Bei den darbenden Webern im Glatzer Gebirg

Textdaten
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Autor: Johannes Proelß
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Titel: Bei den darbenden Webern im Glatzer Gebirg
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 271–272, 274–275
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bei den darbenden Webern im Glatzer Gebirg.


Eine Charwoche liegt hinter mir, deren „grüner Donnerstag“ ohne den Hoffnungsgruß von Lenzesgrün verlief und auf die kein Osterfest folgte, dessen Glockentönen mir das Herz mit frohem Auferstehungsglauben erfüllt hätte. Weiße Ostern – das waren die Tage auch für all die Vielen, welchen der Schneesturm den Osterausflug verdarb, graue Ostern, grau wie Frau Sorge in Goethes Faust, so muß mein Reisetagebuch diese Woche verzeichnen, in der mich das Interesse der „Gartenlaube“ für die nothleidenden Weber im „böhmischen Winkel“ Deutsch-Schlesiens und ihr Wunsch nach Klarstellung des Charakters dieser Nothlage durch Sturm und Regen in die verschneiten Thäler zwischen Mensegebirg und Heuscheuer, Heuscheuer und Eulengebirge fahren und hinauf in die entlegenen Dorfeinöden der Grafschaft Glatz wandern ließ. Denn auch der Glanz der Frühlingssonne hätte das Grau dieser trostlosen Lebenseindrücke, hätte die Bilder unheilbaren Menschensiechthums, die mich hier erwarteten, nicht zu verklären vermocht, und auch die Zaubermacht der Ostersonne, mit dem goldnen Faden ihrer Strahlen selbst die Flicken des Bettlerelends zur Schönheit verweben zu können, würde versagt haben an den düstern Stätten des Hungers und Elends dort oben, auf welche seit Wochen der Hilferuf edler Menschenfreunde das allgemeine Interesse im Vaterlande gelenkt hat.

Solch einem Hilferuf hatte zu Anfang März auch die „Gartenlaube“ Verbreitung gegeben, nachdem der von ihr um Auskunft angegangene Gewährsmann, Herr Pastor Klein in Reinerz, schon Wochen vorher im engeren Kreise jener Gegend durch öffentlichen Aufruf und praktische Organisation der Privatwohlthätigkeit zu Gunsten der Nothleidenden gewirkt hatte. Aber viel früher schon, bereits im Mai vorigen Jahres, hatte eine Petition von Webern des Eulengebirgs an den Kaiser, hatten Nachrichten der Presse über die Absichten der Regierung, mit dem chronischen Nothstand der schlesischen Handwerker einmal gründlich aufzuräumen, die allgemeine Aufmerksamkeit wieder jenen Mißständen zugelenkt, die nun schon über ein Jahrhundert lang nach dem Ausdruck eines bedeutenden Nationalökonomen „einen Schandfleck unserer wirthschaftlichen Geschichte“ bilden. Schon war es in den Verhandlungen zwischen den Ministerien in Berlin, der Provinzialregierung in Breslau und den Landrathsämtern der betreffenden Bezirke zugegeben, daß die allgemeinen Verhältnisse die Handweberei Schlesiens mit einer neuen Krise bedrohen, schon häuften sich auf den grünen Tischen die Akten mit Material für die Vorbereitung der Abhilfe, da drang mitten aus dem Herzen der Gegend, in welcher das Elend der Handweber schon längst alle Grenzen des Erträglichen überschritt, der laute Hilferuf des Reinerzer Pfarrers hinaus in die Welt im tausendstimmigen Echo der Presse. Wohl könne den Webern für die Dauer nur durch wirthschaftliche Heilmittel geholfen werden, die dem Uebel an die Wurzel gehen, aber zur Bekämpfung der augenblicklich gesteigerten Noth sei auch augenblicklich eingreifende Hilfe nöthig, Hilfe der freien Barmherzigkeit, die Nahrung, Heizung, Kleidung in die [272] Hütten der Darbenden bringe. Der Aufruf beruhte neben der persönlichen Erfahrung des Pfarrers auf Angaben der Ortsvorsteher der betreffenden Gemeinden selbst, der Kern seines Inhalts fand die Bestätigung der Regierungsbeamten des „Kreises“, und das Landrathsamt in Glatz setzte, ganz wie auch das von Neurode am Eulengebirg, Nothstandskommsssionen ein, deren Mitglieder unter Führung des Landraths einen amtlichen Aufruf im Amtsblatt des Kreises mit der Bitte um Hilfe erließen.

