Textdaten
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Autor: Friedrich Gerstäcker
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Titel: Auswanderung nach Araucanien
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aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 559–560
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[559] Auswanderung nach Araucanien. Nachdem meine letzte „Warnung für Auswanderer“ in Betreff Araucaniens in der Gartenlaube erschienen, kam mir der Brief eines Deutschen zu Händen, der selber lange Jahre in Chile gelebt hat und sich nicht allein mit der Warnung vollkommen einverstanden erklärt, sondern mir auch die neuesten Berichte über Araucanien, sowie zwei neuere chilenische Zeitungen, den Mercurio vom Mai und Juni dieses Jahres, sandte. Nach diesen stellt sich die Warnung nicht allem als vollständig begründet heraus, sondern die Gefahr für die Auswanderer tritt noch viel deutlicher und entschiedener hervor.

Chile befindet sieh danach keineswegs im Besitz des ganzen Araucaniens, sondern hat nur in letzter Zeit wieder neue Einfälle in das indianische Gebiet der Araucaner gemacht, einen Theil im Norden erobert und zerstreute Militärposten darin angelegt, die aber einer vorgeschobenen Ansiedlung nie im Leben Schutz gegen die kriegerischen Indianer bieten könnten.

Dem veröffentlichten officiellen Decret nach hat Herr Alfred L. Poppe in Valparaiso, als Repräsentant des Handlungshauses J. C. Godefroy und Sohn in Hamburg, den schon angezeigten Contract abgeschlossen, für die Provinz Nacimiento in Araucanien eine bestimmte Anzahl von Familien nach Chile zu schaffen, die im Hafen von Lota ausgeschifft werden sollen.

[560] Artikel drei sagt, daß die chilenische Regierung vierzig Pesos oder Dollars für jede erwachsene.Person, zwanzig für jedes Kind unter zwölf Jahren zahlt, und es wird im Artikel vier der Firma zur Pflicht gemacht, ihre Arbeiten zu beeilen, damit schon Anfang nächsten Jahres einige Colonisten eintreffen. Der District Nacimiento liegt im Norden von Araucanien. Lota ist eine Kohlenstation Chiles und zu Land von den übrigen chilenischen Colonien vollkommen abgeschnitten, denn sie liegt schon südlich vom Biobiostrom, im Staat Araucanien selber, und nach Allem, wie es mir scheint, hat man diesen sonst noch nie zur Ausschiffung von Emigranten benutzten Hafen, der gar keine Bequemlichkeit bietet, während das unfern davon gelegene Concepcion Alles hat, was man wünscht, nur deshalb gewählt, damit die Einwanderer vollkommen abgeschnitten von ihren Landsleuten sind und nicht vor der Zeit von ihnen gewarnt werden können. Der Krieg mit den Indianern ist nicht etwa beendet, sondern im Gegentheil in vollem Gang, und chilenische Zeitungen schreiben selber darüber. Der Mercurio vom Mai sagt, und zwar von chilenischer Seite vom Los Angelos, etwas weiter im Inneren: „Nachdem die Division (fünfhundert Mann) am 26. etwa zwanzig Leguas in’s Innere vorgedrungen war, beschloß der Commandeur sich zurückzuziehen und die Berge zur Deckung zu benutzen. Kaum hatte sich aber die Truppe in Marsch gesetzt, als zweitausend oder mehr Indianer, die in den Büschen versteckt gewesen, mit dem Vor- und Nachtrab den Kampf begannen. Da die Division solcher Art ihren Marsch nach den Bergen nicht fortsetzen konnte, sahen sie sich genöthigt eine kleine Ebene zu überschreiten, und hier wurden sie jetzt auf allen Seiten von den Indianern überfallen.“

Der Correspondent beschreibt dann die blutige Schlacht der Chilenen – Einer gegen zwanzig unter dem Feuern der Truppen und dem wüthenden Geheul der Indianer, ein Kampf Fuß an Fuß mit Lanze, Bajonnet und Messer. Die Division verlor, wie der Schluß lautet, sämmtliche Pferde mit hundert Beutethieren, und „der Rest der Truppe“ gewann endlich die Berge und es gelang ihr, indem sie Tag und Nacht eine hohe Cordillere erklommen und darauf hin geflüchtet, Chiguaguë zu erreichen. Die Zahl der Todten wußte man nicht, und der Correspondent setzt hinzu: „Alle, die an diesem Kampfe betheiligt waren, können nicht Worte genug finden, die Kühnheit sind Wildheit dieser Indianer zu schildern.“

