Aus der hundertthürmigen Stadt

Textdaten
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Autor: Caroline Bauer
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Titel: Aus der hundertthürmigen Stadt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, 31, S. 481–484, 520–525
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[481]
Aus der hundertthürmigen Stadt.
Bühnenerinnerungen von Caroline Bauer.
I.


Auf großen und auf kleinen Brucken
Stehn vielgestaltete Nepomucken
Von Erz, von Holz, gemalt, von Stein,
Kolossisch hoch und puppisch klein.
Jeder hat seine Andacht davor,
Weil Nepomuck auf der Brucken das Leben verlor.


In dem wunderschönen Elbthale blühte und sang der Frühling – vor jetzt gerade vierzig Jahren. In den sacht verglühenden Rosenschimmer der reichen Pfirsich- und Aprikosengärten auf den Elbhügeln mischte sich schon duftiger Schnee von Kirschen- und Birnenblüthen. Ich war seit einem Jahre erste Liebhaberin der Dresdener Hofbühne, zählte offen und ehrlich, ohne Erröthen und Grämen just meinen achtundzwanzigsten Lenz, saß neben der Mutter in leichter offener Extrapostkalesche und rollte fröhlich und wohlgemuth meinem ersten Gastspiele in Prag entgegen. Endlich sollte ich die hundertthürmige Stadt selber sehen, von deren märchenhaften Wundern ich schon als Kind, versenkt in mein geliebtes blaues [482] Sagenbuch, berauschend geträumt, die mich auf meinen Künstlerfahrten durch Deutschland und Oesterreich schon so oft freundlich gelockt und deren ruhmvolle Bretter ich doch noch nie hatte betreten können. Ich hatte mit dem Director Stöger ein Gastspiel für fünfzehn Abende abgeschlossen – im Mai 1835.

Ade! Auf Wiedersehen, traute goldglitzernde Elbe! Mit schnellrollenden Riesenwogen rauscht uns die stolze Moldau entgegen. Vom steilen Uferberge ragt altersgraues mächtiges Gemäuer auf, erglühend in abendrosiger Maiensonne – das ist der Hradschin, Böhmens vielhundertjährige Königsburg mit ihren glänzenden wehmüthigen Erinnerungen. Von hundert Thürmen läutet es feierlich-lieblich Ave Maria. Wir sind in dem alten schönen Prag.

Im stattlichen „Schwarzen Rössel“ waren behagliche Zimmer für uns bestellt. Mein erster Blick war natürlich nach dem Theaterzettel. „Romeo und Julia. Oper von Bellini. Romeo – Dlle. Sabine Heinefetter, erste Sängerin der italienischen Oper zu Paris.“ Das war zu lockend. Ich hatte Sabine Heinefetter schon 1827 in Berlin kennen gelernt, bewundert und liebgewonnen, als sie – „kurfürstlich hessische Hofopernsängerin aus Cassel – auf der Berliner Hofbühne Triumphe feierte, obgleich damals auch Henriette Sontag in Berlin sang. Schnell war ein wenig Toilette gemacht, und wir konnten in der Directionsloge noch den zweiten Act der liebenswürdigen Oper genießen, Romeo Liebe flöten hören, kämpfen und sterben sehen und nebenbei auch den Schauplatz meiner bevorstehenden Bataillen recognosciren. Niederlage oder Sieg – dazwischen giebt es für eine erste Liebhaberin auf Gastreisen nichts.

Ein wunderschöner Romeo! Eine schlanke, stolze und doch weiche Jünglingsgestalt mit edlen ausdrucksvollen Zügen, liebeglühenden beredten Augen, Feuer und Wahrheit im plastischen Spiele und hochdramatischen Gesange, reinstes Metall in der Stimme – so sah ich Sabine Heinefetter nach sieben Jahren noch schöner, noch vollendeter im Gesange vor mir auf den Brettern, umrauscht von dem Jubel der musikenthusiastischen Prager.

Ich freute mich, daß auch Heinefetters im „Schwarzen Rössel“ wohnten, der altrenommirten Künstlerherberge Prags. Am andern Tage machte ich der liebenswürdigen Collegin mit der Mutter einen Besuch, und wir knüpften an der Moldau die einst an der Spree so freundlich gesponnenen Freundschaftsfäden fleißig und fröhlich wieder an. Bei Sabine fanden wir ihre Mutter, eine gute alte Frau, einfach und bürgerlich behäbig und sehr redselig in ihrem geliebten Mainzer Dialect. Ihr rundes rosiges Gesicht strahlte stets wieder von der Glücks- und Ruhmessonne ihrer Töchter. Die zweite, Clara, gastirte in Wien als Julia, Weiße Dame, Alice in Robert dem Teufel etc. mit bestem Erfolge, und die jüngste, Kathinka, sah ich jetzt zum ersten Male in Prag. Sabine war dreißig, Kathinka erst fünfzehn Jahre alt. Glich Sabine einer Juno Ludovisi, so erinnerte Kathinka an eine Hebe von Canova. Ein reizendes Kind! Blühend wie die Frühlingsgöttin, leicht und anmuthbeflügelt wie Psyche, heiter wie ein Sonnenstrahl und glücklich wie ein Sonnenkind umgaukelte sie uns und trällerte mit ihrer lieblichen Silberstimme neckische Lieder; „wie ein närrischer Zaunkönig“ lachte sie selbst. Dabei flatterten die lichtbraunen, goldig schimmernden Locken um das glühende Gesichtchen, und die hellen Rehaugen glitzerten, wie wenn die Morgensonne über’s Waldbächlein huscht, das über blanke Kiesel plätschert. Das knospende Rosenmündchen blühte auf; lachende Perlenzähne schimmerten hervor, und in Kinn und Wangen lachten reizende Grübchen, in denen hundert neckische Schelme und Liebesgötter saßen. Die Mutter lachte stolz und glücklich mit ihrem Goldtöchterlein, daß ihre runden Wangen zu Päonien erglühten, und sah uns beglückt an, als wollte sie sagen: Ist meine Kathinka nicht ein Blitzmädel? Kann es der wohl jemals fehlen?

Sabine aber zog mich an sich und flüsterte mir mit einem Seufzer zu: „Ach, wie wird es diesem armen holden Schmetterlinge noch ergehen, wenn er erst allein, ungehütet und ungezügelt seinen Weg durch’s Leben suchen soll! Noch ahnt er nicht die Stürme, die ihn hierhin und dorthin verschlagen, nicht die Dornen an Rosenhecken, an denen so manch schimmernd Flügelstücklein hängen bleibt, nicht die feinen Netze, die ihn umstricken können. Kathinka ist ein glückverwöhntes, fast zu leichtherziges und leichtblütiges Kind; mir bangt vor der Stunde, wo ich es von mir lassen muß. Und doch sehe ich diese Stunde schon kommen. Kathinka hat den entschiedensten Beruf zur Coloratursängerin und eine glühende Sehnsucht zur Bühne – richtiger wohl: zu den Triumphen auf derselben. Bis jetzt habe ich sie allein ausgebildet. Im Herbste soll sie nach Paris gehen, um bei Cordoni ihre musikalische und theatralische Bildung zu vollenden. Die Gräfin Merlin und Maria Malibran wollen sie beschützen und in die musikalische Welt von Paris einführen, wie einst mich. Gott gebe, daß Alles gut gehe! Mir ist der Weg zur Bühne und über die Bühne nicht von allen Seiten so freundlich geebnet und mit Rosen bestreut, wie meiner jungen Schwester. Ich habe mir den Platz, den ich heute in der Oper einnehme, schwer erkämpfen müssen. Aber in diesem Kampfe erwirbt man sich auch nur, was der Kathinka so ganz fehlt: Lebensernst, Sicherheit, Charakter. … Kind, was manövrirst Du da schon wieder am Fenster, hüpfend und dienernd wie ein Eichhörnchen in der Drahtrolle? Gewiß machen die Studenten und Lieutenants wieder Fensterpromenade.“

„Natürlich, meine sehr ernsthafte Schwester. Denn dazu sind sie ja doch nur da auf den sonnigen Pflastersteinen dieser schönen Welt. Ach, es geht nichts über die Wonne und die Ehre, sich vom blankpolirten Militär und buntbebänderten und betroddelten Bruder Studio so massenhaft angebetet zu sehen.“ Und dabei spreizte sich das zierliche Persönchen mit so neckischer Coquetterie und so komischer Gravität, die anbetenden alten und jungen Officiere und die flotten Studenten auf der Fensterpromenade vor unserem Sopha parodirend, daß wir bald fröhlich in das kindliche Gelächter des „närrischen Zaunkönigs“ einstimmen mußten. Aber bei der guten Sabine mischte sich doch wieder ein kleiner Seufzer und ein bedenkliches Kopfschütteln der Sorge hinein. Sie war eine offene, ehrliche Natur, treu und wahr, gesund und praktisch. Sie verschmähte selbst die unschuldigste Coquetterie, nicht selten sogar zum Nachtheile ihrer Bühnenerfolge. Und das mit klarem Bewußtsein.