Was war auch natürlicher, als daß die Regierung, ohnehin schwer belastet von der Sorge um die Beseitigung des chronischen Nothstandes, die Stillung der akuten Noth der Privatwohlthätigkeit überließ!

Da – gerade als der Aufruf des Pastors Klein in der „Gartenlaube“ erschienen war, änderte sich auf einmal das Bild. Die kurz vorher von den Behörden selbst angerufene Wohlthätigkeit weiterer Kreise wurde in einer Konferenz beim Handelsminister, welcher verschiedene schlesische Landtagsabgeordnete und der Regierungspräsident aus Breslau anwohnten, als „entbehrlich und bedenklich“ bezeichnet, da eine über das Bedürfniß hinausgehende Unterstützung nur „demoralisirend“ wirken könne. Die in die Presse gelangten Schilderungen der stellenweise ja vorhandenen Nothstände seien zum Theil übertrieben. Am 10. März aber erschien dann von dem Kommunalarzt in Reinerz in einem Berliner Blatt eine Erklärung, welche jede Art akuten Nothstandes in der Gegend in Abrede stellte, ja behauptete, daß es den armen Webern daselbst „von Jahr zu Jahr immer besser gehe“. Die Erklärung gipfelte in der Aussage, daß Pastor Klein durch eine „wilde regellose Armenpflege“ mehr Schaden als Nutzen gestiftet und in Kreisen, wo bisher Zufriedenheit und Arbeitslust geherrscht, „Unzufriedenheit und Begehrlichkeit“ geweckt habe. Diese Erklärung ist dann durch den offiziösen Telegraphen in einer Form verbreitet worden, die ihr den Schein eines amtlichen Charakters verlieh. Welche Anschuldigung für alle die Blätter, welche den Aufruf des Pfarrers verbreitet, Gelder für seine „wilde“, „regellose“ und „demoralisirende“ Hilfsthätigkeit eingesammelt hatten! Das hehre Amt der Presse, in Nothstandsfällen, die schnelle Hilfe fordern, den Nothschrei der Bedrängten nach allen Richtungen zu verbreiten, dem guten Willen der weit zerstreut wohnenden Menschenfreunde sich als Vermittler darzubieten, war hier in verletzendster Form in seinem Ansehen getrübt! Aber wie viel sprach doch auch für die Unberechtigtheit der Anschuldigung! Hatten nicht die berufensten und angesehensten Männer der Gegend einen Monat vorher selbst einen amtlichen Hilferuf unterschrieben? Da hieß es: selbst zuschauen und prüfen, der Wahrheit der Thatsachen festen Blickes auf die Spur zu gehen.

In frühen Jahren – auf meiner ersten Reise von Dresden ins Riesengebirge – bin ich auch zum ersten Male in Berührung mit dem schlesischen Weberelend gekommen. Der uns begleitende Lehrer wollte uns einen Begriff geben von der altehrwürdigsten aller Hausindustrien, die schon im Alterthum die gefeierten Königinnen der homerischen Heldensage geübt. Wir überraschten die blassen armen Leute bei ihrem Mittagessen. „Haben die fleißigen Weber nichts besseres zu essen als Mehlsuppe?“ frug ich erregt beim Verlassen der Hütte. – „Mehlsuppe oder Kartoffeln – einen Tag wie den andern.“ – „Nie Fleisch?“ – „Das mögen sie gar nicht.“ – „Sind die aber arm!“ – „Freilich – arm. Aber das war immer so. Das ist eben das Schicksal der Weber ...“

Heute bildeten Schriften und Aufsätze, die dem Ernst meiner Sendung entsprachen, meine Gesellschaft auf der Fahrt über Görlitz nach Glatz. Untersuchungen über die Ursachen der Webernoth, Vorschläge zu ihrer Bekämpfung, Rückblicke auf ihre Geschichte, das vortreffliche Buch von A. Zimmermann: „Blüthe und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien“. Und seltsam – auch hier kehrte der Bescheid bei Besprechung der Verbesserungsversuche wieder: „Das war immer so; das ist eben das Schicksal der Weber!“

