Waldecks Sohn. – Auch ein Schicksal. – Armer Junge …“

Schilcher brummte etwas, aber nach seiner unausstehlichen Art so leise, daß man’s nicht verstand.

„Was sagst du?“ fragte Rutenberg. „Nichts,“ antwortete Schilcher und erhob sich von seinem Stuhl.

„Hab’ ich ihm unrecht gethan, Schilcher? – Hab’ ich etwas gesagt, das dir nicht gefällt? Ging es wieder mit mir durch? – Aber um des Himmels willen, konnt’ ich denn schweigen, Schilcher? Oder sollt’ ich sagen er war unschuldig, ja, ja, Sie versichern es, also glaub’ ich es –?“

„Nein,“ warf Schilcher hin, der auf seinen Weg zur Thür sah und seine Halsbinde rückte. – „Ich muß mich nun also auch verschönern. Eh’ zur Polonaise geblasen wird, bin ich wieder hier.“

Es mißfiel Rutenberg, daß der andere in diesem Augenblick die Polonaise erwähnte. „Ich bitte,“ sagte er verstimmt. „Ja, ja. – – Die ganze Festtagslaune, die ist hin, Schilcher!“

„Wird wiederkommen. Das geht fix bei dir.“ Schilcher hustete und machte die Salonthür auf, um in seine Junggesellenwohnung im oberen Stock zu gehen.

„Na ja!“ brummte Rutenberg. Er wollte aber den „Heimtücker“ nicht so stumm hinauslassen, darum fing er noch einmal an: „Ferdinand Waldecks Sohn …“

Richtig, jetzt drehte sich der kleine Schilcher herum und sah dem alten Freund ins Gesicht. „Der wird einmal ein Mann,“ sagte er in äußerer Ruhe. „Ein richtiger.“ Dann schob er sich aus der Thür.

Rutenberg lächelte einen Augenblick, nickte nach einer Weile, versank in immer tieferes Nachdenken und ging in sein Wohn- und Arbeitszimmer zurück. In diesem behaglich geschmückten Raum – nicht reich, denn er war bei einfachen Gewohnheiten geblieben – vertrug er sich mit seinen Gedanken am besten und dachte sie am leichtesten bis zu Ende durch. In den alten bequemen Lehnstuhl gesunken, den er vom Vater geerbt hatte – sonst war fast alles eigene Erwerbung – fühlte er sich ganz eigen zurückgeworfen in die Jugendzeit, da er sich mit Ferdinand Waldeck befreundet hatte … Das war die Aehnlichkeit, dachte er; dieser Fritz erinnerte mich im ersten Augenblick an den Vater. Aber wie sie doch verschieden sind! der Sohn sieht interessanter aus, ein merkwürdiger Knochenbau. Und ein ganz anderes Feuer in den Augen – in dem Jungen ist mehr, viel mehr. Der alte Heimtücker, der Schilcher hat recht: „Der wird einmal ein Mann!“ – Rutenberg sann nach – zehn Jahre war es jetzt her, daß er den Fritz Waldeck hier in seiner Vaterstadt gesehen hatte, da gab ihn der Vater von Berlin hierher aufs Gymnasium, damit der etwas zarte Junge in einer kleineren Stadt recht gesund heranwüchse. Damals war er zwölf Jahre alt, also jetzt zweiundzwanzig … Na ja, dachte Rutenberg, dann sah ich ihn bald nicht mehr wieder, weil ich meine Fabrik in Warnowrande gegründet hatte. Und als ich die hierher verlegte und größer machte, da war ich mit Waldecks weltweit auseinander …

Er rückte jetzt mißmutig in dem alten Lehnstuhl; es gefiel ihm nicht, daß Schilcher so gegangen war, offenbar mehr auf Fritz Waldecks Seite, offenbar nicht zufrieden mit den rücksichtslos empörten Worten des alten „Durchgängers“ Rutenberg. Und dieser Durchgänger hatte sich so sehr gewöhnt, auf den alten Nußknacker zu hören, wie wenn es sein ganz persönlicher nur für ihn angestellter „Oberappellationsrat“ wäre – nicht eher mit sich einig zu sein, als bis er auch mit dem kleinen holzgeschnitzten Mann sich einig wußte. Er vertiefte sich in die Frage: hab’ ich wieder unrecht? – Dann mußte er doch auch gegen den Vater Waldeck unrecht haben und das hatte er nicht! Gegen diesen Vater, den er einst mit seiner ganzen überschwenglichen Herzlichkeit geliebt hatte, der in diesem Augenblick lebendig, leibhaftig vor ihm stand wie in alten Zeiten, als der so gerngläubige Rutenberg noch geschworen hätte: der ist echtes Gold …

Er lächelte auf einmal, aber unruhig, beklommen und jetzt verliebt sein Sohn sich in meine Gertrud. – Das ist denn doch wirklich eine närrische und verrückte Welt!

So mochte er wohl lange dagesessen haben er erwachte wie aus einer Art von Traum, als durch die Thür zum Bücherzimmer, die er offen gelassen hatte, seine Gertrud eintrat. Sie kam in ihrem leichten, schwebenden Gang, den er mit so viel Vaterstolz liebte und in dem sie ihre einst so anmutige Mutter doch noch übertraf. Das schlichte rosafarbene Ballkleid, das auf der schlanken Gestalt wie ein zarter Duft lag, stand ihr wirklich gut, auch die frischen Blumen im seidigen dunkelblonden Haar, das sich auf der leuchtenden Stirn so angenehm natürlich kräuselte, obwohl er wußte, daß es gebrannt war. Sie kam mit Wyttenbachs Bouquet in der Hand, mit dem strahlenden Rutenbergschen Lächeln. „Da bin ich!“ sagte sie, wie ein Lieutenant vor dem Oberst salutierend.

„Bravo!“ sagte der Vater, sogleich wieder vergnügt „Rosig wie der junge Tag!“ – – In die ist Fritz Waldeck verliebt, fuhr ihm aber auf einmal wieder durch den Kopf. Ihm ward unbehaglich. „Komm einmal her, mein Kind,“ sagte er so harmlos wie nur irgend möglich.

Sie trat vor ihn hin. „Du solltest der erste sein, der mich so sieht! – Hab’ nur vorher noch die Anstalten für den Ball revidiert. Alles in Ordnung. – Na? Aber was hast du denn? Ich glaub’ gar, du machst ein sorgenvolles Gesicht?“

„Nein, nein –“

„Gefall’ ich dir nicht?“

„Närrin! – Sehr. – Sehr gelungen, Gertrud. – Nun sag’ aber ’mal: du kennst einen Herrn Waldeck, nicht wahr? Einen jungen Mann –“

„Ja, ein wenig, ja!“ warf sie so natürlich gleichgültig hin, [690] daß es ihm Freude machte. Darauf fing sie an zu lächeln. „Du, der hat mich vorhin schön verlegen gemacht; ich hab’ ihn verwechselt. Mir war so, als müßte er Herr von Hiller heißen. – Mein Gott,“ setzte sie übermütig lustig hinzu, „wenn man so viele junge Männer kennt!“

Freilich, sagte Rutenberg ebenso lustig, dabei atmete er beruhigt auf. „So viel merk’ ich, Trudel, einen sehr lebhaften Eindruck hat er dir nicht gemacht.“

Sie schüttelte die schönen Löckchen: „Er? – Nein, O nein!“

„‚Er’ nicht! wiederholte der Vater, noch ganz arglos lächelnd. „O nein! das könnt’ ja so klingen, wie wenn –“

Bei diesem wenn brach er aber ab. Lieber gar nicht von der Möglichkeit reden, dachte er; man male nur nie den Teufel an die Wand! …

Das Mädel blickte ihn etwas unsicher an. „Wie wenn was –?“ fragte sie.

„O nichts. Gar nichts von Bedeutung. – Siehst poetisch aus, Kind.“

„Also ich gefall’ dir doch?“

„Ganz entschieden gefällst du mir,“ sagte er mit dem sachlichen Vatergesicht und streichelte ihr vorsichtig über das blumengeschmückte Haar. „Kein Geflitter und kein Geprunk, einfach, simpel, siebzehnjährig. So lieb’ ich’s.“ – Er steigerte sich drollig, in seiner inneren Heiterkeit. „Ja, ja, ja, so lieb’ ich’s!“ Und sich so recht zufrieden über sie neigend, küßte er sie auf die Stirn.

„Ach,“ dachte Gertrud in ihrer jungen, selig schmachtenden Seele, wie gern möcht’ ich’s ihm jetzt sagen! Könnt’ ich’s ihm jetzt sagen! – Sie fühlte, ihr kam der Mut, und das Geheimnis drückte sie, so süß es zuerst gewesen war, es drückte sie jetzt. Auf einmal begann sie mit seiner Hand zu spielen, sie versuchte, seine großen goldenen Ringe hin und her zu schieben; dann streichelte sie über die Finger hin. „Du! Vater!“ fing sie an. „Wie wenn was –?“

Er verstand sie noch nicht „Was meinst du, Kind?“ fragte er.

„Ach, du sagtest vorhin ,das könnt’ ja so klingen, wie wenn’ – –“

Sie sah ihm mit einem raschen Blick ins Gesicht, dann wieder auf seine Hand.

Zuerst nur verwundert, dann betroffen, starrte er sie an. Erst nach einer Weile brachte er heraus: „Warum fragst du noch einmal? So neugierig? – Wie? Jetzt wird sie rot! – Er nahm ihre Hand, die noch auf der seinen lag, und sah ihr fest in die Augen. Alle Teufel! dachte er. Wenn dieses Kind einen Andern –

Nein, sagte er sich geschwind, um diesen Schreck wieder abzuschütteln, und ließ ihre Finger los, – nein, das ist unmöglich. Das thut mir das Kind nicht an. – Nur nichts merken lassen …

Er schaute umher, er wollte sich etwas zu schaffen machen, sein Blick fiel auf die offene Thür und auf die Spieltische im Bücherzimmer. „Mir war doch so,“ warf er hin, „als hätte Brink auf den Rauchtischchen die Aschenbecher vergessen. Will doch mal sehn –!“

Damit ging er schon durch die Thür. Im Bücherzimmer sah er nun freilich, daß er den alten Pedanten, den Brink, falsch verdächtigt hatte: an Aschenbechern fehlte es nicht. Dagegen überfiel ihn jetzt ein zweiter Schreck. Gertrud kam ihm nach, trat zu ihm, als er still stand, und legte mit einer plötzlichen Bewegung ihr Gesicht stumm an seine Brust.

„Um Gottes willen!“ entfuhr ihm, indem er zusammenzuckte. „Was hast du?“

„O, nichts Trauriges,“ sagte sie leise. „Süßer alter Vater du. Du bist so gut gegen mich, und machst mich heut’ so glücklich …“

Er atmete etwas erleichtert auf. „Dankbarkeit?“ fragte er.

„Ja, Dankbarkeit und – –“ Sie brachte eine Art von Lächeln zustande, das ihm aber nicht gefiel, und sagte wieder leise: „Er nicht! O nein!“

„Gertrud!“ stieß Rutenberg hervor. „Was heißt das?“ Jetzt flüsterte sie nur noch: „Kannst du’s nicht erraten?“

Unwillkürlich, und ohne es zu wissen, drückte er das Mädel langsam von seiner Brust hinweg, sah sie nicht mehr an und ging durchs Zimmer. Hinter einem der Tische blieb er dann wieder stehn, hob in seiner Ohnmacht den Arm ein wenig; fortlaufen konnte er dem Schicksal ja doch nicht – „Trudel!“ sagte er. „Du bist toll!“

Sie schüttelte den Kopf.

„Du bist toll, Trudel.“

Sie schüttelte ihn wieder. So recht weich und sanft sagte sie dann „Warum sollt’ ich toll sein? – Ich möcht nur vor dir kein Geheimnis haben …“

Rutenberg horchte, was nun noch kommen werde. Sie war aber still. Die innere Unruhe fuhr ihm in die Finger, er nahm die neuen Spielkarten von dem Tisch, hinter dem er stand, zog sie aus dem Umschlag, legte sie wieder hin. Dann nahm er ein Häufchen davon ab, warf es auf den Tisch. Es war doch eine Art von Thätigkeit, drum fuhr er auch damit fort, ohne es zu wissen. Unglückliches Kind! sagte er, wieder ein Häufchen hinwerfend. „Du bist siebzehn Jahre alt!“

„Eben darum!“ erwiderte sie leise.

„Ich glaube, du bildest dir ganz im Ernst ein, dich ernsthaft verliebt zu haben –“

„Ach!“ seufzte sie, vor sich niederblickend. „Ich weiß es, Vater!“

„Was sagst du?“

Sie lächelte ihn nun etwas mutiger an. „Ich sagte nur, ich weiß es!“

„So! – Und wer ist dieser andre?“

„Wer? Arthur van Wyttenbach …“ Rutenberg ließ die Karten, die er noch in der Hand hatte, vor Schreck auf den Tisch fallen. „Heiliger Gott!“ rief er aus.

„Was ist dir?“ fragte sie.

„Arthur van – Arthur van – Dieser –! Der Name „Wyttenbach“ blieb ihm in der Kehle stecken.

„Ja, Vater. Ja, der ist’s, lieber, guter Vater. Und wenn du mir nicht erlaubst, ihn zu heiraten – sie suchte zu lächeln, es sah aber sehr ernsthaft aus – „dann sterb’ ich!“

Rutenberg schob die Spielkarten auseinander, daß sie den ganzen Tisch bedeckten „Da haben wir’s,“ sagte er. „Dann stirbt sie. – Unsre Antigone. – Schilcher! Schilcher!“

„Warum rufst du Schilcher?“ fragte das Mädchen ängstlich. „Was soll der? – Lieber, süßer Vater …“

Ihre Stimme war so rührend weich; sie ging ihm zu Herzen. „Lieber, süßer Vater“ – das machte ihm wieder etwas Mut. Er faßte sich so nach und nach. Ihm half dabei, daß er die Karten langsam wieder zusammenschob. „Komm her, Kind!“ sagte er dann, nicht so weich wie sie, aber ganz ohne Strenge und ohne Härte. „Setz dich. Da an den Tisch! – Sie kam und setzte sich. Er stellte sich vor sie hin. – „So, nun laß uns mal ruhig reden. Sitz’ still. Also du liebst ihn, sagst du. Diesen – –“

Er sprach nicht weiter. Sie nickte. In ihrem Ballkleid, mit den Rosen im Haar, saß sie so unheimlich romantisch da, als gehöre die Liebe selbstverständlich dazu, als sei es ganz natürlich, daß sie jemand liebte.

„Und er liebt dich,“ fragte Rutenberg weiter. „dieser – -“

Sie nickte.

„Und ihr wollt euch heiraten –“ Sie nickte wieder.

„Und wenn ich es nicht erlaube, dann stirbst du.“

Sie lächelte, doch dann nickte sie, wieder mit ihrem ernsthaften siebzehnjährigen Gesicht.

„Und dieser Bund der Seelen dauert wohl schon lange –“

Nun schüttelte sie den Kopf. „Noch nicht lange, Vater. – Aber so sehr! so sehr!

In einem Anfall von humoristischer Verzweiflung schlug Rutenberg die Augen zum Himmel auf. Einen „Hansquast“ nannte ihn Schilcher! fuhr ihm durch den Sinn. Ahnungsloser Schilcher! Na, und ich? Ich nannte ihn „Ballfutter“. Ahnungsloser Vater! – Er schaute wieder seine romantische Ballnixe an. „Wofür hältst du ihn, Gertrud?“ fragte er, sich wieder fassend, so gut er konnte.

„Wen?“ fragte sie.

„Nun ihn, diesen – – den Jüngling.“

[691] Wofür ich ihn halte? – Ach, Vater, wie fragst du nur. Für das, was er ist, für den besten, liebenswürdigsten, edelsten Menschen auf der Welt!“

„Und für den begabtesten –“

„Ja,“ sagte sie mit einem rührend ernsten Nicken. „Er kann alles, Vater. Die andern, die können dies oder das, er kann alles, Vater. – Es trieb sie von ihrem Stuhl in die Höhe: „Ach, und sein Herz –!“

„Bitte, bleib sitzen, Kind!“ unterbrach er sie. In träumerischem Gehorsam sank sie wieder hin. „Ich weiß,“ fuhr Rutenberg fort. „Er kann allerlei, so von allem etwas. Er tanzt gut, sehr gut. Er spielt Klavier. Er hat einen hübschen Tenor –“

Gertrud schüttelte den Kopf. „Bariton.

„Bariton, richtig. Er schneidet aus schwarzem Papier Silhouetten aus. Er singt Lieder in allen möglichen Sprachen.“ Er malt etwas. Er macht sogar Verse, wie ich heut’ erlebt habe –“

Sie nickte und lächelte dankbar.

„Er kleidet sich elegant,“ fuhr der Vater fort. „Er spricht so fließend wie ein Parlamentsredner, dieser junge Mensch … Du siehst, ich weiß alles. Wenn ich dir nun dennoch sage meine liebe Gertrud, schlag dir den aus dem Sinn, der ist kein Mann für dich –“

„Vater!“ rief sie ganz erschrocken und stand wieder auf.

Diesmal drückte er sie aber mit sanfter Hand auf ihren Stuhl am Spieltisch nieder. „Bitte, bleib sitzen, Kind! – Muß mich selber setzen; bei mir kommt alles nachträglich“ … So auch dieser Schreck! dachte er, sagte es aber nicht. „Sieh mich an!“ sagte er dann weich, nachdem er seinen Sessel näher gerückt hatte. „Wir haben uns ja immer gut verstanden, meine kleine Gertrud. Ein unvernünftiger, strenger Vater bin ich nie gewesen, was?“

Sie schüttelte wieder die Löckchen aber eine Unruhe, eine Bangigkeit flog über ihr Gesicht, das die Rosen auf den Wangen weggegeben hatte.

„Hab’ mich immer hineingedacht in das kleine Köpfchen, in das Mädchenherz. Na, und zuletzt wurden wir immer einig. Vater Rutenberg, der ältere, hat recht! – Also wenn ich mich nun heut’ in Ruhe fasse – du siehst, wie wunderbar ruhig ich jetzt bin – und zu meinem Mädel sage. Kind, du bist gut – bist klug – aber um zu wissen wer der Rechte ist, bist du noch zu jung, glaub’ dem erfahrenen, alten Rutenberg, der die Männer kennt, der ist nicht der Rechte! – dann wird meine liebe Gertrud –“

„Nein“ sagte sie, ebenso ruhig wie er, und stand zum drittenmal auf. Nein? „Nein“ wiederholte sie. Mit einem süßen, altklugen Lächeln setzte sie hinzu. „Verzeih', das verstehst du nicht. Lieber, guter Vater.-“

„Das versteh’ ich nicht?“

„Ach!“ seufzte sie. „du quälst mich. Ach, du weißt es nicht! – Ich hab’ ja mein Herz geprüft, lieber, guter Vater und die Stimme in meinem Herzen sagt es mir, und die lügt nicht, Vater. Ja, das ist der Mann, der für mich geschaffen ist, nie kann ich einen andern lieben als ihn, und ich werd’ ihn lieben und an ihm hängen bis an meinen Tod!“

Nun erhob sich Rutenberg auch, mit seiner Ruhe und Fassung war’s aus. Er riß den Frack vorne auf, er hatte ihn zugeknöpft; er fing wieder an, durchs Zimmer zu laufen, die verwünschten Spieltische standen ihm im Wege, gegen den dritten rannte er an, und einen Augenblick hob sich seine Faust, um ihn umzustoßen. Die ist ja wirklich toll, dachte er. Und sie macht mich toll. Ah! Da soll doch gleich –

Er war wieder bei den Spielkarten, die er vorhin ausgebreitet und dann zusammengeschoben hatte; mit einem jähzornigen Griff packte er sie und wollte sie auf die Erde werfen. Er hielt sie dann aber doch noch fest. Nein! sagte er zu sich, so toll bin ich doch noch nicht! – Dann wär’ ich ja wie das Kind, und wär’ nicht der Vater. Wenn das Schilcher gesehen hätte! Wie würd’ der mich auslachen. Wenn so ein Kind Dummheiten macht, dafür ist sie ja doch das Kind! – Rasch, nach seiner Art, hatte er wieder sein altes, freundliches, liebevolles Vatergesicht, legte noch ein gutes Lächeln hinein, da er seine Trudel so bleich und beklommen da stehen sah, und kam gemütlich langsam zu ihr zurück. „Schau,“ sagte er, sie anlächelnd. „Das Kind spricht ja wie ein Buch. Fließend, und resolut – resolut wie immer, – als Vater Rutenbergs Kind. – Wenn ich nun wär wie die andern Väter, so würd’ ich dem Kind eine Scene machen. Trotzkopf! Keckes Ding! Ich weiß es besser und ich sag’ Nein und dabei bleibt’s! Punktum! – Aber nein, so bin ich nicht. So ein Mädchenherz, und so ’ne junge Liebe, sind ’ne ernste Sache… Ich kenn’ meine Trudel ja. Die ist ja nun kein Kind mehr, dem kleinen Herzen, dem sind Flügel gewachsen – die bekannten Flügel, die uns geradeswegs in den siebenten Himmel tragen – na ja, und weil es ein edles, feines, schwärmerisches Herz ist, darum sieht es auch mit verklärten Augen in die Welt, sieht nichts als lauter Himmel um sich her, und fühlt nichts als hohe, heilige Gefühle. Und darum denkt es dann: Hab’ ich nicht recht? – Wir andern, wir alten Leute, kriechen unten auf der Erde, Gertruds Herz schwebt oben, in einem schönen, goldenen Sonnendunst; durch den sieht es einen himmlischen Adonis, einen holden, idealen, vollkommenen Jüngling sein Name ist Arthur van Wyttenbach …“

Vater Rutenberg hielt inne. Sein gutes Gesicht, seine herzliche Stimme hatten dem geängstigten Mädchen wieder Mut gemacht; sie schob sich leise heran, die liebe Gestalt lehnte sich an ihn. „Ach! Vater!“ sagte sie, mit einem Arm unbewußt über seinen Rücken streichend. „Ich seh’ ihn so, wie er ist – und ich muß ihn lieben!“

„Na ja!“ entgegnete Rutenberg lächelnd, dem ihre Hand im Rücken so wohl that, er streichelte ihr dagegen das Haar und die Stirn. „Du mußt ihn lieben das ist nun einmal so; natürlich. Also gut, der Vater giebt nach, und wir heiraten ihn! Und nun kommen wir dann so allmählich aus dem Sonnendunst und Aetherduft etwas mehr nach unten – immer etwas tiefer – bis pur ganz unten auf der alten Erde und, in der Wirklichkeit. Da wird dann aus dem idealen Jüngling Arthur van Wyttenbach ein netter, alter junger Mann, der noch manchmal abends aus schwarzem Papier Silhouetten schneidet, der gut ißt und trinkt, alles praktisch einrichtet, alles ruhig und nüchtern’ ansieht, über alles reden kann, ohne was zu sagen der sein ‚kleines Frauchen’ auslacht, weil sie noch immer so eine ‚komische Idealistin’ ist und endlich das ‚kleine Frauchen’ durch seine Suada aus der Thür hinauslangweilt … Und dann kommt sie zum Vater: Lieber guter Vater, laß uns wieder scheiden sonst sterb’ ich!“

Gertrud hatte ihren Arm von ihm sinken lassen, war zurückgetreten; die großen, hellbläulichen Augen sahen ihn wie in starrem Entsetzen an. „Vater!“ stammelte sie. „Ich bitte, scherz’ nicht so mit mir. Ich versteh’ dich nicht. Ist das – – ist das deine wirkliche Meinung von ihm?“

„Ja, mein Kind, so wahr ich lebe, das ist meine Meinung!“

„O mein Gott!“ stieß sie jetzt schwach heraus. „O mein Gott!“ – Ihre Augen wurden wie leblos, schlossen sich halb, sie drohte umzusinken. „Und ich,“ sagte sie mit fast vergehenden aber doch noch trotzender Stimme, „nie, nie, nie werd’ ich von ihm lassen …“

Damit sank sie auf einen Stuhl.

„Gertrud!“ rief Rutenberg aus und trat hinzu; er fürchtete, sie werde sogleich wie ein geknicktes Pflänzchen auf die Erde fallen. Doch als sein gesundes, starkes Mädel kam sie wieder zu sich, sie öffnete die Augen – sowie sie aber den Vater sah, schlug sie sich beide Hände vors Gesicht. Fast hätte er dasselbe gethan ihm war ganz so zu Mute. Also nie, nie, nie, dachte er, wird sie von ihm lassen von dem Bengel da, dem Süßholz, dem „Hansquast“. Meine Tochter … Heiliger, großer Gott!“ – Er war außer sich, er warf die Karten, die er in der Hand hatte, alle auf den Boden hin.

Gertrud fuhr zusammen. „Was hast du?“ sagte sie, die Hände von den Augen nehmend.

„O, nichts,“ antwortete er. „Ich werfe nur die Karten auf die Erde!“

[702]
7.

Die Thür zum Salon ging auf, Brink, in höchster Gala, trat ein. „Herr Rutenberg, die ersten Gäste kommen,“ sagte er mit seiner umwölkten Stimme. „Herr Domänenrat Lugau und Fräulein Nichte –“

„Schön!“ rief Rutenberg laut. „Vortrefflich! Ich komme! Sie sehen da Spielkarten, Brink. Die sind hingefallen. Heben Sie sie auf!“

Brink schaute etwas verwundert hin, dann bückte er sich und begann sie aufzusammeln. Unterdessen trat Rutenberg zu Gertrud, von der er sich bei diesem Anfall von Verzweiflung entfernt hatte, beugte sich über das rosengeschmückte Köpfchen und flüsterte: „Der schöne, herrliche Abend fängt nun also an. Da heißt es also, sich zusammennehmen …“

„O hab’ keine Sorge um mich!“ flüsterte sie zu ihm hinauf, indem sie sich mit einer Hand über die Augen fuhr, auch zitterte ihre arme Stimme ein wenig. „O, ich werd’ mich zusammennehmen – mit dem Tod im Herzen!“

„Kommen wir zu früh?“ fragte Lugau, der eben in die offene Salonthür trat, wie eine schwarze Kugel mit einem großen weißen Dreieck auf der Brust. „Kein Hausherr zu sehn – und auch keine Haustochter, nur die Tante –“

„Ein kleines Mißgeschick!“ warf Rutenberg entschuldigend hin und deutete auf die Karten, die Brink noch sammelte. „Wir kommen, Freundchen, wir kommen!“

„Auch meine kleine Nichte ist schon da,“ sagte Lugau harmlos. „hab’ sie hergebracht. Wie ’ne Pagode saß das Ding im Wagen, um ihre Toilette zu schonen. Nur einmal – ich sag Ihnen, das war komisch – da wollte sie mir in ihrer Freude danken, daß ich sie auf den Ball führte, und daß ich mein Landgut verkauft und mich mit ihr in die Stadt zurückgezogen hätte, und daß sie infolgedessen so viel tanzen könnte, und wollte mich dafür umarmen, das Ding. Aber da fiel ihr wieder ein, daß sie ihr Ballkleid und alles schonen wollte, und sie erstarrte wieder, wie Lots Weib. Und nur das Köpfchen bewegte sich, so saß sie da.“

Der kleine Lugau setzte sich auf den nächsten Stuhl und spielte seine Nichte.

„Ha, ha, ha!“ lachte Rutenberg, der sonst ein so ansteckend herzfröhliches Lachen hatte, mit unnatürlicher Heftigkeit auf. „Sehr gut, sehr gut! – Eilen wir zu Ihrer Nichte!“ – Er raunte geschwind noch einmal in Gertruds Ohr; sie war aufgestanden. „Ueber Nacht, hoff’ ich, kommt Vernunft!“

Den Trotzkopf ein wenig wendend, antwortete sie leise: „Wie du es meinst, nie, nie, nie!“

Er hörte, wie sie ein tiefes Schluchzen erstickte. ‚Der Ball fängt gut an!‘ dachte er. Ihm selber tanzte es vor den Augen. „Kommen Sie,“ sagte er und nahm Lugaus Arm. „es soll ein recht fideler, feiner Abend werden. Uebrigens, die Polonaise müssen Sie mitmachen, da hilft Ihnen kein Gott! – Ein fideler Abend! Hab’ mich lange darauf gefreut –“

„Ich weiß, ich weiß,“ fiel Lugau ein; sie traten schon in den Salon. „Glücklicher Vater –!“

„Ja, ja!“ stieß Rutenberg hervor und lachte. „Glücklicher Vater! – Schweb’ voran, mein Kind, schweb’ voran …“

[703] Gertrud folgte seinem Wunsch, mit noch immer versteinertem, nach einem Lächeln ringendem Gesicht. Jetzt sah sie aber die ersten Gäste, im strahlend hellen großen Saal. Mit dem Tod im Herzen! dachte sie noch einmal, dann fühlte sie, sie hatte gesiegt, sie konnte wieder lächeln. Und von ihm lass’ ich nie! war ihr letzter persönlicher Gedanke. Von nun an war sie nur noch eine junge Dame aus der guten Gesellschaft, die einen Ball giebt, ihren ersten Ball. Sie stürzte sich ins Leben hinein.

Die Säle füllten sich rasch, Gäste über Gäste kamen. Auch Schilcher, in Frack und weißer Krawatte, stieg seine Treppe hinunter; er pfiff sich ein Liedchen. Er hatte eigentlich einen stillen, grimmigen Haß auf diese geschniegelten und gebügelten Tanzfeste, aber heute freute er sich mit aller Gewalt, weil seine Trudel sich freute. Ihm war nun wie wenn er aus einem Traum erwachte, als er bei Rutenbergs ins Vorzimmer kam und dort Doktor Wild stehen sah, der eben seinen Ueberzieher abgelegt hatte und vor den Spiegel trat, um an seiner kleinen schwarzen Halsbinde zu rücken. Schwarze Krawatte? fragte er sich. Wild in schwarzer Krawatte? – Gut, daß ich das noch gesehen habe. Man kommt also heute schwarz!

Der kleine, so oft zerstreute Herr trat geschwind zurück. Wild hatte ihn doch noch, im Spiegel, gesehen. „Schilcher!“ rief er. Schilcher hörte nicht mehr, wollte nicht mehr hören. Auf seinen noch immer sehr rüstigen Wanderbeinen stieg er die Treppe wieder hinauf.

Das hätt’ ich auch wissen können! dachte Wild, der Schilchers weiße Krawatte gesehen hatte. Wenn auch Rutenberg gestern sagte: „Es wird ein gemütlicher Familienabend“, ’s ist doch ein wirklicher richtiger Ball. Na, mir kann nichts geschehn! Immer vorbereitet! Er sah sich allein, die Gäste waren alle schon drinnen. Behaglich wie immer, sich Zeit lassend, nahm er die schwarze Binde ab, zog die weiße Binde, die er, schön in Seidenpapier gewickelt, stets in der Rocktasche hatte, aus ihrem Nest hervor und legte sie mit aller Sorgfalt um. Niemand störte ihn. Er stand noch, sein Werk im Spiegel betrachtend, als der hurtigere Schilcher aus seinem Oberstock zurückkam. Wild wandte sich und sah den Oberappellationsrat sehr verwundert an, dessen weiße Binde war schwarz geworden.

Schilcher machte ein ebenso verdutztes Gesicht. „Was haben Sie da?“ fragte er. „Was ist das? – Wild, Ihre Krawatte war ja doch eben schwarz?“

„Ja was haben denn Sie gemacht?“ fragte Wild dagegen. „Sie waren weiß und sind schwarz geworden?“

„Aha!“ sagte Schilcher dem ein Licht aufging. „Weil Sie mich – – weil ich – –“

„Nun ja!“

„Darum haben Sie – –“

„Und Sie auch!“ gab Wild zurück. Sie brachen beide in Lachen aus. Wild hell, Schilcher tief.