„Ich kann nicht Zärtlichkeit heucheln,“ sagte sie mir einst. „Für mich giebt es nur eine Liebe: ‚himmelhoch jauchzend‘, oder: ‚zum Tode betrübt‘. Darum bange ich auch so sehr um Kathinka’s flatterhaftes Schmetterlingsherz.“

Ja, Sabine Heinefetter hatte den Weg durch’s Leben, auf die Bühne und auf die jetzige Höhe ihres Künstlerruhmes nicht fo freundlich geebnet und ehrenbeglänzt vorgefunden, wie Kathinka durch die aufopfernde Liebe ihrer Schwester. Sie erzählte mir einst mit Wehmuth von ihrer freudelosen Kindheit und von den Demüthigungen, Rohheiten und Gefahren, durch die ihre blühendsten Mädchenjahre gegangen. In Armuth geboren, in Armuth und Unwissenheit aufgewachsen, mußte sie als zartes Mädchen durch die Straßen und Kneipen von Mainz wandern und zu ihrer armseligen Harfe Lieder singen, wie der rohe Haufe sie begehrte und bezahlte. Hunger thut weh – noch weher aber, Mutter und Geschwister und die alte Großmutter zu Hause hungern zu sehen. Da hörte einst ein edler Kunstfreund das schöne sittsame Mädchen zu ihrer klirrenden Harfe ein Volkslied singen, einfach, rührend und mit glockenreiner voller Stimme. Er geigte ihr die Scala und immer schwierigere Passagen und kunstvollere Figuren vor – und die arme Harfenistin sang sie nach dem Gehöre mit bewundernswürdiger Reinheit und Präcision nach. Jetzt erhielt Sabine ihren ersten Musikunterricht und Gelegenheit, in Schul- und geselliger Bildung viel Versäumtes nachzuholen. Schon 1824 konnte sie mit neunzehn Jahren zu Frankfurt am Main zum ersten Male die Bühne betreten. Sie sang in Weber’s „Euryanthe“ das Mailied. Ihre herrliche Stimme und Schönheit erregten Aufsehen, so daß Ludwig Spohr, seit einigen Jahren kurhessischer Hofcapellmeister, Sabine für die Oper in Kassel engagirte und sich ihrer weitern musikalischen Ausbildung liebevoll annahm. Er studirte ihr seine Opern „Berggeist“, „Jessonda“ und „Pietro“ ein. Sabine machte bei ihren glänzenden Mitteln, ihrem Fleiße und edeln Ehrgeize überraschende Fortschritte. Das brillante Gastspiel an der Hofoper in Berlin 1827 machte den Namen Sabine Heinefetter schnell zu einem berühmten. Berauscht von diesem Erfolge und dürstend nach der höchsten musikalischen Ausbildung, suchte Sabine ihren Contract in Kassel zu lösen. Der Kurfürst Wilhelm der Zweite verweigerte ihr die Entlassung … und da war die [483] Sängerin eines Tages aus Kassel verschwunden. In Paris tauchte sie wieder auf. Nachdem sie bei Cordoni fleißig italienischen Gesang studirt hatte, nahm sie ein Engagement als erste Sängerin bei der italienischen Oper in Paris an. Die Franzosen waren entzückt von der schönen deutschen Sängerin mit dem schier unaussprechlichen Namen „Aenevettère“. Im Salon der kunstgebildeten Gräfin Merlin lernte sie Maria Malibran und alle Kunstgrößen von Paris kennen. Nach zwei Jahren kehrte sie nach Deutschland zurück und gastirte in Berlin und Wien und an allen größeren Bühnen. Eine Kunstreise führte sie nach Italien. Sie trat an der berühmten Scala in Mailand auf. So traf ich die liebenswürdige Künstlerin auf einer neuen Gastreise in Prag wieder. Sie wollte kein festes Engagement wieder annehmen. Mama Heinefetter aber erzählte uns mit überströmenden Augen, wie gut Sabine gegen ihre Familie sei. Schon von ihrer ersten kleinen Gage an habe sie aufopfernd für Mutter und Geschwister gesorgt, ihre Schwester Clara zur Sängerin ausbilden lassen und bei ihren eigenen Gastspielen in der Kunstwelt schnell bekannt gemacht. Und bald solle die junge Kathinka mit einer Ehrendame auf Sabinens Kosten die hohe und theure Schule in Paris durchmachen.

Sabine Heinefetter hatte ihr Gastspiel in Prag fast vollendet, als ich anlangte. Ich sah sie nach dem Romeo nur noch als herrlichen Tancred. Wir verlebten sehr frohmüthige Tage mit einander in der so interessanten alten Königsstadt an der Moldau und benutzten jede freie Stunde, ihre reichen historischen Reliquien und Kunstschätze mit einander zu beschauen. Kathinka schwirrte als enfant terrible nebenher und zeigte stets mehr Sinn dafür, sich vom fröhlichen Leben bewundert zu sehen, als hundertjährigen verwitterten Todtenstaub zu bewundern.

Mir wird der sonnige Maientag unvergeßlich sein, als wir die engen unsauberen Gassen der tausendjährigen Prager Judenstadt durchschritten, uns durchdrängend durch wahre Barricaden von alten mottenumschwirrten Kleidern und zerrissenen Stiefeln, längst verstummten Uhren, verrostetem Eisenkram, erblindeten Spiegeln, arm- und kopflosen Porcellanpüppchen, gekitteten Theetöpfen, verschimmelten Oelbildern längst verwehter namenloser Schönheiten und wahrhaft nervenaufregend von allen Seiten umzetert und gezerrt von schmutzigen Schacherhänden und den hunderttönigen unnachahmlichen Nasallauten: „Handeln! Handeln! Kupte, kupte laczinve! Kauft, kauft wohlfeil!“

Und dann betraten wir durch ein enges Pförtchen den „guten Ort“, „das Haus des Lebens“, ein ummauertes grünes Fleckchen Erde, in der seit Olim’s Zeiten die Juden von Prag ihre Todten begraben haben. Der Staub von Tausenden, Tausenden ruht hier, längst wieder vereint mit der mütterlichen Erde. Kein Grab ist ausgegraben, durchwühlt, kein Gebein verworfen. Unter neu aufgeschütteter Erde versanken die alten Gräber. Von vielen Leichensteinen ragen nur die Spitzen noch hervor. Kreuz und quer, hoch und niedrig, halbumgesunken stehen viel hundert altersgraue Steine mit verwitterten hebräischen Inschriften da, von grünem Moose überzogen. Gleich rechts, am Eingange vom „Hause des Lebens“, ragt viel höher als alle übrigen ein Riesengrab auf. Kein Stein, kein Name dabei. Es ist das Grab von viel tausend neugeborenen Kindlein und – von Millionen heißen Mutterthränen. Und das Grab von Jahrhunderten ist über allen Menschenstaub und alle Menschenschmerzen gewachsen, und ein Wald von wilden Hollunderbäumen beschattet die Gräber. Im Grase blühten leuchtende und duftende Frühlingsblumen, und in dem reichbelaubten blüthenknospenden Hollunder fingen sich Sonnenstrahlen und sangen Amseln. Es war wunderschön und gar friedlich auf dem alten Judenkirchhofe zu Prag.