So oft seit dem Untergang der Blüthe des schlesischen Leinwandhandels durch die Kontinentalsperre die schon damals vorhandene Armuth der Handweber im Gebirge den Charakter eines akuten Nothstands annahm, tönte es vom Regierungstisch zurück: Das ist keine akute Erscheinung, die Noth ist eine chronische. „Sie war immer so – das ist eben das Schickal der Weber!“ So war schon 1793 das Ergebniß der Versuche des Ministers von Struensee, den Nothstand zu bekämpfen: die Resignation. Als 1819 die Einführung des mechanischen Webstuhls aufs neue einen akuten Nothstand erzeugte und die Nachricht davon die Aufmerksamkeit in Berlin erregte, da hatte der Regierungspräsident in Breslau nichts anderes zur Antwort, als die Ableugnung des akuten Nothstands, da derselbe chronisch sei – „das ist eben das Schicksal der Weber.“ 1844 war das Elend so arg, daß der Hungertyphus auftrat, selbst der saure Mehlkleister, den die Weber zum Anfeuchten des Garns als „Schlichte“ benutzen, wurde damals von Hungrigen aufgezehrt. Als Wohlthätigkeitsvereine entstanden, die schlesische Webernoth zum erstenmal in allen Blättern Deutschlands erörtert wurde und der König von Preußen aus eigenen Mitteln 10000 Thaler zum Hilfsfonds beisteuerte, war die Erklärung der Provinzialverwaltung: es sei auch jetzt nur der allbekannte unverbesserliche Nothstand; man müsse die Weber sich selbst überlassen und die Wohlthätigkeitsvereine unterdrücken – „das ist eben das Schicksal der Weber!“ In jenem Jahre, als der freiheitliche Zug der nationalen Entwickelung auch Luft und Licht in die Versumpfung des „chronischen Nothstands“ zu bringen begann, als der Geist, der in Frankfurt ein nationales Parlament erstehen ließ, welches die Grundrechte des deutschen Volkes berieth, selbst in die schlaffen Webergemüther im Eulengebirge fuhr, da begleitete Ferdinand Freiligrath die Bewegung mit jenem herzergreifenden Gedichte, das uns einen armen Weberjungen vorführt, der in seiner Verzweiflung den Schutzgeist des Riesengebirgs, Rübezahl, beschwört, daß er – der Freund der Armen und Bedrängten – den brotlosen Eltern helfe. Heute wissen wir, daß die Lage der Handweberei im Riesengebirge, in den Gegenden von Waldenburg und Schweidnitz, wo sich, belebt vom Eisenbahnverkehr und dem ergiebigen Steinkohlenbergbau, eine große Fabrikindustrie entwickelt hat, die von der schlichten, billigsten Leinenherstellung längst zu komplizierten Woll- und Baumwollwebereien übergegangen ist, ganz andere wirthschaftliche Bedingungen hat als die armseligen, weltabgeschiedenen Weberdörfer der Grafschaft Glatz, die mit ihren rastlos arbeitenden Webstühlen oft meilenweit von dem nächsten Industrieort, der ihnen Beschäftigung giebt, und von der nächsten Eisenbahnstation gelegen sind.

Auch längs der Bahn, die zwischen Dittersbach und Waldenburg abzweigt und, über Neurode, Glatz, Habelschwerdt, Mittelwalde führend, die Grafschaft in zwei Hälften theilt und mit Oesterreich bei Grulich verbindet, sieht man aller Orten nicht nur an neuen großen Fabrikanlagen, sondern auch am Aeußern vieler Privatwohnungen, daß hier in Wechselwirkung mit dem endlich seit zehn Jahren durch die Bahn vermittelten Verkehr sich ein Wohlstand entwickelt hat, welcher der ganzen Gegend mit ihren malerischen, zwischen Waldbergen eingebetteten Thälern und Mulden ein lebensfreudiges, farbiges, einladendes Gepräge giebt. Wer hier den mit Recht berühmten Quellenbädern der Landschaft entgegenfährt, den Sinn erfüllt von den Reizen ihrer geschützten Lage inmitten dichtbewachsener Waldberge, dem wird es kaum denkbar erscheinen, daß auf den halb aufgerodeten Abhängen und im Hinterland dieser Berge tausende von Menschen wohnen, die bei angestrengtestem Fleiß zu einem beständigen Kampf mit der drückendsten Noth verurtheilt sind. Die Hauptstadt Glatz, unser nächstes Reiseziel, mit den die Neisse beschattenden malerischen Resten ihrer einstigen Festungswerke macht gleichfalls keinen ärmlichen Eindruck. Von hier öffnet sich das Thal der Wilden Weistritz, in welches nunmehr meine Fahrt einlenkte, denn in ihm liegen außer den waldumhegten trefflichen Kurorten Reinerz und Cudowa abseiten der Straße all die Ortschaften, in denen das Weberelend diesen Winter, chronisch wie es schon ist, zum Theil jene außerordentliche Höhe erreicht haben sollte, über welche sich der merkwürdige unwürdige Wortstreit entsponnen hat, ob der Nothstand die Bezeichnung als „akuter“ verdiene oder, weil er „nur chronisch“ sei, keinen Anspruch auf die private Wohlthätigkeit habe.

