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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Christenfreude
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aus: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung) S. 342-348
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Erscheinungsdatum: 1797
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Google und Commons
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[342]

 Christenfreude.

     Bruder Leo und Franciscus gingen
In den Pflichten ihres strengen Ordens
Ueber das Gebürge. Schneidend wehte,
Um und um sie, Hauch des kalten Winters.

5
Und ihr Ordenskleid war kahl; die Kutte

Deckt ihr nacktes Haupt nur dünn’ und kärglich.
„Bruder Leo, rief Franciscus, höre!
Stehe still!

                Wenn hinter uns die Menge

10
Auf uns winket: „siehe da die Säulen

Aller Christenheit! der Erden Sterne!“ –
Und der Ruf uns gegen Ost und Abend,

[343]

Nord und Süd auf seinen Flügeln träget,
Daß, wohin wir kommen, Städt’ und Dörfer,

15
Helle Haufen uns entgegen senden,

Die uns grüßen, uns Erquickung reichen,
Knieend unsern Segen sich erflehen,
Und darüber unser Herz frohlockte –
Bruder Leo, das ist nicht die Freude,

20
Echte, wahre Christenfreude nicht.“


     Weiter gingen sie; der Hauch des Winters
Wehete gelinder, und Franciscus
Redet fort: „Wenn vor dem hohen Pulte
Des berühmtesten, des vollsten Tempels

25
Zehentausend um uns stehn und horchen

Auf die Sprüche unsrer Weisheit, saugen
Durstend ein den Odem unsrer Lippe;
Wenn wir Herzen spalten, führen Seelen,
Tausend Seelen im Triumph gefangen,

30
Daß, berauschet auf des Wohllauts Strömen,

Jedes Ohr dahinschwimmt, und die Augen
Süße Bäche weinen; Seufzer steigen

[344]

Zu uns auf, ein süßer, süßer Weihrauch –
Und uns dann der Busen voller schläget,

35
Unser Mund frohlockender ertönet –

Bruder Leo, das ist nicht die Freude,
Echte, wahre Christenfreude nicht.“

     Als sie weiter kamen, in die schöne
Reichbewohnte Ebne, sprach Franciscus:

40
„Wüßten wir die Sprachen aller Völker,

Die Geheimniße in Erd’ und Himmel,
Kenneten den Weg der Vögel, Fische,
Thier’ und Menschen, selber auch der Sterne;
Bruder Leo wüßte jede Zukunft,

45
Die auch, die seyn könnend doch nicht seyn wird –

Und wir aller Menschenherzen Tiefen,
Jeden Abgrund der Gewissen sähen,
Und sie wie Allmächtige beherrschten,
Wenn darüber unser Herz frohlockte –“

50
     Indeß hatte sich das Volk in Haufen

Schon gesammlet und begehrte Wunder.

[345]

„Bruder, wenn uns Gott nun Wunder gäbe,
Wunder, selbst den Satan zu entwaffnen,
Kräfte, diesem Tauben, jenem Stummen,

55
Blinden, Lahmen, Ohr und Zung’ und Auge,

Hand und Fuß zu geben; der verwesten
Menschen-Asche neue Lebensfunken –“

     Leo fiel ihm ein: „o guter Vater,
Warum sprichst du also? Oeffne lieber,

60
Oeffne mir der wahren Freude Quell.“


     Sprach Franciscus: „Als vor jener Hütte,
Der wir Segen brachten, uns der Pförtner
Halbgesehn, die Pforte kaum eröfnet,
Drohend fortwies, und uns heilge Lügner

65
Uns Verräther schalt und schloß die Thür zu –

Wenn wir da, als hätt’ er uns mit warmem
Mildem Bad’ erquickt, den Gruß annahmen,
Und uns freuten und in Windes Pfeifen
Auf dem harten Stein, auf jenem Berge

70
Ruheten, als lägen wir auf Rosen,

Und der Schnee uns wie mit Rosen deckte;

[346]

Wir besprachen uns, wie wir dem Feinde
Wohlthun könnten, ihn mit Segen lohnen –
Bruder Leo, war uns das nicht Freude?“

75
„Himmelsfreude war es, o Franciscus.“


     „Jener Jünger, den als Kind wir liebten,
Dieser Freund, dem wir das Herz vertrauten,
Jener Fremdling, dem wir Gut und Leben
Glück und Wohlseyn gaben, wenn der Eine

80
Bitter uns nun haßet, und der Andre

Das Geheimniß unsres Herzens ausstößt,
Vollgemischt mit Lügen, und der Dritte
Ins Gesicht uns speit und schlägt uns blutig,
Schneidet uns mit Waffen unsrer Güte

85
Tief ins Herz, daß unsrer Eigenliebe

Feinster Nerv erbebt, und alle Buben
Ueber uns frohlocken; und wir dennoch
Unsre Güte nicht bereuen, fröhlich
Uns zu neuer größrer Güte rüsten,

90
Und uns in den Spott als Purpur kleiden,

In die Dornenkron’, als wär’ es Lorbeer,

[347]

Den Verräther mit dem Kuß der Liebe
Segnen, und uns freun der Ehren Christus –
Bruder Leo, das ist Christenfreude!“

95
„Himmelsfreude, sprach er, o Franciscus.“


     „Sieh, wir gehen jetzt in die Versammlung
Unsrer Brüder, wohin sie mich luden,
Daß ich ihnen meinen Rath ertheile.
Wenn ich rede, was das Herz mir eingiebt,

100
Und sie alle wider mich dann aufstehn,

Rufend: „Nein! wir wollen nicht, daß Dieser,
Ein Unwissender, ein Unerfahrner,
Ueber uns gebiet’!“ und mit Verachtung,
Hassend mich aus ihrer Mitte stoßen,

105
Und vor aller Welt mich schmähn und lästern; –

Wenn ich dann nicht, als ob sie mit hohen
Ehren mich empfingen und lobpriesen,
Ihren Spott in höchster Ruh’ ertrüge;

[348]

Heiter im Gemüth, mit frohem Antlitz,

110
Willig, ihnen jedes bittre Unrecht

Mit demüthger Liebe zu vergelten,
Bruder Leo, so bin ich des Ordens,
Den ich Christo stiftete, nicht würdig.“