Der alte weißbärtige Synagogendiener, der uns umherführte, erzählte mit seiner weichen melancholischen Stimme von den Gräbern: „Hier unter diesem versunkenen Steine, auf dem zwei Hände abgebildet sind, deren Daumen sich berühren – das Grabzeichen für einen Rabbiner – liegt der vor dreihundert Jahren in Prag hochberühmte Rebb Löb, der so eingedrungen war in die Geheimnisse chaldäischer Folianten und der Kabbala, wie vor ihm kein Anderer. Als Chacham – Heiliger – durfte er in seinem Hause keine Gattin, keine Schwester, keine Dienerin haben. Da schuf er sich mit Zauberkunst aus Lehm einen Diener, den furchtbaren Golem. Dem legte er unter die Zunge einen Streifen Pergament, auf dem der Name Jehovah’s stand, den sonst kein Jude schreiben darf, und der Golem erhob sich und lebte und that bei dem Rabbi alle Dienste. Nur am Sabbath durfte der Golem nicht arbeiten, also auch nicht leben. Darum nahm ihm Rebb Löb jede Freitag-Nacht, ehe der Sabbath begann, das Wort Jehovah aus dem Munde, und der Golem wurde sogleich wieder eine leblose Thonpuppe. Nur einmal vergaß der Rabbi, den Zauber von seiner Creatur zu nehmen. Er ging Freitag-Nacht in die Synagoge, in der Stunde, da der Sabbath nahte. Und wie er vor der ganzen Gemeinde das Gebet hielt, hörte er draußen ein furchtbares Getöse – das war der entfesselte Golem. Nicht mehr der gehorsame Knecht, sondern der zerstörende Dämon, der Alles vernichtete, was ihm in den Weg trat, der die Synagoge, die ganze Judenstadt, ganz Prag zerstören würde, wenn es nicht gelänge, den Zauber zu brechen. Und in höchster Angst stürzte Rebb Löb in seinen Rabbigewändern aus der Synagoge, dem thönernen, zähnefletschenden Ungethüm entgegen, und er beschwor Golem mit den stärksten Zaubersprüchen der Kabbala – und wie der Dämon auch heulte und wüthete und sich wand, endlich gelang es dem Chacham doch, ihm das Pergament mit dem Namen Gottes unter der Zunge zu entwinden, und der Golem sank machtlos, leblos zu Boden, eine thönerne Puppe. Rebb Löb aber hat die Creatur seines Kabbala-Wissens, das die geheimnißvollsten Kräfte der Natur beherrschte, nie wieder in’s Leben zurückgerufen.“

Wunderbar war die Zauberkraft von Rebb Löb’s Augen. Wen er mit diesem durchdringenden Flammenblick ansah, der mußte ihm die geheimsten Gedanken und Sünden enthüllen. Wunderbar war seine Gabe, aus eitel Dunst farbenreiche Gemälde, lebensvolle Menschenerscheinungen, auch von längst Verstorbenen hervorzuzaubern.

Der phantastische Kaiser Rudolph der Zweite, der sich lieber mit Alchemie und Astrologie, mit dem Suchen nach dem Stein der Weisen und anderen Zauberspielereien beschäftigte, als mit seiner Regierung, die in den feinen Händen der Jesuiten ruhte, hatte diesen einst das Wort gegeben: die armen Juden aus seinem Lande zu vertreiben und mit dem Prager Ghetto den Anfang zu machen. Alle Juden zittern, nur Rebb Löb tritt in seiner feierlichen Rabbitracht dem Kaiser kühn in den Weg, da er mit schäumenden Rossen vom Hradschin in die Stadt hinab fährt. Mit ausgebreiteten Armen und wallenden Locken steht der Rabbi in seinen langen feierlichen Gewänden da, wie ein Prophet des alten Bundes, und auf sein weithin dröhnendes „Halt!“ stehen die feurigen Pferde zitternd da, wie Lämmer. Aber das Volk ruft. „Steinigt ihn, den verdammten Juden, der es wagt, unserem Kaiser den Weg zu versperren!“ – und Koth und Steine umsausen den Rabbi, doch wie sie ihn berühren, sind es duftende Kirschen- und Aepfelblüthen. Und Rebb Löb spricht zum staunenden Kaiser: „Beim Gott meiner Väter! Ich sage Dir, Du wirst noch heute das Gebot zurücknehmen, das uns Juden aus Deinem Lande vertreiben soll, und mein Volk wird drinn wohnen, bis die Moldau den Hradschin hinauffließt.“ Und noch ehe die Sonne unterging, nahm Kaiser Rudolf den Befehl zurück, die Juden zu vertreiben. Dann trat er in das Haus Rebb Löb’s, und der Wundermann zeigte ihm im engen dunklen Zimmer den gewaltiger Hradschin und die seinen Fuß umspülende Moldau, zuletzt die wunderschöne Königin Libussa auf silberglänzendem Roß, in den goldenen Locken die Eichenkrone …

Jahrhunderte sind über den Staub Rebb Löb’s auf dem alten Prager Judenkirchhofe dahingerauscht, und die Welt ist eine andere geworden. Sie sagt mit spöttischem Lachen: Der gute Rebb Löb war schon vor dreihundert Jahren ein geschickter Taschenspieler und Mechaniker. Er besaß einen vorzüglichen Automaten, den Golem, und eine herrliche Laterna Magica. Aber unter den duftenden Hollunderbäumen und hundertjährigen Leichensteinen im „Hause des Lebens“ thut Einem solch spöttisches Wort gar weh.

Noch länger aber standen wir vor einem andern versunkenen Grabsteine. Darauf war kaum noch eine weibliche Figur zu erkennen, die in der Hand eine Rose trug, – das rührende Zeichen, daß hier der Staub einer Jungfrau ruht, die als Braut gestorben. Auf dem Grabsteine lagen viele kleine Steine. Unser [484] Führer legte auch ein Steinchen dazu und erzählte: „Hier ruht Lea, die schönste und herrlichste Jungfrau des Ghetto. Sie war die glückliche Braut des jungen Aron. Da kamen die Christen wieder einmal gestürmt und schrieen nach Judenblut – denn die Juden sollten ein Kind geschlachtet haben. Und die Christen warfen Feuer in den Ghetto und schwangen die Schwerter und wollten sich durch nichts beruhigen lassen, als durch warmes rothes Judenblut. Dachte Lea an ihr Volk? Dachte sie nur an die Gefahr, die ihrem Aron drohte? Sie trat muthig vor und gab lächelnd ihr Blut dahin. Zur Ehre ihres Gedächtnisses legt jeder Jude, der das Haus des Lebens betritt, ein Steinchen auf Lea’s Grabstein.“

Wir aber legten unsere Maiblumen auf das versunkene Grab der Jüdin nieder, die eine glückliche Braut war und dennoch die Kraft des Herzens besaß, diesem sonnigen Leben freiwillig zu entsagen – um der Liebe willen.

„Wo wird mein Grab dereinst gegraben werden? Wer wird mir ein Liebeszeichen auf’s Grab legen? Glückliche Lea!“ sagte Sabine leise, und ihr schönes Auge erglänzte in Thränen.