Rutenberg, der als Hausherr alle Gesichter begrüßt, alle Hände gedrückt hatte – Spießrutenlaufen! war sein Gefühl – hörte dieses lustige, wohlbekannte Lachen aus dem kleinen Vorsaal, durch die jetzt offene Thür, und kam heraus. „Was habt ihr?“ fragte er, mit seinem krampfhaft heitern Gesicht. „Worüber lacht ihr?“

Wild trat auf ihn zu: „Das ist die Geschichte von einer schwarzen und einer weißen Krawatte …“ Er lachte wieder.

„Wie können Sie mich so konfus machen!“ rief nun Schilcher aus. „Ich war ja in Ordnung! Heute ist ja Ball!“

Er ging wieder aus der Thür, ins Treppenhaus, und man hörte ihn auf seinen Stufen.

„Schwarze und weiße Krawatte,“ sagte Rutenberg zu Wild „… ich verstehe kein Wort.“

„Das verdeutsch’ ich dir später,“ entgegnete der Doktor dem die humoristischen Augen glänzten, „jetzt muß ich in die Festsäle, Rutenbergs schöne Tochter anschauen und die andern Schönen.“ Im sicheren Hochgefühl der vorschriftsmäßigen Krawatte … Dieser Schilcher!

Noch einmal auflachend ging er in den Vorsaal und weiter. Rutenberg sah ihm nach, zum erstenmal im Leben mit einer Art von Neid; wie diese Leute lachen können! dachte er. Die haben keine Töchter! – Ihm war, als hätte er in seinen Sälen und Zimmern tausend Menschen gesehen, und mit allen tausend gesprochen. Und so ums Herz herum lag ihm das Gefühl: wär’ es erst vier Uhr morgens und ich läg’ im Bett!

Wo bleibt Schilcher? durchfuhr ihn dann wieder. Wo bleibt dieser Schilcher? – Sein Unglück, deuchte ihm, war erst halb, solange er es nicht mit Schilcher geteilt hatte. Die Unruhe in ihm ward zu groß, er ging aus seiner Wohnungsthür hinaus und stieg die halbe Treppe hinan. „Schilcher! Schilcher!“ rief er, da er endlich ein paar Stiefel oben knarren hörte.

„Komme schon, komme schon!“ rief der etwas holzige Baß zurück. Schilcher kam herunter. „So,“ sagte er heiter und deutete auf seine weiße Krawatte, die er wieder angelegt hatte, „so, jetzt kann ich tanzen! – Was ist dir? Was treibst du dich hier draußen herum? – Du stöhnst?“

„Es ist aus, Schilcher“ seufzte Rutenberg.

„Na na na! – Was ist aus?“

„Ich war zu glücklich, Schilcher“, sagte Rutenberg und ergriff ihn am Arm. „Nennt mich nicht mehr glücklich! Ich bin ein geschlagener Mann. Ich bin vernichtet, Schilcher –“

„Oha! Was ist denn geschehn?“

„Gertrud – – das glaubst du nicht!“

„Nun? Was ist mit ihr?“

„Meine – unsere Gertrud –“

Brink erschien unten an der Treppe, auf der sie noch standen. Sein sorgenvolles Gesicht schaute hinauf: „Fräulein Gertrud läßt fragen, Herr Rutenberg, ob man noch nicht anfangen soll, zu tanzen.“

„Tanzen!“ rief Rutenberg. „Natürlich! Gewiß! Gewiß soll man tanzen! Musik, Ball – nur vorwärts!“

Brink ging in die Wohnung zurück. „Du bist ja wieder in einer deiner schönsten Aufregungen,“ sagte Schilcher mit seiner regungslosen Kaltblütigkeit, denn sobald er den andern überschäumen sah, ward er selber noch ruhiger. „Was giebts also? Unsere Gertrud –“

„Unser ,Kamerad‘! unser Mitmensch! Meine kluge, feine, romantische, schwärmerische Tochter – Schilcher, es ist zu viel!“ – Er packte wieder seinen Arm und drückte ihn.

„Es wär aber doch besser,“ raunte Schilcher der still hielt wie eine Puppe, „du sprächst dich aus, als daß ich gar nicht erfahre, was los ist. Also was hat Gertrud –“

Unten an der Treppe ward es wieder lebendig; diesmal kam der schlanke, hochbeinige Arthur van Wyttenbach aus der Rutenbergschen Wohnung heraus, mit seinem leichten Geschwindschritt. Er lächelte etwas aufgeregt, aber höchst verbindlich „Entschuldigen Sie Herr Rutenberg! Ich komme im allerhöchsten Auftrag!“

Schilcher fühlte an seinem Arm, wie Rutenberg zuckte, er hörte ihn auch ein paar Silben murmeln, die er nicht verstand. „Sie wünschen, Herr van Wyttenbach?“ fragte dann aber der Hausherr mit äußerster Höflichkeit.

„Ich komme im Auftrag der Damen, sie wollen selbstverständlich die Polonaise nicht anfangen, so lange nicht der Hausherr – der ewig junge – –“

Rutenberg stieß wieder einen unverständlichen Laut aus. „Die Polonaise!“ rief er dann. „Natürlich … Was mach’ ich denn, ich vergesse die Polonaise, die ich anführen soll. Na, das ist denn doch – – Ich komme! Ich komme!“

„Die Damen werden glücklich sein!“ rief Wyttenbach hinauf.

Rutenberg stieg eine Stufe hinunter, dann wandte er sich zu Schilcher zurück. „Diesen deinen Hansquast da,“ flüsterte er, „den liebt unsre Gertrud. Verstehst du. Und wenn sie ihn nicht heiraten soll, will sie nicht mehr leben … Ich komme!“ wiederholte er, überlaut, mit einer wilden Heiterkeit, die gar keinen Sinn hatte. „Auf zur Polonaise! –“ Mit ein paar Sprüngen war er unten und stürmte mit dem graziös lächelnden Wyttenbach in sein Vorzimmer hinein.

8.

Die Musik hatte längst begonnen, durch die noch offen gebliebene Wohnungsthür konnte man sie hören. Schilcher stand immer noch auf derselben Treppenstufe. Er rührte sich nicht. Im Anfang war er wie betäubt, dann lehnte er sich dagegen auf, wie gewöhnlich. Endlich glaubte er kein Wort mehr, oder stellte sich doch, als glaube er keins. So ein Unsinn, brummte er vor sich hin. Rutenberg phantasiert. – Das phantasiert Rutenberg. So was giebt’s ja nicht …

[704] Allmählich zog er aber doch sein Taschentuch hervor, und obwohl es auf der Treppe durchaus nicht heiß war – im Gegenteil, ihn begann zu frieren – rieb er sich die Stirn mit dem Tuch, und die beiden Schläfen. Er horchte auf die Musik und dachte: Vorhin ging dieses Mädel beständig „auf das offene Himmelsthor“. Gott in deinem Reich! Wenn dieser Bengel ihr Himmelspartner wäre …

Auch über ihn kam nun doch eine böse Unruhe; er ging die Stufen hinunter, trat in Rotenbergs Wohnung ein und machte die Thür hinter sich zu. Heute hatte er einmal gedacht, er, der nie getanzt hatte, es ist Trudels Ball, ich werde vielleicht grotesk und mache die Polonaise mit! Das war ihm nun gründlich vergangen, er wäre am liebsten gleich wieder in sein Nest gekrochen, als „einsamer Spatz“. Er drückte sich am Ballsaal vorbei, flüchtete in das Bücherzimmer, das man für heute zum Spielzimmer gemacht hatte. Hier war er wenigstens allein, alles „promenierte“ in der Polonaise, und der Zug war hier schon durchmarschiert und kam nicht wieder. Sich in eine Ecke setzend, die grimmigen Brauen heruntergezogen, die schmalen Lippen ineinandergepreßt, saß er mit seinem holzigsten Gesicht unbeweglich da, bis die Musik ein Ende gemacht und wenigstens dieser Unsinn – einer von vielen auf der Welt! dachte er – aufgehört hatte.

Lugau und Wild, die Whistbrüder, kamen miteinander herein; sie wunderten sich nicht, den dritten Mann schon vorzufinden, und zwar in seiner gewohnten Ecke. „Mit dem Gänsemarsch wären wir fertig!“ sagte Doktor Wild zufrieden. „Jetzt wär’ also die Zeit gekommen, einen kleinen Robber zu machen, Schilcher, treten Sie an!“

[705] Schilcher antwortete nichts; er mochte noch nicht sprechen.

„Gesehn haben wir alles,“ sagte Lugau und rieb sich die weichen, gepolstertes Hände. „Die hübschen Toiletten und die hübschen Gesichter und die mageren Schultern. Jetzt belohnen wir uns durch ein stilles Whist!“

Er setzte sich an den nächsten Spieltisch. Wild trat auch hinzu. „Schilcher!“ rief er.

„Ja, ja,“ antwortete der, wie aus dem Schlaf geschreckt. „Nein, nein, wollt’ ich sagen. – Ich war ja noch gar nicht im Saal; hab’ noch keinen Menschen gesehn – nicht einmal –“

Nicht einmal die Gertrud, wollte er sagen; die blieb ihm aber plötzlich in der Kehle stecken.

„Das können Sie später,“ bemerkte Wild, „erst ’nen Robber, Schilcher. Kommen Sie her!“

Lugau breitete schon die Karten über den Tisch; dabei schaute er sie verwundert an. „Wer hat denn die Karten schon aus dem Umschlag genommen?“ – „Thut nichts, jungfräulich sind sie. – Ziehn Sie aus, meine Herren; wer den Strohmann hat.“

Aus Schilcher fuhr jetzt die Unruhe heraus, die er so lange in sich hinabgedrückt hatte, „hm!“ brummte er seufzend vor sich hin. Fast hätte er „unsre Trudel!“ gesagt.

„Was brummen Sie?“ fragte Wild.

„Nur so zum Vergnügen,“ gab Schilcher zur Antwort, der sich schnell wieder an die Leine nahm. Er stand auf, trat an den Tisch und zog wie die andern seine Karte aus. Nein, dachte er, in dieses Affentheater, wo verliebte Leute herumspringen gehe ich jetzt nicht …

[706] Die niedrigste Karte hatte Lugau gezogen…. „Lugau hat den Strohmann!“ sagte Wild und nahm neben ihm Platz. Schilcher begab sich auf die andre Seite. Während er sich in seiner geräuschlosen Weise setzte, nahm Lugau die Karten und fing an zu geben. „Uebrigens,“ fuhr Wilds helle, heitere Stimme fort, „ich muß sagen, Gertrud Rutenberg und der junge Wyttenbach sind das hübscheste Paar im Saal … Was haben Sie?“ fragte er, da Schilcher plötzlich aufstand.

„Ich?“ murmelte Schilcher. „Mir war, als läge da was Spitzes auf meinem Stuhl. – Nein, da liegt nichts.“

„Nein, da liegt nichts,“ bestätigte Lugau, der sich vorgebeugt und einen scharfen Landmannsblick hingeworfen hatte. Schilcher setzte sich, wie beruhigt, wieder hin. Lugau gab weiter. „Als ich noch Gutsbesitzer war,“ begann er dabei zu plauschen „spendierte ich auch einmal so ’nen Ball, nach Weihnachten einer andern kleinen Nichte zu Ehren, die sich verplempert hatte –“

Dem heute so komisch unruhigen Schilcher gab’s schon wieder einen Ruck. „Verlobt, mein’ ich,“ verbesserte sich Lugau. „Denselben Tag hatten wir fünfzehn Grad unter Null und einen ganz barbarischen Ostwind dazu. Da kam so einer von den jungen Herren, dem waren – ungelogen – dem waren beinahe die Hände abgefroren. So rot waren sie –“

Er streckte unwillkürlich seine Hände aus. Als er sie dann sah, zog er sie allerdings wieder zurück. „Ach was!“ sagte er, über sich selber lächelnd. „Knallblaurot waren sie, will ich sagen.“

„Spielen Sie ihn uns nur vor,“ rief Wild, „mit den roten Händen!“

Schilcher nickte, indem er wie die andern seine Karten aufnahm. „Ja, und machen Sie uns die fünfzehn Grad unter Null vor –“

„Ich glaube, das kann er!“ rief Wild. „Ein Thermometer kann er gewiß ganz vorzüglich spielen!“

„Meine Herren Spottvögel,“ entgegnete der Domänenrat, „ich kann auch Whist spielen, und das gar nicht übel, Ihrem respektiven Portemonnaie ist das ja bekannt … Er deckte die Karten des Strohmanns auf. Dann, nach einem kurzen Feldherrnblick auf sie, klopfte er mit einer der Anlegmünzen auf den Tisch, zum Ausspielen auffordernd. Bitte, meine Herren, wenn’s gefällig ist!“

„Also, zum Werke, das wir ernst bereiten,“ sagte Wild und spielte aus. „Ohne weiteres Trumpf!“

„Mir auch recht,“ erwiderte Lugau und spielte für den Strohmann aus.

Die Musik begann wieder, jetzt war’s ein Walzer. Schilcher horchte einen Augenblick; ihm fuhr die Melodie nicht in die Beine, sondern in den Arm, wie wenn er jemand prügeln möchte. Ich wollte, dachte er, ich könnte dieses Süßholz van Wyttenbach – –

„Den hau’ ich auf den Kopf“ sagte er grimmig, als meinte er den Trumpf auf dem Strohmann, und warf seine Karte hin.

Einen Augenblick später kam etwas Dunkles in die Thür, die zum Salon führte. Rutenberg trat auf die Schwelle. Die große, breite Gestalt kam nicht frisch und elastisch wie sonst, sondern müde, als wär’ schon der ganze Ball vorbei und die Nacht herum. Er trocknete sich die Stirn, als hätte er sich bei wildem, dahinrasendem Tanz erhitzt. „Du auch schon da?“ fragte Wild, während Lugau nachspielte.

Rutenberg antwortete nicht. Er warf dafür einen so sonderbaren, verstörten Blick zu Schilcher hinüber, daß dieser aufstand, er wußte selbst nicht, warum. „Na?“ fragte Lugau verwundert, da der Mann sich erhob, statt, wie es seine Schuldigkeit war, wieder auszuspielen. „Schilcher, es ist Ihr Stich!“

„Ja, ja,“ brummte Schilcher. Jetzt stand aber schon der Hausherr bei ihm und faßte ihn am Arm. „Verzeiht!“ sagte er zu den andern – einen Augenblick! – Er zog den kleinen Oberappellationsrat zu seinem Wohnzimmer hin; die Whistspieler sahen ihm sehr betroffen nach. „Schilcher!“ flüsterte er, als er ihn dort hinter die Thür gedrängt hatte. „Schilcher, ich bin hin!“

„Ich noch nicht,“ raunte Schilcher; er ward nun wieder ruhig, da der andere überfloß. – „Es ist wirklich so?“

Rutenberg seufzte… „Ja, es ist so, Schilcher. Amor, der blinde Gott! Sie sieht ihren Arthur für ’nen Engel an. Leben und sterben will sie mit ihrem Arthur. – Schilcher! Schilcher! Haben wir das um das Kind verdient?“

„Einer von euch muß nachgeben,“ sagte Schilcher trocken. „du oder sie.“

„Ich?“ fuhr Rutenberg auf. „Lieber tot!“

Sie hörten, wie nebenan die Whistbrüder mit den Spielmünzen auf den Tisch klopften, zuerst ungleich, dann im Takt. „Was hat dieser Hausherr?“ fragte Lugau laut. Noch lauter sagte Wild, die Stimme hebend: „Wie ein vernünftiger Mensch so ’ne Spielpartie unterbrechen kann, ist mir unverständlich!“ – „Lugau! Was liegt unten? Schwarz oder rot?“

„Rot,“ sagte Lugau.

„Schwarz!“ entgegnete Wild.

„Sie fangen an, Abheben zu spielen,“ flüsterte Rutenberg. „Sie werden höllisch ungeduldig.“

„Laß sie,“ brummte Schilcher. „Haben Zeit bis morgen früh. – Also, wenn du nicht nachgeben willst, dann muß sie nachgeben. Ein drittes giebt’s nicht.“

Rutenberg seufzte leise. „Mit Gewalt? Unmöglich! Sie hat ihres Vaters Kopf! Gewalt macht sie hart wie Stein; macht sie wahnsinnig, Schilcher. Und ich will ja doch mein Kind nicht zu Grunde richten –“

„Ich auch nicht,“ ergänzte Schilcher.

„Da tanzen sie!“ flüsterte Rutenberg und horchte auf die weiche, wogende, wiegende Musik. „Da tanzt nun diese kleine Blinde mit dem Tod im Herzen …“

„Wird ja nicht,“ sagte Schilcher leise, immer trockener. – „Gegenmittel!“

„Ich weiß keins!“ stöhnte Rutenberg verzagt und warf sich auf einen Stuhl.

Schilcher lächelte, aber nur so mit den Augen. Er trat neben den gebrochenen Riesen und beugte sich ein wenig über ihn hin, beinahe wie eine Mutter über ihr krankes Kind. „Abreisen,“ sagte er dann langsam.

„Abreisen?“

Schilcher nickte stumm, legte aber seine Augen so recht auf die des andern und rieb sich die Hände.

Auf einmal belebt sprang Rutenberg wieder auf. „Mensch“ sagte er, indem seine blauen Augen zu leuchten begannen, „Mensch, da hast du recht! Du hast ja recht, alter Schilcher. Abreisen – Trennung von dem ,Engel’ – Entfernung – andre Eindrücke – schöne Gegenden – Menschen – o wie hast du recht! – Es wird uns hier auf einmal zu kalt, zu nordisch, zu winterlich, wir sehnen uns nach dem Süden, wo es jetzt im November noch schön ist, wir sind junge Leute, wollen unser Leben genießen … O, wie hast du recht! In aller Liebe und Güte fahren wir mit dem Schnellzug ab … Geh’ an deinen Spieltisch, Schilcher. Ich hab’s. Ich bin wieder glücklich!“ Er schob ihn vergnügt von sich weg. „Geh! Geh!“

„Nu also!“ schmunzelte Schilcher. Weiter sagte er nichts mehr; er trat in das Bücherzimmer zurück und an seinen Platz.

Wild trommelte eben auf den Tisch. „Kann man jetzt die Ehre haben, Herr Oberappellationsrat Gottfried Schilcher, Sie ausspielen zu sehn?“

„Trumpf ist ’ne gute Farbe,“ sagte Schilcher ruhig und spielte aus. Die andern murrten nicht mehr, sie fragten auch nicht. Sie kannten ihren Rutenberg, das „alte Quecksilber“. Sie bedienten, man spielte weiter.

Ja, ja, Trudel, dachte Rutenberg im andern Zimmer, noch in seinen Stuhl gelehnt, von Herzen liebevoll lächelnd, abreisen! So wird’s! – Die alte Fabrik kann mich wohl entbehren. Na, und wenn sie auch nicht könnte, sie muß. Ein Vater, dem so ’ne Stunde schlägt, der muß alles hergeben, alles, alles dransetzen Zeit, Geld, Ruhe – um seinem Kind zu helfen – um ihr Glück zu retten. Alter, du hast recht …“

Er mußte das dem Alten selber sagen, auf seinem einsamen Platz litt es ihn nicht mehr. Mit drei Schritten war er im Spielzimmer, trat zu Schilcher und zog ihn wieder vom Stuhl empor und zwischen den Tischen entlang. „Glaub’ mir, Schilcher,“ flüsterte er zu dessen Ohr geneigt, „ich kenne meine Pflicht! Hab’ hundert Väter gesehn, die in so ’nem Fall nicht zum Ziel kamen, oder dran vorbei, weil’s ihnen am Herzen fehlte oder am Kopf, weil sie mehr an ihr liebes Ich dachten, [707] Schilcher, als an ihr Kind! Ich will es erreichen, Alter, oder ich will draufgehn. Ich will der Welt einmal zeigen, was ein Vater zu thun hat und ich will nicht eher wieder für mich selber leben, als bis ich dir sagen kann Schilcher, es steht gut!“

„Habe nichts dagegen“, murmelte Schilcher und drückte ihm die Hand.

„Wir gehn nach Italien,“ fuhr Rutenberg in seinem Eifer fort „möglichst weit, weit, an den Golf von Neapel, gleich vom allerbesten! Und müßt’ ich den ganzen Winter im Ausland bleiben –“

Mit einer jähen Bewegung hielt er inne, er sah Gertrud, sie stand in der Salonthür. Die Musik hatte schon eine Weile aufgehört, er hatte es nicht bemerkt. Das Mädel machte ein ernstes Gesicht; sie schien zu denken, indem sie die beiden Männer so eigen ansah, er hat ihm alles erzählt!

„Ich muß mich nämlich über Onkel Schilcher wundern,“ sagte Gertrud, sich gegen die Thür lehnend „darum komm’ ich her. Du hast uns noch gar nicht angesehn. Die jungen Damen sind alle empört. Das soll ich dir sagen. Hab’s nun ausgerichtet.“

Schilcher verneigte sich. „Jetzt kann er nicht kommen,“ rief Wild aus, dem die Ungeduld und die Empörung in den Augen brannte. „Er hat zu bedienen. Schilcher, werden Sie nun gefälligst endlich die große Güte haben, zu bedienen, oder nicht?“

Schilcher verneigte sich auch gegen ihn. „Und dann soll ich noch sagen,“ fing Gertrud wieder an „auch Herr Rutenberg wird sehr vermißt, sowohl von den jungen wie von den alten Damen.“

„Ja, ja,“ stieß Rutenberg heraus. „Mein Benehmen als Hausherr … Eure nichtswürdige Spielpartie!“ Damit war er an dem Kind vorbei aus der Thür.

„Jetzt beschuldigt er uns,“ sagte Wild, dem die Augen noch mehr als sonst aus dem Kopf hervortraten, „das ist ein starkes Stück!“

Es sollte aber noch schlimmer kommen: der Störenfried Rutenberg war kaum hinaus, so trat seine Tochter heran, fing den Onkel Schilcher auf, der zu seinem Platz ging, und zog ihn mit sanfter Gewalt in den Salon hinein. Die Whistspieler sahen ihr sprachlos nach. „Vater, bitte, auf einen Augenblick!“ sagte das Mädel, während sie so resolut mit dem Alten abging.

„Womit kann ich dienen?“ fragte Schilcher, in sein Schicksal ergeben.

„Ich will dir nur sagen,“ flüsterte Gertrud, „da du jetzt offenbar alles weißt –“

Er nickte.

„Mach dir keine Illusionen, du; und Vater auch nicht. Und sag’ Vater, bitte, tief, tief hat er mich verwundet und er soll nicht glauben, daß ich, weil ich jung bin – – nie lass’ ich von Arthur, nie!“

„Werd’s ihm ausrichten,“ sagte Schilcher sanft.

„Nie!“ wiederholte sie noch einmal, ließ ihn los und lief fort, in den großen Saal zurück.

Schilcher ging stumm zu seinem Platz. „Kann jetzt gerobbert werden?“ fragte Lugau, der mit seinen kurzen Fingern den Radetzkymarsch auf dem Tische spielte.

„Jawohl,“ erwiderte Schilcher. Er setzte sich, sie spielten eine Weile weiter. „Diesen Buben stech’ ich!“ rief Schilcher plötzlich mit einer Art von grimmiger Wollust und warf seinen König auf den Strohmanns-Buben.

Das war übrigens noch nicht lange geschehen, so hörte er wieder Schritte hinter seinem Stuhl, an einem gewissen starken, erregten Atmen merkte er, es war Rutenberg. Der schon wieder da! – Gott helf‘! dachte Schilcher. „Na?“ sagte es jetzt hinter ihm. „Ihr spielt noch immer?“

„Noch immer!“ rief Wild und blickte zum langmütigen Himmel auf. „Gerechter Gott!“

Er spielte aus, es nützte aber nichts. „Nur noch ein Wort, Schilcher“ sagte Rutenberg, „bitte um Pardon, ihr Herren!“ – Der kleine Schilcher saß schon nicht mehr, der ruhelose Hausherr hatte ihn emporgezogen. „Was ich noch sagen wollte,“ sprach Rutenberg ihm ins Ohr, indem er ihn hinausführte, „es ist mir eben eingefallen, und es sitzt mir hier auf der Brust. Mann, du mußt mit!“

„Nach Italien?“

„Ja! – Ja, mein Alter, nicht ohne dich!“

Schilcher warf einen Blick über die Schulter, nach dem Spieltisch zurück, einen wehmütigen als wollte er sagen: das aufgeben? – Rutenberg bemerkte das wohl und streichelte ihn am Arm „'s geht nicht ohne dich! – Du bist ja frei, mein Alter, du hast nichts zu thun. Gott sei Dank, daß du deinen Abschied genommen hast, als die neue deutsche Gerichtsordnung kam, damals that mir’s leid; jetzt segn’ ich es, Schilcher! Und wozu hast du dein ganzes Leben lang Italienisch getrieben, auch das segn’ ich jetzt. Du bist ja unsre Grammatik, unser Dolmetsch, unser Lexikon. Was sind wir ohne dich? rein gar nichts. Du und ich miteinander, wir retten unsre Gertrud. Du mußt!“

„Wenn ich muß, dann muß ich,“ antwortete Schilcher kurz. Er regte sich weiter nicht. – Rutenberg drückte ihm die Hand, streichelte ihn wieder. – „Kann ich jetzt spielen?“ fragte Schilcher, nachdem er diese Liebkosung ruhig hingenommen hatte.

„Ja!“ sagte Rutenberg laut, mit einem strahlenden, dankbaren Lächeln, und schob ihn gegen das Bücherzimmer zu. Dann ging er mit großen Schritten zum Saal, wo sie wieder tanzten.

Der Oberappellationsrat außer Diensten kehrte schweigend an seinen Platz zurück, hob seine Frackschöße und setzte sich. Wild nickte ihm boshaft freundlich zu: „Ueber so eine gemütliche Spielpartie geht nichts! – Wollen Sie jetzt die Güte haben, verehrter Freund, zu bedienen?“

„Natürlich,“ sagte Schilcher. Er spielte aus, unwillkürlich auf italienisch: „Ecco!“

Lugau sah ihn nun doch etwas verwundert und neugierig an. „Was hatten Sie denn mit Vater und Tochter; wenn man fragen darf?“

Mit seinem ehrenwerten Ernst antwortete Schilcher: „Einige kleine Arrangements für den Cotillon.“

„Seit wann helfen Sie Cotillons arrangieren?“

„Nun, man bildet sich doch, wenn man älter wird,“ sagte Schilcher sanft. Er spielte wieder aus, er hatte noch ein paar gute, siegreiche Karten: „Da! Und da!“

„Wir haben zwei Trick,“ bemerkte er dann vergnügt zu Wild hinüber.

„Drei!“ rief Wild.

Lugau hob drei Finger.

„Bitte um Entschuldigung,“ erwiderte Schilcher. „Habe nichts dagegen.“

„Wild, Sie geben,“ sagte Lugau. „Ich gebe.“

Wild nahm die Karten.

[718]
9.

Die letzten Monate des Jahres 1880 waren im südlichen Italien so schön, wie man sie auch dort nicht oft wiederfindet; wer damals im Süden war, wird es nicht vergessen. Rutenberg, Schilcher und Gertrud, drei Tage nach dem Ball gen Bozen, Rom, Neapel aufgebrochen (die Tante blieb zu Hause; sie liebte das Reisen nicht, auch verstand sie mit Gertrud sich nicht immer gut), fast vier Wochen waren sie nun schon unterwegs, man schrieb Dezember: noch hatte nicht eine regnerische, ja nicht eine umwölkte Stunde das reine, herbstmilde Sonnengold abgelöst, das sich im Golf von Neapel in das Goldbraun und Rosaviolett der Berge, das Edelsteinblau der Buchten und das Silberweiß der friedlich spielenden Brandung verwandelte. In Sorrent, wohin sie sich vor dem Lärm von Neapel geflüchtet hatten, waren sie nicht in einem der großen Hotels bei der „kleinen Marine“ abgestiegen, die Schilcher zu „modern“ fand, sondern in einem vornehm gemütlichen, einer ehemaligen Villa, die ein wenig abseits, aber auch wie die andern auf der natürlichen, herrlichen Felsterrasse lag, welche das üppig gesegnete ebene Land in den Golf hinausschiebt. Hier verträumten sie nun schon vierzehn Tage: der Zauber dieser Spätherbstfrische über dem Meer ließ sie nicht los. Es war so schön, in dem immergrünen Garten der Villa am steinernen Bollwerk zu sitzen und vom steilen Fels, der wie eine Riesenmauer aufragt, in das vielfarbig tändelnde Wasser hinabzuschauen, oder über den Golf hinweg den dampfenden Vesuv und die duftigen Inseln und das langhingestreckte, traumhaft stille Neapel anzustaunen. Schön war es auch, auf der Felsentreppe – „wie ein alter homerischer Grieche“, sagte Schilcher – ans Meer hinunterzusteigen, von der Sonnenwärme lieblich angeglüht, und zwischen den Steinen reizende Muscheln oder antike Marmorstücke zu suchen oder fortzugehen und am Capo di Sorrento auf wunderbaren Trümmern einer altrömischen Villa, der leisen Brandung zu lauschen; oder auf die Höhen zu steigen und vom Rücken der Halbinsel herab die beiden Golfe zugleich zu genießen: den wilderen von Salerno, den weicheren von Napoli. Man mußte nur erst die langweiligen, aussichtslosen Mauerwege im Ort und oft weit hinaus überwunden haben, über die Schilcher den Kopf schüttelte, Gertrud seufzte und Rutenberg schimpfte; denn sie forderten nicht nur Geduld, sie führten auch oft krummbogig irre und nicht zum Ziel, sondern fast zum Anfang zurück. War man aber glücklich ins Freie und auf weitschauende Höhe gekommen, so war es diesen Nordländern wie ein Märchen, im Dezember hoch und frei bei blühenden und duftenden wilden Myrtenbüschen zu sitzen, auf zwei Meere hinabzuschauen, die ernste Rauchsäule des Vesuv im süßen Sonnenlicht zu sehen und nahe und ferne Gebirge, schimmernde und nebelnde Städte, kleine und große Felseilande und all das unvergängliche Grün des Südens im Auge zu fühlen, während ihre Landsleute daheim am Fenster standen und in undurchdringliches Schneegestöber starrten.

Es war schon der vierzehnte Sorrentiner Abend; Schilcher kam aus seinem Zimmer, das warm gegen Süden lag, und ging sachte pfeifend zum gemeinsamen Salon. Ihm gefiel eigentlich diese Lebensweise: spät „zu Mittag“ zu essen – im Grunde zu Abend – und dann noch ein paar Stunden gesellig beisammenzusitzen mit oder ohne Buch, plaudernd oder stumm, bis der Tag, an dem man so manches unter freiem Himmel erlebt hatte, hinter den Vorhängen des vor den Mücken Schützenden Himmelbetts in weichem Schlummer verging. Ihm fehlte nur jeden Abend das Eine, an das ihn die letzten zehn Jahre zu seinem Unglück gewöhnt hatten; die gemütliche Partie Whist …. Indessen seine Opferfreudigkeit erwachte wie gewöhnlich, als er den „Reisezweck“, wie er Gertrud zuweilen im Spaß gegen Rutenberg nannte, im Salon am Klavier stehen sah und eines der neapolitanischen Liedchen singen hörte, die sie von den Volkssängern gelernt hatte. Ihre Stimme klang so frisch, so jung – und so vergnügt. Die schlanke Person stand so kummerlos da. Er horchte recht andächtig und blieb an der Thür, aufrecht, bis sie die letzte Strophe herausgeschmettert hatte und die Begleiterin am Klavier, die gute, lange englische Dame, aufstand.

„Sehen Sie,“ sagte die Engländerin in ihrem vorsichtig langsamen, die Worte zusammensuchenden Deutsch, „wie gut haben Sie jetzt dieses Lied gesungen Entzückend, wirklich!“

„Ich war selbst ganz erstaunt,“ antwortete Gertrud heiter und wiegte sich auf den Zehen: „vieles sang ich richtig!“

„Alles, alles!“ behauptete die gute Dame.