Kolossale hochstämmige Forsten, meist königliches Dominium, haben im engeren Verlauf des Thales der um Glatz herum blühenden Landwirthschaft hier von alters her wenig Raum gelassen. Der Bergbau auf Eisenerz, einst um Reinerz mit Erfolg betrieben, hat seit Jahrhunderten keine Pflege mehr gefunden. Die riesigen Sandsteinflötze des Heuscheuergebirges – Millionen an Werth in herrlichstem Baumaterial – sind bis vor kurzem fast unberührt geblieben und ihre Verwerthung, zum Theil zu nichts geringerem als dem Ausbau des deutschen Reichstagsgebäudes bestimmt, hat erst seit Anfang des Jahres sich eines einigermaßen nahen [274] Verladungspunkts für den Eisenbahnversand zu erfreuen. Die seit Dezennien als nothwendig erkannte, seit zehn Jahren in Vorbereitung befindliche Bahn, die Glatz über Rückers, Reinerz, Lewin und Cudowa mit der böhmischen Grenzstadt Nachod verbinden soll, ist nämlich im Laufe der letzten vier Jahre glücklich bis zu ersterem Ort fertig gestellt worden und in Erwartung ihrer Fortsetzung hat die Industrie bereits in den genannten Städten einen bedeutenden Aufschwung genommen.

Nur eine Industrie, aber freilich gerade diejenige, welche bei weitem die Mehrzahl der Bewohner der Gegend beschäftigt, hat sich dieser belebenden Wirkung noch nicht zu erfreuen gehabt: eben die Handweberei. Sie ist gerade im letzten Jahre wieder bedeutend zurückgegangen, wie ich nicht nur aus dem Munde vieler armen Handweber selbst, sondern auch aus demjenigen verschiedener Garnausgeber, die ich Auge in Auge darüber befragte, sowie aus Rundschreiben und Erklärungen gerade solcher Größindustrieller gehört und ersehen habe, welche, wie sie sagen, in der Gegend „längst nur noch aus Mitleid“ haben arbeiten lassen, da die mechanische Herstellung ja viel billiger sei. Auch in den Protokollen der Nothstandskommissionen, die ich einsehen durfte, und von erfahrenen Orts- und Amtsvorstehern, die ich aufsuchte, fand ich diese Hauptursache der Noth bestätigt. Am besten unterrichtete mich über diese allgemeinen Verhältnisse aber der langjährige Bürgermeister von Reinerz, Herr Dengler. Nicht mündlich, denn heute steht derselbe auf dem die akute Hilfsbedürftigkeit ableugnenden Standpunkt, wohl aber durch eine Denkschrift über die Nothwendigkeit der Eisenbahnlinie „Glatz-Reinerz-Nachod“, die er auf Grund seiner damals schon siebenjährigen Erfahrung in seinem Amt bereits vor sieben Jahren geschrieben hat. In dieser wird von der Textilindustrie der Landschaft offen eingestanden, daß sie in fortwährendem Niedergange begriffen sei und ihre Lage von Jahr zu Jahr schlechter werde. „An eine Besserung ist nicht mehr zu denken und seit Elsaß-Lothringen unserem Vaterlande einverleibt ist, kann der hiesige Weber, der nur die gewöhnliche Arbeit gelernt hat, überhaupt nicht mehr aufkommen.“ Als auch die anderen Webergegenden der Grafschaft noch keine Eisenbahn besaßen, da sei auch in seinem Bezirke die Fabrikation baumwollener Waren und leinener Stoffe durchweg selbständig gewesen. Es konnten die Fabriken in Rückers und Gellenau z. B. mit Langenbielau, Reichenbach, Waldenburg konkurriren. Dort seien seitdem neue Färbereien, Druckereien, Bleichen, Appreturanstalten entstanden, hier seien sie eingegangen. Die damals selbständigen Fabrikanten und Geschäftsleute seien jetzt Agenten, Kommissionäre, „Garnausgeber“ geworden, die mit den Handwebern in den Dörfern als Mittelsleute verkehren. „Dem Fabrikanten ist es nicht zu verdenken, daß er für die näher wohnenden Weber besser sorgt, als für die entfernten, ihm nicht bekannten, die er durch einen Dritten beschäftigen läßt. Dabei aber giebt er die guten Garne den Arbeitern seiner Fabrik und die schlechten den Handwebern, weil die Maschinen schlechte Garne nicht leiden.“ Kurz, alles, was von Pastor Klein in seinem Aufruf in Nr. 10 der „Gartenlaube“ von den wirthschaftlichen Nothständen in den Weberdörfern um Reinerz behauptet und dem dann von anderer Seite in so bedenklicher Form entgegengetreten worden ist, hat der soeben nach fünfundzwanzigjährigem Stadtregiment zum drittenmale feierlich neu eingesetzte Bürgermeister von Reinerz schon vor sieben Jahren – nur auf Grund reicherer Erfahrung, eingehender und mit schärferen Ausdrücken – im Interesse der Gegend drucken lassen. Daß er jetzt, wie er mir selbst sagte, auf Seiten Derer steht, welche dem Pastor Klein vorwerfen, er habe übertriebene Berichte in die Welt gesandt, nimmt seinem in jener Denkschrift enthaltenen Gutachten gewiß nichts von seinem Werth. Wir können die Ursachen seiner veränderten Auffassung nicht angeben, doch dürften sie ähnliche gewesen sein, wie die, welche inzwischen drei Ortsvorsteher bewogen haben, ihre Unterschrift von der neulichen Erklärung zurückzuziehen. Wir halten uns an das, was er damals geschrieben: daß von Jahr zu Jahr immer größere Lohnabgänge erfolgen, daß die Weber kaum noch imstande sind, sich das Allernothwendigste zu beschaffen, daß, wenn Mißernte war, die dauernde Noth dann in potenzierter Form auftritt. „Wir sehen sie bei sirengen Wintern hier unter den armen Webern als ein schleichendes Gespenst herumziehen ... Eine Degeneration von Geschlecht zu Geschlecht ist bei den Webeen typisch geworden ... So geht es stetig bergab ... Die Zeit der Kretins wird bald gekommen sein und Exemplare solcher können in hiesiger Gegend schon nachgewiesen werden!“ ... Was ist denn aber die potenzierte Form der dauernden Noth anders als der akute Nothstand? Und nun gar in einem Winter, dem eine ganz außerordentlich schlechte Ernte vorausgegangen war, dessen ganz außerordentliche Kälte und Härte ungewöhnlich früh einsetzte und kein Ende nehmen wollte, in einem Winter, wo die Rückwirkung des allgemeinen Niedergangs der schlesischen Weberindustrie sich nirgends schärfer geltend machen mußte und geltend gemacht hat, als in diesen gottverlassenen Weberdörfern. Und solchen Zuständen gegenüber soll die Privatwohlthätigkeit entbehrlich und verderblich sein?