„Ach, die ganze Geschichte ist ja nicht wahr!“ lachte Kathinka. „Wer wird auch so dumm sein, selbst um den allerschönsten Aron in den Tod zu gehen, wenn man jung und hübsch und geliebt ist! Solche Geschichten lasse ich mir höchstens nur im Trauerspiele oder in der tragischen Oper auf der Bühne gefallen. Aber im Leben – vive la joie! vive l’amour! et vive la bagatelle! wie Yorick’s Tambour schreibt. Und ich dürste nach Leben, nach Sonnenschein, nach fröhlichem Lachen und blanken Augen. Puh! Hier unter dem hundertjährigen Gräberunkraute und den verwitterten Steinen und alten dummen Judengeschichten ist’s zum Sterben langweilig. Und Ihr macht dazu sentimentale Mondscheingesichter, als möchtet Ihr hier unter den garstigen Hollunderbüschen nächstens selber um freundlich Quartier bitten. Geschwind nach der grünen Moldauinsel zurück zu Concert und Feuerwerk. Ich hab’s heute Mittag noch meinem anbetenden Obersten auf Ehre, dem blonden Lieutenant auf Schnurrbart und dem feschen Grafen Studio auf Cerevis versprochen, daß wir den holden Maiabend auf der Insel verherrlichen wollen.“

Sollte dieses liebreizende Geschöpf wirklich kein Herz haben? Auf der Insel war die ganze glänzende und fröhliche Welt Prags versammelt. Die prächtige Regimentsmusik rauschte; funkelnde Leuchtkugeln Schwärmer und Raketen zischten durch den duftigen Abend und spiegelten sich wieder in der wogenden Moldau; schöne Menschen wandelten lachend und plaudernd durch die blühenden Gebüsche. Kathinka Heinefetter in ihrem luftigen weißen Kleide mit meergrünem Aufputz war die verführerischste Sylphide und zugleich das übermüthigste Kind, dem das Vergnügen aus den Augen strahlte, sich von so viel glänzenden Cavalieren umschwärmt zu sehen. Jetzt nahm sie mit dem coquettsten Lächeln und Wohlbehagen die Huldigungen eines pompösen fürstlichen Obersten auf; im nächsten Augenblicke schien sie nur Auge und Ohr und Lächeln für den kecken blonden Lieutenant zu haben, um fünf Minuten später dem „feschen“ gräflichen Studio das zündstoffreiche glückliche Herz vollends in Brand zu setzen.

Sabine machte der Schwester zu Hause ernstliche Vorwürfe über ihr unpassendes Benehmen. „Kind, wohin soll das führen? Dein unbesonnenes Herz wird Dich, uns Alle noch unglücklich machen.“

„Ah, wenn nur erst der Rechte kommt, der es versteht, dieses kleine rebellische Herzchen einzufangen und zu fesseln!“ sagte ich einlenkend. „Wie vernünftig werden wir da und wie geduldig! Ich wünsche Kathinka recht bald einen geliebten Tyrannen.“

„Ich – heirathen?“ flammte der Irrwisch in possirlichem Schreck auf. „Ich eine gesetzte ehrbare Hausfrau, die Strümpfe stopft, Knöpfe annäht, Butterbrode schmiert, zwanzig, vierzig, fünfzig Jahre täglich dasselbe Lied? Ich stürbe vor Langerweile. Nein, ich gehe nach Paris und werde eine berühmte Sängerin und bleibe mein Lebenlang freie Künstlerin. Trala! trala! trala!“ Und übermüthig trällerte sie mit der hellen frischen Vogelstimme die Melodie: „Heut’ lieb’ ich die Johanne und morgen die Susanne …“

Und doch konnte man dem reizenden Wildfang nicht böse sein.

Wie sonnig, wie übermüthig strahlte Kathinka am heiligen Nepomukstage, dem 16. Mai! Sie ruhte nicht, bis sie auch uns in das augen- und ohrenverwirrende Gedränge der Straßen und auf die berühmte Karls-Brücke geschleppt hatte. Meilenweit waren die Landleute in ihren originellen bunten Trachten herbeigeströmt, dem regenspendenden Schutzpatrone Böhmens, Johannes Nepomuk, fromme Ehre zu erweisen. In allen Gassen, auf allen Plätzen und in allen Kneipen schwirrte zu Fiedel, Cymbel, Harfe und Dudelsack das böhmische Nationallied, das mein alter College Genast verdeutscht hat:

O heil’ger Johann Nepomuk.
Der Du stehst auf der Prager Bruck,
Der Du hast mussen
Dein Leben bußen
Im Moldau-Flussen!

Und er stand da auf der „Bruck“ in der ganzen Pracht seines höchsten Festtages, um das ehrwürdig verwitterte Steinhaupt goldene Strahlen, reich mit Rubinglas besetzt, von brennenden Lämpchen und duftenden Blumen umgeben. Zu seinen Füßen Hunderte von armen bethörten Gläubigen, die da eine steinerne Puppe anbeten, ansingen, anweinen.

Auch ein armer Jude fand in der Moldau unter der Nepomuk-Brücke den Tod. Er wurde 1606 vor dem Tribunal-Appellatorium angeklagt, das heilige Kreuz der Christen geschmäht zu haben, und verurtheilt: daß aus seinem confiscirten Vermögen auf der Brücke ein riesiges steinernes Crucifix errichtet werde. Da stürzte der Jude verzweifelnd sich von der Brücke in die Moldau hinab. Das Crucifix steht noch heute da.

Die liebreizende Kathinka aber that am 16. Mai 1835 dem heiligen Nepomuk auf der Prager Bruck ungeheuern Schaden. Sie durfte sich rühmen, von dem unewig Männlichen an jenem Tage noch glühender angebetet zu sein, als der steinerne Schutzheilige vom ganzen Böhmerlande.

Am andern Tage nahmen wir Abschied mit einem herzlichen: „Auf baldiges, frohes Wiedersehen in Dresden!“ – Sabine fuhr einem neuen Gastspiel entgegen. Ich führte das meine in Prag zu Ende.

[520]
II.

Ich spielte sehr gern auf der hübschen Prager Bühne, bestens unterstützt von ausgezeichneten, freundlichen Collegen und ermuntert durch den Beifall eines kunstverständigen und kunstenthusiastischen Publicums.

Die deutsche Bühne in Prag zählt schon lange zu den ruhmvollsten. Zur höchsten Blüthe gelangte das „ständische deutsche National-Theater“, dem ein böhmisches „Vaterländisches Theater“ vergebens Concurrenz zu machen strebte, unter Direction des genialen Liebich, der sich um die Entwicklung der deutschen Schauspielkunst unvergängliche Verdienste erworben hat. Sein Ruhm lebte in jenen Prager Frühlingstagen noch auf allen Lippen. Selber ein ausgezeichneter Darsteller humoristischer Väter, besaß Liebich die größere Kunst, seltene Talente zu entdecken, auszubilden, zu hegen und zu pflegen. Unter seiner Leitung [521] wurde der junge Eßlair der große Eßlair. … Karl Maria von Weber war Capellmeister der Prager Bühne, und im Mai 1818 debütirte hier ein vierzehnjähriges Mädchen in Mehul’s Oper „Joseph in Aegypten“ als Benjamin. Ein wunderlieblicher Benjamin mit einer silberhellen, wundersüßen Stimme und bezaubernder Anmuth in allen Bewegungen. Ein Komödianten-Kind, das schon mit sieben Jahren auf dem Darmstädter Theater im „Donauweibchen“ die Lilli gesungen, gespielt und getanzt hatte … Und 1825 war diese Lilli – dieser Benjamin die gefeiertste Sängerin, der Welt: Henriette Sontag. Wie oft hatte sie mir damals in Berlin von ihrem wunderschönen lieben Prag erzählt, das ihr zuerst die berauschende Welt der Bretter erschlossen!

Das war die ruhmvolle Vergangenheit der Prager Bühne, als ich sie 1835 zuerst betrat. Freilich war ihr hellster Glanz erblichen. Liebich war seit achtzehn Jahren todt. Seine Wittwe heirathete den Tenoristen Stöger und übertrug die Direction an den abenteuerlichen Franz von Holbein, der einst der Gatte der Gräfin Lichtenau, Preußens Pompadour, gewesen war. Dann hatte das Triumvirat Polawsky, Stepaneck und Kainz das Ständische Theater in Prag regiert. Jetzt war Stöger ein rühriger und freundlicher Direktor, gemüthlich und praktisch und stets lächelnd. Wenigstens zu meiner Zeit, wo ihn volle Cassen anlächelten.

