Aus dem Lande der Kanäle

Textdaten
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Autor: Herbert Franz
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Titel: Aus dem Lande der Kanäle
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 474–475
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Aus dem Lande der Kanäle.

Niederländische Bilder von Herbert Franz.

Niet rooken!“ – Das waren die ersten holländischen Worte, welche bald hinter Zevenaar an mein erstauntes Ohr drangen. Ein Schaffner, der in der behaglichen Ruhe seines Wesens recht charakteristisch sich abhob von der geschäftigen Schneidigkeit, mit der bei uns zu Lande diese Beamten auftreten, sprach die denkwürdigen Worte aus, und er erläuterte sie durch den Hinweis auf die im Eisenbahnwagen befindliche Papptafel, auf der es noch außerdem in drei Sprachen prangte, das internationale Rauchverbot. Seufzend mußten wir uns drein ergeben: die Cigarren und Cigaretten, während der langweiligen Zollmusterung erst ganz kürzlich in Brand gesetzt, flogen hinaus zum Fenster auf die halb von Nebelschleiern verhüllten Wiesen. Es war im Spätherbst und empfindlich kühl; aus den behaglich durchwärmten Wagen des deutschen Zuges waren wir plötzlich in die recht kalten des niederdländischen geraten, deren Fußboden lange schmale Wärmflaschen, sogenannte „stoovjes“, zierten, an denen man sich nun zunächst die Stiefelsohlen versengte. Die Stimmung wurde dadurch nicht eben gehoben, und in der unangenehmen Verfassung, die sich im Laufe einer längeren Eisenbahnfahrt unweigerlich einzustellen pflegt, war man geneigt, in dem fremden Lande alles schlecht und abscheulich zu finden und sich zurückzusehnen nach den leichtsinnig verlassenen Fleischtöpfen der Heimat. Warum waren wir auch nicht wenigstens einen Tag länger in dem lieblichen Cleve mit seiner romantischen Schwanenburg und den sagenhaften Erinnerungen an die Römerzeit und den Gralsboten Lohengrin geblieben? Warum? Ja, weil man eben heute überhaupt nie und nirgends mehr Zeit hat oder sich nimmt, einen Eindruck behaglich zu genießen, weil immer im unrechten Augenblick der Kurierzug wartet, um einen fortzuführen, wenn man eben heimisch zu werden beginnt!

Aber fort mit den melancholischen Gedanken, eben fährt der Zug in Armheim ein. Viele Lichter, ein lebhaftes Treiben in den Straßen – mehr ist augenblicklich nicht zu entdecken. Erst bei einem späteren Aufenthalt habe ich die reiche Stadt – das „Goldene Arnheim“ nennt man sie gern – einigermaßen kennengelernt. Man hat Arnheim oft mit unserem Wiesbaden verglichen, weil Pensionäre und Rentiers sich mit Vorliebe in dieser Villenstadt zur Ruhe setzen, außer diesem einen Umstand aber bieten sich kaum Vergleichspunkte. Trotz der anmutigen Lage am Rhein ist die Umgegend nicht sonderlich reizvoll und am allerwenigsten kann sie sich messen mit den überreichen landschaftlichen Vorzügen der Weltkurstadt am Taunus. Seltsamerweise hört man in Arnheim fast ebensoviel deutsch sprechen wie in Wiesbaden holländisch, während man in den meisten übrigen Städten der Niederlande eher noch mit dem Französischen sich durchzuhelfen vermag als mit der eigenen Muttersprache.

Die erste große Stadt des Königreiches, welche ich kennenlernte, war Amsterdam, und von allen erscheint sie mir noch heute als die schönste und eigenartigste. Wohl ist der Haag („s’Gravenhage“ lautet der amtliche Name der Residenz) vornehmer, schöner gebaut, und die mächtige Allee, die nach dem berühmten Seebad Scheveningen führt, findet kaum irgendwo ihresgleichen; wohl heimelt Rotterdam mit seinem gewaltigen Handel, seinem überseeischen Schiffsverkehr den Deutschen zunächst mehr an, aber schließlich nimmt man doch die fesselndsten Eindrücke mit aus der Stadt Rembrandts und Spinozas, in welcher die eigentlich holländische Lebensart zum reinsten Ausdruck kommt, trotz der Unzahl von Fremden aus aller Herren Ländern, die man dort überall antrifft.

Ein ernsthafter und gediegener Menschenschlag ist es, der in den Niederlanden haust; auferzogen in beständiger Nachbarschaft des Meeres, oft zum hartnäckigen Kampf mit dem empörten Element gezwungen, hat der Holländer eine zähe, stille Art angenommen, die dem oberflächlichen Blick leicht als Phlegma oder Gleichgültigkeit erscheint. Wer länger im Lande verweilt und Gelegenheit hat, Bekanntschaften in den gebildeten Ständen anzuknüpfen, der kommt bald von diesem Irrwahn zurück. Freilich ist dem Holländer das lebhafte Temperament, die reiche Phantasie und die unerschöpfliche Unterhaltungsgabe der Romanen versagt; selbst im Vergleich zu den stammverwandten Hochdeutschen giebt er sich schwerfällig, und nach langem Ueberlegen erst äußert er eine Ansicht oder ein Urteil. Die Vorzüge aber dieser Fehler, wofern es solche sind, eignen dem Niederländer in vollstem Maße: ein unermüdlicher Arbeiter ist er, und wen er einmal liebgewonnen hat, der mag auf ihn bauen in jeglicher Fährlichkeit. Nicht leicht wird einem der Eintritt in die engen Wohnhäuser gemacht; ist man aber einmal über die steile Stiege emporgeklettert in das reiche Familiengemach, so wird man eine Bewirtung und Aufnahme finden, wie sie so gastlich nur selten sich einstellt.