Trotz all dem Vielen, was ich in den letzten Monaten und jüngst erst über das Weberelend in diesen Bezirken gelesen, die Zustände, wie ich sie nun in Rückers, in den Ddrfern Goldbach, Hummelwitz, Ratschendorf, Friedersdorf. Johannisdorf bei Reinerz, um Lewin und Cudowa kennenlernte, so herzangreifend und jammervoll hatte ich sie mir doch nicht gedacht!

Schon die einsame Lage fast jeder einzelnen dieser Hütten, das kahle Heideland, dem die Väter dieser Web-Bauern das kleine, jetzt meist verschuldete Ackerstück abgewonnen, das die mit Hypotheken belastete Hütte umgiebt, die nur aus Lehm und Brettern gefügten, mit Schindeln bedeckten, stallähnlichen Hütten selbst, die mit ihren niedrigen Thüren, lichtlosen Eingängen, kleinen Fensterchen und hohen Dächern aussehen, als kauerten sie sich selbst zusammen vor den Stürmen, die hier den ganzen Winter lang über die Höhen brausen – welch kläglicher Eindruck! Ich hatte mir doch wenigstens richtige Dörfer mit Gassen vorgestellt, Dörfer mit Schulhaus und Pfarrhaus, mit einer Schänke, Arbeiter, die zwar zerlumpt gekleidet und schlecht genährt, doch auch auf ihre Weise ihren Sonntag haben und in Feierstunden bei einem Gläschen Schnaps das, was ihnen wohlthut, suchen – Vergessenheit ihrer Lage.