Von berühmten Sternen der alten Prager Glanzzeit fand ich nur noch den großen Wallenstein Bayer und den liebenswürdigen Polawsky vor, trotz seines Alters mein fein graziösester Perin in „Donna Diana“ und mein herzigster Vater in „Goldschmieds Töchterlein“. Als ich in den Birch-Pfeifferschen „Günstlingen“ [522] die Kaiserin Katharina spielte, stand er mir als noch immer imposanter Potemkin gegenüber.

Der im Leben und auf der Bühne so gemüthliche „Vater Bayer“' war noch frisch und fröhlich, als Hofrath in den „Hagestolzen“ meiner Margarethe das Herz zu stehlen, und für mein „Käthchen von Heilbronn“' der würdigste Vater Waffenschmied.

Rudolf Bayer, ein Wiener Kind, hatte Medicin studirt, gehörte aber schon seit 1802 dem Prager Theater an. Es war sein Stolz, daß er nie gastirt, nie eine andere Bühne betreten habe. Er versuchte sich auch mit Glück als Maler und Schriftsteller. Ludwig Löwe, der merkwürdiger Weise anfangs sein Künstlerheil in niedrig-komischen Staberlrollen suchte, wurde von Bayer zum idealen Liebhaber ausgebildet. Als seine jüngste Schülerin lernte ich damals sein fünfzehnjähriges Töchterchen Marie kennen, eine schlanke blumenhafte Blondine. Sie war ganz reizend in kleinen Partien und daheim ein liebes geschäftiges Hausmütterchen. Als der Vater einst den Wallenstein, seine glänzendste Meisterrolle, gespielt hatte, fand er sein Töchterchen zu Hause noch fleißig am Bügelbrette stehen. Da sagte er ganz in Haltung und Ton seiner Rolle und in dem ihm eigenen Pathos:

„Des Wallensteiner’s Kind am Bügelbrett?
Kennt Friedland’s Blut für sich kein würd’ger Eisen?
Laß ab! Des Friedland’s Tochter bügelt nicht!“

Solche Anekdoten vom alten Bayer wußte Prag noch viele zu erzählen. – Marie Bayer wurde nach einigen Jahren meine werthe Collegin am Hoftheater in Dresden, dessen Zierde Frau Bayer-Bürk noch heute ist.

Fräulein Herbst war eine liebenswürdige erste Liebhaberin und Heldin, mit Recht früher in Brünn und jetzt in Prag sehr geschätzt. Leider fehlte ihr bei einer graziösen Figur ein ausdrucksvolles Bühnengesicht und vor Allem eine Bühnennase. Sie hatte nur ein winziges, wenn auch reizendes Näschen, das auf den Brettern vollständig verschwand. Dennoch wurde dieser Dame von dem commandirenden Generale, Grafen Mensdorff, Jahre lang und in originellster Weise gehuldigt. Fräulein Herbst bewohnte eine schöne Wohnung auf dem Roßmarkte, und unter ihrem Fenster hielt ihr edler Ritter allwöchentlich zu ihrer Ehre und Freude mit wehenden Fahnen und klingendem Spiele die glänzendsten Paraden über die ganze Garnison von Prag ab. Ach, wie beneidete Kathinka Heinefetter in ihrer drolligen Weise die Collegin um diesen seltenen Verehrer, als wir mit einander zu dieser Huldigungsparade in die Wohnung der Gefeierten eingeladen waren und aus den Fenstern lachend auf dieses bunte Schauspiel niedersahen!

Mein Gastspiel gestaltete sich zu einem sehr erfolgreichen. Bei stets vollen Häusern trat ich binnen zweiundzwanzig Tagen in meinen beliebtesten Rollen fünfzehnmal auf. Bäuerle’s Theaterzeitung berichtete sehr eingehend und freundlich darüber. Am meisten gefiel ich als Donna Diana, Käthchen von Heilbronn, Goldschmieds Töchterlein, Kaiserin Katharina und – seltsam genug – als stummer Victorin in „Waise und Mörder“. – Als Honorar erhielt ich den dritten Theil der Einnahme, durchschnittlich ungefähr hundert Thaler für den Abend. – Director Stöger machte mir sehr verlockende Engagementsanträge. Publicum, Kritik und Collegen wollten mich gern an Prag fesseln. Aber ich konnte nur versprechen, bald zu einem langen Gastspiele wiederzukehren.


Im Herbste 1835 begrüßten mich Sabine und Kathinka Heinefetter in Dresden. Frau Schröder-Devrient hatte im Frühling einen fünfvierteljährigen Urlaub angetreten und Sabine Heinefetter sollte sie ersetzen.

Nicht wenig überrascht war ich, als mir beide Schwestern ihre – Verlobten vorstellten. Sabine einen schönen holländischen Officier, der den Dienst quittirt hatte und angenehm von seinen Renten leben konnte. Noch wenige Jahre wollte Sabine gastiren, dann ihren Bräutigam heirathen und sich ganz von der Bühne zurückziehen.

„Welch ein Verlust für die Kunst!“ rief ich unwillkürlich aus.

„Ich liebe ihn,“ sagte sie leidenschaftlich. Und ihr ganzes treues Herz lag in diesen Worten.

Kathinka’s Verlobter war ein hübscher schwarzlockiger Franzose mit blitzenden schwarzen Augen und den gewandtesten Manieren. Weiter erfuhr ich nichts über ihn. Sabine vermied es, über diesen zukünftigen Schwager zu sprechen, und nur einmal, als das reizende Bräutchen sich im Theater die Huldigungen eines blonden sächsischen Dragonerofficiers sehr gern gefallen ließ, schüttelte Sabine sorgenvoll den schönen Kopf und flüsterte mir zu: „Gott gebe, daß die Liebe Kathinka endlich vernünftig macht und Alles gut geht!“

„Schau, Kind, wie bald nun doch der Rechte gekommen ist!“ sagte ich scherzend zu Kathinka, an ihr Prager Herzensbekenntniß erinnernd.

„Und wenn es am Ende doch noch nicht der Rechte wäre?“ lachte das verführerische Geschöpf hell und übermüthig und wirbelte mit ihrem Franzosen, der kein Wort Deutsch verstand, lustig durch’s Zimmer. Das Wort gab mir einen eigenen Stich in’s Herz. Und ich höre es noch heute von den rosigen lachenden Lippen, die längst im tiefsten Weh erblichen und auf immer verstummt sind. Arme Kathinka, das war ein böses prophetisches Wort, und Du lachtest Dir den Tod. Ja, es war – nicht der Rechte. Und der sollte überhaupt nie für Dich kommen. Nach acht Tagen reiste Kathinka mit einer Ehrendame und ihrem Verlobten nach Paris ab, sich dort zur Coloratursängerin auszubilden. Ich habe sie nicht wiedergesehen, aber nur zu oft und zu viel von ihr gehört.

Sabine Heinefetter wohnte mit ihrer Mutter in einer Privatwohnung, ihr Verlobler im Hôtel de Saxe. Ein glückliches Brautpaar, das Alles peinlich vermied, was den Dresdener bösen Zungen irgendwie Klatschstoff geben konnte. Aber für Sabinens Gastspiel sollte dieser Brautstand dennoch verhängnißvoll werden. Die tonangebende Theatergarde liebt bei Künstlerinnen die Bräutigams überhaupt nicht; eher verzeiht sie noch einen hausbackenen Ehemann. Und Sabine war ehrlich und – unvorsichtig genug, stets offen zu zeigen, daß sie in Dresden nur ihrer Kunst und ihrer Liebe leben wollte. Sie lehnte alle Einladungen, alle Huldigungen mit großer Entschiedenheit ab. Nur in den Gesellschaften des Intendanten, Herrn von Lüttichau, zeigte sie sich zuweilen mit ihrem Bräutigam. Sonst lebte sie in größter Zurückgezogenheit. Die Dresdener Theatergarde blieb der schönen Sängerin gegenüber stets auf dem Gefrierpunkte.