Gertrud nickte ihr dankbar zu: „Sie begleiten so gut, gnädige Frau, daß es einem schwer wird, falsch und schlecht zu singen. – Ich danke Ihnen so sehr!“

„O, es ist ein großes Vergnügen, wenn man kann nützlich sein. – Noch ein Lied? La bella Napoli?“

[719] Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich danke! Will noch etwas lernen. Italienisch! Ich bin noch so dumm!“

Sie legte die Noten zusammen, trat an den großen runden Tisch, auf dem neben allerlei Zeitungen und Heften ihre kleine italienische Grammatik lag. Die Engländerin schlug noch leise eine Melodie an, die der andächtig horchende Schilcher nicht kannte; dann stand sie auf, warf einen Blick durch die Glasthür auf den großen Balkon und in die blaue Nacht hinaus und ging durch die Korridorthür davon.

Schilcher setzte sich an den runden Tisch; es machte ihm Vergnügen, so ganz unvermerkt der Trudel zuzuschauen, wie sie sich mit ihrer siebzehnjährigen eckigen Grazie bewegte. Als sie sich in ihr Buch vertiefte, kam aber die wehmütige Erschlaffung über ihn, die bis jetzt keinen Abend ausblieb. Er sah im Geiste den dicken Lugau vor sich, wie er Karten gab, und Wild, wie er sie aufnahm und die Augen groß machte. Mit einem ganz leisen, verstohlenen Seufzer fing er an, die Daumen übereinander zu rollen. Ihm gegenüber, auch am Tisch, saßen zwei Damen, die er sogleich für Lugau und Wild hingegeben hätte, alte, vertrocknete, auffallend hagere und häßliche Geschöpfe, so häßlich, daß man sie immer wieder anschauen mußte; die eine las und die andre stickte.

Ein Herr, der mit seinem Fernglas an der Fensterthür stand und schräg auf den nächtlichen Golf hinaussah, ein Amerikaner schob sein kleines Rohr jetzt zusammen und kam, ernsthaft und zutraulich wie immer, auf den träumenden Schilcher zu. „Der Vesuv glüht heute abend wieder sehr stark,“ sagte er in recht gutem Deutsch, mit seiner ruhigen, freundlichen Bestimmtheit.

„So?“ entgegnete Schilcher. „Hab's noch nicht bemerkt.“

„Es fließt wieder neue Lava aus.“

„Schön“, sagte Schilcher.

Das ist doch merkwürdig, dachte er dann, dieser Mann wirkt doch regelmäßig wie eine Zuckerdose auf mich, die man langsam auf und zu macht. Ich komme immer ins Gähnen! Er gähnte auch schon wieder, hinter seiner Hand, es war aber ein leiser Genuß darin. Danke! dachte er auch.

Der Amerikaner, als hätte er nur diesen Erfolg seiner Anwesenheit abgewartet, ging zwei Schritte weiter, zu Gertrud, die eben lächelnd von ihrer Grammatik aufblickte. Er sah auf seine Uhr: „Und Ihr Herr Vater ist noch nicht da?“

„Er kommt ganz gewiß,“ erwiderte Gertrud, um ihn zu beruhigen.

„Von Pompeji?“

„Nein, von Neapel.“

„Es kommt aber von Neapel jetzt am Abend kein Dampfer mehr –“

Gertrud fiel ihm freundlich lächelnd in die Rede: „Beunruhigen Sie sich nicht, Herr White. Er nimmt einen Wagen, denn er fährt zu Lande; und er kommt gewiß.“

„Der Vesuv glüht wieder stark“, bemerkte der Amerikaner.

„Ja,“ sagte Gertrud.

Herr White wandte sich wieder zu Schilcher: „Wollen Sie die neue Lava sehn?“ Gefällig wie immer hob er sein Fernglas.

„Ich danke“, antwortete Schilcher. „Sie wird ja noch ’ne Weile fließen.“

„O, ja!“ Der Amerikaner ging wieder zur Balkonthür mit seinem gleichmäßigen, festen Schritt, und schaute wieder durchs Glas hinaus. Im Salon war's still. Außer den beiden „Mumien“, wie Schilcher die alten Damen bei sich nannte, saßen nur noch zwei junge Deutsche an einem kleinen Tisch und spielten Domino. Schilcher sah ihnen wehmütig zu; ihm war, als hörte er Wilds helle Stimme sagen: „Wir haben drei Trick!“

„Amerei, ich würde lieben,“ begann Gertrud nur so mit den Lippen, kaum hörbar, aus ihrer Grammatik zu lernen. „Amersti, du würdest lieben; amerebbe, er würde lieben ; ameremmo, wir würden lieben …“

„Na, Trudel?“ fragte Schilcher mit gedämpfter Stimme hinüber, da das Mädchen eben aufschaute, als störe sie ein Gedanke im Lernen. „Bist ein bißchen müde?“

„Ich? Wovon?“ fragte sie zurück.

„Von unsrer großen Wanderung heute vormittag.“

„Aber Onkel Schilcher! Meine jungen Beine. Und in der himmlischen Herbstluft! – Du, mir scheint hier ist ewig Herbst!“

Er nickte: „Und zu Hause schneit's!“ – Und da spielen sie Whist! dachte er dann freilich, sagte es aber nicht.

„Nein, wie war's da oben auf dem Hügel schön!“ fuhr das Mädel fort. „Sieh, wie die Myrte an meiner Brust noch blüht. – Und wir saßen da wie auf einem Thron, die beiden beherrschten Golfe unter uns, der von Amalfi und Salerno rechts, der von Neapel links … Du, Onkel Schilcher, ich find’ aber eigentlich die Berge bei Amalfi schöner; gewaltiger, wilder, zerrissener; da ist Leben drin – Donnerwetter!“

„Das finden manche,“ sagte Schilcher, die Daumen rollend; „besonders junge Leute. Aber unsre Felsen hier sind stilvoller –“

„Glatter, geleckter,“ warf sie ein.

„Edler, vornehmer, aristokratischer! – Was ziehst du da aus der Tasche?“

„Die erste reife Orange!“ sagte Gertrud und hielt die goldgelbe Kugel in die Höhe. „Die hab’ ich heut’ nachmittag selbst vom Baum gepflückt; hier in unserm Garten; der Padrone kam und bot mir's an; du glaubst nicht, wie galant er war. Ich dankte ihm aber auch in meinem schönsten Italienisch; das „grazieflötete ich ordentlich. – Selbst vom Baum gebrochen, das ist doch Poesie, Onkel Schilcher!“

„Was wollt’ es nicht. – Sehr!“

Sie machte die Orange auf, um sie zu essen. „Willst du Halbpart?“

„Danke,“ erwiderte er. Nach einem still humoristischen Blick auf die alten Damen rückte er ihr näher und flüsterte: „Trudel, mir fehlt hier was.“

„Armer Onkel Schilcher! Die Whistpartie?“

„Auch. – Noch etwas.“ Er warf noch einen Blick auf die beiden Damen „Eine dritte Parze,“ flüsterte er.

Gertrud lachte leise. „Das sind keine Parzen,“ sagte sie dann ohne Stimme; „das sind die beiden neuesten Ausgrabungen …aus Pompeji.“

„So! – Wer hat dir das gesagt?“

„Die Dominospieler da.“

Sie löste jetzt ein Stück von der Orange und steckte es in den Mund; „o!“ rief sie dann aber. „Die Orange ist noch sauer. Diámine!“ – Die Engländerin vom Klavier trat eben wieder ein. „Sie hatten recht“, sagte das Mädchen lustig zu ihr hinüber: „diese schöne Orange hat keine schöne Seele.“

Na ja, dachte Schilcher: wie der schöne Arthur!

10.

Zusammengerollte Notenhefte in der Hand, kam Rutenberg vom Korridor in die Thür; er hatte sein jugendlichstes, lebensfrohestes Gesicht, wie in seinen besten Zeiten. „Guten Abend!“ meldete er sich. „Da bin ich!“

„Endlich!“ sagte Gertrud, stand auf und ging ihm entgegen. Ihn mit beiden Händen fassend, lehnte sie sich ein wenig an seine Brust; er lächelte sie an.

„Die kleinen Pferde liefen wie die Teufel,“ sagte er dann, halb zu Schilcher gewandt: „in anderthalb Stunden von Castellamare bis hier, vors Hotel. So am Golf entlang, in der lauen Nacht – eine Götterfahrt! Der Mond war noch nicht herauf, aber der Vesuv glühte wie eine Fackel. Und so dumpf, so geheimnisvoll rauschte das Meer unten an den Felsen –“

„Vater wird noch Dichter!“ warf das Mädel dazwischen, halblaut zu Schilcher hinüber. Rutenberg schlug ihr zart auf die Wange.

Die Engländerin fragte vom runden Tisch her: „Sie hatten einen schönen Tag in Neapel?“

„Einen Frühlingstag,“ antwortete Rutenberg. „Die Kerle schrieen auf den Straßen, daß es eine Lust war. Zwanzigtausend ungefähr haben mich angebettelt. Da hast du auch deine Noten, Kind!“

Er drückte dem Mädchen die Rolle in die Hand. „Danke,“ sagte sie. „Guter Vater!“

„Du, es war eine lange Jagd, bis ich diese neapolitanischen Lieder alle beisammen hatte. Dann noch drei Stunden im Museum, fleißig wie ein Professor!“

Der Amerikaner war von der Glasthür herangetreten; mit [720] seinem tiefen, sanften Ernst fragte er: „Sie haben auch die antiken Wandgemälde gesehn?“

„Alles, alles, alles. Bin sogar in die ägyptische Abteilung hinuntergeklettert, zu den Mumien und Isis und Anubis …“

Rutenberg blickte lächelnd auf seinen Schilcher, der so in sich versunken im Lehnstuhl saß und die Daumen übereinander rollte. Er trat etwas näher und dämpfte die Stimme: „Du! Schläfst du, Alter?“

„Nein,“ gab Schilcher zurück.

Rutenbergs leichtbeweglicher Kopf ging herum, er warf einen gedankenlosen Blick auch auf die alten Damen am Tisch. „Sehr merkwürdig,“ sagte er dann mit halber Stimme, „sehr merkwürdig sind die alten Mumien –“

„Um Gotteswillen!“ raunte der erschrockene Schilcher rasch. „Mensch, nimm dich in acht!“

„Warum?“ fragte Rutenberg erstaunt.

Mit dem Kopf auf die beiden Damen deutend flüsterte Schilcher: „Sie hören ja, was du sagst!“

Jetzt begriff Rutenberg und lachte. Er sagte leise, sehr vergnügt: „Ich sprach von den Mumien im Museum, Schilcher.“

„Ah so!“ Gertrud, die dieses kleine Zwiegespräch gehört hatte, ging leise lachend durchs Zimmer. Schilcher sah ihr nach. Zwischen Heiterkeit und Ernst murmelte er darauf: „In so ’ner Pension muß man vorsichtig sein.“

„Ja, das merk’ ich!“ sagte Rutenberg, der noch einen verstohlenen Blick auf die alten Damen warf. Seine Augen glänzten, als er dann flüsternd hinzusetzte: „Kuck, wie das Kind lacht!“

Der Amerikaner schob sein Fernglas zusammen und knüpfte an seinem Rock, er schickte sich offenbar an, den regelmäßigen frühen Rückzug in sein Schlafzimmer anzutreten. „Entschuldigen Sie,“ wandte er sich noch an Rutenberg. „Wie weit mag wohl der Vesuv in der Luftlinie von Sorrent entfernt sein?“

Rutenberg sann einen Augenblick. – „Ungefähr zwei deutsche Meilen, mein Herr.“

„Wieviel ist das in Kilometern?“

„Vierzehn bis fünfzehn.“

„Ich danke Ihnen. – Gute Nacht, mein Herr.“

Nach einer kopfnickenden leichten Verbeugung gegen ihn und die andern schritt er ehrenfest hinaus. Die Dominospieler hatten sich schon lautlos entfernt; die Engländerin nahm ihre Bücher vom Tisch. „Also morgen, gnädige Frau, wollen Sie nach Capri?“ fragte Rutenberg.

„Nein,“ erwiderte sie. „Erst übermorgen.“

„Da empfehl’ ich Ihnen als Schiffer und auch als Führer den Marinajo des Hotels, den Pasquale. Das ist ein Unikum, insofern er sogar leidlich deutsch spricht; er war mit einem reichen Deutschen jahrelang auf Reisen, und wie zu allem hat er auch zum Radebrechen Talent.“

Die Engländerin dankte freundlich. Sich zur Thür wendend lächelte sie ihrer jungen Sängerin zu: „Also morgen la bella Napoli, und die Rondinella!

Gertrud nickte: „Wenn kein Ohr uns hört!“

Die Dame hauchte noch ein Good Night und ging.

„Willst du noch essen, Vater?“ fragte das Mädchen.

„Nein, mein Kind. Ich aß unterwegs, in Castellamare. Die wunderbarsten Maccaroni meines Lebens.“

Er hielt inne, mit heimlich aufleuchtender Heiterkeit, da er nun auch die alten Damen aufbrechen sah. Glück über Glück! dachte er und nickte Schilcher schweigend zu. Gertrud, hinter Schilchers Stuhl, flüsterte auf ihn herunter: „Die beiden Parzen gehn fort.“

„Die Mumien,“ raunte Rutenberg.

„Die jüngsten Ausgrabungen,“ berichtigte Schilcher. Langsam rauschten die Damen, die nicht ahnten, wie interessant sie waren, auf den Korridor hinaus.

Rutenberg setzte sich vor Vergnügen, „Kinder,“ sagte er, „wir sind allein, das ist auch nicht übel! –“ Da öffnete sich aber schon wieder die Thür, ein vierter Mann trat ein. Es war diesmal keiner von den Gästen, sondern Pasquale, der Barkenführer, den Rutenberg soeben empfohlen, der die Drei schon manches Mal an den Ufern hin, zu den Felsgrotten, zur Punta della Campanella in seiner Barke spazieren geführt hatte. In der gelbbraunen Sammetjacke, den weichen schwarzen Hut in der gebräunten haarigen Hand, stand er wie ein ehrerbietiges Fragezeichen da, nickte dann aber seinem besonderen Freund, dem Schilcher, vertraulich lächelnd wie ein Amigo zu.

„Aha!“ sagte Schilcher. „Unser Marinajo, mein Pasquale. Treten Sie näher, Pasquale. wir sind unter uns. Was treiben Sie noch so spät im Hotel?“

Pasquale zuckte herzlich die Achseln, hob auch die braunen Hände ein wenig. In seinem gebrochenen Deutsch, das er, wo es not that, durch sein beredtes Gebärdenspiel ergänzte, fing er nach einer Art von Seufzer an: „Man will leben, Eccellenza. Wollte fragen, Eccellenza, was wir morgen machen. Eine kleine Spazierfahrt auf den Meer, zu die Thunfischer? Oder hinüber nach Capri?“

„Da werden wir morgen den Wettermacher fragen,“ gab Schilcher zur Antwort „Wenn gut Wetter ist –“

Pasquale streckte seine Hand wagerecht aus: „Morgen das Meer ist glatt wie meine Hand!“

„So! Wissen Sie das gewiß?“

Der Marinajo lächelte zuversichtlich: „Wenn Pasquale es sagt, dann können Sie vertrauen. Dann ist es gewiß!“

„Seeleute und Italiener,“ entgegnete Schilcher trocken, „haben immer den Herrgott in der Tasche. Amico mio, wir wollen doch lieber morgen den eigentlichen Wettermacher fragen. Schlafen Sie recht gut!“

Pasquales feines Ohr hörte in dem trockenen Ton die innere Gemütlichkeit, die Menschenfreundlichkeit, er verneigte sich und lächelte ein wenig. „Danke“, antwortete er. „lo stesso“, dasselbe. Also wie Eccellenza denkt. – Obwohl ich weiß, morgen Sie werden sagen: Pasquale ist ein braver Marinajo, hatte recht, der Pasquale –“

„Wenn ich das sagen werde, werd’ ich's morgen sagen. Heute nicht, Pasquale!“

„Wie Eccellenza denkt. – Meine Hochachtung vor den schönen Herrn und die schöne Dame!“

Er lächelte dem Vater und der Tochter zu, aber ohne Dreistigkeit, und während sie ihm Gute Nacht zuriefen, zog er sich mit vielem Anstand zurück.

„Hat dieser Sohn des Südens Verstand!“ sagte Rutenberg heiter, wegen des ’schönen’ Herrn. „Aber, im Ernst, wie kindlich pfiffig diese Kerle sind, diese Sorrentiner. – Meine Freunde, Neapel ist schön; Neapel ist sehr schön, aber es lebe Sorrent! Dieses friedliche, märchenhafte Gartenland auf dem Uferfelsen; diese vortreffliche Pension in der alten Villa; – Kinder, alles entzückt mich. Dieser gemütliche Salon mit dem Doppelblick – da schaut er aufs Meer, auf Neapel mit seinen Lichterreihen, auf den alten Vesuv hinauf, hier auf die Orangengärten und alles, was ewig grün ist. – Oder denkst du anders, Trudel? Hast du's hier satt, willst du wieder nach Neapel? Mir ist's recht. Mir kann nichts geschehen, hier bin ich glücklich, dort wär’ ich's. Sag du, was du willst!“

Das Mädchen blickte ihn flüchtig an. „Hier noch bleiben, Vater. Hier noch ’ne Weile so leben, wie bisher, auf die Berge klettern, italienische Lieder singen, am Ufer sitzen –“

„Und meerfahren,“ fiel Schilcher ein, „mit Pasquale, der uns gar so schön findet –“

„Dich hat er nicht schön gefunden, Onkel Schilcher,“ berichtigte Gertrud, indem sie ihm eine Hand auf den Kopf legte. – „Ich will mir eine Arbeit holen, ich komme wieder. – Hier noch bleiben! Hier!“

„Gut,“ rief Rutenberg. „So bleiben wir hier!“ Gertrud schwebte hinaus, der Vater folgte ihr mit den Augen, die noch immer lachten, als sie längst aus der Thür war. Endlich legte er sich beide Hände auf die Kniee und lächelte seinen Schilcher an. „Nun, was sagst du, Alter? Geht es gut, oder nicht? – Dein ‚Abreisen‘ war ein göttlicher Gedanke. Italien thut seine Schuldigkeit, schau dir das Mädchen an. Schau dir diesen Trotzkopf an, Schilcher, der sich damals aufs Sofa warf und beinahe erstickte: ‚Nein, ich will nicht fort! Nein, ich will nicht reisen! Ihr wollt mich nur von Arthur fortnehmen, aber von ihm laß‘ ich nicht, von ihm laß' ich nicht!‘ – [722] Immer heiterer wird sie. Die verweinten Augen, wie lustig jetzt. Die trotzigen verschlossenen Lippen, wie sie wieder lachen können. Sie singt. Sie scheint ihren Angebeteten, ihren Engel richtig zu vergessen. Heut’ haben wir Mittwoch in der vierten Wochen – na, und um von mir zu reden, ich kann dir nicht sagen Schilcherio mio, wie ich glücklich bin. Es war ’ne Dummheit, daß ich noch nie nach Italien reiste, aber die Dummheit belohnt sich jetzt, alles ist mir nun neu, alles wunderbar! Ich bin wie ein Junge, den der Vater auf die erste Reise mitnimmt –“

„Nur daß hier die Tochter den Vater mitnimmt –“

„Ja,“ lachte Rutenberg , „ja, das gute Kind! Alle Tage bin ich ihr dankbar, daß sie mich veranlaßt hat, nach Sorrent zu reisen! Du, wenn das so fortgeht, werd’ ich auch noch ihrem Arthur dankbar … “

Er sprang auf, stellte sich vor Schilcher hin und schüttelte ihn an beiden Armen. „Na, kurz, ich bin glücklich!“

„Du bist doch das richtige Gummibändchen,“ sagte Schilcher, der sich nicht rührte. „So eins für Pakete mein’ ich; sowie man ihm sein Päckchen abnimmt, springt es fidel in sich zurück. – Bist beneidenswert!“ seufzte er leise.

Rutenberg lächelte mitleidig: „Armer Schilcher! Märtyrer der Freundschaft! Dir fehlt was in diesem Paradies: deine Whistpartie. Ich spiele zwar Schach mit dir –“

„Schach ist kein Whist“.

„Sehr richtig. – Darum hab’ ich auch – –“ Rutenberg brach ab und lächelte in sich hinein. „Was hast du?“

„Darum hab’ ich auch heimlich – einen Streich gemacht –“

Er hielt wieder inne, seine blauen Augen lachten den andern an.

„Was heißt das?“ fragte Schilcher „Wirst du dich wundern, Alter?“

„Das kann ich noch nicht wissen.“

„Ich hab’ Lugau und Wild heimlich eingeladen, uns nachzukommen hierher nach Sorrent … Aha! Jetzt wundert er sich! – Schon vor einer Woche, Allein hab’ ich ihnen geschrieben. Meine Freunde, es ist hier schön, göttlich schön, zu schön für uns allein; ihr müßt mit dabei sein! Lugau ist ein freier Mann, Wild braucht Erholung, seine drei Patienten sind gesünder als er und können bis nach Weihnachten warten. Ihr wollt den Vesuv sehn, der Vesuv will euch sehn, Schilcher rollt jeden Abend die Daumen übereinander, Schilcher schwindet hin; rettet den Mann und kommt her! Dieses Hotel ist meine Villa ihr seid meine Gäste, auch für die Hin- und Herreise … Was hast du?“

Schilcher war aufgestanden, er wollte seine Rührung nicht zeigen und wußte nicht recht, was er machen sollte; etwas unbeholfen stieß er mit dem Fuß, als stieße er etwas fort, das am Boden lag. „Nichts,“ brummte er dann nur, konnte sich aber doch nicht enthalten, Rutenberg anzuschauen. Darauf ergriff er ihn dann vorn am Rock, und schüttelte ihn eine Weile, was er wohl noch niemals gethan hatte. „Heimtückischer – dummer alter Kerl, du!“ stieß er aus der Kehle. „Machst mich lächerlich. Als könnt’ ich nicht ohne Whist – Aber vor Liebe könnt’ ich dich – –“

Er ließ ihn los und ging von ihm weg, um den Tisch herum. Nach einer Weile blieb er wieder stehn, hilflos, weich.

„Du bist der beste aller dummen Kerle auf der ganzen Erde!“

„Das ist nun wieder eine deiner Uebertreibungen,“ sagte Rutenberg lächelnd, „deiner Ueberschwenglichkeiten.“

In all seiner Rührung mußte Schilcher lachen „Meiner –? Großer Gott!“

„Also kurz, ich hoffe, sie kommen –“

„Du weißt es!“ rief Schilcher aus und sah den „Heimtücker“ forschend an. „Sie haben dir geschrieben!“

Rutenberg lächelte, schwieg. Er fing nun an zu pfeifen, was aber nicht seine Stärke war, das konnte der andre besser; Rutenberg hatte nur einen Ton.

11.

In das Pfeifen hinein erklang gedämpfter Gesang, von einem frischen hübschen Bariton; er schien von dem Fahrweg zu kommen, der zum Hotel und daran vorbei ging. Die Nacht war schon so still, daß man ihn sehr deutlich hörte. Nach einer Weile ließ Rutenberg ab, zu pfeifen, und lauschte angestrengt, mit vorgebeugtem Kopf; seine Brauen zogen sich zusammen. „Du,“ sagte er, „was ist das?“

„Gesang,“ brummte Schilcher. „Auf der Straße“. „Das hör’ ich. Aber – aber – die Stimme klingt mir so bekannt …“

„Mir nicht. – Italienische Worte. Ein italienisches Lied.“ Rutenberg nickte, sehr verstört. „Aber so gesungen, wie es ein Engländer oder ein Deutscher singt. So unitalienisch.“

„Bei Gott, diese Stimme kenn ich!“

„Das wär ja auch noch kein Unglück – „Kein Unglück … Mann, ich sag’ dir …– –“

Rutenberg sagte es aber nicht. Er ging auf den Zehen, als sollte man ihn nicht hören, zu der südlichen Thür, die an einen buntgepflasterten Balkon vor den Südzimmern und zu einer breiteren Terrasse am Fahrweg führte. In der Thür blieb er stehn und schaute zurück: Will nur ’mal nach dem Rechten sehn … Damit ging er hinaus.

Was hat er? dachte Schilcher. Ihn verließ nun doch auch die „klassische Ruhe“. Rutenbergs sonderbares, unheimliches Gesicht hatte ihn aufgestört. Er horchte. Der Gesang dauerte nur noch ein paar Takte, ward dann plötzlich still. Er öffnete leise die Thür, die der andre wieder geschlossen hatte; es war nichts zu hören. Endlich kamen gedämpfte Schritte von der dunklen Terrasse her, die bekannte hohe und breite Gestalt tauchte auf, ging rasch auf den kleinen Schilcher zu und schob ihn vor sich her in den Salon zurück.

„Es ist richtig,“ sagte Rutenberg, als sie drinnen waren. „Ich hatte recht. Er ist es!“

„Mensch, du bist ja blaß. Wer? Arthur?“

„Da. Dieser Wyttenbach. Draußen auf der Straße … Rutenberg mußte erst tüchtig atmen, eh’ er weitersprechen konnte. „Und Gertrud stand an ihrem Fenster. Ich hab's gesehen. Sie mich nicht; ich sie alle beide … Schilcher das war abgekartet!– Jetzt geh’ ich zu meinem Kind – jetzt geh’ ich zu meinem Kind und sag’ ihr – Er hob die Faust; er war außer sich.

„Ruhig, Mann! ruhig!“ nahm nun Schilcher das Wort und hielt ihn am rechten Arm. „Umgekehrt wird ein Schuh daraus, nichts sagen! gar nichts!“

„Nichts?““

„Nein. Den jungen Menschen herausrufen. Erstaunt, ganz harmlos erstaunt, ihn in Sorrent zu sehn. Und das Kind dazu rufen, na, und dann so allmählich herausbringen, was das Ding bedeutet!“

Rutenberg starrte den Oberapellationsrat an. Er sah das kleine, kluge Lächeln, das über das bartlose Gesicht huschte; ihm kam dabei die Fassung wieder, oder doch etwas Aehnliches, er fuhr sich durch das dichte Haar. „Hast recht, Alter. Hast schon wieder recht. Keine Scene. Ruhe. Ohne Uebereilung! – Ich kann den Bengel nicht sehen, aber ich will ihn sehen. Ich will –“

Er war schon wieder bei der Thür.

„Was willst du?“ fragte Schilcher.

„Es ganz so machen, wie du meintest. Wie ein Diplomat, Schilcher. Hab’ um mich keine Bangen das mach’ ich. – ’s ist aus, Schilcher! Unser Glück ist aus! – Aber die Sache wird in aller Ruhe – –“

Er trat auf den Balkon. Die Thür fiel wieder zu.

Der arme Schilcher stand und horchte, ihm ward nun nachträglich schlecht zu Mut. Dieser dreiste Bengel, dieser Schwerenöter plötzlich abends um Neun in Sorrent! Darum jeden Abend ohne Whist in der Ecke sitzen … Damit so ein Kerlchen dann doch – –

Rutenberg schien das Kerlchen zu rufen, dann schien er zu Gertrud zu gehn, die ihr Zimmer auch auf der Südseite hatte, neben dem Salon. Dann war's eine Weile still. Ob der Bengel wirklich kommt? dachte Schilcher. Ja, natürlich kommt er! Mir ist, als hört’ ich schon seinen schwebenden Adonisgang draußen auf der Treppe …“

Auf einmal fiel ihm ein, daß er doch auch das Seinige thun könne, um herauszubringen wie die Sache sei, abgekartet oder nicht? – Er knöpfte sich den Rock zu, für die kühle Nachtluft; darauf ging er geschwind auf den Korridor hinaus. Dort hing auch sein Hut. Er nahm ihn vom Riegel. Richtig, der [723] Schwerenöter kam schon die Treppe herauf, schwarz oder dunkelbraun gekleidet, einen hellen Ueberzieher auf dem Arm, einen von diesen verhaßten Cylindern auf dem Kopf. Mit seinem scharmantesten Lächeln zog er den Hut herunter, Schilcher zu begrüßen. „Welche angenehme Ueberraschung, Herr Oberappellationsrat –“

„Ja, sehr angenehm,“ fiel ihm Schilcher ins Wort. „Sie entschuldigen!“

So ging der kleine Herr an ihm vorbei und die Treppe hinab.

Arthur van Wyttenbach verzog das Gesicht, er stand eine Weile still. Drollige Begrüßung, dachte er. Unendlich warme Begrüßung … Aus seinem sauren Lächeln ward allmählich ein freieres. „Pah!“ blies er zwischen den Lippen hervor. Offene Arme hatte er ja nicht erwartet. Bei dem Mädel, ja, bei den beiden landflüchtigen Jubelgreisen nicht. Jetzt nur ruhig Blut, dachte er, den Hut in der Hand behaltend, und nur immer munter! Mit den Jubelgreisen werden wir wohl fertig!

In dem Zimmer geradeaus hörte er jetzt Stimmen, sie kamen ihm sehr bekannt vor, mit raschem Entschluß trat er ein. Es war der Salon, am Lesetisch und am Klavier sogleich zu erkennen, Gertrud, die jetzt blasser, und ihr auch nicht sehr gesund gefärbter Vater standen am großen Tisch. Arthur machte seine schönste Verbeugung.

„Wir sind sehr erstaunt,“ sagte Rutenberg, der nur durch eine unentschiedene Bewegung grüßte, „sehr überrascht, Herr van Wyttenbach. Wir alle –!“

Er warf dabei einen flüchtigen Blick auf Gertrud, die zu lächeln suchte, als fühle sie sich auch überrascht.

„Natürlich,“ erwiderte Arthur, „da Sie alle nicht wußten und nicht wissen konnten, daß auch meine unbedeutende Persönlichkeit sich erlauben würde, einen kleinen ,Ritt in das romantische Land’ zu unternehmen –“

„Und Sie vermuteten wohl auch nicht, uns hier in Sorrent zu finden!“

„Ich? Keine Ahnung! Wie ich plötzlich Ihre Stimme hörte – und Fräulein Gertrud am Fenster sah – in der dämmernden Nacht grad’ noch zu erkennen – da war ich doch wie im Traum! Ich schlenderte so durch die Straßen hin, war eben von Vico hergewandert, denn ich wohne nicht hier, sondern in Vico – .“

„Vico?“ fragte Rutenberg. „Was ist das?“

„Kennen Sie Vico noch nicht? Vico Equense, einer der angenehmsten Aufenthalte am ganzen Golf, wie man mir gesagt hat, ein Felsennest oben über dem Meer, anderthalb Stunden von hier. An der Straße, die von Castellamare nach Sorrent führt –“

„Richtig! Man fährt ja durch! – Also da wohnen Sie?“ Arthur, immer unbefangener, nickte: „Ja, seit heute früh. Es war nämlich längst mein Wunsch –“ er lächelte, mit leichter Selbstverspottung – „wie Mignon, das arme Kind, das immer von dem Land ihrer Sehnsucht träumte, so ungefähr träumte auch ich, seit meiner Knabenzeit … Gestatten Sie mir dieses romantische Gefühl! – Ich hatte übrigens auch eine Tante in Neapel zu besuchen, eine sehr liebe, vortreffliche Frau, und in Neapel wurde mir Vico sehr empfohlen, ich muß sagen, mit Recht. Ein sehr komfortables Hotel, alle Achtung, eine prachtvolle Straße führt ans Meer hinunter. Und ebenso, wie von hier, hat man auch von Vico den Blick auf das große Flammenthor der Unterwelt, auf den ewig erhabenen Vesuv! – Ich hab’ da schon sehr geschwelgt, natürlich … Im Hotel sagte man mir dann, es giebt hier keinen lohnenderen Spaziergang als den nach Sorrent. Ich mache mich also auf und schlendre nach Sorrent!“

„So spät?“ fragte Rutenberg, diplomatisch lächelnd. „Im Dunkeln?“

Arthur lächelte ebenso. „Na ja, die Nacht überraschte mich,… aber was thut mir das. Ich kann ja zu Wasser und zu Lande nach Vico zurück, im Boot oder im Wagen. Ich hatte nun einmal die jugendliche Ungeduld, auch Sorrent zu sehn, die Orangenstadt, wenn auch jetzt nur bei Nacht. Und da führt mich mein guter Stern – ich irrte ganz zwecklos herum – an diesem Hotel vorbei. Ich höre meinen Namen rufen – und hier in der Fremde bin ich auf einmal wie in meiner Heimat!“

Rutenberg blickte verstohlen auf Gertrud, ihre nicht mehr blassen Wangen färbten sich etwas stärker, sie lächelte ein wenig. Sie stand aber so unschuldig da … Sollte das Kind wirklich nichts gewußt haben? dachte er und atmete schon auf. Er lud den jungen Mann ein, sich zu setzen, noch hatte er's nicht gethan. Wyttenbach nahm mit einer leichten, eleganten Verneigung Platz, auch Gertrud sank nun langsam auf einen Stuhl. Sie hatte noch kein Wort gesprochen. Eben wollte sie anfangen, zu reden, als vom Korridor her der Mann in die Thür trat, den Rutenberg schon lange mit den Augen suchte. Schilcher, den Rock noch zugeknöpft, den Hut in der Hand, schob sich so ruhig herein, als wäre nichts vorgefallen. Er machte die Thür langsam wieder zu und blieb bei ihr stehn.