Der Krieg mit den Indianern war das Tagesgespräch und die nämliche Nummer, welche diese Correspondenz bringt, bietet ihren Lesern auch zu gleicher Zeit den Contract, den ein deutsches Haus mit der chilenischen Regierung abgeschlossen hat, um deutsche Auswanderer in das kaum erst überfallene Gebiet dieser nämlichen Indianer zu liefern. Die Nummer vom 2. Juni bringt einen Bericht des Generals Jose M. Tinto an das Kriegsministerium, der aber nichts weiter als die Kunde enthält, daß er „einen neuen Einfall nach Araucanien“ gemacht habe, ohne eine Strecke in das Land hinein Widerstand gefunden zu haben. Er sah nur kleine Trupps von zehn bis zwölf berittenen Indianern, welche die bewaffnete Macht „beobachteten“. Er glaubt, daß sich keine größere feindliche Macht bis auf dreißig Leguas befände. – Aber wenn das selbst der Fall gewesen wäre, die Indianer brauchen kaum vierundzwanzig Stunden, um mit ihren raschen Pferden eine solche Strecke zurückzulegen, und folgen gewöhnlich den wieder abziehenden Trupps auf dem Fuße. Trotzdem erklärt der General aber mit der größten Zuversicht, daß die „alarmirten Grenzbewohner sich vollkommen beruhigen könnten; er hätte Niemanden gesehen“ – und über die Grenzen hinaus wollen sie jetzt die Deutschen schieben. Der Bericht schließt mit den Worten, daß jetzt überall vollkommene Ruhe herrsche und ein Friedensbruch nicht mehr zu fürchten wäre, und unmittelbar unter diesem Artikel beginnen „Importantes noticias de la frontera“ oder wichtige Nachrichten von der Grenze, worin von der vierten Division gesprochen wird, die nach Araucanien gerückt wäre, „um die Verluste der drei vorhergegangenen zu rächen.“

Diese Division fand, nachdem der andere Artikel erklärt hatte, daß das Land vollständig pacificirt sei, sieben Leichen, unter ihnen den Beamten Argomedo. „Sie schienen erst seit wenigen Tagen, und zwar nicht in einem Kampf, getödtet zu sein – es waren Märtyrer. Der Beamte war,“ wie das Blatt schreibt, „seinen Wunden nach, von Lanzen getroffen, geschleift und dann aufgehängt, die Zunge war ihm ausgeschnitten und andere Scheußlichkeiten begangen. Die Soldaten waren ebenfalls auf furchtbare Weise verstümmelt.“– Ein anderer Bericht aus Santa Juana, an der unmittelbaren Grenze, meldet erneute Einfälle und Viehdiebstähle, und der Bericht schließt mit den Worten: „So, während unsere Truppen im Süden von Araucanien vor Hunger schmachten, plündern die Indianer im Norden, und es sollte uns gar nicht wundern, wenn sie selbst die Städte angriffen.“ Und auf der nämlichen Seite steht wieder eine Notiz über die Colonisation von Arauco durch die Deutschen. Die Chilenen sind dabei theilweise zu entschuldigen. Sie wollen das Land gern bevölkern, um den Indianern, deren sie nie habhaft werden können, einen Damm vorzuschieben, aber hat sich das Handlungshaus in Hamburg oder dessen Stellvertreter in Chile so wenig um die Verhältnisse dort bekümmert, daß es die Gefahr gar nicht kennt, der es unsere deutschen Landsleute entgegenschicken will? Man kann doch nicht annehmen, das es des Kopfgeldes wegen sei!

Schon die ganze Art und Weise, in welcher der Contract abgefaßt ist, zeigt die Absicht der chilenischen Regierung. Artikel fünf lautet: „Der gegenwärtige Contract soll auf vier Jahre lauten, und wenn die chilenische Einwanderung in Deutschland ‚gute Aufnahme‘ findet, würde das Gouvernement im ersten Jahre einhundert Familien, einhundertundfünfzig das zweite, zweihundert das dritte und dreihundert das vierte einführen.“ Sehr natürlich[WS 1] – die Regierung hofft mehr und mehr von dem Lande zu erobern oder durch deutsche Auswanderer besetzen zu lassen, und je größer das gewonnene Terrain wird, desto mehr Familien braucht sie.

Ich weiß nicht, ob sich deutsche Regierungen veranlaßt sehen werden, einem solchen Unfuge mit deutschen Landeskindern zu steuern. Bis dies aber geschieht, wäre es recht von Herzen zu wünschen, daß alle jene Blätter in der Nähe solcher Districte, wo vorzüglich für Auswanderung geworben wird – hauptsächlich Tirol, auf welches die chilenische Regierung auch speciell hinweist, die ärmeren Districte am Rhein etc. – ihre unmittelbare Nachbarschaft vor einer Auswanderung warnen möchten, deren Gefahren sie hier in Deutschland gar nicht absehen können. Der deutsche Auswanderer will, wenn er das fremde Land erreicht, wenigstens Sicherheit und Ruhe, um sein Land bebauen und seine Früchte ernten zu können. Die bietet ihm aber in jetziger Zeit Araucanien nicht, und es hieße mit der Unwissenheit unglücklicher Menschen freveln, wenn man sie einem solchen gefährdeten Zustand ahnungslos entgegenschicken wollte.

Sowie es die Berichte aus dem jetzigen Krieg melden, ist es aber von jeher gewesen. Vor den regulären Truppen weichen die Indianer, wenn sie sich nicht stark genug glauben, zurück, aber umgehen sie und fallen in ihrem Rücken wieder in das Land ein; um seine Grenzen gegen ihre Ueberfälle zu schützen, wünscht Chile eine Bevölkerung von deutschen Arbeitern für das nur erst eroberte, aber von den Indianern noch nicht einmal aufgegebene Land. Dazu aber bietet ein deutsches Handlungshaus die Hand, ihm durch vier Jahre hindurch die betreffenden Familien hinüber zu führen und sie gleich in einem Hafen zu landen, wo sie von dem Verkehr mit ihren besser situirten Landsleuten abgeschnitten sind und sich willenlos in den Händen der Regierungsbeamten befinden, die dort hingestellt sind, um sie an die gewünschten Punkte zu dirigiren.

Friedrich Gerstäcker.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: natürllich