Und die Vergleiche mit Wilhelmine Schröder-Devrient lagen sehr nahe. War auch Sabine schöner, ihre Stimme größer, voller, metallreicher, ihre Kunst des Singens schulgerechter, so überstrahlte die geniale Wilhelmine sie doch weit durch die Tiefe der Auffassung und die gluthvolle hochdramatische Darstellung ihrer Rollen. Sabine wurde wohl bewundert, aber Wilhelmine riß durch ihren seelenvollen Vortrag zum höchsten Entzücken, zu quellenden Herzensthränen hin. Mit einem Worte: Sabine Heinefetter’s Gastspiel ging zu meiner Betrübniß in Dresden kalt vorüber. Das fühlte sie selber und verzichtete nach sechs Monaten auf eine Fortsetzung desselben. Selbst bei ihrem letzten Auftreten rauschte zu ihren Füßen kein Kranz, kein Gedicht nieder. Die Theatergarde lächelte ein wenig schadenfroh: Ja, warum hat denn nicht ihr Holländer dafür gesorgt?! – Weil Sabine Heinefetter zu ehrlich und zu stolz war, um solche armselige Coulissenkunststückchen zu dulden. Sie sagte mir. „Ich habe nie einen Kreuzer für Reclame oder Claque gezahlt.“ Und ich glaube das. Habe ich es doch ebenso gemacht.

„Auf Wiedersehen!“ hieß es auch diesmal, als Sabine mich zum Abschiede umarmte. Aber es klang nicht so frohmüthig wie vor einem Jahre im Thorwege des „Schwarzen Rössel“ zu Prag. Wir haben uns nie wiedergesehen. Aber mein innigstes Mitgefühl ist der armen Sabine und ihrer unglücklichen Schwester Kathinka bewahrt geblieben – bis zu ihrem traurigen Sterben, bis über die einsamen Gräber hinaus.

Auch die dritte Schwester, Frau Clara Stöckel-Heinefetter, lernte ich in Dresden kennen und schätzen. Sie sang die Iphigenie, die Elvire im „Don Juan“ und Spohr’s „Jessonda“. Ihre Stimme, nicht ganz so voll und schön, wie die Sabinens, erinnerte mich lebhaft an die Milder-Hauptmann. Alle Kunstverständigen rühmten sehr ihren Gesang – aber das Publicum blieb theilnahmlos. Schon nach der dritten Rolle brach die Sängerin ihr Gastspiel ab.

„Wie ist’s möglich?“ fragte ich meinen Collegen Emil [523] Devrient, der gleich mir von dem Singen Jessonda’s hingerissen war.

Er lächelte achselzuckend: „Die Stöckel ist nicht schön – ja, sie ist sogar grundhäßlich. Ihren plumpen Zügen fehlt jede Mimik. Wie aus Holz geschnitzt starrt ihr Gesicht in’s Leere. Und unsere lieben Dresdener sind verwöhnt durch eine Ungher-Sabathier und Wilhelmine Schröder-Devrient.“

Für den Carneval 1837 war Sabine Heinefetter an der Scala in Mailand engagirt, mit einem Honorar von tausend Franken für den Abend. Aber sie trat nur ein Mal als Inez de Castro auf und – gefiel nicht. Stolz verzichtete sie auf ihren Contract. Später hörte ich nur noch, daß Sabine die Bühne verlassen und in glücklicher Ehe als Madame Marquet zu Marseille lebe. Dann wieder nach vielen Jahren, daß sie als Wittwe sich in dem schönen Baden-Baden niedergelassen habe.

Kathinka wurde auf Kosten der großen Oper in Paris zur Sängerin ausgebildet. Diese Bühne betrat sie 1840 mit dem glänzendsten Erfolge. Ganz Paris schwärmte für ihre Schönheit, reizende Stimme, brillante Gesangskunst und ihr entzückendes Spiel. Und dann lief eines Tages die Nachricht von der grausigen Tragödie in Brüssel durch die Zeitungen, deren Heldin Kathinka Heinefetter war. In der Nacht vom 19. auf den 20. November 1842 war ihr Geliebter in ihrer Wohnung von einem Nebenbuhler getödtet. Bald hörte und las man mehr davon.

Wann Kathinka ihren Verlobten, den ich in Dresden kennen lernte, verabschiedete? Ich weiß es nicht. Im Sommer 1842 war der junge Pariser Advocat Caumartin ihr erklärter Anbeter. Er präsentirte sich als ein Mann sehr comme il faut. Er schenkte der Geliebten Silberzeug und Schmuck und begleitete sie zu einem Gastspiel nach Straßburg. Kathinka’s Gesellschafterin, eine Mde. Kerz, die während der Gerichtsverhandlungen im zweideutigsten Lichte erscheint und durch die affectirte Betonung ihrer Stellung als Ehrendame und Sittenmeisterin sich lächerlich macht, erkundigt sich angelegentlich nach den „Verhältnissen“ des jungen Mannes und sucht ihn zu einer „Erklärung“ zu bringen. Endlich erklärt Mr. Caumartin, daß er Mlle. Heinefetter heirathen wolle, obgleich das seiner Mutter Kummer bereiten werde. Er spricht sogar schon davon, für seine schöne Braut den Hochzeitskorb zu besorgen, und Ehrendame Kerz soll die Geschenke auswählen helfen. Man nimmt einen Fiaker. Vor dem Kaufladen muß Mde. Kerz zuerst aussteigen. Lachend fährt Caumartin mit der schönen Kathinka davon. Weinend kehrt diese zur Sittenmeisterin zurück und klagt ihr, daß Caumartin sie aus Rücksicht für seine Familie nicht heirathen könne, daß seine Mutter ihm bereits eine andere Braut auserwählt habe.

Bald darauf macht Kathinka die Bekanntschaft des jungen Mr. Steiner, und Ehrendame Kerz ruft aus: „Ha, Kind, das ist ein Mann für Dich. Laß den Caumartin laufen!“ Es kommt zwischen dem verliebten Advocaten und dem dreiundzwanzigjährigen Mr. Steiner zu einigen Eifersuchtsscenen, die durch Dame Kerz und ihre würdige Busenfreundin Mlle. Behr, die vergebens für sich den Titel „Madame“ beansprucht, glücklich arrangirt und durch Klatschereien und Briefe genährt werden. Es bleibt nicht bei Worten, und im Handgemenge erhält Mr. Steiner eine Verletzung am Auge. Kurz vor dem Duell sprechen sie sich offen über die Intriguen der Damen Kerz und Behr aus und entdecken, daß man sie absichtlich gegeneinander aufgehetzt habe. Sie scheiden als die besten Freunde. An demselben Abend erscheinen die Busenfreundinnen Kerz und Behr bei dem Vater Steiner, zeigen ihm einen Dolch vor, mit dem Caumartin seinen Sohn verwundet habe, und fordern ihn auf, die Hülfe der Justiz anzurufen, indem sie sich als Zeugen anbieten. Auch von Kathinka Heinefetter erhält Mr. Steiner jun. einen Brief, in dem sie ihm ihr Zeugniß gegen Mr. Caumartin zur Verfügung stellt und ihm verspricht: nie zu vergessen, ihn ewig zu lieben. … Mlle. Behr äußert sich sehr befriedigt, Mr. Steiner mit Kathinka entzweit zu haben, denn Mlle. Heinefetter habe kein Herz und sei nicht würdig, einen achtbaren Mann zu fesseln.

Arme Kathinka, wie weit bist Du schon gekommen, daß eine Kerz Dein Herz lenken und eine Behr sagen darf: Du habest kein Herz! Wie sehr fehlt Dir überall das treue kluge Auge, die sichere Hand und die Liebe Deiner Sabine!

All diese Ereignisse, die in Paris lebhaft besprochen wurden, machten Kathinka Heinefetter es wünschenswerth, wenigstens für einige Zeit den Schauplatz zu wechseln. Sie löst im September 1842 ihr Engagement an der großen Oper, obgleich sie noch drei Monate Contract hat, und engagirt sich bei der Oper in Brüssel. Bei der Diligence in Paris treffen die Sängerin und ihre Ehrendame mit Mr. Caumartin zusammen. Dieser läßt Dame Kerz in die Rotonde steigen und nimmt neben Kathinka im Coupé Platz. Die Mitfahrenden halten das junge heitere und zärtliche Paar für Eheleute auf der Hochzeitsreise. Kathinka und Caumartin steigen zu Brüssel im Hôtel de Suède ab und miethen eine Wohnung in der Rue des Hirondelles. Caumartin bezahlt die Miethe für einen Termin. Ende October kehrt er nach Paris zurück.