„Wo warst du?“ fragte Rutenberg, der in plötzlicher Unruhe aufstand.

„Hatte was zu besorgen,“ entgegnete Schilcher. Er lächelte dann, da Rutenberg auf Arthur blickte: „Jawohl, jawohl, wir haben uns schon begrüßt. – So kommt man allerwege wieder zusammen, die Welt ist klein, wie schon Dickens sagte. Ja, die kleine Welt!

Er hob einen seiner kurzen Arme ein bißchen, ließ ihn dann wieder sinken. Rutenberg kannte seinen Mann: aus dieser kleinen Bewegung entnahm er, daß der andre etwas auf dem Herzen hatte. „Nun, so mach’ unserm Gast die Honneurs!“ sagte er zu Gertrud, „sprich doch endlich auch ein Wort!“ Als ihre Lippen dann aufgingen und ihre weiche, jetzt unsichere und befangene Stimme zu zwitschern anfing, trat er zu Schilcher und pflanzte sich breit vor ihn hin. Was giebt's? fragte sein stummes Gesicht.

„Bin nur die fünf Schritte bis zur Post gegangen,“ sagte Schilcher leise. „Die war geschlossen. Aber nebenan im Circolo, im Klub, fand ich den Postdirektor, den gemütlichen alten Burschen. Heut’ nachmittag war deine Tochter auf der Post –“

Rutenberg packte Schilcher am Rock. „Ruhig,“ raunte Schilcher. An dem großen Gegenüber vorbei, das ihn verdeckte, streckte er seinen Kopf hervor und lächelte Gertrud an, die etwas übertrieben feierlich mit ihrem Adonis sprach. „Unsre Gertrud,“ sagte er laut, sollte wohl Herrn van Wyttenbach eine Erfrischung anbieten, wie?“

„Ja, ja,“ antwortete das Mädchen rasch. „Sie werden hungrig sein, Herr van Wyttenbach.“ Arthur lächelte: „So ein wenig, ja!“

„Sie war auf der Post,“ flüsterte Schilcher wieder, „und holte einen Brief ab, einen Poste-Restante-Brief. – „Also Korrespondenz hinter meinem Rücken!“ flüsterte der empörte Rutenberg.

„Jawohl, aber ruhig, Alter.“ – Schilcher zeigte den jungen Leuten wieder sein Gesicht: „Na, also etwas essen, wenn man hungrig ist!“

Arthur ergriff diesen Gedanken mit Eifer. „Sie haben recht,“ erwiderte er, „sehr recht! Ich ging nämlich thörichterweise vor dem Diner von Vico fort, – ich wohne nämlich in Vico. Eh ich nach Hause fahre, sollt’ ich unten im Speisesaal noch ein wenig essen.“

„Ja freilich! sagte Rutenberg, der sich mächtig zusammennahm. „Thun Sie das, thun Sie das, Herr van Wyttenbach. Ehe Sie dann abfahren, sehn wir Sie noch, natürlich, hier im Salon!“

Arthur verneigte sich ehrerbietig. „Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Rutenberg. Sein braunes Schnurrbärtchen zuckte heiter. „Von der Luft kann man auch in Italien nicht leben, leider –“

„Sehr richtig!“ rief Rutenberg.

„Also auf Wiedersehn“ –

„Guten Appetit!“ wünschte Schilcher.

Der junge Mann grüßte und ging. Schilcher begleitete ihn bis zur Thür, die er ihm zuvorkommend öffnete, von der Schwelle aus sah er ihm dann nach, sah, wie er die Treppe hinabstieg. Na ja, dachte er sorgenvoll, aber ob er da unten wirklich essen will, das ist noch die Frage. Sah mir so aus, als hätte er was vor! – – Ich kann ja auch noch mal die Treppe hinuntergehn.

Er machte die Thür von außen zu und ging dem Adonis nach.

[732]
12.

Gertrud, der die innere Bangigkeit nun doch den Atem beklemmte und das Herz nur noch unvernünftig und unordentlich schlagen ließ, trat ans Klavier, um etwas zu thun und schlug einige Tasten an; sie schlug aber wie ein Kind, es ward keine Melodie daraus. Es überlief sie dann, als sie des Vaters Schritt hinter sich hörte, an ihrem Hals seinen Atem fühlte. Er murmelte etwas, das sie nicht verstand, offenbar war er sehr aufgeregt … „Gertrud!“ sagte er dann laut. Sie fuhr zusammen.

Zu ihrer Ueberraschung, nach einer bangen Pause, sprach er aber mit sanfter, freundlicher Stimme weiter: „Ich war also [733] sehr im Irrtum, meine arme Gertrud. Es war also nicht aus. Im Gegenteil, der zweite Band des Romans beginnt: die Geheimnisse. Die liebende und trotzende Tochter hat Geheimnisse vor dem harten Vater –

„Vater!“ rief das Mädchen.

„Heimliche Briefe, ich weiß. Weiß alles. – Das ist immer so. Ist ja auch ganz natürlich! Der Vater ist grausam, unverständig, er will nicht begreifen, daß die Tochter recht hat, er entführt sie tyrannisch in ein wunderschönes Land, wo die Orangen und die Palmen wachsen, – wo ihr alles zuruft: ‚Kind, das Leben ist schön, und die Welt ist groß, häng‘dich nicht an den einen Wunsch und den einen Menschen! Mach dein Herz und die Augen auf, laß die Welt hinein, eines Tages wird dann die Stunde kommen, wo du ganz verwundert hinschaust: dieser eine kleine Mensch war mir einst die Welt? – O – nein, das Kind weiß es besser. Es drückt das trotzige junge Herz so klein zusammen, daß nur der eine kleine Mensch darin Platz hat. Und es schreibt heimliche kleine Briefe – ‘

„Vater!“ rief das gequälte Mädchen wieder. „Sag nur ruhig ,Vater’ auf den Namen hör ich. Darum nehm’ ich es auch nicht so schwer mit den Heimlichkeiten, wie es andre thäten. Das Kind ist krank, sag’ ich mir. Laß ihm Zeit. Laß ihm sein Fieber. Laß es nur genesen! – – Da haben wir ihn also wieder, deinen Arthur. Siehst du ihn denn wirklich noch mit denselben Augen? noch als Ideal? Wenn du ihn sprechen hörst – und was er spricht – ist er dir noch immer der Inbegriff alles Herrlichen, über alle Menschen? Und sagst du dir immer noch: wie auch die andern, die mich lieben, über ihn denken, ich will mit ihm leben und sterben?“

Gertruds schlanker Körper wand sich, der Vater stand noch immer hinter ihrem Rücken.

„Ach,“ seufzte sie, „wie quälst du mich. – Bitte, laß mich gehn!“ – Sie drehte sich nach der Thür, die zu ihrem Zimmer führte.

„Bitte sehr,“ entgegnete er jetzt mit ganz andrer Stimme. „Wie Sie wünschen, Fräulein Rutenberg.“

[734] „Vater!“ rief sie, wandte sich plötzlich zu ihm und warf sich ihm an die Brust. „Ach, Vater, Vater! Ich lieb dich ja so sehr! Bist so lieb, so gut! – Ach, wie schäm’ ich mich, daß ich vor dir, vor dir diese Heimlichkeit – –“

Er küßte sie auf den Kopf.

„Und du küßt mich noch,“ schluchzte sie. – „Ach, wie bin ich unglücklich. – Ach, vergieb, vergieb!“

„Arme, gute Gertrud,“ sagte Rutenberg, der sie liebevoll fest im Arm hielt, sie lag still wie ein Hühnchen, das sich an die Henne drückt. „Könnt’st du fühlen, wie hart es für so ’nen Vater ist, daß er seinem jungen Kind den Angebeteten nie so vor die Seele hinstellen kann, wie sein Aug’ ihn sieht daß er nicht auf eine, eine Stunde ihr sein Gefühl, seine Einsicht leihen kann, – Trudel, das ist hart! – Bist doch sonst so klug, und so wohlgeraten. Wirst diesem Arthur eines Tages weit, weit über den Kopf wachsen –“

Sie schüttelte ihren Kopf.

„Doch, Trudel, doch! – Und was für eine innige, tiefe, große Liebe das ist, da in deinem Herzen, das ahnt er ja nicht, das versteht er nicht! – Ja, starr’ mich nur an, als wär’ ich wohl nicht recht gescheit. Der hat dich gern, Trudel, wie du deine Puppe gern hattest. Sein Herz ist gegen deins, was eine gute warme Suppe gegen den glühenden Vesuv da ist; und es wird einmal eine kalte, stille Suppe werden – glaub’ mir, Kind, ich kenn’ ihn. Wenn er erst hat, was er wollte, dich hübsche kleine Person, und dein Geld dazu …“

Gertrud zog sich aus des Vaters Arm. Ihr jetzt totenblasses Gesicht starrte ihm immer fassungsloser in die Augen.

„Was sagst du da?“ stammelte sie. „Und mein Geld dazu?“

„Ja, denkst du denn, junge Männer wie der werben um so ’ne Erbtochter um des Herzens willen? Laß uns heut’ arm werden, Kind: morgen ist er fort! – Du zitterst ja. Was ist dir? Glaubst du, ich verleumd’ ihn? Glaubst du, es ist nicht so? Stell’ ihn mal auf die Probe, und du wirst’s erleben!“

Gertrud zuckte zusammen. Sie wollte etwas erwidern. die Lippen öffneten sich, es kam aber kein Wort heraus. Es ging nur ein langer, scheuer, qualvoller Blick aus ihren hellen Augen zum Vater hinüber, ihr schien vor ihm oder vor irgend etwas zu grauen. Sie schüttelte sich. Auf einmal wandte sie sich ab, doch nicht rasch, eher wie eine mechanische Figur, die sich langsam dreht, und ging stumm in ihr Zimmer hinter ihr schloß sich die Thür.

Rutenberg sah ihr etwas verlegen nach. Er blickte auf ihre Thür wie auf einen Vorhang, hinter dem gespielt werden soll – man weiß noch nicht, was? – Fort! dachte er ohne einen Laut! – Hab’ ich das nun klug gemacht oder unklug? – So tappen wir durch diese siebzehnjährigen Labyrinthe … Ach du lieber Gott!

Vom Korridor kam Schilcher zurück, mit seinem unergründlich stillen Gesicht. „Na?“ sagte Rutenberg beklommen. „Bist du wieder da?“

„Wollte nur unserm Hirsch auf den Wechsel passen“, gab Schilcher zur Antwort, eine Hand mit der andern reibend. „Hab’ mich in den kleinen Garten neben dem Speisesaal begeben und durch die Glasthür hineingesehn. Ein Stückchen Brot hat der Herr gegessen kam sicher pumpsatt hier an! – Aber mit dem Marinajo, mit unserm Pasquale, hat er verhandelt, der noch unten war. Die Thür war halb offen, so viel hab’ ich von der Unterhaltung verstanden, daß das Süßholz heut’ abend zu Wasser nach seinem Vico zurück will. Fragte aber zweimal, das Herrchen, mit einem Nachdruck und einer Unruhe wie ’ne junge Damen ob das Meer auch still wär'? Er scheint also eine unbändige Furcht vor dem Wasser zu haben –“

„Das ist ja komisch!“ warf Rutenberg ein.

„Na ja, komisch ist es. Aber sag’ mir nur eins: warum will er dann doch auf diesem Wasser zurück, statt auf dem festen Land? Ich finde das auffallend, Rutenberg….“

„Mag sein! Ja, ja!“ – Rutenberg sprach das gleichgültig hin, als dächt’ er an anderes.

„Mein Pasquale versicherte auf Tod und Leben, das Meer sei ungefähr wie ein Spiegel oder wie seine flache Hand. – Da kommt der kühne Seefahrer!“

Schilcher hatte recht. Der leichte Geschwindschritt kam den Korridor entlang, Arthur trat wieder ein. Er schüttelte die braunen Löckchen auf seiner niedrigen Stirn und tändelte mit den Lippen, wie wenn er sich nach einem wiederherstellenden Mahl recht behaglich fühlte.

„Man ist doch ein anderer Mensch,“ sagte er heiter, „wenn man gegessen hat. Da bin ich denn also wieder, mit Ihrer gütigen Erlaubnis.“

„Bitte! Sehr wohl!“ erwiderte Rutenberg verbindlich, ‚Lügenlügner!' dachte er. Der schöne Bariton Arthurs war offenbar durch Gertruds Thür gedrungen, nach wenigen Augenblicken öffnete das Kind und schob sich langsam herein. Sie grüßte den Jüngling noch förmlicher und befangener als vorhin; nach einer Weile flog dann aber ein schräger Blick auf ihn, der offenbar an ihm herumforschte. Die Männer begannen sich zu unterhalten, sie hörte zu, hörte wohl auch nichts. Sie ging zur Thür, die auf den großen Balkon führte, und schien durch das Fenster nach den Lichterzeilen von Neapel hinüberzusehn. Plötzlich wandte sie sich und schaute auf Arthur zurück.

Wie sie blickt! dachte Rutenberg. Sie denkt an ihm herum, meine Rede hat doch gewirkt. Wenn ich jetzt das Kind mit ihm sprechen ließe! – Er gab Schilcher, der alles verstand, einen Wink und sagte dann so gemütlich, wie er’s über die Lippen brachte: „Nun müssen Sie uns aber entschuldigen, Herr von Wyttenbach, wir haben da nebenan im Rauchzimmer eine Schachpartie stehen lassen, Herr Oberappellationsrat Schilcher erzürnt sich mit mir, wenn wir die nicht ausspielen. Es dauert nicht mehr lange, ich krieg’ ihn; Sie nehmen so lange mit dem Kind vorlieb!“

„O, ich bitte sehr!“ erwiderte Arthur, der seine freudige Ueberraschung im ersten Augenblick nicht unterdrücken konnte, dann faßte er sich aber geschwind. „Wenn ich irgendwie störe, so geh’ ich …“

„Sie stören ja nicht,“ sagte Rutenberg schlicht. Der thürenreiche Salon hatte noch eine, kleiner als die andern, auf der „Fumoir“ gemalt stand, sie führte in ein Zimmerchen, das Schilcher den Käfig nannte. Dort spielten sie täglich eine oder zwei Partien Schach, wenn auch Schach „kein Whist“ war. Die beiden Männer gingen in das Fumoir hinein, der kleine voran, Arthur sah mit inwendig lachendem Entzücken, daß die Thür sich dann schloß. Er sah nur noch Gertrud und sich … Gertrud stand noch bei der Balkonthür. Er ging auf seinen leichten Füßen zu ihr.

„Meine teure Gertrud!“ sagte er, die Stimme so viel dämpfend, als gut war. „Hier in Sorrent, ich mit dir allein!“

Er ergriff ihre niederhängende Hand, die bewegte sich aber, als wollte sie sich ihm entziehen. Mit leiser, doch sichtbarer Scheu, die er nur auf ihren flatternden Blick nach dem Rauchzimmer bezog, hauchte sie so hin:

„Bitte, lassen Sie jetzt meine Hand. – Sagen Sie jetzt nicht du. – – Ja, ja! Welches Glück!“

Arthur lächelte, mit sich zufrieden „Es war ein kluger, feiner Einfall von mir, nicht wahr, daß ich mein Hauptquartier nicht hier, sondern in Vico aufschlug! Von da erreich’ ich Sie leicht, und es ist doch weniger auffällig. Hab’ ich das gut gemacht?“

Sie nickte, sah ihn aber immer ernsthaft an. Er betrachtete sie auch, und auch heimlich forschend, er hätte ihr gern vom Gesicht gelesen, ob sie jetzt in der Stimmung sei, auf seinen kühnen Plan romantisch, schwärmerisch einzugehn … Ich versuch’s! dachte er. Mehr als Nein sagen kann sie nicht! – „Hm!“ seufzte er dann, indem seine rosigen Lippen sich recht rührend spitzten. „Heute nacht muß ich nun freilich wieder in meine Einsamkeit, in meine Verbannung zurück! – Ich fahr’ in einer Barke heim, meine holde Gertrud, mit zwei Ruderern. In der stillen Nacht. Auch das Meer ist still. Später kommt der Mond. – Er hielt sich geschickt zwischen Scherz und Ernst, während er langsamer fortfuhr: „Wollen Sie mit, meine süße Gertrud? Dann – sagen Sie – dann hätten wir all dieser Not bald ein Ende gemacht! Dann [735] brächt’ ich Sie morgen zu meiner Tante in Neapel, eine liebe vortreffliche Frau und die nähm’ uns auf, das bezweifl’ ich nicht, und wenn die Alten hier das erführen, dann müßten sie wohl nachgeben … Wie?“

„Ach,“ sagte Gertrud unschuldig, „Sie sollten jetzt nicht so scherzen, Arthur, mir ist nicht danach zu Mut!“

Schnell lenkte der geschmeidige Arthur ein: „Wenn Sie diesen – Scherz nicht mögen, nun dann laß ich das. Dann – dann weg damit! – Es war nur so ein Einfall ein Kind der Not, süße Gertrud. Da ich mich doch damit beschäftigen muß, wie ich Ihrem tragischen Geschick ein Ende mache – denn auf mir ruht nun doch diese Pflicht!“

„Ach ja“, seufzte sie, „es ist schwer. – Sie betrachtete ihn wieder mit ’so einem langen Blick, der ihm nun doch unbequem zu werden anfing. Nach einem starken Atemzug brachte sie die überraschende, unlogische Frage heraus; „Werden Sie mich nie verlassen, Arthur?“

„Ich?“ – Er sah sie sehr beleidigt an. – „Diese Frage! Gertrud!“

„Würden Sie mich auch nie verlassen, wenn ich – – wenn ich arm wäre? wenn ich nichts mehr hätte?“

„Gertrud,“ sagte er mit vorwurfsvollem Lächeln, „ich sehe, Sie wollen mich erzürnen. Was hat das Geld mit unsrer Liebe zu thun –?“

„Ach, das sag’ ich auch!“ seufzte sie. “Wenn ich nun aber – – wenn ich nun wirklich arm geworden wäre. Ganz, ganz arm. – Nach einem letzten Zögern überwand sie sich; „Ich bin es, Arthur. Nein, lächeln Sie nicht. Es ist wirklich so. Es ist – – ganz plötzlich ist es gekommen. Alles, alles, alles hat mein Vater verloren. Seit gestern wissen wir es!“

„Gertrud! Alle Teu- –“

Der sehr erschrockene Arthur hielt noch im letzten Augenblick an.

„Hm!“ machte er dann langsam, um etwas Zeit zu gewinnen, und that, was er konnte, um im Gesicht einen edlen Ausdruck zu behalten. „Sie – – Sie erzählen mir da ja etwas Schreckliches; etwas Entsetzliches. Alles, sagen Sie?“

Das arme Kind sah ihn ängstlich an „Sie finden es also sehr entsetzlich, Arthur…. Werden Sie mich nun verlassen, weil wir nichts mehr haben?“

„Ich? Wie können Sie denken … Aber wie können Sie das denken, Gertrud! Ich werd’ Ihnen ewig, ewig treu sein natürlich. Werd’ Sie nie verlassen das ist selbstverständlich … Alles? Ist das wahr?“

Sie nickte.

„Alles? Wirklich alles?“

„Ich sagte es Ihnen ja!“

„Sie sagen es aber so merkwürdig ruhig. Mein Gott, das ist ja ein Schicksal, um sich alle Haare – –“

Er brach wieder ab, nahm sich wieder gewaltig zusammen, da ihn ihr Gesicht erschreckte auch stieg in seinem schwindelnden Gehirn eine Hoffnung auf. „Nur um Ihretwillen, natürlich!“ verbesserte er sich. „Um Ihretwillen ist es traurig, Gertrud … Wir haben da zum Glück Ihren zweiten Vater, den Oberappellationsrat Schilcher, der sehr wohlhabend ist, und der für Sie sorgen wird, von dem Sie einst erben werden, wie man mir gesagt hat –“

„Der? fiel sie ihm rasch ins Wort „Der hat auch –!“

„Alles verloren?“

„Ja!“

Sie zögerte vor dem „Ja“ einen Augenblick, Lügen war nicht ihre Stärke. Unschuldig verlegen stand sie dann da und wandte ihr Köpfchen, ihre Schultern seitwärts, um es zu verbergen.

Ah! ging es erleichternd durch Arthur, der dies alles erfaßte; er lächelte, da ihre Augen wegschauten. Das erfindet sie! fuhr ihm durch den Kopf. Oder Papachen hat’s ihr eingegeben oder der alte Nußknacker. Ach, du kleines dummes Mädchen, das mußt du nicht glauben, daß Arthur van Wyttenbach so leicht anzuschmieren ist! – Er fand jetzt all seine edlen, vornehmen Züge wieder und sagte mit seinem weichsten Bariton. „Meine teure Gertrud! Wie traurig ist das alles. Sie und Ihr Vater und Herr Schilcher – drei so edle Menschen! – Zum Glück bin ich da. Ich. Jetzt fühl’ ich erst, daß die Vorsehung mich neben Sie gestellt hat!“

Sie blickte ihm mit noch zagender Freude in die kleinen, aber so schön aufleuchtenden Augen. „Arthur – Sie werden mich nicht –“

„Verlassen? – Sagen Sie nie mehr so ein abscheuliches Wort! Nein, auch nicht im Scherz; es kränkt mich zu tief! ….“

Ich bin nicht reich, meine geliebte Gertrud – leider nicht – – das heißt, ich sage leider nur um Ihretwillen. Aber ich werde arbeiten! wirken! schaffen! ich für alle vier! Alle meine Gaben, meine Fähigkeiten werde ich entfalten, daß man staunen soll, o, die Welt weiß noch nicht was hier in mir steckt! Ich werde Wunder thun, Gertrud – denn die Liebe thut Wunder – die Liebe, die allmächtige. Und Sie Kleinmütige, Verzagte, Ungläubige – ja ja, mein süßes Kind war etwas ungläubig und verzagt – Sie sollen eines Tages sagen: dieses Unglück damals war mein schönstes Glück, denn es hat mir erst gezeigt, was mein Arthur ist, was ich an ihm habe!“

„Arthur!“ seufzte das Mädchen vor Rührung und Glück; ihre feucht schimmernden Augen lächelten ihn an. „O, wie lieb’ ich Sie! Wie sind Sie edel und gut. – O und wie schlecht war ich, daß ich zweifeln konnte. Verzeihen Sie mir das, Arthur! Nie mehr! Nie mehr!“

13.

Arthur, der mit einem verzeihenden Blick auf sie niedersah, fühlte ich im Zug hätte gerne noch eine Weile in diesem erhabenen Sinn auf sie eingesprochen; zu seinem Bedauern, öffnete sich aber die kleine Rauchzimmerthür und Rutenberg erschien. „Die Partie ist aus,“ sagte er. „Aber anders, als ich mir einbildete. Ich bin arm geworden.“

„Mein ganz ergebenstes Beileid, Herr Rutenberg,“ entgegnete Arthur gemütlich lächelnd. Plötzlich fiel ihm ein, daß er ja mit diesem „verarmten“ Mann Mitleid haben mußte. Er wurde ernst, sehr weich, schüttelte wie verstohlen den Kopf, warf dann aber einen strahlenden, heimlichen Blick auf seine Gertrud und lächelte ihr ermutigend zu.

Gleich darauf staunte Rutenberg – das Kind trat vor ihn hin, mit einer seltsam triumphierenden Miene und Gebärden sie sah ihm wie anklagend in die Augen. „Ach, bitte!“ sagte sie dann. Ihr langer, magerer Arm hängte sich in seinen, so zog sie ihn durch den Salon und zu ihrem Zimmer. Er fühlte sich förmlich hineingeschoben die Thür fiel ins Schloß. Als sie ihn losließ und ein wenig zurücktrat, sah er, daß ihr so siegreich strahlendes Gesicht sich verfinstert hatte, die feinen, seidigen Brauen drängten sich zusammen. „Vater!“ sagte sie leise, aber wie in tiefer Empörung.

„Na, was giebt’s?“ fragte er.

„Vater! O, wie schäm ich mich, daß ich dir geglaubt hab'! – Nein, nicht geglaubt, nein, das nicht; aber doch gezweifelt. Pfui ich an ihm gezweifelt. – O, und was für böse, schlechte Sachen du von ihm gesagt hast und er ist so edel! so großherzig! so gut!“

„Ich versteh’ dich nicht. Was meinst du –“

„Ich bin dir gefolgt!“ rief sie laut; er sah dann aber auf die Thür und sprach wieder leise. „Ich hab’ ihm das angethan, hab’ ihn auf die Probe gestellt, wie du sagtest. Hab’ ihm vorgelogen – o, wie schäm’ ich mich – daß wir verarmt wären, daß wir nichts mehr hätten. Wir nicht – auch Onkel Schilcher nicht … O, wie hab’ ich dann vor ihm dagestanden. Nun weiß ich erst, was für ein großes Herz – – Du kennst ihn nicht! Ihr alle, alle ihr kennt ihn nicht! Für dich, für Onkel Schilcher, für uns alle wollte er leben, schaffen, statt mich zu verlassen. – Und mein Vater verleumdet ihn! vor seinem Kind!“

Sie legte sich bei diesen Worten die Hand aufs Herz die schlanke, noch unreife Knospe stand so tragisch, so rührend pathetisch da, daß Rutenberg unter andern Umständen wohl gelächelt hätte.

Er fuhr nun aber doch auf, wie von einem scharfen Pfeil getroffen. „Ich verleumde ihn!“

„Ja, Vater! Du!“ Sie hob den Arm gegen ihn, sie [738] mußte vor Aufregung heftig schlucken, eh’ sie weitersprechen konnte. „Nie hast du mir so weh gethan, wie in dieser Stunde! Nie, nie werd’ ich mehr glauben was du von ihm sagst. Nie, nie, nie werd’ ich an ihm zweifeln – oder ihn verlassen … Ihre Stimme bebte. „Das wollte ich dir nur noch sagen, Vater!“

„Das wolltest du mir noch sagen,“ wiederholte Rutenberg, dessen Empörung nun auch unaufhaltsam wuchs. „Ich danke dir …“

Plötzlich aufbrausend trat er einen Schritt auf sie zu: „Jetzt hab’ ich genug! – Dieses Kind, dieses Geschöpf spricht so zu seinem Vater – weil es offenbar in seiner siebzehnjährigen Dummheit – – Schilcher auch verarmt! Gott im hohen Himmel, was für ein Unsinn das ist! – Und weil dieser junge Herr dafür doch zu klug war – und den Hochherzigen spielte – und das Mädel blind und vernarrt und toll ist – darum wirft es mir jetzt trotzig wie ein Kind sein ,Nie, nie, nie’ ins Gesicht! – Nie, nie, nie!’ Wart’, ich will dir dann auch so ein Nie zurückgeben – dreimal, so wie deins! Diesen Menschen da, dem du dich an den Hals wirfst, weil du noch ein Kind bist, den du hierher bestellt hast, weil du ein schlechtes Kind bist, den du mir abtrotzen willst, weil du von Sinnen bist, – den wirst du nie bekommen merk’ dir’s: nie, nie, nie! – Ich reis’ mit dir ab. Bis ans Ende der Welt geh’ ich mit dir, wenn’s sein muß, morgen – heute noch. Nie sollst du ihn wiedersehn, den da mit seinem großen Herzen’ … Das ist mein ,Nie, nie, nie!’“

Er stürzte aus der Thür. nicht aus der zum Salon sondern aus der andern, die auf den Balkon der Südseite führte. Gertrud, die Hand auf der Brust – da drinnen stand ihr alles eine Weile still – horchte halb mechanisch auf seine Schritte. Sie hasteten den Balkon entlang, dann auf die Terrasse über dem Fahrweg. Ja, auf die Terrasse, unter der vorhin Arthur das italienische Lied gesungen und dadurch seine Ankunft gemeldet hatte …

Trotzig, und erschüttert, und dann wieder trotzig wiederholte sie zwischen ihren kleinen Zähnen: „Nie, nie, nie!“

An der Salonthüre hustete es. So hatte Arthur zuweilen gehustet, wenn er ihr insgeheim etwas sagen wollte … Sie zweifelte aber noch. sie konnte sich täuschen, sie war so verstört, verwirrt. Nicht lange, so kam ein zweites Husten, diesmal erkannte sie’s doch gewiß. Sie ging hin und öffnete. Im Salon stand Arthur, allein. Er hielt den Kopf vorgeneigt, als hätte er auch gehorcht. In seinem Gesicht war etwas Banges, Aengstliches, das ihr nicht gefiel. Ach, er bangt ja nur um mich! dachte sie dann geschwind, und trat in den Salon auf ihn zu.

„Ich bin allein,“ sagte Arthur mit halber Stimme. „Schilcher sprach von Schachspiel, ist dann aber in sein Zimmer gegangen. wird bald wiederkommen … Meine süße Gertrud, was ist denn geschehn? Ihr Papa so laut, so zornig. Und Sie so blaß –“

„Er will uns trennen“, fiel sie ihm ins Wort. „auf ewig, weiter nichts. Ich soll fort von hier …“

Herzschlag und Atem vergingen ihr schon wieder; sie legte sich beide Hände auf die Brust. „Ich will nicht,“ sagte sie aber, die Zähne zusammendrückend, sobald sie wieder sprechen konnte. „Ich bin nicht mehr sein Kind; ich bin nicht mehr sein Kind … Wenn Sie mich jetzt verlassen, Arthur, kann ich nicht mehr leben!“

Ah, dachte Arthur, als er sie so verzweifelt und so wild entschlossen das Kinn vorstrecken, die zarten Nüstern aufblähen sah, jetzt oder nie! – „Hören Sie!“ sagte er rasch. „Arme, süße Gertrud. Aus dem Scherz wird Ernst! – Ich Sie verlassen – gewiß nicht. Aber – wenn auch Sie nicht von mir lassen wollen –“

Sie schüttelte heftig den Kopf.

„Meine Barke wartet. Ich kann jeden Augenblick abfahren. Gehn Sie mit! nach Vico!

Im ersten Augenblick doch erschrocken, starrte sie ihn an. „Fürchten Sie sich, Gertrud?“

Nun schüttelte sie trotzig den Kopf.