Doch diesen Arbeitern bringt das Leben keine Art solcher zerstreuenden Unterbrechung, sie hocken über Webstuhl und Spulrad von Sonnenaufgang bis zum späten Abend, bis ihnen unter der Petroleumlampe die immer müden Augen zufallen. Für die meisten ist der Schulbesuch der Kinder, weil mehrere der zerstreuten Ortschaften nur einen Lehrer haben, der Kirchgang zur Stadt, die Ablieferung der Arbeit ein bedeutender Verlust an Arbeitszeit und Verdienst; wenn es nicht sein muß, geht daher des Winters kaum jemand ins Freie, oft bildet auch die ganz unzulängliche Kleidung ein Hinderniß. Hier hat die Armuth alles aus dem Dasein gestrichen, was ihm sonst Schmuck und Weihe giebt. Nichts zeigte in den Webeerhütten, die ich am Gründonnerstag, am Charfreitag besuchte, einen Widerschein der kirchlichen Feste, obgleich kirchlicher Sinn und Frömmigkeit, wie ich überall merkte, kaum einem abgeht. Es wurde „gearbt“ und „gewebert“. In einer Hütte traf ich einen einsamen Greis, in die elendesten Lumpen gehüllt. Er fuhr bei unserm Eintritt von seinem Sitz in die Höhe. Auf dem alten zerbrochenen Spulrad, das vor ihm stand, war kein Faden mehr. Wie vom Tode noch einmal erwacht, stierte er aus seinen kaum sichtbaren, von entzündeten Lidern umschwollenen Augen auf uns.

Er hatte die Hände erhoben. Er meinte, seine Frau käme. „Hast Du neues bekommen?“ fragte er. Sie war mit dem von ihnen gespulten Garn weggegangen, um es abzuliefern. Als er seinen Irrthum erkannte, knickte er enttäuscht zusammen und fuhr sich verlegen über die weißen Stoppeln am Kinn. „Bringen Sie mir zum Spulen, gnädiger Herr?“ Weiter wollte er nichts von uns. Er war 76 Jahre alt. Und Arbeit war sein einzig Begehr – Arbeit und ein baldiger Tod. Alle Kinder waren ihm weggestorben, der letzte Webstuhl verkauft. So fristete er mit Spulen sein Dasein sammt seiner Frau, die gleich ihm während des Winters wochenlang „nischtnützig“, d. h. arbeitsunfähig, gewesen war.

Meist aber sind die Weberstuben überfüllt, denn die Weberfamilien sind kinderreich.

Jede dieser Hütten besteht aus zwei Theilen. Links die aus Lehm aufgemauerte Stube, der einzige Wohnraum; rechts ein verwetterter Bretterverschlag, der Stall. Dieser steht verlassen, jene hat aber oft keinen Platz für den neu eintretenden Gast. Auch die Ziege, die man der Kinder wegen nicht hat verkaufen mögen, zählt da und dort zu den Mitbewohnern der Stube und hat zwischen dem Ofen und dem Bett einen offenen Verschlag. Den Hauptraum beanspruchen die großen, bis zur Decke reichenden, oft sehr schadhaften Webstühle, die fast immer in Thätigkeit sind. [275] Alt und Jung löst sich ab; den gebrechlichen Großvater die heranwachsende Enkelin, das schulpflichtige Kind seine Mutter. Die Spulräder werden fast nur von ganz jungen oder ganz alten Familienmitgliedern besorgt. Oft ist kein Tisch, kein Stuhl im Raum, die Ofenbank muß beider Dienste thun und für die fehlenden Betten der Ofen selbst eintreten. Ich sah selten mehr als zwei Betten auch in Stuben, wo doch sechs, sieben Menschen jeden Alters zu nächtigen hatten. Ja, wo die Noth einmal seßhaft geworden, da wird bald die bloße Diele zum Lager, oft ohne Kissen und Decken. In diesem Winter, wo schon um Weihnachten vielfach die Kartoffelvorräthe, auch die für die Neusaat bestimmten, aufgezehrt waren und gerösteter Sommerhafer als Ersatz für die sonst doch übliche Cichorie dienen mußte, gab es hunderte von Weberhütten, in denen weder Betten, noch Schuhwerk, noch genügende Kleider zum Ausgehen vorhanden waren. Ich hörte von Kranken, die ungebettet und ungekleidet auf der Diele liegend gestorben. Herr Oberförster Beck auf Tscherbeney bei Cudowa versicherte mir, daß in seinem Bezirk auch gegenwärtig noch viele Kinder und Erwachsene der nöthigsten Kleidung ermangeln, nachdem das Liebeswerk des Pastors Klein doch auch hier die schreiendste Noth gelindert hat. Und doch sind diese Leute darauf angewiesen, ihr Garn vom Garnausgeber an entferntem Orte zu holen und das Gewebe auf verschneiten Wegen durch Sturm und Wetter hinzutragen, wo sie den sauren Lohn für ihre Arbeit empfangen.

