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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Das Grab der Rahel
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aus: Zerstreute Blätter (Dritte Sammlung) S. 247–250
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Erscheinungsdatum: 1787
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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[247]
Das Grab der Rahel.

Als Jakob von der heiligen Stäte wiederkehrte, auf welcher Gott sich ihm gastfreundlich geoffenbaret hatte, als er in seiner Jugend den offenen Himmel sah; da war sein Herz voll Freude: denn Jehovah hatte ihm seinen Freundesbund aufs neue bestätiget; bald aber traf ihn ein bittrer Schmerz. Die Liebe seiner Jugend, Rahel, starb bei ihrem zweiten Sohne, und da die Seele ihr entging und sie nun sahe, daß sie sterben mußte, nahm sie den letzten Athem noch zusammen und küssete das Kind und nannte seinen Namen: „Benoni, den Sohn der Schmerzen“ und starb.

Und als sie vor dem Ewigen erschien, weinete sie und sprach. „Erfülle mir, o Vater, die erste Bitte hier an deinem Thron. Laß mich zuweilen noch die Meinigen schaun, von denen [248] du mich trenntest, daß ich in ihrem Leiden sie noch sehe und ihre Thränen lindre.“ –

Dreimal soll dir dein Wunsch gewähret seyn, sprach Gott, daß du auf Erden deine Kinder schauest; doch lindern kannst du ihre Thränen nicht.“

Sie ging zum erstenmal hinab und fand den alten Jakob um ihre beiden Söhne ängstlich trauren. Des Josephs blutiges Kleid lag neben ihm: „mein graues Haar, rief er, wird in die Grube fahren: mit Leide werd’ ich zu den Todten wandern: denn auch Benoni wird mir jetzt geraubt.“

Seufzend stieg sie wieder zum Himmel hinauf: bis späterhin ihr Mann und ihre Söhne, als Abgeschiedene, selbst zu ihr kamen und freudig ihr erzähleten, wie schön sich all ihr Leid in Freude verwandelt habe.

Sie trocknete die Thränen und stieg lange nach diesem zum zweitenmal hernieder auf ihr Grab. Da sahe sie ihre Kinder ins Elend treiben, wie man die Heerde treibt. Alles fand sie [249] verwüstet und selbst ihr Grab war nicht verschont. Eine Zeitlang blieb sie auf dem öden Grabe und lange hörte man auf ihm ein unsichtbares Aechzen.

Sie stieg zum drittenmal hernieder; da floß um Bethlehem der unschuldigen Kinder Blut. Ihre Mütter weinten und auf ihrem Grabe weinete Rahel laut. Untröstlich ächzte sie: „sie sind, sie sind nicht mehr.“ Man hörte lang’ am Grabe das weinende Ach: „sie sind nicht mehr.“

Und als sie wiederkehrte, sprach der Allbarmherzige: ruhe jetzt, meine Tochter, und quäle dein Herz nicht mehr um deiner Kinder Leiden. Der Weg der Sterblichen führt bald in Thäler, wo nur Klagen tönen; bald, wenn das Thal sich wendet, wird die Klage selbst Lobgesang. Vertrau mir deine Kinder an; sie sind auch meine Kinder: dein Herz ist nicht gemacht, der Erdgebohrnen Schicksal zu tragen und zu lindern.“

[250] Beruhigt blieb der schönen Rahel Geist fortan im Paradiese. Zwar fragte sie die Neuankommenden um ihr vollendetes Geschick auf Erden; doch nimmer kehrte sie zu ihrem Grabe wieder, auf dem das Aechzen ihres mütterlichen Herzens nun schon längst verhallet ist. Das Grabmal schweigt und Rahel freuet sich mit ihren Kindern in der ewgen Ruh.