Bald darauf lernt Kathinka den sechsunddreißigjährigen Ainé Sirey kennen, der sich gern Graf nennt. Sein Vater ist ein berühmter Pariser Advocat, seine Mutter eine Nichte von Mirabeau. Ainé ist reich begabt, hat ein liebenswürdiges und sympathisches Aeußere und eine ausgezeichnete Erziehung erhalten. Sein Unglück ist: Eitelkeit. Als Knabe ist er ein glänzender Löwe der Boulevards und der Theater, als Jüngling ein blasirter Wüstling und verschuldeter Spieler. Es ist sein Stolz, sich schon in so jungen Jahren alle Laster seines Großoheims Mirabeau zu eigen gemacht zu haben. In den Julitagen treibt ihn die Eitelkeit, den Volksmann à la Mirabeau zu spielen. In einem Spielhause verliert er an einem Abend 22,000 Francs auf Ehrenwort. Er ruft: „Die Karten sind falsch – ich zahle nicht.“ Großer Tumult, der damit endet, daß die Falschspieler dem eleganten Sirey den Vorschlag machen, sich ihnen anzuschließen: à corriger la fortune! So tief ist Aimé noch nicht gesunken, und er übergiebt die Falschspieler den Gerichten.

Mit sechsundzwanzig Jahren verheirathet, hat er in wenigen Jahren sein und seiner Gattin Vermögen in leichtsinnigster Weise durchgebracht. Er muß sich vor seinen Gläubigern auf’s Land zurückziehen. Im November 1835 fordert er seinen Vetter Durepaire, der gegen Sirey’s Vater einen Geldproceß angestrengt hat, zum Duell. Durepaire lehnt es ab, sich zu schlagen. Sirey schlägt ihn in’s Gesicht, und das Duell findet statt. Im Parke von Issy ersticht Sirey seinen Vetter, der vor Gericht sein Recht wahren wollte. Er wird verurtheilt, der Wittwe Durepaire 10,000 Francs zur Erziehung ihrer vaterlosen Tochter zu zahlen. Aimé Sirey, der bereits 35,000 Francs Schulden hat und dessen Vater durch ihn ruinirt ist! Der schöne, elegante und von der Natur so begünstigte Aimé wird ein gemeiner Abenteurer. Er verläßt seine Familie und geht nach Brüssel, sein Glück zu versuchen. Er wird der Beschützer von Theaterdamen, die gerade in der Mode sind. Zunächst wendet er seine Gunst der Sängerin Mlle. de Roissy zu und macht mit Lärm Reclame für ihre Triumphe. Einen Friseur bedroht er mit Ohrfeigen und Degenhieben, wenn er wage den Gesang von Mlle. de Roissy nicht schön zu finden. Dem Director des Theaters stellt Sirey sich als Graf und Beschützer von Mlle. de Roissy vor und droht, Alle umzubringen, welche seine Dame auspfeifen würden. Einem Schauspieler, der sich erlaubt hat, den Gesang von Mlle. de Roissy zu kritisiren, giebt er eine Ohrfeige und bedroht ihn mit unzähligen, wenn er Klage führen werde. Einen Mediciner prügelt er zur Ehre von Mlle. de Roissy. Andere droht er zu tödten, zu würgen, aus dem Fenster zu werfen. Bei den Handwerkern, die mit Sirey zu thun haben, ist bald ein geflügeltes Wort in Gebrauch: Gewaltthätigkeit à la Sirey.

Dies ist der Mann, der sich bald nach der Abreise Caumartin’s dem neuen glänzenden Stern der Großen Oper in Brüssel, Kathinka Heinefetter, als Beschützer nähert und – der nicht zurückgewiesen wird.

Caumartin denkt inzwischen in Paris ernstlich daran, sich nach dem Wunsche seiner Familie zu verheirathen und sein Verhältniß mit Kathinka zu lösen. Er will seine Briefe von ihr zurückfordern und ihr die ihrigen, sowie Silber und Schmucksachen, die er noch von ihr in Händen hat, zurücksenden … da erhält er am 7. November von Kathinka aus Brüssel einen französischen Brief, den wir hier in der Uebersetzung mittheilen.

     „Mein theurer Eduard!

Ich schreibe Dir in derselben Stunde; denn ich liebe diese Stunde so sehr; sie erinnert mich an eine süße Zeit. Dein langer Brief, für mich immer zu kurz, hat mir ein unaussprechliches [524] Vergnügen gemacht. Ich habe ihn wenigstens zwanzigmal gelesen, was sage ich? hundertmal. Glühend habe ich das Papier geküßt, wo Deine gute und schöne Hand ruhte, um an mich zu schreiben, wo ich sicher war, daß Du an mich dachtest, dies schwere Ding zu Paris, ist es nicht so??

Ich bin entzückt, daß mir Alles so gut nach Wunsch geht, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, bald nach Paris zurückzukehren. Wir werden uns mit aller Kraft der Liebe lieben! Mein Gott, ist es denn möglich, so närrisch zu sein, wie ich es bin? Nur Du mit Deinem Geiste, mit Deiner Liebenswürdigkeit konntest mich dahin bringen. Es vergeht keine Minute des Tages, in der ich nicht an Dich denke, mein süßer Engel, an Dich allein, den ich so sehr liebe. Aber ich gehe zu weit, denn ich sage mir immer: es taugt nichts, den Leuten zu sagen, wie sehr man sie liebt. Doch Du bist vielmehr ein Engel, und so will ich es riskiren, und ich liebe Dich. (Weißt Du, was Liebe ist? Eine Romanze, die man mir gewidmet hat.) – – –

Ich habe gestern in den Hugenotten mit großem Erfolge gesungen; denn man fängt an mich zu lieben. Eine Seltenheit! Man hat mich ‚sublime‘ gefunden. Ich gebrauche den Ausdruck eines Theaterstammgastes. In acht Tagen habe ich vier Mal gesungen. Ich wünschte, daß man dies weiß, da man in Paris glaubt, ich habe eine zarte Gesundheit.

Die hiesige Verwaltung schmeichelt sich, daß ich in Brüssel bleibe. Sage mir, was ich thun soll, denn ich möchte nichts ohne Deinen Rath thun, weil ich dann nie unrecht handle. Ich bin sicher, daß Du nur mein Bestes für die Zukunft willst. –

Mlle. Julie ist zu Paris; sie hatte mich gebeten, ihr einen Brief an Dich mitzugeben; aber aufrichtig, ich wagte es nicht; ich bin so eifersüchtig! Erinnerst Du Dich an den verwünschten Ball? Dieses schändliche Weib, wie ich es verabscheue!

Apropos Ball! Man gab diesen Abend hier einen Ball, in dem niedlichen Saale, in dem wir miteinander waren. Man hatte mich eingeladen, aber ich bin nicht hingegangen. Alles für Dich, weil ich nicht weiß, ob es Dir lieb wäre. Mache es wie ich und amüsire Dich nicht, denn sonst könntest Du Deine arme Kathinka vergessen, welche Dich so sehr liebt und welche unglücklich sein würde, wenn Du sie nicht mehr liebtest.