Diese Hütten, nie gelüftet im Winter, bald überheizt, bald der Kälte preisgegeben, oft von Menschen überfüllt, mit verklebten Fenstern, faulendem Gebälk in Wand und Diele, mit allen Miasmen schlechter Ausdünstung, auch von Thieren, erfüllt, sind selbstverständlich wahre Brutstätten gesundheitsschädlicher Bacillen. Im Kern gesund ist von diesen Webern kaum einer, auch die jungen kräftigen Männer sind es nicht, die seit Erschließung der Steinbrüche sich an der dort verlangten schweren, aber auch bei weitem besser bezahlten Arbeit betheiligen können. Schwerhörigkeit, frühes Erblinden, Blödsinn, Mißwuchs der Arme und Hände wurden mir von berufener Seite als häufige Erscheinung bezeichnet, und mit Grausen traf ich auch Kretinismus wiederholt an. Sehr viele aber von denen, die ich sprach, hatten die äußeren Merkmale der Schwindsucht. Und selbst da, wo einmal die unverwüstliche Lebenslust der Jugend aus hellen Leichtsinnaugen mir entgegenlachte und das Geständniß der Zufriedenheit über die raschelnden Garnketten am Webstuhl mir entgegenklang, erkannte mein prüfender Blick, daß auch in diese junge Menschenblüthe der Keim zu späterem Siechthum gelegt war. Aber freilich, die Weberschwindsucht gehört auch nicht zum akuten, sondern zum chronischen Nothstand! In der Mehrzahl sich selbst überlassen, siechen die Einödweber unter den verderblichsten hygieinischen Bedingungen dahin. Brave Aerzte helfen ihnen gewiß in schweren Krankheitsfällen, wenn sie von ihnen erfahren; die Vortheile der Krankenkasse sind aber nur von den wenigsten zu erwerben, wie ihnen ja auch die Segnungen der sozialen Arbeiterschutz-Gesetzgebung zur Zeit nicht zu Gute kommen. Auch in dieser großen Hilfsaktion des Staats blieben diese Aermsten der Armen wieder einmal vergessen – vergessen in ihrem vergessenen Winkel ... „Das ist einmal das Schicksal der Weber!“

Es ist wohl kaum nöthig zu sagen, daß es in den kleinen Weberhäusern der großen Ortschaften an der Landstraße, vor allem in dem stattlichen Reinerz selbst, nicht ganz so trostlos aussieht. Verdient zwar auch hier ein guter Weber kaum mehr als 50 Pfennig täglich, also den dritten Theil von dem, was ein fiskalischer Straßensteinklopfer sich verdienen kann, so hat er doch viel leichter feste Beziehungen zu den Garnausgebern und Fabrikanten und braucht seine Zeit nicht zu verlaufen. Im Sommer aber geht ein großer Theil von ihnen auf andere Arbeit, die lohnender ist, wie auch die kräftigen unter den Webbauern der nach Habelschwerdt zu gelegenen Walddörfer im Sommer als Holzhauer ergiebigere Beschäftigung finden. Die Weber aber, für welche dieses Frühjahr die Folgen eines akuten Winternothstandes bringt, für welche gesammelt wurde, sind zu siech und schwach und willenlos, als daß man von ihnen andere Arbeit fordern, sie zu anderer Arbeit erziehen könnte. Ihnen kann nur durch unmittelbare Aufbesserung ihrer Lage, ihrer Wohnart, ihres kleinen Feldbaues im Sommer und vor allem ihres Gewerbes geholfen werden. Es ist kein Zweifel, daß diesmal die Regierung gewillt ist, dem dauernden Nothstand einen dauernden Abschluß zu geben. Es ist dabei nur zu bedauern, daß die Einführung der Jacquardweberei in diese Hütten vom Programm der Regierung gestrichen wurde. Jenseit der österreichischen Grenze hat man durch Errichtung der Webeschule in Nachod und Veredlung der Handweberei durch Ergänzung der Webstühle mit dem Jacquardschen Apparat ähnliche Noth dauernd beseitigt. Dies Beispiel sollte nicht übersehen werden.