„Sind wir erst in Vico – das heißt, da bleiben wir ja nur bis morgen, fahren dann nach Neapel, zu meiner Tante – sind wir erst bei der – aber doch „kompromittiert“, wie die kalte Welt das nennt – dann kann Ihr Vater nicht mehr Nein sagen, Gertrud dann ist es aus mit seinem ,Nie, nie, nie‚‘! – Starren Sie nur nicht so. Warum denn? Das haben schon viele so gemacht und zu ihrem Glück. Wenn die Väter so sind … Eh jemand kommt – sagen Sie ein Wort!“

„Ich will ja, murmelte sie, ohne sich zu regen. „Ich muß.“

„Ja, ja, ja, Sie müssen. Haben Sie nur Mut! – Ich bedenke alles. Ich geh’ voraus, geh’ ans Meer hinunter, fahre scheinbar ab, in der nächsten Bucht, ganz nah‚‘, da wart’ ich, natürlich so versteckt, daß uns von hier oben niemand sehen kann. Sie gehen unterdessen in Ihr Zimmer, halten sich bereit! Ist dann alles still – hier im Hotel alle Lichter aus – dann geb’ ich ein Zeichen eine Pfeife hab’ ich in der Tasche, hier. Und Sie gehn leise hinunter … Hören Sie alles? Merken Sie sich alles?“

„Ja,“ hauchte Gertrud tonlos.

„Eh’ ich fortgehe, wissen Sie, bestech’ ich den Faschino, den Hausknecht, daß er eine Thür nach dem Garten für Sie offen läßt. – dem hab’ ich schon vorhin auf den Zahn gefühlt, das ist ein kecker, flotter, habgieriger Bursche. O, das mach’ ich alles, Gertrud. Sagen Sie nur, daß Sie Mut haben, daß Sie sicher kommen! „Ach! seufzte sie und verzog ihr klägliches unschuldiges Gesicht. „Wenn es ein Wahnsinn ist, was ich da thun will, Arthur, so reden Sie mir ab, denn ich – ich – ich weiß nicht, was ich thue. O mein Gott –“

„Ich red’ Ihnen zu, denn Sie müssen es thun! – Und Sie werden es thun?“

Sie nickte.

„Also, wenn ich mit der Pfeife das Zeichen gebe – Still! Man kommt!“

Er sah, daß die Thür zum Korridor sich bewegte, trat schnell von dem Mädchen hinweg an den runden Tisch und griff zu einer Zeitung. Gertrud trat an die Glasthür, ihr aufgeregtes Gesicht zu verbergen. Schilcher kam herein. Er betrachtete beide, erst ihn, dann sie, aus den Augenwinkeln; nicht weit von der Thür blieb er stehn. Es war eine schwüle Stille, Gertrud flog das Herz.

„Herr Oberappellationsrat, mit der Schachpartie wird es nun doch nichts mehr, sagte Arthur endlich, indem er die Zeitung wieder hinlegte, als hätte er darin gesehn was er wollte. „Ich hab’ mir’s überlegt und ich muß nun doch fort. Anderthalb Stunden etwa brauchen wir bis Vico. Also, gute“

„Nacht!“ ergänzte Schilcher trocken „Kommen Sie gut nach Hause. Glückliche Meerfahrt!“

„Auf Wiedersehn!“ sagte Arthur zu Gertrud mit höflicher Verneigung. ermahnte sie noch durch einen hastigen, verständnisvollen Blick über die Schulter, und ging.

„Auf Wiedersehn,“ wiederholte das Mädchen fast unhörbar, als der junge Mann schon hinaus war. Sie begann sich dann auch zu bewegen, schien aber noch nicht recht zu wissen, was sie wollte.

Das war ja ein sonderbarer Blick, dachte Schilcher den die beiden noch wechselten. – Wie das Kind verstört ist.

Gertrud bewegte sich weiter gegen ihre Thür.

„Ich geh’ in mein Zimmer,“ murmelte sie dann, vom Boden zu ihm aufblickend. Schilcher lächelte. „Habe nichts dagegen!“

„Gute – –“

Sie brachte weiter nichts heraus, machte nur eine kleine Handgebärde. Gleich daraus war sie fort.

„Nacht!“ ergänzte Schilcher bei sich. „Das hat sie vergessen.“ – – „Die macht noch nicht Nacht, die hat noch was vor! – Sie fuhren ja ganz gewaltig auseinander, als ich kam. Holla, holla, was heißt das?“

[751]
14.

„Schilcher!“ hörte der Appellationsrat jetzt hinter sich, während sein Auge noch an der Thür haftete, hinter der Gertrud verschwunden war. Rutenberg war von der Südterrasse her eingetreten, ohne daß der Versonnene es gehört hatte. Rutenbergs Stimme war beinahe heiser, erst nach und nach kam sie wieder zu sich. „Schilcher! Hast du das Kind gesehen?“

„Jawohl,“ antwortete Schilcher; seine blaßgrauen Augen gingen wieder nach Gertruds Thür.

„Wo? War sie hier?“

„Zu dienen. Jetzt in ihrem Zimmer.“

„Wie war sie, Schilcher?“

„Nu,“ sagte der Oberappellationsrat, die Achseln zuckend. „Ziemlich toll, wie mir schien.“

„Daran bin ich schuld! Es ging mit mir durch! – Hab’ mich übereilt. Hab’ ihr gesagt, daß sie mißraten ist, daß sie ihn nie wiedersehen soll, daß ich mit ihr abreise. Hab’ ihr alles gesagt –“

„Natürlich!“ setzte Schilcher hinzu und hob die Augen [752] tragikomisch gen Himmel. „Jetzt versteh’ ich die Sache, jetzt ist alles klar: Fräulein Gertrud will fort! Der Adonis hat ihr vorgeschlagen, ihrem Tyrannen zu entfliehn, und als ihres Vaters Tochter hat sie eingewilligt!“

„Entfliehn!“ rief Rutenberg fast zu laut. „Eingewilligt!“

„Nicht wieder durchgehen, Alter,“ flüsterte Schilcher. „Ruhig. Leise, sotto voce. Ja, mit dem Heißgeliebten fort; offenbar. Scheint mir jetzt unzweifelhaft! Sie ihm nach, wenn’s still ist, und ans Meer hinunter –“

„Ans Meer hinunter!“

„Und von da nach Vico. Das Durchgehn hat sie ja von dir –“

„Meine Gertrud! Mein Kind! Rutenberg hob die Arme, schien wieder fortstürzen zu wollen, gegen Gertruds Thür. Schilcher hielt ihn fest. „Na, na!“ raunte er nur. „Kaltes Blut!“

„Hast recht“, flüsterte Rutenberg. „Eine zweite Uebereilung – Gott bewahre, Schilcher. Ich bin ruhig, Schilcher. – Einsperren? Gewalt? Nichts da. Das Kind ist nicht bei sich, ist in einer kritischen Ueberreizung, der man Zeit lassen muß. Weckt man ihre Leidenschaft, so ist sie zu allem fähig –“

„Als Wilhelm Rutenbergs Kind!“

„Ja, ja … Also was thun? – Ruhig Blut behalten – und sie nicht fortlassen. Still sein, aber wachen –“

„Schildwache stehn,“ ergänzte Schilcher.

„Ja, ja! Schildwache stehn. Bis zum Morgen, wenn’s sein muß! – Sie hat noch eine Thür nach der Südterrasse; die verschließ’ ich, Schilcher, leise, ohne daß sie’s merkt. Dann kann sie nur noch durch diesen Salon hinaus, und da wachen wir – du und ich!“

„Ich mit dir, versteht sich. Statt der Whistpartie haben wir eine andre Unterhaltung –“

„Ich verschließ’ die Thür!“

Hurtig, aber auf leisen Füßen schlich Rutenberg auf den Südbalkon hinaus, in die jetzt dunklere Nacht. Er war eben draußen, als von der andern Seite, wie vom Ufer oder vom Meer herauf, ein gedämpfter Gesang sich vernehmen ließ. Sollte das schon ein Zeichen sein? dachte Schilcher, der über diese Katastrophe des Hauses Rutenberg nun doch auch den Kopf zu schütteln anfing. Sachte, nicht wie ein Oberappellationsrat, sondern wie ein Verbrecher, bewegte er sich bis an die Glasthür, die nach Norden sah, und öffnete sie. Nein. Er konnte nun deutlich hören, es war ein italienisches Lied, echt italienisch gesungen, er erkannte auch Pasquales Stimme, der offenbar auf der zum Meer hinunterführenden Felsentreppe sang. Also jedenfalls waren Pasquale und Wyttenbach noch nicht fort! – Eine Weile horchte er halbverloren hin. Auf einmal durchfuhr ihn ein Gedanke, daß es ihn ein wenig schüttelte und er leise lachen mußte. Mit Pasquale reden und ihm –! Er schloß die Balkonthür, er knöpfte seinen Rock wieder zu, unternehmungslustig. Als Schildwache auf dem Posten mußte er hier noch warten bis Ablösung kam. – Rutenberg kam zurück. „Du, ich hab’ noch einen Gang,“ flüsterte er jetzt. „Wach’ so lang’ allein. Ich bin gleich wieder da!“ Er ging auf den Korridor hinaus, sich ein Liedchen pfeifend.

Rutenberg setzte sich auf einen Stuhl an dem runden Tisch, mit den Augen auf Gertruds Thür, rieb sich die Kniee mit den Händen und wiegte sich vor und zurück. So, dachte er, meine tollgewordene Trudel hab’ ich eingeschlossen. Leise wie ein alter Dieb. Das wird jetzt eine lustige Nacht! – Wenn dann der Mond noch kommt, können wir hier schwärmen … Ist man selber nicht mehr jung, so verschaffen einem die Jungen solche italienischen Nächte, und die glücklichen Väter segnen sie dafür und bedanken sich! Er verlor aber den Humor doch nicht, das thaten er und seine Landsleute nicht. Eine Nachtcigarre begann ihm jetzt vorzuschweben, in den Salon kamen nun keine Gäste mehr, die gingen alle zu Bett, rauchen war gestattet. Er zündete sich eine seiner guten, milden Cigarren an; auch ein Trost, ein Glück! dachte er, ich danke! – Wenn ich nun das Schachspiel hole, sind wir ganz geborgen und wenn ich uns aus demselben „Fumoir“ die halbe Flasche Wein hole, die wir da vorhin stehen ließen –

Er stand wieder auf, schlenderte gemütlich ins Rauchzimmer und nahm das Schachbrett, auf dem die Figuren noch herumlagen, von dem kleinen Tisch. Auf dem größeren stand die Flasche mit den beiden Gläsern, halb? Er hatte sich geirrt, sie war noch beinahe voll. Ein unerwarteter Segen. So viel Glück konnte er ja gar nicht verlangen, er blickte wieder gen Himmel: ich danke! Diese Schätze im Arm, kam er in den Salon zurück. Er stellte sie auf den runden Tisch, langsam, um die Zeit zu füllen, ließ er die durcheinandergeworfenen Schachfiguren wieder aufmarschieren. Als er damit fertig war, belohnte er sich durch einen guten Schluck, den er sich aus der Flasche einschenkte. Das macht noch nicht müde, murmelte er. Schildwachen muß man bei guter Laune erhalten … „Ach!“ entfuhr ihm plötzlich, da er die Augen wieder auf Gertruds Thür hatte, er seufzte.

Es dauerte noch eine gute Weile, wie ihm deuchte, bis die Korridorthür wieder ging. Schilcher trat geräuschlos ein. „Das wär’ abgemacht!“ sagte er leise, mit einem kaum erkennbaren Lächeln im stillen Gesicht, und setzte sich neben die andre Schildwache auf den nächsten Stuhl.

„Was?“ fragte Rutenberg.

„Ich hab’ ihn noch erwischt, den Pasquale mein’ ich. Für italienisches Papiergeld ist der gute Kerl wunderbar empfänglich, thut dafür auch alles, der Spitzbube. Er und sein Compagno sollen, wenn unser Seefahrer eingestiegen ist und sie mit ihm an den Felsen hinfahren –“ Schilcher hielt inne und schmunzelte in seinem stillen Vergnügen vor sich hin.

„Na, was sollen sie?“

„In der Dunkelheit etwas Brandung machen das heißt, hin und her schaukeln, ohne daß der kühne Seefahrer es merkt. Das wird ihm vielleicht nicht gefallen, kann vielleicht nützlich sein!“

Rutenberg lächelte: „Du wirst ja auch ein Spitzbube unter diesen Welschen! – Das kann uns nützen, meinst du?“

„Vielleicht! Chi lo sa! Man muß nichts versäumen. Wir sind jetzt auf Kriegslisten angewiesen, Vater Rutenberg. Wenn sich das bewährt, daß der junge Held und Entführer keine Wellen vertragen kann …“ Er rieb sich noch einmal vergnügt die Hände, dann nahm er einen weißen und einen schwarzen Bauer vom Schachbrett, um mit dem andern zu losen, wer den ersten Zug hätte.

„Wie spät ist es denn?“ seufzte Rutenberg.

„Zehn Stunden vor Sonnenaufgang,“ antwortete Schilcher nach einem Blick auf die Uhr.

„Also noch hübsch viel Zeit! – – Nicht wahr, du alter Romantiker, so ’ne Nacht gefällt dir.“

„Zu Hause spielen sie Whist! – – Schildwach’ sitzen ist ja aber auch eine hübsche Sache, für uns alte Kerle. – Ich dank’ dir, schenk’ mir nicht ein; trinken mag ich nicht. Rauchen mag ich auch nicht – Das Merkwürdigste ist, daß ich gerade heute abend plötzlich müde werde …“

Er riß die Augen auf und schüttelte unwillig den Kopf.

„Armer Schilcher!“ summte Rutenberg, und seufzte dann wieder. „Ich bin nur zu wach! Ich hab’ hier ein niederträchtiges Gefühl – er wies auf sein Herz – „hier in dieser Gegend. Vater sein! Ja, ja! All das Thun und Sorgen, Schaffen und Hoffen, siebzehn Jahre lang – damit man dann so wie eine Feldwacht da sitzt und horcht in der toten Nacht …“ Er stand plötzlich auf. „Rührte sich was?“

Schilcher horchte. – „Nein. Die Flurlampe wird gelöscht.– Ich hatte mal einen Hund, der immer fortlaufen wollte …“

„Schilcher!“ sagte Rutenberg, nachdem er sich wieder gesetzt hatte.

„Was?“

„Ich verzage, Schilcher.“

„Das geht dir zuweilen so.“

„Wir sitzen hier … Wir sind wieder am Anfang, Schilcher! Wie auf diesen labyrinthischen Wegen hier zu Lande –“

„Ja, über die schimpfst du gern –“

„Wo man zwischen den hohen Gartenmauern fortgeht, ohne zu sehn, wohin, und der Weg windet sich und windet sich – und endlich kommt man ungefähr da wieder heraus, wo man angefangen hat. – Wie soll’s denn enden, Schilcher? Morgen ist’s ebenso. Das Kind ist von Sinnen; das Kind giebt nicht nach. An dieses ‚Ideal‘ hat es sein Herz, seinen Kopf, seine Vernunft verloren, ja, ja, seine Vernunft!“

Schilcher stellte die beiden Bauern wieder auf den Tisch; als er den zweiten, den weißen hinstellte, deutete er mit dem Finger auf den.

„Was meinst du? – Was willst du damit sagen?“

„Ja, ja,“ brummte Schilcher, „so geht’s nicht. – Er deutete nochmals auf den zweiten Bauer. – „Uns fehlt der andre, Rutenberg.“

[753] „Was heißt das?“

„Na, der andre. Der Ablenker!“

Rutenberg sah eine Weile nachdenkend in das bewegungslose kluge Gesicht. Er stand dann auf, ging durchs Zimmer; that noch ein paar Züge aus seiner Cigarre, warf sie über den großen Balkon hinaus und kam zurück. „Mensch, du hast ja recht!“ sagte er. „‚Der andre!‘ Da liegt’s. Das ist es. Sagt man so einem Kind nur immer: ‚den nicht!‘ das ist in den Wind gesprochen. Von dem läßt sie nicht; von dem einen nicht – so lang’ nicht ein andrer kommt! der den einen verdunkelt, ihm über den Kopf wächst, dem Kind ins Herz wächst!“

„Nu ja,“ murmelte Schilcher. „Das ist’s.“

Rutenberg schenkte sich wieder ein, trank ein wenig mit einem Seufzer stellte er darauf das Glas auf den Tisch zurück. „Na ja, und wenn es das ist – hast du diesen andern? Einen Arthur für uns? Einen Jüngling, der uns beglückt – und der sie beglückt? der ihr die Augen aufmacht? der uns so gefällt, daß wir alle vier Hände über ihnen ausstrecken und sie segnen: ‚Kinder, Kinder, liebt euch?‘ – Hast du den?“

„Nein. Wenn ich ihn hätte, würd’ ich es ja sagen.“

„Hm! –“ Rutenberg sah den Alten wieder mitleidig, mit zunehmender Rührung an. „Und statt dessen wachst du hier. Märtyrer. – Wie spät ist es denn?“

Schilcher schaute auf seine Uhr: „Zehn Stunden vor Sonnenaufgang, weniger fünf Minuten.“

„Schilcher, es ist hart!“ – Rutenberg warf sich auf seinen Stuhl.

Eine Glocke ward angeschlagen er fuhr wieder in die Höhe. „Was ist das?“ fragte er. „Ein Zeichen für das Kind?“

Schilcher schüttelte den Kopf. „Die Hotelglocke wird geläutet.“

„Ja, ja. Hast recht –“

„Es kommen wohl noch Fremde.“

„So spät? – Das kleine Hotel ist ja ganz besetzt.“

Schilcher schüttelte wieder den Kopf: „Ein Zimmer ist noch frei. Mit zwei Betten. Hat mir der Facchino gesagt.

„Man steigt die Treppe herauf!“

„Zwei Stimmen.“

„Der Kellner – und der Fremde.“

„Also ist nur einer gekommen.“

„Wahrscheinlich. – Das Ganze ist eine angenehme Unterbrechung, Schilcher!“

Der Oberappellationsrat nickte ernsthaft; beide horchten wieder.– „Sie gehn richtig in das einzige Zimmer, das noch frei war, am Korridor!“ bemerkte Schilcher.

„Ja, was sollten sie sonst auch thun?“

„Jetzt ist alles still.

„Dieselbe Beobachtung,“ entgegnete Rutenberg, „hab’ ich auch gemacht.“

„Der Kellner geht wieder fort.“

„Wie scharfsinnig du das alles in dich aufnimmst, Schilcher. Ich wollt’, es kämen im Lauf der Nacht noch ein Dutzend Fremde, damit dein Geist immer Arbeit hätte!“

[754] „Bitte, still,“ raunte Schilcher jetzt.

„Was giebt’s?“

„Der Fremde kommt ja hierher.“

„Zu uns?“

„Offenbar. Da geht er.“

„Wahrhaftig! – Na, er darf ja auch. Es ist der Salon!“


15.

Die Thür zum Korridor ging auf; Rutenberg öffnete aber die Lippen vor Ueberraschung, als er den eintretenden Fremden erblickte. Es war Waldeck Sohn, derselbe Fritz Waldeck, von dem er sich vor bald vier Wochen, zu Hause so ungut getrennt hatte. Der junge Mann kam hastig herein, erhitzt und doch bleich, wie von innerer Unruhe; sein ernstes Gesicht ward einen Augenblick hell, als er die beiden Männer sah. Er war ohne Hut, ohne Handschuhe; das schlichte, dunkelblonde Haar hing ihm etwas vernachlässigt in die breite Stirn. Man konnte ihn atmen hören. Er machte einige unklare Bewegungen, ohne noch zu sprechen.

Rutenberg nahm zuerst das Wort, da der Jüngling schwieg. „Das ist ja –!“ Nach diesen drei Silben hielt er schon inne: ihm fiel nun erst ein, mit was für harten Worten er ihn damals entlassen hatte.

„Guten Abend, meine Herren,“ begann der schlichte, angenehme Baß des jungen Mannes, heute fast noch dunkler gefärbt als an jenem Abend. „Ich hoffte kaum … Ja, eigentlich hofft’ ich doch – Entschuldigen Sie, wenn ich zu so später Stunde –“

„Sie sind hier ja im gemeinsamen Salon,“ unterbrach ihn Schilcher, der sich sonst nicht rührte. „Guten Abend, Herr Waldeck“.

Fritz Waldeck verneigte sich gegen ihn, dann trat er aber auf Rutenberg zu. Nachdem er die breite Brust wieder mit Luft gefüllt hatte, sagte er mit leise erzitternder Stimme: „Herr Rutenberg, Sie haben meinen Vater – damals, vor drei, vier Wochen – Sie haben ihn einen Verbrecher, einen Betrüger, einen Schurken genannt. Sie haben mir dann gesagt, als ich Ihnen widersprach, Sie können weder Ihren Vater, noch Ihre Mutter aus dem Grabe rufen schaffen Sie Beweise!“ – Er legte eine Hand auf seine Brusttasche: „Das ist jetzt geschehn. Ich wiederhole Ihnen jetzt, was ich damals sagte: Sie haben nicht das Recht, ihn so zu nennen es ist nicht die Wahrheit!“

Erstaunt, wie selten in seinem Leben, sah Rutenberg den Jüngling an. Da stand dieser lange Mensch auf einmal in Sorrent, um ihm das zu sagen … In dem bleichen jungen Gesicht war eine Mischung von bescheidener Schlichtheit und von Löwenkühnheit, die ihm wunderbar auf die Seele ging. Es kam ihm noch Schillerscher vor als damals. Dazu diese dunkle ergreifende, nur ein wenig heisere Stimme. Ehe er etwas zu erwidern vermochte, sah er Schilcher an, der nickte nun wie wenn er damit ausdrücken wollte: „hab’ ich dir das nicht gesagt?“

„Sie sehen mich ganz – ganz erstaunt, Herr Waldeck,“ kam dann etwas unsicher aus ihm heraus. „Sie kommen aus dem Norden hierher … Und Sie sagen: ‚Beweise‘ –“

„Ja,“ fiel ihm Fritz Waldeck ins Wort „Ich hab’ gesucht; Tag und Nacht, in jedem offenen und verborgenen Fach, in alten Kisten und Koffern … Denn da ich meinen Vater nicht aus dem Grabe rufen konnte – und mir seine Ehre doch heilig war; natürlich – so hab’ ich jedes Blatt Papier – –“ Er zog mit zuerst ungeschickten, zitternden Fingern einige zusammengefaltete Briefe aus der Brusttasche. „Ich sagte Ihnen damals er war kein Betrüger, er war betrogen wie Sie. Hier sind die Beweise, Herr Rutenberg. Hier sind die Beweise!“

„Aber was sind Sie für ein Mensch,“ erwiderte Rutenberg. „Um mir das zu sagen, machen Sie diese weite Reise –“

Fritz Waldeck hatte eine ablehnende Bewegung: „Es – es machte sich so. Es ließ sich machen … Ich will Ihnen natürlich nicht vorwerfen, daß Sie schlecht von meinem Vater dachten, der Schein war gegen ihn, das weiß ich ja. Mein unglücklicher Vater – – die Papiere, die ihn rechtfertigen konnten, hatte er verloren: er verzagte, er verzweifelte, wie er die allgemeine Verdammung, – die lärmende, tobende, wütende Verdammung widerlegen sollte. In dieser Seelenangst verlor er den Kopf; sein Verstand fing schon damals an, sich zu verwirren; sehn Sie, das zeigt dieser Brief!“ – Er zog einen Brief aus den andern, die um ihn herumlagen heraus, pochte mit dem Zeigefinger darauf und schüttelte ihn. „Den schrieb er an meine Mutter, nach seiner Flucht, aus Amerika schrieb er darin alles das, was ich eben sagte. Den hilflosen Jammer um den verlorenen guten Namen – seine Ohnmacht – seine Anklagen gegen sich selbst, daß er so vertrauensvoll und so blind gewesen – und dann auf einmal diese sinnlosen ganz verwirrten Worte … Bitte, lesen Sie!“

„Ja, ja,“ sagte Rutenberg, in dem sich noch der Widerspruch, die alte Ueberzeugung wehrten; er nahm den Brief, schaute aber noch nicht hinein. „Das schrieb er an Ihre Mutter …“

„Ich hab’ hier noch mehr Beweise, Herr Rutenberg!“ rief der junge Mann mit plötzlich hoch hinaufgehender Stimme aus. „Dieser zweite Brief. Sehn Sie. Den sein Arzt an meine Mutter schrieb. Sehn Sie ihn nur an!“ Er hielt ihn hin, drückte ihn in Rutenbergs Hand. Dann hob er die Papiere in die Höhe, die er nun noch hatte; seine aufflammenden Augen sagten: ich hab’ hier noch mehr! ich hab’ genug!

Schilcher brummte leise. Plötzlich ging ihm ein angenehmer Ruck durch den Leib; Trudel! dachte er. Den muß unsre Trudel sehn! Den muß sie hören jetzt! jetzt! so lang’ er noch für seinen Vater spricht! – Die hatte ja immer Sinn für was Großes, die Dirn’. Der würd’ ihr gefallen … Wie sagte sie doch damals, an ihrem Geburtstag vor zwei Jahren war’s, als fünfzehnjähriger Backfisch: „wenn einmal einer so recht was Edles und Schönes gethan hätt’, Onkel Schilcher, den möcht’ ich dann heiraten!“ – Ich lachte das stolze Ding noch aus „Trudel, der nimmt dich nicht!“ … Er sah, daß Rutenberg sich in den ersten Brief vertiefte; so geräuschlos wie möglich, und als ginge ihn die ganze Sache nichts an, schob er sich zur Thür hinaus. Er kam in Gertruds Zimmer; dort brannte eine Kerze auf dem Tisch, das Mädchen saß in der entferntesten Ecke, auf einem niedrigen kleinen Stuhl. Sie hatte einen Ellbogen aufgestützt, den Kopf in der Hand. Was für ein Gesicht sie machte, konnte er nicht sehn. „Trudel!“ rief er sie leise an und trat vor sie hin.

„Was ist?“ fragte sie, aus tiefer Versonnenheit auffahrend.

Er wägte seine Worte. „Solltest geschwind zu deinem Vater kommen,“ sagte er mit Doppelsinn, um nicht zu lügen.

„Zu Vater?“ – Sie schüttelte heftig den Kopf, dann den ganzen Leib. „Ich will nicht zu Vater. ,Nie nie, nie!’ hat er mir gesagt. Dinge hat er mir gesagt … Geh’ nur wieder hin, Onkel Schilcher. Ich komm’ nicht!“

„Das ist alles ganz schön, Trudel, bist aber doch immer noch gewissermaßen sein Kind. Und wenn deinem Vater etwas zugestoßen ist …“

„Ist ihm denn was zugestoßen?“ fragte sie nach einem trotzigen Zögern, da er nicht weitersprach.

„Na, du hörst ja!“ murmelte Schilcher. „Darum komm’ ich ja. Und wenn man seinen Vater noch ein bißchen lieb hat –“.

„Was ist ihm denn zugestoßen?“

„Ich muß wieder hin!“ gab er nur zur Antwort; seine kurzen Beine traten bereits ihren Rückzug an. „Allein werd’ ich ihn doch nicht lassen,“ sprach er im Gehen zurück. „Gertrud Rutenberg, komm!“

Was ihm zugestoßen ist? dachte Schilcher, der zuweilen, wenn’s not that, doch auch ein wenig Jesuit war – dieser Fritz Waldeck ist ihm zugestoßen! – Er lächelte in sich hinein, während er zurückging; er hörte, Trudel kam ihm nach. Geschwind war er wieder im Salon, hier blieb er, aber nicht: dem Mädel ins Gesicht zu sehn, verging ihm der Mut. Er that, als suchte er etwas, ohne Rutenberg und Fritz Waldeck anzuschauen und schlüpfte in den „Käfig“, in das Rauchzimmerchen hinein.

Gertrud trat in die offen gelassene Thür, ihr schlug nun doch das Tochterherz; sie wollte auf den Vater zu; – verwundert, verwirrt blieb sie stehn. Der Vater ganz aufrecht, las in einem Brief, mit furchtbar ernstem, weichem Gesicht vor ihm stand dieser junge Landsmann, den sie damals aus Versehen. „Herr von Hiller“ genannt hatte. Von einem Unglück, das dem Vater zugestoßen, sah sie weiter nichts …

„Hm! Hm!“ murmelte Rutenberg bewegt, er war zu Ende mit dem ersten Brief. „Na ja! Armer Mann! – Und was steht denn in dem zweiten Brief? Vom Arzt, sagten Sie –“

„Ja; allerdings,“ stammelte Waldeck, jetzt befangen, verwirrt, da er das junge Mädchen sah, das ihn so fassungslos anstaunte.

[755] Rutenberg blickte auf; nun bemerkte auch er das Kind. Er schaute in die großen Augen die ernsten, in dem guten Gesicht. Wo kam das Kind auf einmal her? – Schon gut, soll nur hierbleiben! fuhr ihm durch den Kopf. „Sprechen Sie nur ruhig weiter, lieber Herr,“ sagte er zu Waldeck. „meine Tochter, da sie schon einmal da ist, ist hier nicht zu viel. Ganz im Gegenteil! Die hat mich nur zu oft von Ihrem unglücklichen Vater – Schlechtes reden hören, die soll mit dabei sein, wenn Sie mich belehren, beschämen. Denn ich seh’s ja Ihren Augen an: ich bin im Unrecht. Also der Arzt. Heraus damit!“

Waldeck zögerte, noch sehr verwirrt. „Vor Ihrer Tochter –“

„Ja, ja! Schonen Sie mich nicht! Verklagen Sie mich so hart wie Sie wollen – wenn ich es verdiene. Ich will doch vor meinem Kind nicht besser scheinen, als ich bin. Also was schreibt der? der Arzt?“

Der Jüngling nahm sich zusammen. Nach meines Vaters Tod – da drüben – in Amerika – schrieb sein Arzt ihn an meine Mutter. Sie haben übrigens den Brief schon in Ihrer Hand. Er berichtet darin über seinen Tod und daß er irrsinnig war, daß er sich im Irrsinn das Leben nahm. Und daß seine Geistesverwirrung sich offenbar lange vorbereitet – schon vor seiner Ankunft in Amerika sich entwickelt hatte … Aber bitte, lesen Sie selbst!“

Rutenberg lächelte, mehr und mehr gerührt. „Ich wollt’ es ja von Ihnen hören. Dann ist’s ja auch so gut wie gelesen … Aber wie Sie wollen!“ – Er sah in den Brief hinein: er durchflog ihn. „Irrsinnig – schon vorher! Mein Gott!“

„Aber das bewiese noch nichts“ – Fritz Waldeck entfaltete die letzten Papiere und hielt sie hin – „wenn ich das nicht hätte: die verlorenen Briefe, die Briefe jenes Schurken, des Direktors der Bank – die er vor dem Zusammensturz an meinen Vater schrieb. Worin er ihm beteuerte, beschwor, immer wieder und wieder – alles stehe gut. Wer daran zweifle, dem könne die heiligste Versicherung gegeben werden, daß ihm alles, alles – Lesen Sie; bitte. Diese Briefe täuschten meinen Vater! Als er sie später suchte, waren sie verloren; unter Papieren meiner armen, ahnungslosen Mutter vergraben – nur zu gut verwahrt. Nach unendlichem Suchen und Stöbern hab’ ich sie gefunden; ach, um viele Jahre zu spät. Aber doch gefunden!“

Rutenberg las, anfangs langsamer, dann flogen seine Augen nur. Endlich ließ er die Briefe auf den Tisch fallen, neben dem er stand. Es kam ihm ein Schluchzen, gegen das er kämpfte. „Und ich,“ brachte er mühsam heraus, „ich hab’ Ihren Vater, meinen Freund, verleumdet. Bis ins Grab –“

„O mein Herr –!“ sagte der Jüngling rasch, mit einer weichmütig abwehrenden Gebärde.