Adieu! Ich umarme Dich, wie von Ville d’Avray bis nach Paris, aber jetzt ist es noch weiter und das ist nicht so gut.“

Und in Folge dieses zärtlichen Briefes kommt Caumartin, obgleich er seit zwei Tagen in Paris verlobt ist, am 19. November in Brüssel an, um seine Kathinka angenehm zu überraschen. Er steigt im Café Domino ab und hört hier, daß Mlle. Heinefetter soeben in einem Concerte der Großen Harmonie singt. Er eilt und wartet in einem Wagen vor der Thür, da schon die letzte Nummer gesungen wird. Er sieht Kathinka in Gesellschaft von vier Personen und am Arme eines ihm unbekannten Herrn heraustreten. Da fährt er in ihre Wohnung voraus, in der Erwartung, die Begleiter würden sich an der Thür verabschieden. In Kathinka’s Salon findet er ein Souper für mehrere Personen vorbereitet. Die Zofe ist verlegen. Bald darauf tritt Kathinka mit ihrer Gesellschaft ein. Sie erbleicht, ihren alten Liebhaber plötzlich vor sich zu sehen. Verwirrt ladet sie ihn zum Souper ein, ohne ihm die beiden anwesenden Herren vorzustellen. Die Damen kennt er nur zu gut. Mde. Kerz und Mlle. Claire Behr. Unmuthig lehnt er ab und wirft sich in eine Sophaecke, während die Gesellschaft lustig soupirt. Voll Ingrimm sieht er, wie der elegante Herr an der Seite seiner alten Geliebten sich alle Freiheiten eines erklärten Liebhabers herausnimmt, und wie man ihn vollständig übersieht. Das Souper ist vorüber. Die Damen ziehen sich zurück, von Aimé Sirey begleitet. Sein Freund Mr. Milord und Caumartin befinden sich allein im Salon. Kathinka ruft angstvoll aus: „Mein theurer Sirey, es wird ein Duell geben und Caumartin wird Dich tödten.“ – „Pah! ich werde ihm in einem Fechtsaale meine Stärke zeigen, und er wird sich mir zu Füßen werfen und mich um Gnade anflehen,“ ist die lachende, prahlerische Antwort. Damit kehrt er in den Salon zurück, wo Caumartin sich erhoben hat und seine Handschuhe anzieht. Sirey tritt auf diesen zu und sagt.. „Mein Herr, sehen Sie denn nicht, daß Sie hier zu viel sind? Es ist Zeit, ein Ende zu machen.“ Damit zeigt er Caumartin die Thür. Es kommt zu Thätlichkeiten. Sirey nennt Caumartin einen Gassenjungen und droht, ihn aus dem Fenster zu werfen. In diesem Augenblicke öffnet Kathinka die Thür und sinkt, als sie die wüthenden Nebenbuhler erblickt, ohnmächtig nieder. Milord trägt sie in ihr Schlafzimmer und legt sie auf’s Bett. Was inzwischen im Salon passirt ist, wurde nie ganz klar. Caumartin erzählt. „Ich gab Sirey eine Ohrfeige, er versetzte mir unzählige Stockschläge auf Kopf, Arme und den ganzen Körper, bis sein Stock zersplitterte. Ich rief ‚Das ist eine Schändlichkeit. Ich habe die Wahl der Waffen. Morgen um acht Uhr auf Degen!‘ – „Schlagen wir uns sogleich!“ schrie Sirey und nahm einen Gegenstand von der Tafel, den ich nicht sah. Er stürzte auf mich und ich erhielt einen Messerstich in den Schenkel. Ich hatte zu meiner Vertheidigung einen Stockdegen in der Hand. Sirey ergriff ihn und das Stockende blieb in seiner Hand. Er glaubte mich entwaffnet und stürzte auf’s Neue auf mich. Ich hielt den Degen in der Hand und – er stürzte sich in seiner blinden Wuth hinein. Ich sah das Blut durch seine weiße Weste dringen. Das hatte ich nicht gewollt. Ich eilte fort, einen Arzt zu holen. Als ich mit demselben zurückkehrte, traf ich auf der Treppe den Hauswirth, der mir sagte. ‚Er ist todt.‘ Da eilte ich nach Paris und stellte mich den Gerichten.“

Mr. Milord erklärte bei der Gerichtsverhandlung: „Als ich aus dem Schlafzimmer von Mlle. Heinefetter zurückkehrte, sank Aimé Sirey mir in die Arme mit dem Rufe: ‚Ich bin erstochen.‘ Ich wollte es nicht glauben. Ich erkläre hiermit, ich habe nicht gesehen, daß Mr. Caumartin dem armen Sirey einen Dolchstoß versetzte. Ich erkläre, ich weiß nicht, wie die That geschehen ist. Ich erkläre, ich sah Mr. Caumartin keine Bewegung mit dem Körper oder den Armen machen. Ich sah bei ihm nach der That eine große Bestürzung.“

Genug, in der Wohnung der Sängerin Kathinka Heinefetter war um Mitternacht ein Mann getödtet, der seit einigen Wochen für ihren erklärten Liebhaber galt, – getödtet von einem Manne, dem die Leichtsinnige noch vor zehn Tagen den zärtlichsten Liebesbrief geschrieben hatte.

Kathinka Heinefetter war gerichtet. In Paris und Brüssel hatte sie sich unmöglich gemacht. Jenen unglücklichen Brief voll zärtlichster Versicherungen, der den längst ersetzten Liebhaber von seiner jungen Braut aus Paris nach Brüssel lockte, konnte ihr Niemand verzeihen. Im April 1843 mußte Kathinka noch einmal in Brüssel öffentlich auftreten: in der unsauberen Gesellschaft einer Kerz und Behr als Zeugin vor den Assisen, vor denen Eduard Caumartin des Todtschlages angeklagt stand. Alle drei bemühten sich, zu Ungunsten des Angeklagten auszusagen. Das erhöhte ihre eigene Schuld in Aller Augen. Caumartin wurde freigesprochen, dank der glänzenden Vertheidigungsrede des berühmten Pariser Advocaten Chaix d’Estange und des einstimmigen Gutachtens der Aerzte, welche die Möglichkeit anerkannten, daß Aimé Sirey sich blind in den vorgehaltenen Stockdegen Caumartin’s stürzte. Kathinka Heinefetter blieb gerichtet. Vorbei Glück und Stern. Sie trat wohl noch an verschiedenen Bühnen auf, aber die Fama flog ihr stets voran, und in allen Augen las sie immer wieder dieselbe alte traurige Erinnerung an die blutige Tragödie zu Brüssel. Und wie oft, wenn sie in ihren heitersten, glänzendsten Partieen auf der Bühne stand, muß plötzlich ein bleicher Schatten vor ihr aufgetaucht sein! Sie sah rothes Herzblut fließen und hörte eine dumpfe Grabesstimme: „Du – Du allein bist schuld,“ und das Herz stand ihr still, und der Ton erstarb ihr in der Brust.

Ja, Kathinka Heinefetter hat des Herzens Leichtsinn schwer gebüßt. Entmuthigt, gebrochen, entsagte sie in den blühendsten Jahren der Bühne. Am 21. December 1855 ist sie zu Freiburg im Breisgau an einer schleichenden Herzkrankheit gestorben, nicht älter als fünfunddreißig Jahre. Mit welchen wogenden Gefühlen habe ich an ihrem Grabe gestanden! Auf dem Piedestal des Denkmals knieet ein Genius, der einen Kranz Rosen über das Grab hält. Auf dem Hügel stand ein Strauch vertrockneter Kathrinerblumen. Dein Bild, arme Kathinka!

Im Februar 1857 starb auch die zweite Schwester, Frau Stöckel-Heinefetter, und am 18. November 1872 Sabine Marquet-Heinefetter – – in der badischen Irrenanstalt Illenau. … Arme Sabine, wie muß Dein treues Herz um Deinen Helden-Liebling Kathinka gelitten haben! – und Dein [525] klarer energischer Geist, bis das Leben ihn aus seinen Fugen zu rütteln vermochte!

Gräber – nichts als Gräber um mich her! Und während ich darauf niederblicke, tauchen die sonnigen Prager Maientage vor vierzig Jahren in ihrer ganzen Frohmüthigkeit vor mir auf, und wieder umgaukelt mich wie ein lachender Sonnenstrahl das glückliche Kind Kathinka unter den knospenden Hollunderbüschen des tausendjährigen Judenkirchhofes zu Prag, und ich höre die wehmuthsvolle Stimme der schönen edlen Sabine flüstern: „Wo wird mein Grab dereinst gegraben werden? Wer wird mir ein Liebeszeichen auf’s Grab legen, wie der glücklichen Lea?“

Eine alte Collegin – dieses wehmüthige Erinnerungsblatt!