Wie aber auch immer das chronische Weberelend in der Grafschaft Glatz von der Regierung gehoben werde: daß die Privatwohlthätigkeit in diesem Winter zur Linderung akuter Noth angerufen worden ist und wirksam eingegriffen hat, war dringend nöthig. Es wurde mir allerseits, wo nicht persönliche Verstimmung oder Rücksichten anderer Art dies hinderten, von Beamten und Bürgern jeder Art, vor allem aber von den Webern der Gegend selbst als eine Gutthat gepriesen, die namenloses Elend von den bedrängtesten Weberfamilien im Heuscheuer-, wie auch im Eulengebirge bei Neurode, abgehalten hat. Was aber die jetzt unterbrochene Gabenvertheilung durch Pastor Klein betrifft, so ist dieselbe als eine musterhaft geregelte zu bezeichnen; über jede Gabe ist Buch geführt worden und niemand erhielt etwas, dessen besondere Bedürftigkeit nicht vorher vom Ortsschulzen amtlich beglaubigt war.
Johannes Proelß. 
*  *  *

Soweit unser Berichterstatter.

Was Herr Pfarrer Klein in Reinerz geschrieben, was die Erklärung von Amts- und Gemeindevorstehern in der Beilage zu Nr. 14 zu seiner Rechtfertigung gesagt, findet sich durch diese Schilderung in einer Weise bestätigt, die uns aufs neue mit tiefstem Mitleid mit dem Los jener Unglücklichen erfüllt.

Es kann nach diesen Beobachtungen unseres Berichterstatters kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß ohne die Thätigkeit des Pastors Klein und ohne die Unterstützung der Presse die Zustände unerträgliche geworden wären, daß sie auch heute noch unmittelbarer, nicht nur organisatorischer Hilfe bedürfen.

Wenn dennoch die opferfreudige, wohlerwogene und wohlgeregelte Privatwohlthätigkeit, wie in diesem Falle, gelähmt und aufgehalten wird, so ist es Pflicht der Presse, dagegen Verwahrung zu erheben. Es ist das Recht derselben, solchen Nothständen, die von elementaren Gewalten über ganze Menschengruppen verhängt werden, als stets bereites Organ der Hilfe zu dienen. Es ist das Recht des Menschenfreundes, der zuerst solchen Nothstand in seiner Bedeutung erkennt, diese Hilfe anzurufen. Es ist das Recht der Hilflosen, in solcher Noth sich an das Mitleid ihrer Volksgenossen zu wenden. Diese Rechte werden wir wahren – in diesem Falle wie immer. Das Bedauerliche aber bleibt, daß durch die geschilderten Angriffe und abschwächenden Darstellungen das Ergebniß der von der Presse angeregten Sammlungen nicht unwesentlich beeinträchtigt worden ist.

Fern hat es uns aber gelegen, mit unserem Hilferufe irgend einem einzelnen Stand, wie den vielfach selbst schwer bedrängten Garnausgebern, die Schuld an dem Elend der armen Weber aufzubürden. Dieses Unglück ist durch Ereignisse beeinflußt, für die einzelne nicht verantwortlich gemacht werden können. Wenn der Aufruf des Herrn Pastor Klein in dieser Hinsicht zu Mißverständnissen Anlaß gegeben hat, so wird dies weit aufgewogen durch die hochherzige Hilfsthätigkeit, welche dieser Mann den armen Webern gewidmet hat. Nach den Beobachtungen und Erkundigungen unseres Berichterstatters ist die Lage der Handweberei in Schlesien heutigen Tages so beschaffen, daß allerdings weder die Fabrikanten noch die Garnausgeber an der Arbeit der Hausindustrie reich werden können.

Die Forderung aber glauben wir zum Schlusse mit allem Nachdruck erheben zu dürfen, daß nun einmal alle Hebel angesetzt werden, um dem Nothstand, ob man ihn „akut“ oder „chronisch“ taufe, ein für allemal ein Ziel zu setzen. Was heißt überhaupt akute, was chronische Noth? Noth tut weh, und es kann den Hunger von heute nicht erträglicher machen, zu wissen, daß dieser Hunger auch gestern und vorgestern und vor einem Jahre, daß er immer vorhanden war. Nur eines ist imstande, den nagenden Schmerz zu lindern, das ist die Gewißheit: die Hilfe ist nahe! Und ausreichende Hilfe ist nach unserer Ueberzeugung nur möglich, wenn die Regierung es nicht verschmäht, Seite an Seite mit der Privatwohlthätigkrit vorzugehen. Die Redaktion.