„Hab’ ich ihn denn nicht verleumdet? Stehn Sie denn nicht wie eine lebendige Anklage vor mir da – Sie, sein einziger Sohn? – Mann, und mit diesen Briefen reisen Sie Hunderte von Meilen hierher –“

„Es machte sich so,“ wiederholte Fritz Waldeck, „es fand sich eine gute Gelegenheit dazu. Eine Gesellschaft von jungen Archäologen, die nach Neapel und Rom reiste, mit einem Berliner Professor, unter dem hab’ ich studiert und er hat mich – rührend gern. Der schrieb mir denn auch: kommen Sie mit! Und ich – ich schlief nicht mehr, es ließ mir keine Ruhe, mein Vater stand so oft neben mir am Bett … Sie hatten ihn einen Verbrecher, einen Schurken genannt – Da hört’ ich vom Doktor Wild, wo Sie wohnen, und ich dachte: nimm’s an! So ’ne wissenschaftliche Reise – das ist ja an sich „studiert“. Und für deinen Vater, der – –“

Gertruds blasse Augen ruhten so fest, so weich auf ihm, daß sie ihn verwirrten. Er brach wieder ab. Nur eine unklare Gebärde mit dem Arm sprach noch etwas weiter.

„Ja freilich!“ murmelte Rutenberg. „Und von Neapel sind Sie –“

„Von Pompeji,“ fiel Waldeck ihm ins Wort. „Da wir gestern nach Pompeji kamen – so hielt ich’s nicht mehr aus. Bin heut nachmittag über Castellamare hergewandert –“

„Zu Fuß? Diesen ganzen Weg zu Fuß?“

Waldeck lächelte. „Um zu sparen. Ein so schöner Weg!“

Hinter ihm kam jetzt etwas geschritten, es war der kleine Schilcher, der die Thür zum Rauchzimmer längst behutsam geöffnet und jede Silbe gehört hatte. Er ging um Fritz Waldeck herum und sah ihm ins Gesicht. Er schien auch etwas sagen zu wollen, dann faßte er ihn aber nur stumm am Arm, glitt an dem herunter und drückte ihm die Hand.

In diesem Augenblick füllten sich Fritz Waldecks Augen mit Thränen; er suchte geschwind wieder zu lächeln, weil er sich wohl der Thränen schämte. „Herr! Herr!“ rief Rutenberg aus, der sich an den Tisch lehnte. „Geben Sie mir auch die Hand? – Oder hassen Sie mich? auch bis in den Tod?“

„Wie können Sie denken,“ stammelte der Jüngling, der nun fast nicht mehr reden konnte. „Wenn Sie mich so ansehn –“

„Fritz Waldeck! Ferdinand Waldecks Sohn!“

Rutenberg trat auf ihn zu und schüttelte seine ausgestreckte Hand. Er schluchzte nun doch einen Augenblick. – „Wie soll ich das gut machen, Mensch, was soll ich thun?“

Auf einmal umfaßte er ihn und drückte ihn an seine Brust.

„O mein Herr –!“

Rutenberg ließ ihn wieder los. „Hab’ ich mich übereilt? Durft’ ich das nicht?“

„O, Sie mißverstehn mich. Nein, nein. Ihr Edelmut – Ihre Güte …“ Fritz Waldeck legte sich die Hand auf’s Herz: „Alles, was sich hier angesammelt hatte, ist auf einmal fort. Und alles, alles ist gut!“

Schilcher blickte heimlich auf Gertrud, heimlich nickte er; das Mädel hatte auch eine tüchtige Menge Rührung im Gesicht, wenn er nicht sehr irrte. Richtig, nun geriet sie auch in Bewegung, trat vor den jungen Menschen hin. „Herr – Waldeck!“ sagte sie mit sehr wenig Stimme, aber großen Augen. „Verzeihn Sie mir auch?“

„Ihnen?“ fragte Fritz Waldeck erstaunt, überrascht. „Was hätt’ ich Ihnen –“

„Ich hab’ auch oft nicht gut von Ihrem Vater gesprochen. Nicht wahr, Sie verzeihn mir das; ich hab’s nicht besser gewußt. Und – und ich hab’ Sie verkannt;“ sie gab sich Mühe, zu lächeln; „hab’ Sie sogar verwechselt …“

Nun erheiterte sich sein Gesicht, es verlor das Schillersche. „Selbst das,“ sagte er, den leisen Druck ihrer Hand erwidernd, „kann ich jetzt vergessen!“

Wie hübsch der Junge lächeln kann, dachte Schilcher. Im nächsten Augenblick wandte er den Kopf und horchte zur Glasthür hin; ihm war, als hörte er da draußen rufen, und zwar eine bekannte Stimme. Es klang beinahe wie Hilferufe. Auch die andern horchten. Schilcher, in dem eine vergnügte Ahnung aufstieg, ging zur Glasthür und öffnete sie. Vom Meer herauf kam’s nun deutlicher, so daß man die Worte unterscheiden konnte, ein etwas entstellter, verwilderter Baryton rief: „Ans Land! Ich will ans Land!“

Gertrud fuhr zusammen. Sie schien die Stimme zu erkennen. Schilcher lächelte in sich hinein, ihm ward wohl zu Mut.

„Wenn ich mich nicht täusche,“ sagte er sehr ernsthaft zu den Männern zurück, „so war das Herr van Wyttenbach. Der war also noch nicht fort?“

„Herr van Wyttenbach?“ fragte Fritz Waldeck verwundert, betroffen. Gertrud wandte sich ab, als sähe sie da rechts etwas.

Die Rufe von unten her hörten auf; Schilcher trat auf den langen Balkon und schaute über das Geländer in die Nacht hinunter. „Ich hör’ da auf den Steinen Schritte,“ sprach er nach einer Weile in den Salon zurück. „Es war offenbar eine Barke. Sie sind gelandet, sind ausgestiegen. – Herr van Wyttenbach!“ rief er dann mit seinem holzharten Baß in die Tiefe, über das Geländer vorgebeugt. „Was ist Ihnen denn geschehn? – Wir sind noch hier! Kommen Sie herauf!“

Rutenberg lauschte, verstohlen lächelnd, er hatte seine Augen auf Gertrud, die noch immer die Wand anblickte. „Kommt er?“ fragte er nach einer tiefen Stille.

„Zu Befehl,“ rief Schilcher hinein. „Ich hör’ sie auf der Felsentreppe. Herrn van Wyttenbach und unsern Pasquale hör’ ich. Sie steigen herauf. Es scheint, das unruhige Wasser hat ihn eingeschüchtert.“

Fritz Waldeck trat in die Balkonthür, er verstand das alles nicht. „Wie meinen Sie das?“ fragte er. „Das Meer ist ja ruhig.“

„Dann war es vielleicht eine andre Sache,“ antwortete Schilcher in tiefem Ernst. „Jedenfalls kommt er herauf!“

[766]
16.

Es dauerte nicht lange, so erschienen sie denn auch, Arthur und Don Pasquale, der Italiener mit seinem harmlosen, unergründlichen Spitzbubengesicht, Arthur zögernd, bleich, fast genierlich, ohne die elegante Sicherheit, mit der er sonst in Salons einzutreten pflegte. Er erstaunte sehr, als er Fritz Waldeck sah, streifte dann Gertrud nur mit einem vorüberhuschenden Blick und suchte, zu Vater Rutenberg gewendet, heiter mit den Achseln zu zucken „Ich bitte um Entschuldigung,“ sagte er. „ich bin wieder da. Man kann jetzt nicht gut fahren, die Brandung ist zu stark –“

Pasquale kam ihm zu Hilfe: „Ja, die Brandung ist stark. Der Meer weiter draußen wär’ wohl still genug, aber an die Felsen hin –“

„Da schaukelt es heftig,“ ergänzte Arthur. Er fuhr sich mit seinem feinen Taschentuch über die kleine Stirn. „Und viel Bewegung im Wasser kann ich nicht vertragen.“

„Sie könnten ja weiter hinaus fahren,“ bemerkte Rutenberg, der inwendig lachte.

„Ja, das sagen Sie wohl! Mir wurde so seekrank zu Mut!“

„Seekrank!“ wiederholte jemand hinter ihm. Er wandte zögernd den Kopf, das Wort war unwillkürlich, halblaut aus Gertrud herausgefahren. Da er sie nun etwas unsicher anstarrte, wandte sie sich langsam ab.

„Und – und so kehrt’ ich um,“ setzte er mit einem möglichst freien, frischen Lächeln hinzu. „Und so bin ich nun da.“

„Na, so bleiben Sie da!“ sagte Schilcher, der sich die Hände rieb. „Erholen Sie sich hier von der bösen Seefahrt, legen Sie sich zu Bett, werden Sie wieder gesund. Sie und Herr Waldeck sind ja alte Freunde, nicht wahr –“

Arthur nickte lebhaft. Er nickte dann auch dem alten Freund gemütlich zu.

„Herr Waldeck hat zwei Betten in seinem Zimmer. Vielleicht tritt er Ihnen für diese Nacht eins ab.“

„O gewiß!“ entgegnete Fritz. „Natürlich!“

„Also gehn Sie schlafen. Pasquale, helfen Sie, bringen Sie ihn zu Bett!“

„O nein, nein!“ fuhr Arthur nun auf. „Ich danke, ich danke. Was glauben Sie … Mir ist wieder gut!“ – Seine Augen suchten jetzt Gertrud; sie war aber hinter seinem Rücken auf den großen Balkon gegangen und sah am Geländer in die Nacht hinaus. Es schien, sie war verstimmt … Er zuckte [767] wieder die Achseln. Morgen! dachte er, und zu Lande! – „Gute Nacht!“ sagte er dann laut, damit auch Gertrud ihn hörte.

Sie blieb aber abgewandt stehn und sagte nichts. Nur Schilcher erwiderte ein herzliches Gute Nacht- Um seinen Nußknackermund spielte jedoch ein verwünschtes Lächeln, das dem eingeweihten Rutenberg sagte: die ‚Brandung’ hat sich bewährt! Fritz schickte sich an, mit Arthur zu gehn. Rutenberg trat ihm in den Weg und nahm noch einmal seine beiden Händen „Waldeck Sohn!“ sagte er fast zärtlich. „Morgen mehr! Schlafen Sie gut!“

„Ich hoffe,“ erwiderte Fritz mit ernsthaftem Lächeln. Auch seine Augen suchten dann Gertruds Gesicht, sie schien aber ganz mit dem Meer beschäftigt, auf das sie hinaussah. So nahm er denn nur noch von Schilcher Abschied und ging mit Arthur und dem Barkenführer auf den Korridor hinaus. Rutenberg und Schilcher blickten ihm liebreich nach. Darauf lächelten sie einander zu wie zwei alte Schelme.

Langsam und fast unhörbar kam das Mädchen nach einer Weile vom Balkon zurück. Die Männer thaten, als bemerkten sie es nicht, um sie nicht zu stören. Sie war entfärbt und ihr Mund verzog sich; es ging ihr allerlei durch den Kopf. Und das Meer ist beinahe still, dachte sie. „Seekrank! – Wasserscheu!“

Sie warf noch einen unsichern Blick auf den Vater, ihr fiel nun ein, daß ihm doch eigentlich nichts zugestoßen war, und daß sie noch kein Wort mit ihm gesprochen hatte. Jetzt mochte sie erst recht nicht sprechen. Da die beiden so beisammen standen, ohne auf sie zu schauen, ging sie still in ihr Zimmer.

„Ich glaube, Vater Rutenberg,“ sagte Schilcher leise, als das Kind hinaus war, „heute nacht können wir ruhig schlafen.“

„Ja, bei Gott, es scheint so. – Du Intrigant.“ – Rutenberg deutete dann nach dem Korridor hinaus. „Schilcher! Der da – der wär' der andre!“

Schilcher hob die rechte Schulter, wie hoffnungslos oder ratlos: „Hätte nichts dagegen!“

17.

Ebenso wolkenfrei und sonnig und schön wie die früheren war auch der nächste Morgen wieder heraufgestiegen, Gertrud saß allein im Garten, da, wo sie morgens am liebsten saß: vorne an der steinernen Brüstung, so daß sie am steilen Fels hinunter gerade in das flache, grünliche Wasser, auf die umspülten Steine, oder vorwärts nach den herrlich besonnten Inseln Ischia und Procida und an der ganzen Weite des Golfs entlang schauen konnte. Hier hatte sie auch vor acht Tagen gesessen, als die Sorrentiner, die zur Tarantella-Gesellschaft gehörten, von Rutenberg bestellt, aus den immergrünen Gebüschen in ihren farbenreichen Kostümen hervorgetreten waren und so unter dem blauen Himmel, im Garten, getanzt, gesungen, allerlei neckische kleine Komödien gespielt hatten. Hier ließ sich so gut von allem träumen, was das Herz bewegte, von den fernen Freundinnen, von der Schulzeit, von der himmlischen Freiheit in der himmlisch schönen Welt, von der Hochzeitsreise – wenn die einmal käme – und von Ihm, von dem Einzigen … Hier war's immer schön – nur heut’ wollte ihr nichts gefallen, sie wußte nicht recht, warum. Es gefiel ihr nur, daß der Vesuv so mächtig dampfte, wie er bisher noch nie gethan, obgleich er besonders aufgeregte Zeiten hatte; fast unheimlich schwarz und wild stieg seine Rauchsäule auf, oben wie ein Schirm sich ausbreitend, und auch weiter unten am Berg brach eine Wolke hervor, einer grauen, riesigen Katze ähnlich. Ihr war’s recht! Nur zu! Ihrer tragisch gestimmten, verstimmten, aufgeregten Seele that’s wohl, daß der alte Vesuv so aufbegehrte; brich du nur los! dachte sie. O wenn du das doch thätst, altes Ungeheuer! Wenn du mal wieder Ernst machtest, aber ordentlich! Daß so recht was los wär’ in der Welt, daß es ächzte und krachte … Dann würd’ mir am Ende besser zu Mut!

Pasquale kam vom Hause her durch den Garten; auf seinem schwarzbärtigen Gesicht leuchtete die Morgensonne und machte Bronze daraus. Mit etwas theatralischer Grazie nahm er den schwarzen Kalabreser ab und grüßte: „Guten Morgen, Fräulein – Immer die erste beim Frühstück, immer die erste im Garten!“

Buon giorno, Pasquale,“ erwiderte das Mädchen, noch in ihren Gedanken. „Wohin?“

Er deutete mit dem Finger: „An den Meer hinab. Die Barke wartet unten. Wenn der Vapore kommt –

„Ah, der Dampfer von Neapel!“

„Zu dienen. Muß ja alle Tage mit meine Barke zur Piccola marina, ob auf dem Dampfer Fremde kommen für uns. – Nun? Was hab' ich gesagt, Signorina? Er streckte die Hand wagerecht aus: „Der Meer ist wie meine Hand!“

Gertrud fuhr leicht zusammen: alles war wieder da, was sie heut‘ verstörte. „Ja, ja,“ sagte sie, indem sie den Uebergang zu einer Frage suchte, die ihr eben einfiel. „Ja, Sie haben recht … Pasquale!“

„Signorina?“

„Als Sie gestern abend mit – mit dem jungen Herrn in der Barke saßen – da unten an den Felsen – war denn das Meer wirklich so bewegt?“

Die schwarzen Schelmenaugen Pasquales ruhten mit schlauem Forschen auf ihr. Er begann dann die Hände sehr ernsthaft hin und her zu drehn: „Die Barke machte so – so!“

„Na, um ein bißchen, so, so‘ fürchtet man sich doch nicht. Wenn‘s nicht schlimmer war –“

Pasquale lächelte zurückhaltend: „Eh! Die Fräulein ist mutig. Der junge Herr ist wohl nicht so mutig. Er versuchte Arthurs Baryton nachzuahmen: „Ans Land! – Will ans Land!“

Gertrud stand auf, ihr ward auf einmal so schlecht zu Mut. Nicht so mutig, sprach sie vor sich hin, vom nächsten Busch ein Blatt abreißend. – „Guten Morgen, Pasquale!“ Sie warf das Blatt über die Brüstung, in die „Brandung“ hinunter.

„Guten Morgen“, gab er zurück. „Buona passeggiata!“

Grazie.“

Pasquale stieg die Felsentreppe hinab, die sich in mehreren Windungen, mit Ruhebänken, zum steinigen Ufer senkte. – Nicht so mutig! dachte Gertrud wieder. Und ich wollte – – Fliehen wollt‘ ich mit ihm. In die Welt hinaus!

Wieder kam einer vom Hause her, abermals war es nicht Arthur, sondern der andre Lange, Fritz Waldeck. Er grüßte, etwas feierlich, und wandte sich dann gleich zur Felsentreppe, als wiche er ihr aus. Oder will er mich nur nicht stören? dachte sie. Zarte Rücksicht? – Ich muß aber doch endlich was von Arthur hören …

„Guten Morgen, Herr – Waldeck!“ rief sie ihn mutig an.

Er verneigte sich und trat höflich ein paar Schritte näher.

„Sie kommen vom Frühstück?“

„Ja,“ antwortete er kurz.

Sie zögerte, überwand sich aber: „Und er?“ fragte sie. „Herr van Wyttenbach, mein‘ ich –?“

„Setzt sich eben zum Frühstück. Er stand erst auf, als ich schon hinunterging.“

„Ah!“ sagte sie. Das Herz schlug ihr unruhig, vor plötzlicher Sorge um den Geliebten. „Ist er unwohl?“ fragte sie, suchte aber recht gleichmütig dabei auszusehn. „Hat er schlecht geschlafen? Er hatte vielleicht eine schlechte Nacht –“

„Im Gegenteil,“ erwiderte Fritz Waldeck lächelnd. „Er hat vortrefflich geschlafen. Die ganze Nacht, beneidenswert gut.“

Es kam wieder Bitterkeit in Gertruds Seele; und ich, dachte sie, lag schlaflos da, fast die ganze Nacht! – Sie sah diesen langen Menschen an, der ihr das sagte und sie so kränkte; ein verhaltenes, sonderbares Lächeln, das sie nicht mochte, spielte um seinen Mund. Es rührte sich ein trotziger Zweifel in ihr. „Aber woher wissen Sie das?“ fragte sie, den Kopf auf die Seite gelegt.

„Was, mein Fräulein?“

„Daß er so fest, so gut –-“

„Weil ich – wachte. Fast die ganze Nacht.“

„Sie auch?“ fuhr aus ihr heraus. „Sie? sagte sie dann, wie sich verbessernd. „Warum denn?“

Er suchte seine Worte. „Warum? – Es war mir so merkwürdig, so – wunderbar, unter einem Dach mit Ihnen …“

Sehr erstaunt sah sie ihm in die Augen.

Er errötete, aber nur schwach, nur flüchtig, als hätte er eine Kraft oder ein Mittel, das zu unterdrücken. „Und – so das Ganze, mein Fräulein!“ setzte er wie zur Erklärung hinzu. „Alles, was ich erlebt hatte. Sie begreifen wohl.“

„O gewiß, gewiß! Diese weite Reise und 'alles'!“

„Ja, das ist es, Fräulein.“

„Ach ja! Sie haben viel erlebt! – –“ Gertrud rückte auf ihrem steinernen Sitz, sie sammelte neuen Mut. „Entschuldigen Sie,“ fing sie tapfer an, indem sie die unruhigen Füße übereinanderlegte. [770] „Ich hatte mir vorgenommen, ein paar Fragen an Sie zu stellen – drei Fragen. Darf ich –?“

„Aber ich bitte, mein Fräulein.“

Sie lud ihn mit einer raschen Bewegung ein, sich neben sie auf die Bank zu setzen, er nahm schweigend Platz. „Nämlich,“ sagte sie, – „da Sie beide ja Jugendfreunde sind – – ich meine ihn, Herrn van Wyttenbach. Also erstens – –“

Es war doch sehr schwer, sie fand die rechten Worte nicht.

„Erstens?“ fragte Waldeck.

„Erstens wollt‘ ich fragen ob Herr van Wyttenbach immer – etwas wasserscheu war? – Ich meine –“

„Wasserscheu?“ – Er lächelte einen Augenblick, sah sie flüchtig von der Seite an. Mit zarter, schonender Stimme sprach er dann gegen den Erdboden hin: „Nicht sowohl wasserscheu, als – überhaupt etwas vorsichtig …“

„Wie?“ fuhr sie auf.

„Sie müssen nicht denken, daß ich sagen will, er hat keinen Mut! – O nein. Er hat vermutlich ebensoviel davon wie die andern …. Ich kann mich sogar erinnern, daß mein Vater, der mich von Berlin aus besuchte – als wir beide noch Knaben waren – da sagte er mir einmal: „Nimm dir an Arthur Wyttenbach ein Beispiel, wie man unter den Menschen auftreten muß, ohne Scheu, ohne Furcht!‘ Weil ich nämlich schüchtern war –“

Sie machte eine leise Bewegung mit der Hand, die ihn stumm machte. „Das,“ erwiderte sie dann mit schwacher Stimme, „ist eine andere Art von Mut!“ – Ihre zusammengesunkene, knospenhaft schlanke Gestalt drehte sich langsam zu ihm, es stieg ihr warm und weich in die Augen. „Ihr Vater,“ sagen Sie. „Für den Sie diese Reise, und alles – – Aber er hat es gewiß verdient. Er war gewiß gut!“

Fritz Waldeck lächelte so schmerzlich, daß es sie unbewußt ansteckte; sie lächelte ebenso. „Gute Menschen sind oft sehr unglücklich,“ antwortete er zögernd, gepreßt, „wie ich allmählich mehr und mehr begreife. Er war beides, Fräulein, Beides wohl viel zu sehr. Aber ich glaube, doch nicht mehr unglücklich als gut!“

„Ich merke, es thut Ihnen weh, wenn Sie von ihm sprechen.“ Gertrud lächelte herzlich. „Wir wollen lieber von Ihnen sprechen! Schüchtern, sagten Sie. Sie wären als Knabe schüchtern gewesen … „Aber gestern abend, gegen meinen Vater, waren Sie nicht schüchtern. Da hab' ich Sie – bewundert, muß ich Ihnen offen sagen. Da waren Sie – wie soll ich das ausdrücken – da standen Sie nicht wie ein Jüngling da, sondern wie ein Mann!“

„Das versteh' ich nicht,“ sagte Waldeck schlicht. „Wenn es sich um etwas Heiliges handelt, wie kann man da schüchtern sein? Da kennt man doch keine Scheu, keine Bangigkeit!“

„Ja Sie,“ entgegnete Gertrud leise. – „Ich war meinem Vater so dankbar,“. fuhr sie etwas kräftiger fort, „als er Sie bewunderte, als er Ihnen sagte – – na, Sie wissen es ja!“

„Was ist Ihnen?“ fragte sie, da sie ihn jetzt so sonderbar atmen hörte, als thäte ihm etwas weh.

„Nichts!“ antwortete er und schüttelte den Kopf. Er dachte nur eben, beglückt und gequält, ach, wie hold sie ist! Und er fühlte, daß er noch ebenso verliebt war wie vor einem Monat … „Sie wollten noch eine zweite Frage an mich stellen, warf er nach einem Schweigen hin,“ das ihn drückte, denn auch sie war still.

„Ich,“ sagte sie träumerisch, als käme sie wieder zu sich. „Ja. – Ich wollte Sie fragen, ob Herr van Wyttenbach – – ob er schon recht, recht früh seine besondere Begabung zeigte –“

„Seine besondere?“ – Fritz lächelte unwillkürlich. Dann sprach er wieder zart, zurückhaltend auf den Gartenkies hinunter. „Er kam immer gut mit fort! Er war ein recht beliebter Schüler, – bei den Lehrern, mein ich. Hatte gewöhnlich gute Zeugnisse, – meine waren oft schlechter. Ich ,schwänzte’ nämlich gern, wenn so verwünscht schönes Wetter war. Auch mein Betragen wurde oft getadelt, denn ich war oft abwesenden Geistes – verliebt oder philosophisch oder Gott weiß was – oder wir schrieben uns wahnsinnige, schwärmerisch aufgeregte Briefe in Chiffresprache, unter der Bank, waren eigentlich Busenfreunde und ich! – Uebrigens, ich langweile Sie …

„Wie können Sie so was sagen,“ entgegnete das Mädchen das ihn so gern von der Seite ansah, während er gegen den Erdboden sprach. „Schwärmerische Briefe’ – das war ja auch mein Verbrechen, als ich noch lernen mußte, wo die hohe Tartarei liegt! – Ach Gott, und nun weiß ich's schon nicht mehr – und bin erst siebzehn Jahre alt! – – Ich seh’ es Ihnen an, Sie haben auch im Karzer gesessen –“

Fritz Waldeck nickte, er sah jetzt furchtbar jung und drollig glücklich aus. „O ja, in unserm alten Schulgebäude, da war noch ein wirklicher kleiner Karzer, manche schöne Stunde hab’ ich da verträumt! Da bildete ich mich zum Republikaner aus. Jetzt bin ich etwas vernünftiger geworden und daher monarchisch. In den Karzerzeiten waren meine politischen Ueberzeugungen wild, feuerrot, rebellisch … Worüber lächeln Sie?“

„Nur so aus Vergnügen. Aus Begeisterung. Das gefällt mir so!“

„Ja, und da Sie von ‚schüchtern‘ sprachen – unser Sonntagsblatt ,Vorwärts! Vorwärts!‘ das wir als Untersekundaner heimlich schrieben, das war auch nicht schüchtern! Darum erlitt ich denn auch manche Verfolgung, vom Direktor, mein‘ ich. Er war mehr für ‚Rückwärts, Rückwärts‘! Wir verstanden uns nicht. Er hatte nur leider die Uebermacht. Ich hatte die Zukunft für mich, aber er den Karzer für sich. Von dem machte er mutigen Gebrauch. bis dieses lustige Elend, das sich Schulzeit nennt – –“

Er brach wieder ab. „Nun werd' ich aber entschieden langweilig!“

Gertrud schüttelte lebhaft den Kopf.

„Und Sie wollten noch eine dritte Frage an mich stellen –“

„Ich?“ sagte sie wie im Traum.

„Ja, über – ihn über Herrn van Wyttenbach.

„Ja, freilich,“ erwiderte sie langsam. „Das hatt' ich vergessen. Mir fällt auch im Augenblick nicht ein, was ich fragen wollte … Da ist er!“ murmelte sie auf einmal und fuhr in die Höhe.

18.

Arthur kam gegangen vom Speisesaal her, sein hübsches, glattes Gesicht glänzte von Wohlbehagen, seine Lippen waren förmlich rosenrot, die kleinen Augen leuchteten heiter, nur dem Haar fehlte etwas von seiner kunstvollen Kräuselung, da die dazu nötigen Hilfsmittel draußen in Vico waren. Den Hut in der Hand, schlenderte er zwischen den Büschen und Beeten heran, winkte 'Guten Morgen'. „Ich muß sagen,“ fing er an, „man frühstückt hier ausgezeichnet!“ Nun las er wohl von Gertruds Gesicht, daß diese Fidelität nicht am Platze war, daß eine sehr ernste Spannung sich erst lösen mußte. Er ging zu einer männlichen, charaktervollen, fast tragischen Miene über. In dem Ton, der dazu gehörte, fragte er: „Und seh' ich Sie nun endlich wieder, Fräulein Gertrud?“

„Ich bin lange hier,“ entgegnete sie mit verstecktem Vorwurf. „schon seit einer Stunde.“ – Sie sah jetzt, daß Fritz Waldeck zurücktrat, als wolle er gehn. „Wohin wollen Sie?“ fragte sie überrascht, im Augenblick fast bestürzt.

Fritz warf einen halben Blick auf Arthur, dann einen ganzen auf sie. „Nur ans Meer hinunter,“ erwiderte er. Es lag etwas in seiner Stimme, das zu sagen schien: jetzt seid ihr zwei beisammen, da geh‘ ich! – Er deutete am Fels hinunter. „Der Felsenweg da ist so wunderbar,“ setzte er ruhiger und harmloser hinzu. „Schon heute nacht hab‘ ich ihn entdeckt, im Mondschein, da oben vom Balkon, als ich so viel wachte – und Herr van Wyttenbach so viel schlief. Ich glaube, da hinten raucht auch schon der Dampfer, der von Neapel kommt … Eh ich abmarschiere, seh‘ ich Sie noch!“

Er grüßte und stieg hinab. „Eh Sie abmarschieren?“ rief das Mädchen ihm nach, als wäre sie beinahe erschrocken – „Er hört nicht mehr. – Will er denn schon wieder fort?“

„Lassen wir ihn ziehn“ sagte Arthur, etwas geringschätzig lächelnd. „Das ist ein ziemlich langweiliger Bursche. Einer von diesen braven jungen Leuten, mit denen sich leider die Grazien nicht sehr viel befaßt haben.“ – Er sah, wie Gertruds Gesicht sich verzog, wie ihre Brauen zuckten und verstummte.

„Sie reden so lieblos von Ihrem Jugendfreund,“ erwiderte sie mißmutig. „Er hat besser von Ihnen gesprochen kann ich Ihnen sagen.“

„Ja, ja,“ erwiderte Arthur geschwind, „das ist eine seiner guten, braven Eigenschaften. Ueberhaupt wie gesagt – er ist grundgut! Er hat so was durchaus Rechtschaffenes, Ehrenhaftes … Was ist nun schon wieder? Was mißfällt Ihnen denn schon wieder, meine holde Gertrud?“

[771] Sie sah ihn sehr ernsthaft mißbilligend an. „Daß Sie nun ebenso plötzlich sich für ihn begeistern! – Aber lassen wir ihn jetzt. Wir müssen ja endlich – – Was wird nun aus uns? – Ich hatte heute nacht, während Sie schliefen, viele Gedanken, Arthur. Gestern abend – als Sie mich beredeten – Vico und Neapel, mein’ ich – da war ich wie von Sinnen. Das ist nicht mehr so. Sie lächelte, aber sehr gezwungen. „Seit Sie wasserscheu und seekrank wurden –“

„Ja!“ lachte er auf. „Es war ein unglückseliges, tragisches Geschick! Tragikomisch, das fühl’ ich selbst. Aber damit wir doch wieder auf die Hauptsache kommen, meine süße Gertrud“ – Er kam aber jetzt nicht weiter: vom Speisesaal rückte der kleine Oberappellationsrat an, Arthur mußte sich mitten im Wort unterbrechen. Schilcher ging so hurtig, als wäre da vorn an der Brüstung etwas sehr Merkwürdiges oder Wichtiges zu sehn. Er hatte eine Serviette unter dem Arm, wie ein Kellner. Gertrud, so ernst sie gestimmt war, lachte, als sie ihn erblickte.

„Onkel Schilcher, Guten Morgen,“ sagte sie. „Was hast du da unter dem Arm?“

„Ja, ja,“ antwortete er, „in der Zerstreuung mitgenommen. Ich hatte meinen gewöhnlichen Morgengang vor dem Frühstück gemacht und sitze bei der Chokolade, da seh’ ich durch die offene Thür, den Garten entlang, daß Herr van Wyttenbach hier an der Brüstung –“

„Und dem mußtest du so eilig Guten Morgen sagen?“

„Ich dachte, da wird auch die kleine Gertrud sein …. Ja, und da sehnte ich mich wohl nach der kleinen Gertrud. Und so hab’ ich wie ein Liebender den Rest der Chokolade stehen lassen und bin hergelaufen!“

„Ach, wie rührend. Da ist mein wirklicher Vater kaltblütiger, sieh nur, wie ruhig der aus dem Oelbaumgarten kommt. Guten Morgen, Va –“ Jetzt erinnerte sie sich erst, wie es zwischen Vater und Tochter stand. Nie, nie, nie! – Sie hatte sich heute nacht so fest vorgenommen, nicht das erste Wort zu sprechen. An den Wangen rot angeflogen, sah sie vor sich nieder, schaute dann aufs Meer hinaus, wo der Frühmorgendampfer von Neapel mächtig rauchend heranschwamm, auf die kleine Marine zu.

Rutenberg schien nichts zu merken; er begrüßte Arthur und nickte nur zu dem Mädchen hin, als hätten sie sich heute schon gesehn. Bewundernd stellte er sich vor ein Kamelienbäumchen, das herrlich blühte. „Schilcher, was für Blumen!“ sagte er. „Mitten im Dezember!“

Schilcher trat zu ihm. „Ja, Alter, beinahe so schön wie ’ne Partie Whist!“

„Sind die beiden schon lange hier?“ flüsterte Rutenberg.

„Noch nicht lange,“ flüsterte Schilcher zurück.

„Waren sie allein?“

„Keine Minute. Als der dritte Mann, der Fritz Waldeck, fortging, da kam ich sogleich.“

„Du wirst sie nicht allein lassen, Alter?“

Schilcher hob seine Serviette ein wenig, er hielt sie jetzt in der Hand „Unter dieser Fahne werd’ ich weiterdienen!“

Rutenberg lachte still. Er wandte sich beruhigt zu Arthur, der vernachlässigt und unbehaglich dastand, denn Gertruds Augen gingen noch immer mit dem Dampfer. Na, und Sie, Herr van Wyttenbach? Sie sind ganz genesen?“

„Sie beschämen mich,“ warf Arthur mit einer Art von Lachen hin „es war ja nur eine Kleinigkeit. Eine – vielleicht etwas unmännliche Schwäche –“

Gertrud zuckte zusammen. Sie zeigte dann ihr blasses, unfrohes Gesicht.

„Was haben Sie, Fräulein Gertrud?“ fragte Arthur, indem er sie durch einen heimlichen gekränkten Blick einzuschüchtern suchte.

„Gar nichts,“ entgegnete sie. Statt auf Arthur schaute sie auf ihren Vater, der seiner Tochter nicht Guten Morgen sagte. Sie fühlte sich so unglücklich …

„Kommen Sie,“ sagte sie dann zu Arthur, um sich vor dem Vater nicht schwach und „würdelos“ zu zeigen. „Sie müssen da hinten die Mandarinen sehn, die nun rot und reif werden.“

„Jawohl,“ bemerkte Schilcher, der die Serviette kurz entschlossen in die Tasche steckte. „Trudel und ich, wir zeigen Ihnen die reifenden Mandarinen, denn Sie müssen ja doch mit Nutzen reifen!“

Unten auf der Felsentreppe begann eine männliche, tiefe Stimme zu singen. Goethes Verse in Beethovens Melodie:

„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Land die Goldorangen glühn?“

„Ah!“ sagte Rutenberg, der über die Brüstung blickte, „das ist Waldeck Sohn! – Er steigt herauf.“

Gertrud horchte andächtig; wie hübsch, wie rührend er singt, dachte sie. – Der Gesang ging weiter:

„Ein sanfter Wind von blauen Himmel weht, Die Myrte still –“

Hier verstummte Waldeck; vielleicht summte er noch leise weiter, ohne daß man’s hörte.

„Komisch!“ sagte Arthur. „Mitten drin hört er auf!“

Heute verletzte doch Gertrud alles. „Komisch!“ sprach sie ihm mißvergnügt nach. „Wenn man so in Gedanken singt! Er war wohl in Gedanken – Kommen Sie lieber! Zu den Mandarinen!“

„Wir kommen!“ sagte Schilcher, als gehöre er durchaus mit dazu. Die drei schwenkten ab, zu den Oelbäumen und den Mandarinen. Die Oliven waren im November gepflückt, die kleinen Goldfrüchte reiften noch ihrer Zeit entgegen. Gertrud liebäugelte täglich mit ihnen. Indem sie nun ging, warf sie noch einen traurigen Blick, einen ganz versteckten, auf den harten Vater, ob der ihr wenigstens nachsähe oder nicht. Ja, er sah ihr nach. Er schien aber zu lächeln, er sah heiter aus, statt traurig zu sein wie sie … Es ward ihr gar nicht gut, sie ging rascher weiter.

Rutenberg schaute ihr noch immer nach, als sie es längst nicht mehr wahrnahm. „Ah! ah!“ sprach er in seiner Freude vor sich hin. Mir scheint, das Ideal steht nicht mehr so hoch! Hat Schilchers Teufelei so gewirkt? oder was? – Wenn man da noch etwas weiter wirken, den Boden unter dem Ideal unterwühlen könnte …

Fritz Waldeck, „der andere“, kam heraufgestiegen. Rutenberg beobachtete ihn, während die schlanke, kraftvolle Gestalt sich so gut bewegte. Das Gesicht schien aber nicht freudig, eher vergrämt. Der junge Mann stand zuweilen still, legte den Kopf zurück und schloß die Augen. „Herr Waldeck!“ rief er ihn an, als er oben stand. Fritz nahm den Hut ab und verneigte sich. Nun ging Rutenberg mit großen Schritten zu ihm. „Guten Morgen!“ sagte er herzlich und fast mit Vorwurf. „Sie geben mir nicht die Hand?“ Fritz gab sie rasch, mit einem großen Blick.

„Gestern abend hab’ ich Ihnen gesagt, wie ich für Sie fühle; denken Sie, über Nacht ändr’ ich meinen Sinn, wie ein junges Mädchen? – Ja, und fühlen Sie denn nicht, was mir auf der Seele liegt? Ich möcht’ was gut machen, Fritz Waldeck! Ihnen was Liebes thun, alles, was Sie sich wünschen können. Sagen Sie mir! Was kann ich thun?“

Fritz bemühte sich, so ruhig wie möglich zu antworten: „Ich glaube, Herr Rutenberg, nichts.“

„Nichts?“

Fritz schüttelte den Kopf.

Das wollen wir doch sehn! dachte Rutenberg. So leicht schüchtert man mich nicht ein! – Nun, davon später, sagte er dann, dem Sohn Ferdinand Waldecks in die guten Augen blickend.

„Für diesen Augenblick gestatten Sie mir eine Fragen – gar nichts Besonderes, nichts Indiskretes, nur über Ihren Schulfreund Herrn van Wyttenbach.“

Der auch? dachte Fritz betroffen.

„Schilcher sagt mir, Sie kennen ihn schon lange.“

„O ja!“

„Wollen Sie mir die Wahrheit über ihn sagen? Wollen Sie mir sagen, ob er – wie mach’ ich das – ob er nicht nur so ein Wasserhase, – ob er ein wirklicher Feigling ist?“

Fritz war eine Weile still. – „Ihnen kann ich sagen,“ erwiderte er dann langsam, „daß er – – nun, daß er sein Leben über alles lieb hat. Daß er jede Gefahr meilenweit vermeidet, wenn es möglich ist. – Ihn flog ein schwaches Lächeln an „Und wenn es nicht möglich ist –“

„Dann?“

„Nun – dann macht er es doch möglich.“

„Ah! – Ich danke Ihnen. – Dann macht er es doch – – Ich hab’ ihn also richtig taxiert!“ Donnerwetter! fuhr Rutenberg durch den Kopf, wenn ich diesem tapfern Jüngling eine Aufgabe stellen könnte, in der er vor Trudels Augen vergeht, wie ’ne Seifenblase! – Es fiel ihm aber nichts ein, er hatte nicht Schilchers Kopf …

[784]
19.

Die Drei, die zu den Mandarinen gegangen waren, kamen vom Hause her zurück, Schilcher hatte jetzt statt der Serviette etwas wie einen Brief in der Hand, das er wie eine Fahne schwenkte. „Eine Depesche!“ rief er, während sie näher kamen. „Ein Telegramm! An dich!“

„Endlich!“ sagte Rutenberg und nahm es ihm aus der Hand. „Du, Alter! Errätst du, von wem es ist?“

„Hab' so eine Ahnung!“

Rutenberg öffnete die Depesche und las sie vor: „Heute, mit dem Dampfer. Whist, Wild, Lugau.“

„Siehst du wohl, sie sind es! Lakonisch, aber deutlich. Schilcher, wir haben sie! Wo ist die Hotelkanone, um sie zur Begrüßung abzufeuern, wo ist eine deutsche Flagge! – ,Mit dem Dampfer‘ steht da. Nach meiner Uhr muß der schon da sein. Schilcher, sie sind schon da!“

Fritz deutete mit dem Arm hinaus. „Der Dampfer hält bei der Marine –“

„Richtig!“ rief Rutenberg, der an die Brüstung stürzte und hinuntersah. „Da rudert auch schon eine Barke vom Dampfschiff her. Sie sitzen ja auch drin! Sie sind‘s!“ – Er zog sein Taschentuch heraus und wedelte damit. Schilcher und Gertrud, von seiner Freude angesteckt, thaten es ihm nach. „Kinder!“ rief Rutenberg und blickte triumphierend herum. „Nun werden wir also wieder Lugaus Imitationen und Wilds Erfind – –“

Er sprach das Wort nicht zu Ende. Eben kam ihm Arthurs Gesicht vor die Augen, das rosige, glatte, gleichsam abgeleckte; dabei fielen ihm Fritz Waldecks Worte wieder ein ‚jede Gefahr vermeidet er meilenweit, wenn es möglich ist!‘ – Wilds Erfindungen, dachte er. Ah! Wild wäre mein Mann!

Schilcher war auch an die Brüstung getreten, noch immer sein Taschentuch schwenkend. „Sie sehn uns!“ rief er jetzt. „Bei Gott, sie sehn uns. Sie ziehn auch ihre Flaggen auf. – Rutenberg, ich geh‘ hinunter, geh‘ ihnen entgegen, diesen alten Jungen!“

Er wollte sich schon in Bewegung setzen, doch Rutenberg hielt ihn fest. „Nein, nein,“ sagte er. „Ich! – Laß mich, Schilcher,“ flüsterte er hastig, ihn ein paar Schritte weiter führend. „es ist eine Idee über mich gekommen, von diesem Wild soll sie ausgehn; ich führ‘ ihn herauf und sag‘ sie ihm. Gieb dann acht, gieb dann acht!“

Er stieß seinen Schilcher freundschaftlich zurück und ging allein zur Felsentreppe. „Ich bin der Hausherr!“ rief er noch über die Schulter. „Ich begrüße sie!“

Schilcher sah ihn hinuntersteigen, sah die andern landen. Pasquale und dessen Gehilfe Antonio schifften das Gepäck aus. „Gepäck!“ summte er und wandte sich zu Gertrud. „Die müssen also doch auch wohnen, das ist nicht zu leugnen. Wo sollen sie wohnen, Kind? Das kleine Hotel ist voll. Wir müssen vorläufig zusammenkriechen wie die Mäuse!“

„O nein, sagte Fritz Waldeck. „das müssen Sie nicht. Mein Zimmer wird frei. bald. in einer Stunde.“

„Was? Sie wollen fort?“

Auch Schilcher war erschrocken. Gertrud sah den jungen Mann herzlich an und schüttelte den Kopf. Indem er that, als bemerk‘ er das nicht, indem er ihr seine Gefühle mit Gewalt zu verbergen suchte, entgegnete Fritz auf Schilchers Fragen „Ja, natürlich. Was ich hier zu thun hatte, das ist ja gethan! …“

Wie rührend freundlich schauen Sie mich an, Herr Oberappellationsrat. Sie drücken mir gar die Hand. Sie schütteln den Kopf … Ich muß ja fort.“

„Warum müssen Sie? …“

„Meine Reisegesellschaft, in Pompeji … morgen wollen sie nach Neapel zurück. Von da dann nach Rom … – und von Rom wieder nach Haus!

Schilcher ließ verzagend den Kopf hängen. So gefällt mir‘s! dachte er. „Der andre“ geht uns durch und wir sitzen wieder da – er warf einen grimmigen Blick auf Arthur, der über die Brüstung dem Ausschiffen zusah …. mit dem Wasserhuhn, der Taucherente allein!

„Und was wollen Sie dann zu Hause? fragte er verdrießlich.

Fritz Waldeck lächelte, ihm war selber nicht gut dabei. „Was ich will? Was lernen.“

„Und was lernen Sie denn eigentlich, wenn ich fragen darf?“

„So ungefähr Kunstgeschichte,“ erwiderte Fritz, die Achseln zuckend. „Das sieht ja nicht nach Broterwerb aus. aber mein Professor – der uns jetzt nach Neapel und Rom führt – der macht mir auf jede Weise Mut. Er glaubt an mein Talent, mein Auge, meinen – und so weiter. Ich soll an seiner Zeitschrift mitarbeiten, Mitredakteur werden, sobald ich so weit bin. Ein Lehrstuhl, meint er, wird mir dann auch nicht fehlen. Er will mir auf jede Weise beistehn,“ sagt er. Fritz zuckte wieder lächelnd die Achseln. „Er hat mich eben merkwürdig gern!“

„Kann ich ihm gar nicht verdenken,“ brummte Schilcher. „Und das nötige Geld haben Sie einstweilen?“

„Mein Onkel hat's, er will aber durchaus Vater an mir spielen. Studier' du nur drauf los, sagt er, ich lass' dich nicht im Stich, darauf kannst du Gift nehmen! – Kurz – es ging mir früher so schlecht – aber seit einiger Zeit geht's unsinnig gut. Auch dieser Onkel hat mich sehr lieb – wie ein eignes Kind –“

„Kann's ihm auch nicht verdenken,“ fiel Schilcher ein. „Aber daß Sie uns so ventre à terre wieder verlassen wollen – – das hatt' ich mir schöner gedacht!“

Man hörte jetzt Wilds und Rutenbergs Stimmen, die beiden stiegen voran herauf, Lugau folgte mit den gepäcktragenden Schiffern. Der kleine Oberappellationsrat lief ihnen entgegen, auf der obersten Stufe der Treppe blieb er stehn, mit beiden Armen zum Willkomm grüßend.

„Aber das ist ja ein Felsenmärchen“ sagte Wild, der entgegenwinkte, „wie aus dem alten Vater Homer. Nu, was sagen Sie, Gottfried Schilcher? Auf Tassos heiligem Boden sehen wir uns wieder!“

Schilcher drückte ihm die Hand, dann streichelte er ihm mit drolliger Zärtlichkeit das volle, humoristisch behagliche Gesicht. „So gescheit waren Sie noch nie, lieber Wild, wie in dieser Sache. – Ich freue mich! Sehr! – Lugau! Mensch!“

Etwas atemlos keuchte. nun auch Lugau zur Terrasse hinauf; er winkte mit dem Taschentuch, mit dem er sich die Schläfen getrocknet hatte. „Man hat uns gerufen,“ sagte er, „und wir sind gekommen. Uebrigens, Sie sind noch am Geben, Schilcher!“

„Bin ich noch am Geben?“

„Ja. – Sehen Sie mich an. Wild behauptet, ich wär' auf der langen Fahrt von der Ostsee bis Neapel um hundert Pfund magerer geworden. Finden Sie das auch?“

Schilcher betrachtete den kleinen dicken Mann mit ernsten Naturforscheraugen. „Ich kann keinen Unterschied wahrnehmen, Lugau, aber es mag ja doch sein!“

Alle hatten die Höhe erreicht, alles begrüßte sich, Rutenberg schickte die Schiffer, die mit Handkoffern und Reisetaschen beladen waren, einstweilen in sein Zimmer hinauf. Er stellte die jungen Männer vor, „junge Wandervögel“, er drückte dann vor Vergnügen die wohlbeleibten alten Herren gegeneinander und an seine Brust. „So, und nun seht euch hier gefälligst um, so wohnen wir und so leben wir. Unter uns die Brandung, vor uns der Vesuv!“

„Bei Gott, ein Irrtum ist nicht mehr möglich,“ sagte Wild, der die vertretenden Schelmenaugen rundum wandern ließ, „wir sind wirklich hier. Vierzig Jahre lang hab' ich mir's gewünscht, auf diesem Felsen zu stehn, vierzehn Tage lang hab' ich euch beneidet, jetzt steh' ich da! Das ist schon der Mühe wert, meine Freunde, sich in Gefahr zu begeben, da werden wir uns denn auch mit dem nötigen jugendlichen Leichtsinn –“

„Gefahr? Wieso?“ fragte Schilcher.

Rutenberg, der Schilcher gegenüberstand, winkte ihm heimlich, fast nur mit den Augen. der andre bemerkte es auf der Stelle. „Wieso?“ antwortete Wild, mit seinem unerschütterlich behaglich ernsten Gesicht. „Nu, in Neapel war man heute früh [786] sage nur nach, was die alten Bücher sagen. Auch das schöne Sorrent, Surrentum, ging damals bekanntlich größtenteils zu Grunde, – wieviel Menschen mit umkamen, davon erzählt allerdings die Geschichte nichts. Der Historiker Dio Cassius berichtet nur – – Aber wir haben da eine junge Dame. Ich glaube, unser Fräulein Gertrud wird blaß. Schweigen wir jetzt vom Vesuv!“

„O nein,“ sagte Gertrud ruhig, „Sie irren. Ich bin nicht so bange. So schlimm wird's wohl auch nicht werden –“

Arthur fiel ihr ins Wort. „Bitte, Herr Doktor, was berichtet der Historiker Dio Cassius?“

„Dio Cassius?“ antwortete Wild, den diese Frage ein wenig in Verlegenheit setzte. „Ja, der alte Dio Cassius … Es ist mir im Augenblick nicht ganz gegenwärtig. Er oder andre Geschichtsschreiber nehmen aber an das unglückliche Stabiä, das ja damals auch vom Erdboden verschwand, hat nicht bei Castellamare gelegen, wie einige glauben, sondern hier bei Sorrent! – Na, die Hauptsache ist ja in solchen Fällen sich nicht überrumpeln zu lassen, denn daß man wenigstens mit dem Leben davon kommt, ist ja doch zu wünschen. Das möchte’ ich dir nur noch sagen, lieber Rutenberg, – ohne dich zu kränken – deine liebenswürdige Einladung in allen Ehren – wir sind sehr gerührt – aber du hast uns da eigentlich in eine schöne Mausefalle gelockt. Denn sag’ mir gefälligst, wo sollen wir hin wenn das Wetter losbricht? So weit ich mich auf der Landkarte orientiert habe – ich hab’ sie ziemlich gründlich studiert … Uebers Meer zurück? Das ist dann unmöglich, das Meer wird von Erdstößen hin- und hergeschleudert –“

„Von Erdstößen!“ rief Arthur aus.

„Natürlich. – Zu Lande zurück, nach Castellamare – das hieße dem Löwen in den Rachen laufen! – Hier bleiben und abwarten – bis man vor Dampf und Asche und Bimssteinen am hellen Tag nicht mehr seine Hand sehen kann – das gefällt mir auch nicht, muß ich ehrlich sagen. Da könnte man also nur vom Vesuv hinweg in die Berge klettern – na, und diese kleine Halbinsel, die ist bald zu Ende!

Rutenberg ging wieder unruhig umher, was Arthur nervös machte, er stand jetzt vor dem Doktor still. „Wild – mach’ uns nicht toll. Mit deiner verwünschten Logik und deinen schwarzen Phantasien.“ –

„Ich hab' durchaus keine schwarzen Phantasien. dazu neig’ ich bekanntlich gar nicht! Aber wenn Palmieri sagte: ich fürchte einen Ausbruch, wie noch keiner da war, allerdings, junger Herr, in seinem letzten Telegramm drückt er sich so aus, buchstäblich wie noch keiner da war – dann muß ich mir doch die Bemerkung erlauben weiter weg wär’ besser!“

Arthur kämpfte noch immer gegen seine beklemmenden Gefühle. Er trat nur einen Schritt näher auf den Doktor zu. „Sie glauben, daß Palmieri – –“

Plötzlich stand Schilcher auf, der sich auf eine Steinbank gesetzt hatte, Arthur fuhr zusammen. „Sag’ mal,“ fragte Schilcher, um die Sache doch auch ein bißchen zu fördern, „war das eben schon ein kleiner Erdstoß, oder irr’ ich mich?“

Gertrud hob den Kopf. Sie warf einen unwillkürlichen Blick auf Fritz Waldeck. der saß etwas weiter weg auf der Brüstung und hörte in lebhafter, aber offenbar völlig furchtloser Erregung zu. Darüber wuchs ihr auch der Mut. „Ich hab’ nichts gespürt“, antwortete sie ruhig.

„Doch, doch,“ meinte Lugau. „Ich glaube, es war so ein leises Zucken –“

Rutenberg unterbrach ihn geschwind. „Haben Sie die Güte, Lugau, es nicht nachzumachen. das regt uns auf!“

Unterdessen hatte Arthur den Erdboden rechts und links mit argwöhnischen Augen beobachtet. Er wandte sich wieder an Wild. „Sie glauben, daß Palmieri – –“

„Das Meer wird unruhiger, fiel Schilcher ein, der über die Brüstung guckte, „das ist keine Frage.“

„Natürlich wird es unruhig,“ entgegnete Wild, „wenn man unter ihm zittert. Damit fängt die Sache an. Palmieris Instrumente empfinden ja mit mathematischer Genauigkeit, was sich vorbereitet. Nach Palmieris Meinung bricht es noch heute los –“

„Aber um Gottes willen“ brach es nun aus Arthur heraus, „so sollten wir doch etwas thun – etwas thun – um uns beizeiten zu retten!“

Gertrud, schon eine Weile durch sein Benehmen gereizt, sah ihm scharf ins Gesicht. „Haben Sie denn Angst, Herr van Wyttenbach?“

„Ich?“ sagte er und suchte sich zu fassen. „Nicht für mich, für die andern; für Sie!“

„Für mich? Das lassen Sie nur. Ich fürcht’ mich nicht sehr. Einen ordentlichen, tüchtigen Ausbruch wünscht’ ich mir immer zu erleben und ich denke, uns thut er nicht viel, wir sind weit davon!

„Das sagen Sie, Fräulein Gertrud, weil Sie die Gefahr nicht kennen.“ Arthur lächelte ein wenig. „Sie sind eben noch sehr jung!“

„Und wie alt sind Sie denn?“

Er bemühte sich, wieder zu lächeln. „Ich glaube, wir sollten uns jetzt nicht über solche Nebendinge unterhalten. Die Hauptsache ist ja doch, daß wir diesem Vesuv da aus dem Wege gehen. Sein wohlklingender Baryton hob sich vor Aufregung. „Mein Gott, so ein feuerspeiender Berg hat ja keine Vernunft! Wir müssen sie haben, wir!“

Doktor Wild nickte bedächtig: „Dem zu widersprechen, wär’ gewiß sehr thöricht –“

„Nicht wahr?“ sagte Arthur rasch. „Ich schlag' ja nur vor, aus dem Wege zu gehn nach der andern Seite der Halbinsel – oder bis zum Vorgebirge – oder wie Sie denken. Das Schauspiel eines großen Ausbruchs mag ja sehr interessant, sehr romantisch sein, aber man will doch vor allem als verständiger Mensch sich am Leben erhalten …“

Er sah rund herum, blickte jedem nach den Augen. Keiner rührte sich. „Also –!“ fuhr er unruhiger fort. „Also – gehn wir! Machen wir uns davon! – Auch Sie, Fräulein Gertrud, die Sie jetzt noch so zuversichtlich sind, nachher werden Sie uns danken, wenn wir Sie gerettet haben –“

„Bitte, bemühen Sie sich nicht,“ unterbrach sie ihn kalt. „Ich hab’s gar nicht eilig. Ich bleibe!“

Er starrte sie fassungslos an; das begriff er nicht.

Gertruds Hände ballten sich. „Junge Leute, dacht’ ich, lieben die Gefahr, statt davonzulaufen. Warten Sie doch wenigstens ab, bis sich die älteren Herren aus dem Staube machen!“

Dem Vater Rutenberg lachte das Herz im Leibe, die Sache geht ja gut! dachte er, und mein Mädel ist ganz famos! – „Na,“ warf er dann hin, um den Wagen nun rollen zu lassen, wie er rollte, „ich hoffe immer noch, Wild sieht zu schwarz! Palmieri irrt sich! Bis wir darüber klarer werden, sollten wir vorläufig ins Haus gehen, unsern lieben Gästen Quartier schaffen, sie erfrischen, stärken.“ Er lächelte: „Auch das ist ja Lebensrettung. Lugau, kommen Sie. Wild, Schwarzseher, voran!“

„Meinetwegen,“ sagte Wild, indem er sich mit scheinbar widerstrebendem Gehorsam in Bewegung setzte. „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

„Warten wir’s noch ab,“ rief Schilcher im Gehn „mit Philosophie!“

Die drei Whistbrüder und Rutenberg marschierten dem Hause zu. Arthur sah ihnen kopfschüttelnd mit heimlicher Erbitterung nach. Mit Philosophie! dachte er. Dieser Unsinn! – Der eine ist ein alter Phlegmatiker, der andre ein Optimist. – Sich beizeiten aus dem Staube machen, das ist Philosophie!

Er wandte sich zu Gertrud zurück, die sich in einiger Entfernung von Fritz Waldeck auch auf die Brüstung gesetzt hatte und ihr Ideal schmerzlich zornig betrachtete. „Sie wollen also nicht fort?“ fragte er.

Sie schlug ihre Füße gegeneinander. „Nein,“ sagte sie.

„Fräulein Gertrud, Sie sind unbesonnen. Sie sind unvernünftig!“

„Kann sein. Wohl möglich. Und ich will es auch bleiben. Retten Sie sich!“

Er trat ihr näher, so gut es ging. So leise wie möglich, mit schmerzlichem Vorwurf, hauchte er ihr zu: „Sie wollen mich kränken –“

„Ich Sie?“ gab sie ihm zurück. – „Retten Sie sich!“

„Mit Ihnen ist jetzt nicht zu reden, seh’ ich …“

Er trat wieder zurück, sie schwieg. – So werd' ich mit einem andern reden, dachte er, mit dem Marinajo, dem Pasquale. Verschütten lass’ ich mich nicht! Nachdem er flüchtig mit [787] dem Hut gegrüßt hatte, ging er mit großen Schritten davon, hinter den Männern her.

Gertrud lächelte bitter, so lange sie ihn mit den Augen verfolgte. „Na, und Sie?“ fragte sie dann, den Kopf auf die Seite wendend.

Fritz stand auf, ohne zu antworten.

„Wohin?“ fragte sie.

„Fliehen nicht!“ erwiderte er mit einem sonderbaren Lächeln. „Vor dem Berg da nicht!“

„Sie haben keine Furcht?“

„Nein. – Im Gegenteil.“

Er murmelte das nur und brach ab.

„Sie glauben, es ist keine Gefahr? – Wenn wir hier nun aber wirklich zu Grunde gingen – alle miteinander –“

„Das wär’ es ja, was ich mir wünschte, mein Fräulein,“ fiel er ihr ins Wort, wieder mit so einem sonderbaren, ernsthaften Lächeln. „Ich mit Ihnen …“

„Warum?“ fragte sie, da sie plötzlich etwas durchflog, und sah ihn mit großen Augen an.

Ihr erregtes, holdes Gesicht, ihr Blick riß ihn hin. „Warum? – Weil es für mich die einzige Möglichkeit wäre, mit Ihnen vereint zu werden, und weil ich – –“

Mit einer zornigen Bewegung, aber wie gegen sich selbst unterbrach er sich. „Adieu!“ stieß er nur noch heraus. Nach einer Art von Verbeugung ging er. Plötzlich war er fort. Hinter den Oelbäumen und den Mandarinen sah sie ihn verschwinden.

„O Gott!“ dachte sie, regungslos auf ihrem Platz. Was hat er? Was will er? – „Mit Ihnen vereint zu werden“ … „Und weil ich“ – – Was wollt’ er noch sagen? – Mit den schwermütigen Augen sah er, wie durch mich hindurch – daß mir bange wurde … Und nun will er fort! fiel ihr auf einmal aufs Herz. – Sie stand auf. Sie mochte nicht mehr denken. Ihr war so wirr und wunderlich zu Mut, wie noch nie im Leben und sie hatte doch schon viel erlebt! Sie fühlte nur – ach, nicht ungern – daß ihr etwas Schweres, Trauriges, Süßes auf der Seele lag. So stand sie noch da, wer weiß wie lange …

29.

Schilcher ging durch den Speisesaal, wo die Whistbrüder aus der Heimat sich eben setzten, um auf Rutenbergs Verlangen einen kleinen Imbiß zu nehmen. Ihm fiel ein, daß er seine Serviette noch in der Tasche hatte; er zog sie heraus, winkte damit dem Pepino, dem jungen, krausköpfigen Kellner, und legte sie auf den Tisch. In diesem Augenblick hörte er draußen, im kleinen Garten bei dem Hause, Herrn van Wyttenbachs Stimme nach Pasquale rufen. Es wiederholte sich bald, mehrmals. Es klang so verlangend, so aufgeregt, daß eine spitzbübische Heiterkeit über Schilcher kam, die ihn schüttelte. Na, na! dachte er. Am Ende hat Rutenberg recht, und es hat genügend gewirkt! Es hört sich so an, als wollte der Adonis seine langen Beine unter die Arme nehmen!

„Pasquale!“ rief der Jüngling wieder. In Schilcher ging etwas vor, als hätte der Ruf ihm gegolten und einen Gedanken in ihm geweckt, einen Gedanken, den er in aller Eile beguckte; er gefiel ihm, er schien ihm gut. Heimlich, während die andern mit dem Kellner verhandelten, schlüpfte er aus der Thür, ins Vorzimmer, wo er beim Eintreten Pasquale gesehen hatte. Da stand auch der schwarzbärtige Schelm noch, wohl auf Gäste wartend, die er zu Meerfahrten bereden konnte. „Pasquale!“ sagte Schilcher mit vorsichtig schwacher Stimme und nahm seinen Vertrauten am Arm.

Eccomi!“ entgegnete Pasquale. Schilcher führte ihn sacht in eine Ecke, vom Gartenfenster hinweg.

„Ich hab' eben Herrn van Wyttenbach – den Seekranken mein’ ich – nach Ihnen rufen hören –“

Jetzt rief Arthur wieder. „Ja, ja!“ sagte der Schiffer. „Ich hör’ ihn. Ruft meinen Namen. Erlauben Excellenza, ich will zu ihm gehn.“

„Gehn Sie etwas später, Pasquale! Und thun Sie als mein Amigo das, was ich Ihnen sage, ich drücke Ihnen dafür nachher einen harten Dank in die Hand!“ – Pasquale lächelte, nickte. – „Wenn dieser junge Seefahrer, wie ich vermute, mit Ihnen davongehn will, Sie als Führer nehmen – diesmal nicht aufs Wasser, sondern in die Berge – so führen Sie ihn gefälligst an der tiefen Schlucht entlang, dann, bei der nächsten Biegung, nach links – und zwischen diesen verwünschten hohen Gartenmauern, wo kein vernünftiger Mensch weiß, wohin er kommt, führen Sie ihn im Bogen zurück, bis Sie wieder hier sind!“

Pasquale stutzte, seine schwarzen Augen fragten: geht das? darf ich das?

„Es ist Ihr Schade nicht,“ antwortete Schilcher trocken auf diese Frage. „Und sein Schade auch nicht, edler Mann, seien Sie ganz ruhig. Ein paar lustige Spaßvögel, che fanno una buria, haben ihm eingeredet, der Vesuv wird ausbrechen und Sorrent verschütten, er wird aber nicht ausbrechen – und Sie werden den Spaß nicht verderben, denk' ich, Sie durchtriebener Spitzbube!

Der Italiener lachte mit dem ganzen Gesicht.

„Pasquale! Wo sind Sie? Wo sind Sie?“ rief es draußen wieder.

„Sie haben verstanden?“ raunte Schilcher.

Pasquale nickte. „Excellenza kennt mich. – Für Excellenza alles, verlassen Sie sich auf mich!“

Schilcher schob ihn gegen die Thür; er ging hinaus. Als er in den Hausgarten kam, sah er Arthur unter einem Orangenbaum stehn, einen Mantel über den Arm geworfen, es war wenig Farbe in seinem Gesicht. „In des Teufels Namen,“ fuhr Arthur ihn an, „wo haben Sie sich versteckt? Wenn man euch nicht braucht, zieht ihr einen fast am Arm in die Barke oder in die Kutsche, und wenn man euch haben will, starrt ihr in eurem dolce far niente blind und taub in die Luft!“

Etwas beleidigt hob Pasquale den Kopf. „Der signor tedesco ist ein wenig hart gegen uns arme Marinai. Ich bin unschuldig, Herr. Ich suchte den Padrone: warum? Weil ich den Vesuv angesehen habe, da sind böse Zeichen. Es ist zu fürchten eine große Ausbruch – mir scheint –“

Arthur faßte ihn an einem Knopf seiner Sammetjacke. „Bemerken Sie das auch schon? Sie?“

„O, da ist nicht zu spaßen,“ entgegnete der Schiffer, an dem alle Gliedmaßen lebendig wurden und jedes seiner Worte zu malen suchten, besser noch als Lugau. „Wird sich machen eine höllische Eruption – Ausbruch – hoch, hoch in die Luft – dann durch den ganzen Himmel, weit, lang – und dann – o, herunter. Wird großen Unglück machen –“

„Eben darum will ich fort! Darum ruf' ich mir ja die Kehle aus dem Halse. Sie sollen mich dahin führen, wo es am sichersten ist, auf die andern, die ,Philosophen' werde ich nicht warten! Dann nehmen wir dort Quartier – Wohnung – – und Sie holen die andern nach!“

„Hole die andern, ich verstehe. Also nach Tirmini hinaus, wenn Ihnen ist angenehm –“

„Mir ist alles angenehm, wo mir nichts geschieht. Also nach Tirmini! Fort!“

Er riß seine Brieftasche heraus, um ein paar Worte für Gertrud zu schreiben um ihr zu sagen der Undankbaren wie er die Sache in die Hand nehme, was er für sie thue. Während er hastig mit seinem Bleistift schrieb, schien Pasquale nachzudenken. Arthur blickte einmal auf und staunte über das tiefversonnene Gesicht. „Da ist noch die Frage,“ sagte der Schiffer dann, „ob Sie wollen fahren. Rate nicht, zu fahren;“ er unterstützte seine Worte wieder durch Gebärden, „denn wenn ein Stoß kommt – di terra – Erdstoß – was thut der Wagen? Fällt um. Und fällt über den Signor –“

„Fassen Sie mich nicht an,“ rief Arthur, der zusammenfuhr, „das macht mich nervös. Ihr Süditaliener habt alle eine Lebhaftigkeit –!“

„Also gut,“ sagte Pasquale, sich durch eine Bewegung entschuldigend. „Andiamo! Gehn wir!“

„Ja freilich. Vorwärts!“

Pasquale ging schon, der Schurke blieb aber noch einmal stehn: „Wenn Sie nicht wollen nach Capri, in der Barke“ – „Hole der Teufel Ihre Barke und Capri! Zu Fuß will ich gehn und nach Tirmini. Nur erst noch diesen Zettel – lettera – an den Kellner geben …“

„Bitte, das besorg' ich. Coragio. junger Herr. In einer Stunde oder nicht viel mehr sind Sie in Tirmini, und weit, weit vom Vesuv!“

[800]
21.

Fritz Waldeck, der von den Oelbäumen zurückkam, sah den aufgeregten Arthur mit dem gebärdenreichen Italiener im Hausgarten reden, darauf ins Haus hineinstürmen. Einen Augenblick sah er ihnen verwundert nach, dann fiel er in seine Gedanken zurück. Er wußte nicht, was thun, noch wohin mit sich … An der Mauer der Nachbarvilla hatte er gestanden, in die immergrünen Kronen der Steineichen hinaufgesehn, auf das Zwitschern der Vögel da oben gehorcht, einen befreienden Gedanken hatten sie ihm nicht herabgezwitschert. Sollte er bleiben? Sollte er fort? Diese Menschen grade jetzt verlassen, war das nicht wie Feigheit, wie Flucht? Aber konnte er Gertrud wieder vor die Augen treten, nach dem, was er ihr gesagt? – Ach, dachte er, die Zähne aufeinanderbeißend, das ist auch ein Elend, wenn so auf einmal die Schwäche über einen kommt, die gemeine Schwäche, die Redseligkeit, – und was man ewig verschweigen wollte, bricht so wie aus dem Vesuv da plötzlich, unaufhaltsam hervor! Er ging wieder zum Felsgarten, zur Meerterrasse hin, die Augen auf den Weg gesenkt. Gertrud sah ihn kommen, die noch an der Brüstung stand. Von einer jähen Scheu ergriffen, trat sie hinter das nächste Gebüsch, das dicht zusammengewachsen war und sie ganz verdeckte. Ahnungslos, wie nah‘ sie ihm war, kam er auf die Brüstung zu. Jetzt wäre sie gern davongeschlichen, ins Haus zurück, von dort her schritt aber eben eine hohe und breite Gestalt heran, Vater Rutenberg. Vor dem scheute sie sich auch – ach, sie war so unglücklich. Den Kopf noch tiefer in das Gebüsch steckend, als möchte sie sich vor der ganzen Welt verbergen, blieb sie stehn, ganz still, wie ein Vogel in der Hand.

„Herr, ich suche Sie ja!“ sagte Rutenberg mit seiner kräftig herzlichen Stimme, als er näher kam. „Der Oberappellationsrat sagt mir, Sie wollen fort. Das hat keinen Sinn! Das kann ich nicht dulden. Das ist unnatürlich. Gestern abend gekommen – gestern nacht Versöhnung – und am andern Morgen, eh‘ man sich recht in die Augen gesehn hat, wieder adieu und fort!“

„Ich fühle das wohl,“ erwiderte Fritz beklommen, „alles, was Sie sagen. – Verzeihen Sie, Herr Rutenberg, dennoch muß ich fort. – Wenn es auch sonderbar aussieht, daß ich Sie bei dieser Gefahr – –“

„Den Vesuv meinen Sie?“ Rutenberg verzog die Lippen ein wenig, „ach, den lassen Sie nur! Den Herrn fürcht‘ ich nicht! – Aber warum müssen Sie fort? Was gegen die Natur ist, soll der Mensch nicht müssen. Eben hab‘ ich Sie gefunden – will Sie nicht verlieren. Gehn Sie mir nicht fort!“

Fritz Waldeck konnte sich nicht länger enthalten zu seufzen, aber nicht wie ein schwacher Mensch, sondern wie ein starker seufzt. „Herr Rutenberg,“ sagte er, aus dem Seufzer einen Entschluß machend, „Ihre Güte beschämt mich so sehr. Was kann ich darauf andres thun, als die Wahrheit sagen. – Als ich die Ehre hatte, Sie zum erstenmal zu sprechen, da sagte ich Ihnen – in Ihrem Zimmer – daß ich das Unglück gehabt hätte, mich in Ihre Tochter –“

Rutenberg starrte ihn an, Fritz sprach nicht weiter. „Zu verlieben!“ ergänzte endlich Rutenberg selbst. „Ja freilich. Das hatt‘ ich ganz vergessen. Ueber der Reise und allem. Verzeihen Sie!“

Ach mein Gott! dachte Gertrud hinter ihrem Busch.

„Herr Rutenberg, warum sollte Ihnen etwas so Unwichtiges im Gedächtnis bleiben? – Aber daß ich nun wieder fort möchte, das begreifen Sie. Wenn Sie mich so herzlich, so vertrauenweckend ansehn, muß ich Ihnen alles sagen … Ich hab‘ schon – beinahe Uebermenschliches ertragen, Herr Rutenberg. Da ist dieser andre – Herr van Wyttenbach. Ich hab‘ vor Ihrer Tochter geheuchelt, als sie nach ihm fragte, hab‘ ihn zehnmal besser vor ihr gemacht, als er ist, hab‘ alles Erbärmliche, Lächerliche verschwiegen – während ich doch wußte, daß – –“ Er verstummte wieder. Er fühlte, daß er wieder dieser weichen Redseligkeit verfiel, die ihn heute verfolgte, die ihn zornig machte. Das Blut stieg ihm ins Gesicht.

O Gott! dachte Gertrud und zitterte, sie war so erschrocken, daß sie fast in die Büsche gegriffen, sich verraten hätte. Was sagt er? „Alles Erbärmliche – Lächerliche …“

„Aber nun so zuzusehen,“ nahm Fritz wieder das Wort, nachdem er sich gesammelt hatte, „ich meine, so dabeizustehn – verzeihen Sie, wenn ich das nicht ertrage, so stark bin ich nicht!“

„Fritz Waldeck,“ sagte Rutenberg, schlug ihm auf die Schulter und lächelte ihm so recht aus dem Herzen zu, „Sie sind stark genug. Ich war in Ihren Jahren lange nicht so stark, kann ich Ihnen sagen. Was Sie da andeuten, das versteh‘ ich ja, aber glauben Sie mir – ich will auch nur andeuten – verzagen Sie nicht zu früh! Das Jahr hat seinen April, aber auch die Menschen …“

Zum Glück sprach der ahnungslose Vater, dessen Tochter drei Schritte entfernt stand, nicht weiter. Schilcher kam vom Gasthof heran, diesmal keine Depesche, aber doch wieder ein Blatt Papier in der Hand. Es war zusammengefaltet, wie zu einem Briefchen. Er hob es einen Augenblick, dann sagte er in tiefem Ernst. „Herr van Wyttenbach läßt sich empfehlen, er ist mit Pasquale ausmarschiert – weil so ein Berg keine Vernunft hat!“

Diesmal vergaß die arme Gertrud doch, wo sie war. Ein Laut der Empörung brach ihr aus der Kehle.

So schnell, wie siebzehn Jahre es können, nahm sie sich dann zusammen und trat hervor, als käme sie eben irgendwoher gegangen, nur waren leider ihre rosigen Wangen ganz in Rot getaucht. „Was ist?“ fragte sie. „Ich komme von der Mauer, wo die Rosen stehn. Was erzählst du von Wyttenbach?“

„Sein teures Leben hat er gerettet,“ antwortete Schilcher, der dabei keine Miene verzog. „Vor seinem Ausmarsch hat er das da beim Kellner, beim Pepino, zurückgelassen für Fräulein Rutenberg.

Er überreichte ihr das Briefchen; sie nahm es mit leise zitternder Hand.

Sie brauchte es nur zu entfalten, es war nur ein kleines Blatt; mit fliegenden Augen las sie, so daß niemand mitlesen konnte:

„Ich habe für Sie und für uns alle Vernunft, liebes Fräulein Gertrud; ich ziehe in die Berge voran und mache Ihnen Quartier. Ich werde Sie retten, und wenn auch wider Ihren Willen. Arthur v. W.“

Schilcher, der diese Zeilen auch gelesen hatte – Pepino hatte ihm das Blatt offen übergeben – wandte sich zu Rutenberg, während sie noch eben las: „Weiß Trudel schon?“

„Was?“ fragte Rutenberg. Gertrud horchte auf.

„Daß Doktor Wild diesen Ausbruch des Vesuv nur erfunden hat? Daß wir also in aller Ruhe roten oder weißen Capri trinken können, und die Rückkehr des vorsichtigen Herrn van Wyttenbach erwarten?“

Fritz Waldeck machte große Augen. „Sagen Sie das im Ernst? Erfunden?“

„Zu dienen,“ erwiderte Schilcher. „Und offenbar gut erfunden: denn der ‚Vernünftigste‘ von uns sieht jetzt diesen bösen Vesuv mit dem Rücken an!“

„Mit dem Rücken an,“ wiederholte er behaglich und rieb sich die Hände. In diesem Augenblick sah er wirklich wie ein Nußknacker und zwar wie ein böser aus.

Nur wer ihm so recht in die Augenwinkel guckte, konnte da das heimliche, tiefversteckte Onkellächeln sehn, mit dem er auf die Trudel blickte.

Trudel konnte es nicht bemerken, sie hatte die Augen geschlossen. So hatte sie sich noch nie geschämt wie jetzt, vor dem Vater, vor Schilcher, vor dem „Verliebten“, vor der ganzen Welt. Niemand, niemand mehr sehn! – Und gestern nacht wollt‘ ich mit ihm fliehn, fuhr ihr durch den Kopf, durch die Brust. O die Schande! Die Schande!

Sie öffnete die Augen so viel, daß sie den Weg erkennen konnte, und wankte zum Hause zurück. Es rief sie zum Glück niemand mehr an; niemand sprach zu ihr. Alles hinter ihr war still, wunderlich und wohlthuend still. Sie kam zum Haus, die Treppe hinauf, durch den leeren Salon in ihr Zimmer. Das zerknitterte Blatt noch immer in der Hand, warf sie sich auf ihr Bett.


[802]
22.

Wie lange sie da lag, das empfand sie nicht, vielleicht waren es nur wenige Minuten, ihr war's eine Ewigkeit. In ihrem Elend, das in dem wüsten Kopf hämmerte und im Herzen brannte, mußte sie wohl überhört haben, daß die Thür leise aufging, zu ihrem Staunen – zum Erschrecken war sie zu unglücklich – begann jemand, ihr Haar zu berühren, ihren Kopf zu streicheln. Sie zuckte wohl zusammen, die Hände nahm sie aber doch nicht vom Gesicht, sie schlossen sie so gut ab von der Welt. Endlich zog sie ihr jemand von den Augen weg. Sie sah das gute Gesicht ihres Vaters, mit dem weichsten, mitleidigsten Ausdruck über sie gebeugt. Es ward ihr so wohl und so weh, nicht zum Aushalten. Ach, dachte sie, wär' ich tot!

„Hm!“ Nur so ein mitfühlendes Summen kam nach einer Weile von Vater Rutenbergs Lippen.

Sie schwieg und rührte sich nicht.

„Trudel!“ fing er nach einer großen Stille wieder an, so, wie man wohl spricht, um etwas zu sagen. „Waldecks Sohn will fort.“

„Ich weiß,“ stieß sie hervor. Ihre Glieder begannen sich wie gequält zu winden. „Ja, ja. Er soll fort! – Was mag er nun von mir denken, und von- –“ Sie zerdrückte wieder das zerknitterte Blatt. – „Laß ihn fort! Laß ihn fort!“

„Gewiß. Ich halt‘ ihn ja nicht.“ Wild kann seine alten Späße nicht lassen. „Kind! Trudel! Du weinst!“

Sie schluchzte. „O, wie schäm‘ ich mich! – Ach, sieh mich nicht an, Vater. – Nie, nie, nie will ich ihn wiedersehn! – Diesen andern mein‘ ich; den der fort ist, ‚ausmarschiert‘, den Feigling, den –“ Das Schluchzen wollte sie fast ersticken als wäre sie noch ein Kind. „Ich kann nicht mehr leben, Vater!“ rief sie, als sie wieder freien Atem hatte. „Ich kann nicht mehr leben!“

Rutenberg streichelte wieder langsam, sanft, beruhigend über ihr seidiges Haar und den heißen Kopf. „Mit siebzehn Jahren kann jeder einmal nicht mehr leben, Trudel. und doch giebt es so viele Leute über siebzehn; darum hoff‘ ich auch noch, dich zu behalten. Find‘ dich nur erst wieder zurecht –“

„Vater!“ fiel sie ihm ins Wort, „du kannst mich nicht so verachten, wie ich mich verachte! – Ich hab‘ ihn lieb gehabt, Vater! Ich hab‘ mit ihm fliehen wollen – dich verlassen, Vater! – Sei nicht mehr gut zu mir, sprich nicht mehr so freundlich mit mir, jag' mich fort. Jag‘ mich fort – aber nicht zu ihm. Jag‘ mich in den Tod!“

„Werd' mich wohl hüten, Gertrud,“ sagte Rutenberg lächelnd. „Hab‘ ich dich nicht wieder? Mein armes Mädel war blind geworden – ist nun sehend worden. Na, und wenn die Augen noch etwas wund und krank in das Licht hineinsehen, – ach, das giebt sich, Trudel. Wir halten sie noch ein bißchen in der Dämmerung …“ Er legte ihr seine großen, warmen, liebevollen Hände auf die nassen Augen. Das that ihr gut. Sie lag still. Sie schluchzte auch schon nicht mehr.

„Ja, siehst du,“ fuhr er nach einem quälenden Schweigen mit streichelnder Stimme fort, „Vater und Tochter bleiben in der Dämmerung beisammen, – als gute Kameraden, die sie immer waren und immer wieder sein werden. Und wenn wir dann die Sonne wieder leiden können, dann werden wir uns wundern, Trudel, wie herrlich sie ist! – Es giebt ja übrigens auch noch andre, junge Leute, mein‘ ich. Da steht dann vielleicht ein andrer mitten in der Sonne‘ weißt du, einer, den sie nicht ausbleicht, der ihr Licht verträgt, weil er echt ist. Und der uns so liebt, wie wir ihn lieben, der uns glücklich macht. Kann ja alles kommen, Trudel. Eilen thut's ja nicht, verhältnismäßig jung wie du doch noch bist. Aber wenn wir diesen andern haben, dann laß die Gedanken an diesen heutigen Morgen nur kommen, wir lächeln dann darüber, wie über eine zerbrochene Puppe aus der Kinderzeit, – und schauen in die Sonne!“

Gertrud nahm eine seiner Hände und zog sie an ihre Lippen. „Ach, wie bist du gut,“ sagte sie. Vor Scham schluchzte sie doch wieder auf. „du hast ihn nicht geliebt, Vater! – Ich kann nie zurück! Kann mich zu Hause nie wieder sehen lassen! Nie, Vater, nie!“

„Vielleicht doch einmal, abwarten … Es eilt uns ja nicht. Wir können ja noch reisen, wir wollten ja auch. Italien hat noch allerlei. Rom zum Beispiel, durch Rom sind wir ja eigentlich doch nur durchgefahren. Weißt du, was ich denke? Daß du meine tapfere Tochter bist, und daß es schade wäre, wenn die andern merkten, was Trudel hier erlebt hat. Daß du dich darum lieber nicht verstecken, dir das alles nicht zu sehr merken lassen solltest …“

Sie seufzte. Er verstand den Seufzer; es war ein erster Versuch, sich zu ermannen, sich zu überwinden. „Sollt‘st also lieber aufstehn, mein‘ ich. Und die Augen waschen Und dann wieder in den Speisesaal oder in den Garten gehn, wo die andern sind, wie eine Römerin und dich so furchtbar anständig, so groß benehmen, daß keiner ahnt, wie es in dir aussieht. Vornehm wär‘ das, Trudel! Ehre würd's dir machen! – Willst du‘s versuchen, Kind?“

„Ach!“ seufzte sie noch einmal. „Du glaubst nicht, wie mir ist, zum Sterben. – - Wie bist du aber gut zu mir. Ich möcht‘ immerfort deine Hände küssen – - Ach, ich will‘s versuchen!“

„Nun also! Ich geh' voraus, zu den andern. Du sammelst dich, noch ein bißchen. Wasser über die Augen, frischen Mut in die Brust. Bist ja meine Trudel. Schilcher soll sich wundern, wie schnell du wieder hoch bist. Es ist merkwürdig, was ein tapferer Mensch alles anstellen kann, mit dem sogenannten Tod im Herzen – Trudel, so lieb hast du noch nie gelächelt. – Gieb mir einen Kuß. – Du mein einziges, mein geliebtes Kind!“

Sie hob die Arme, umschlang ihn, ihre heißen Lippen lagen fest, dankbar, Tapferkeit versprechend, auf den seinen. Dann irrte seine Hand noch einmal über ihr Gesicht. Sie nickte ihm nur noch zu, sprechen mochte sie nicht. Er nickte auch und ging sacht hinaus.


23.

Als Rutenberg in den Speisesaal kam, war dort niemand mehr, nur Pepino erschien. den letzten, verspäteten Frühstückstisch abzuräumen und meldete ihm, die Herren seien schon wieder im Garten, auf der Meerterrasse. Er ging ihnen nach. Wie gut er auch seine Leute kannte, einen Augenblick wunderte er sich, doch Schilcher schleppte eben zwei Stühle aus einer Laube auf die freie Terrasse, nahe an die Brüstung, Wild zog einen Tisch heran, Lugau hatte zwei Spiele Karten in der Hand. „Der Tisch ist gut!“ rief Wild. „Die allgemeine Situation ist gut. Lugau, fassen Sie gefälligst mit an!“

Rutenberg lachte auf, trotz all der Rührung im Vaterherzen. „So wahr ich lebe, ich glaube, ihr wollt hier Whist spielen!“

„Wo denn sonst?“ fragte Wild. „Wo kann man denn besser einen Robber machen, als hier, über dem Mittelländischen Meer, in der Götterluft, im Angesicht des Vesuv? kurz vor seinem Ausbruch? – Die andern Fremden sind alle ausgezogen, stören thut uns niemand. Apropos! wie steht es mit dem Vesuv? Soll die Komödie noch weitergehn? Oder erfolgt die Auflösung schon in dieser Nummer?“

„Gertrud weiß es schon,“ erwiderte Rutenberg. „der junge Waldeck auch, aber – der andre noch nicht. Fritz Waldeck – wo ist denn der? Wo habt ihr den gelassen?“

„Ist auf sein Zimmer gegangen,“ antwortete Schilcher, der die Stühle stellte, der Tisch stand schon da.

„Also am hellen Tag, auf einer Felsenterrasse am Golf von Neapel, da wird gespielt?“

Lugau legte die Karten auf den Tisch, breitete das eine Spiel aus. „Schlichter kann man es ja gar nicht mehr erwarten. Wir hatten uns übrigens geschworen, Wild und ich, am ersten Morgen in Sorrent zu spielen. Schilcher, Sie waren also noch am Geben, und Sie haben den Strohmann. Setzen Sie sich gefälligst, und dann geben Sie!“

„Ich gebe,“ sagte Schilcher, so trockenen Ernst auf dem Gesicht wie sonst, setzte sich und nahm die Karten. Vor innerer Unruhe rückte er aber auf seinem Stuhl, bewegte die mächtigen Brauen und forschte mit den fragenden Augen auf Rutenbergs Gesicht herum. „Nun?“ flüsterte er, als der endlich herankam und seinen Kopf gegen Schilchers Schulter neigte. „Warst du bei der Trudel?“

Rutenberg nickte und nahm ein Fädchen von Schilchers Rock, als hätte ihn das gestört. „All right?“ flüsterte er dann.

All right?“ fragte Schilcher und begann zu geben.

„Ja. Wir haben gesiegt, Alter. Es giebt keinen Arthur mehr! Ich geh' jetzt zu Waldeck Sohn. – – All right!

Rutenberg schlug ihm in seiner Freude auf die Schulter und ging gegen das Haus zurück.

[803] All right

Schilchern war zu Mut, als elektrisiere man ihn; ein wunderbares Gefühl trieb ihn von seinem Stuhl in die Höhe. Eine himmlische Heiterkeit – er mußte wenigstens das Gesicht verziehn, wenn er nicht lachen sollte. Er wiederholte inwendig: Es giebt keinen Arthur mehr … Es giebt keinen Arthur mehr …,

„Aber was machen Sie, Schilcher?“ sagte Lugau, der gleich Wild am Tisch saß und auf seine Karten wartete. „Geben Sie doch weiter.“

„Ja, ich gebe weiter. Natürlich …“

Schilcher saß schon wieder; er gab. Die Karten, als wären sie auch wahnsinnig heiter geworden, flogen auf den Tisch. Also unsre Trudel geheilt! dachte er und schleuderte wieder eine Karte hin. Es kam immer mehr Schwung, mehr Feuer in seinen Arm … Unsre Trudel geheilt! Hahaha! Und der Feind geschlagen! – Mit Wasser und mit Feuer haben wir ihn hinausgetrieben – haben wir ihn – haben wir ihn – haben wir ihn – Juchhe! Eine Art von Gesang war in seiner Seele; bei jedem „haben wir ihn,“ das er dachte, flog eine Karte auf den Tisch.

„Schilcher,“ sagte Wild, „mir scheint, Sie geben jetzt auf italienische Art. Die südliche Lebhaftigkeit ist bereits in Sie eingedrungen!“ – Er nahm seine Karten auf, Lugau desgleichen. Schilcher dagegen vergaß seine Pflicht, nachdem er gegeben hatte; er horchte nach dem Hause zurück, ihm war, als hörte er Gertrud kommen. Langsam und vorsichtig wandte er dann den Kopf dorthin.

Wild klopfte endlich mit einem Knöchel seines fetten kleinen Fingers auf den Tisch. „Nun, Herr Oberappellationsrat Schilcher? Sehn Sie gefälligst Ihren Strohmann an, haben Sie die Güte!“

„Den Strohmann, versteht sich,“ entgegnete Schilcher und nahm die Karten des Strohmanns auf. Hatte er sich getäuscht oder nicht? Er horchte immer wieder. Er steckte die Karten zurecht, ob sie gut oder schlecht waren, das ward ihm freilich nicht bewußt. Er sah nur mehr rote als schwarze … Mehr rote als schwarze! sagte er sich und lugte in den Garten zurück.

Ja, nun kam sie wirklich; die schlanke, lange Gestalt, bald von der Sonne angestrahlt, bald im Schatten der Gebüsche, wandelte heran. Es lag etwas in ihren Schultern – und wie sie den Kopf hielt – das seine Freude dämpfte und ihm vorn auf der Brust Mitleidsgefühle machte. Ja, ja, armer Kerl! dachte er. Jetzt ging sie an ihm vorbei und suchte ihn anzulächeln; es ward aber nicht viel daraus. Auch das Sprechen, das ihre Lippen versuchten, gelang doch noch nicht. Als sie bei ihrer Steinbank an der Brüstung angekommen war, schien ihr die Kraft zu vergehn; sie glitt nieder, von den Männern abgewandt, und legte sich eine Hand vor die Augen, das arme Köpfchen lehnte sich an die Brüstung an.

Wild warf unzufriedene Blicke auf den zerstreuten kleinen Herrn. „Es scheint,“ murmelte er zu Lugau hinüber, „wir sollen heut’ wieder mit Hindernissen spielen …“

„Ich spiele also aus!“ rief Lugau und warf seine Karte mit einigem Nachdruck hin.

„Und ich bediene!“ rief Schilcher, der die Karten des Strohmanns so rasch wie möglich auf dem Tisch hinbreitete. Dann nahm er eine davon und warf sie neben Lugaus Karte.

„Was machen Sie?“ sagte Wild. „Sie haben ja Treff.“

„Ja. Ich habe ja Treff. Ich bitte um Entschuldigung!“

Schilcher verbesserte seinen Irrtum – so hatte er sich wohl noch nie versehn, seit er Whist spielte – und gab den Treffbuben aus dem Strohmann hin. Ihm war nun, wie wenn er das Mädel leise weinen hörte. Sie wird doch nicht! dachte er erschrocken. Vor den Mannsbildern da … Ah, das thut sie nicht. So ist Trudel nicht. Das war eine Täuschung!

Er horchte von neuem; nein, sie weinte nicht. Es war offenbar nur sein eignes Gefühl, das ihm sagte: jetzt weint sie inwendig … Dieses verwünschte Gefühl ließ ihn auch nicht stillsitzen; er stand wieder auf. Ohne an Treff oder Coeur zu denken, ging er zu der Steinbank hin und beugte sich auf Gertruds angelehnten Kopf, so daß sein vortretendes Kinn fast ihr Haar berührte. „Trudel!“ sagte er leise. „Uebers Jahr sind wir wieder lustig. – Ganz, ganz lustig!“

Er bog sich um ihr Gesicht herum und küßte sie auf den Mund.

„Aber was ist mit dem Schilcher?“ sagte Wild und drehte seine schwerfällige Gestalt nach der Brüstung zu; von dem Kuß hatte er nichts gesehn noch gehört. „Herr Oberappellationsrat –!“

„Hab’ nur der Gertrud angedeutet,“ erwiderte Schilcher trocken, „es könnte dem Strohmann gut thun, eine Flasche Capri zu tanken. Und den andern auch –“

„Ja, ja!“ fiel ihm rasch das Mädchen ins Wort, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stand auf.

Lugau schmunzelte „Herr, da haben Sie recht!“

Gertrud begann auch schon zu gehn; als sie nun aber ihren Vater mit dem jungen Waldeck herankommen sah, legte sich ihr eine Beklemmung auf die Brust; an ihnen vorbeizugehn, fehlte ihr der Mut. „Meine Freunde,“ nahm Rutenberg das Wort, sowie sie auf die freie Terrasse traten, „dieser junge Freund unseres Hauses wünscht sich zu empfehlen: er will fort, nach Pompeji zurück, zu seiner archäologischen Bande.“ Mehr für Schilcher und die aufhorchende Gertrud setzte er hinzu: „Vielleicht sehn wir ihn in Rom noch wieder; jedenfalls aber zu Hause. Da besucht er uns; er hat mir’s versprochen!“

Fritz Waldeck nickte stumm. „Ich – ich muß nun fort,“ sagte er darauf mit schwacher Stimme. Er nahm zum Abschied Rutenbergs Hand. „Mein Freund!“ stammelte er leise. „Mein Vater!“

Rutenberg zog ihn an die Brust; sie umarmten sich. Gertrud sah gerührt über die Schulter hinüber, dann blickte sie aber wieder vor sich hin. Sie wartete, bis Fritz zu ihr kam; als er sein Abschiedswort an sie richtete, reichte sie ihm die Hand und schaute ihm mutig in die Augen. Es schien ihr plötzlich passend oder gut zu sein, wenn sie lächelten; so lächelte sie ihn denn an. „Auf Wiedersehn!“ sagte sie. „Spätestens zu Hause!“

„O, ich hoffe!“ antwortete er und ließ ihre Hand zögernd aus den Fingern.

Schilchers stiller Blick ruhte mit einem tiefen Wohlgefallen auf dem hochgewachsenen, schmucken Paar; und was für gute Augen sie beide haben! dachte er. Wie gut sie zu einander passen. Wenn die ein Paar werden – dann betrink’ ich mich!

„Gut Freund,“ sagte er, so herzlich wie sein holziger Baß es hergab, als Waldeck Sohn nun auch von ihm seinen Abschied nahm. Fritz grüßte die Whistspieler und ging. Gertrud sah ihm nach; sie hatte den Capriwein vergessen, den sie holen wollte.

Der junge Mann war übrigens noch nicht verschwunden, als Pasquale, an ihm vorbei, zwischen den Büschen herankam, schon von weitem lächelten seine kohlschwarzen Augen der Eccellenza, dem Schilcher, zu. Mit ehrbarem Ernst brachte er dann aber seine Meldung vor: „Wollte nur berichten, Eccellenza, wir sind wieder da. Aber Humor schlecht!“ Er hob malend die Arme und verzerrte das Gesicht „Wütend! Furioso!“

Wer ist wieder da?“ fragte Wild, der seine auf den Tisch gelegten Karten eben wieder aufgenommen hatte.

„Herr van Wyttenbach,“ antwortete Schilcher. Gertrud fuhr zusammen.

„Schilcher hat gewonnen!“ rief nun Rutenberg rasch. „Er gewinnt doch immer! – Nämlich, dieser Schilcher hatte gegen mich gewettet, der diabolischen Beredsamkeit Wilds werde es gelingen, unsern jungen Freund, Herrn van Wyttenbach, mit Hilfe des Vesuvs in die Berge zu treiben. Unser junger Freund versteht Spaß; das wird sich schon finden. Jedenfalls hat Wilds Talent gesiegt!“

Die Whistbrüder lachten. Hinter seinem Rücken hörte Rutenberg leises Kleiderrauschen, dann ein Flüstern der bekannten lieben Stimme an seinem Ohr. „Ich will ihn nie wieder sehn!“ sagte sie leise. „Gieb ihm das! Du!“

Das nicht nur zerknitterte, jetzt auch zerrissene Blatt, das Arthur ihr heute geschrieben hatte, schob sich in seine Hand.

Wild war unterdessen aufgestanden, seine Augen glänzten humoristisch triumphierend im Kreis herum. „Na? Werd’ ich nun anerkannt? – – Aber Schilcher bedient nicht. Schilcher, Sie haben noch immer nicht aus der Hand bedient!“

„Ich bediene also“, entgegnete Schilcher würdevoll und spielte aus.

„Mein Stich,“ sagte Lugau – „Nochmals Treff!“ Mit seinem bekannten kurzatmigen Schwung warf er Treffkönig hin.