Die Tageseinteilung entspricht ungefähr der in England üblichen, mit dem Unterschied, daß der Tag viel später beginnt und dementsprechend später schließt. Nach elf Uhr abends findet man in Amsterdam noch die meisten kleinen Geschäfte geöffnet, von Zeit zu Zeit klappert wohl auch noch ein verspätetes Dienstmädchen in bauchigen Holzschuhen, mit bloßen Armen und der bekannten malerischen Haube, über die Straße, um beim benachbarten Fleischer („vleeshouwer“) den stattlichen Bedarf für den kommenden Tag einzuholen. Die öffentlichen Lokale, in denen übrigens Damen seltene Erscheinungen bilden, bleiben fast ausnahmslos bis zwei Uhr nachts geöffnet, und ebenso lange fast herrscht in den Straßen ein lebhaftes Treiben. Nicht allzu selten schließen ja die Theater erst gegen Mitternacht. Unter diesen Verhältnissen ist es nur natürlich, wenn der Tag erst um neun Uhr morgens beginnt. Eine tüchtige Mahlzeit aus Kakao oder Thee, Eiern und den landesüblichen „beshuiten“ (einer Art runden Zwiebacks) dient als Grundlage; zwischen zwölf und eins folgt dann ein umständliches Frühstück und etwa um sechs Uhr die Hauptmahlzeit. Vorher aber und auch wohl nachher wird beinahe unaufhörlich Thee getrunken, und zwar in gleichmäßig unheimlicher Menge und Güte. Es ist unglaublich, wieviel von dem starken, schwarzen Trank die Holländer und besonders auch die Holländerinnen bewältigen können, wenn auch allerdings das eigentümlich feuchtkühle Klima eine beständige Zuführung wärmender Getränke beinahe zur Notwendigkeit macht. Dadurch erklärt sich auch der sehr beträchtliche Bedarf an Spirituosen, in den großen Kaffeehäusern sitzen die schweigsamen Männer meist vor einem kleinen Gläschen Genever, Cognac oder Wermut, welches in angemessenen Zwischenräumen neu gefüllt zu werden pflegt, oder sie schlürfen bedächtig ein Glas kalten Grogs. Obwohl es nicht an echten und „stilvoll“ nach deutschem Muster eingerichteten Bierstuben fehlt, spielt der Gerstensaft doch nicht annähernd die wichtige Rolle im täglichen Leben der Holländer wie bei uns; nirgends aber habe ich eine so reichhaltige Auswahl von Liqueuren und alkoholischen Trankmischungen angetroffen. Dabei ist der Niederländer von Natur ein mäßiger Mensch, der meist ganz genau weiß, was er vertragen kann.

Die holländische Küche verdiente ein eigenes Kapitel. Viele Deutsche, die in der Fremde immer nur den einheimischen Maßstab anlegen und tief unglücklich sind, wenn sie nicht überall Eisbein und Sauerkohl zu essen bekommen, habe ich wacker schelten hören auf die fette und überkräftige Speisenbereitung, die allerdings unserem Geschmack zunächst wenig zusagt. Abgesehen aber davon, daß man in allen besseren Gasthöfen und Wirtshäusern gut und schmackhaft ißt, hat auch die häusliche Küche zwei nicht zu unterschätzende Vorzüge: ausgezeichnetes Fleisch und prächtige, selbst im Winter frische Gemüse, unter denen als bevorzugtes Nationalgericht unser Rosenkohl („spruitjes“) am häufigsten auf den Tisch kommt.

Es mag auffällig erscheinen, daß hier zunächst von den materiellen Lebensbedingungen die Rede war, aber der Niederländer ist, wie es zu allen Zeiten auch seine Künstler waren, in erster Linie Realist, er liebt sein häusliches Behagen und giebt nur ungern und selten den festen Boden des realen Lebens auf. Der hohe Flug der Phantasie ist dem Holländer nicht gegeben, ein vorwiegend praktischer Nützlichkeitssinn erfüllt das Volk der wasserreichen Ebene. Eines aber hat es sich in allen Zeiten seiner wechselvollen Landesgeschichte zu erhalten gewußt: die volle, uneingeschränkte Freiheit des Gewissens. Als sich der Abfall der Niederlande von dem damals übermächtigen Spanien vollzog, den Schiller so glücklich mit dem Satze kennzeichnet: … „Dieser Krieg, der einem friedfertigen Volk ein vorübergehendes Heldentum aufnötigte“, da galt es, in erster Reihe der religiösen Unduldsamkeit ein Ende zu bereiten und die Henkersknechte der spanischen Inquisition [475] zu vertreiben aus den verwüsteten Provinzen. Und da die kleine Zahl nach schwerem Ringen Sieger blieb, so fühlte sie sich auch stark genug, in Zukunft selbst die Leitung ihrer Geschicke in die Hand zu nehmen.

Das Gesetz („de Grondwet“) ist der eigentliche Herrscher in den Niederlanden, ihm beugt sich ohne Widerstreben der Höchste wie der Geringste. Die Oranier, denen seit den Tagen der nationalen Erhebung die Herzen des Volkes in warmer, ehrlicher Zuneigung entgegenschlagen, haben von jeher danach gestrebt, dem Volke zu geben, was ihm gebührt, und nichts konnte ihnen ferner liegen als ein Bruch der Verfassung. Der Inhaber der königlichen Gewalt ist unverletzlich, er kann nicht unrecht thun, denn die volle Verantwortlichkeit verbleibt dem Minister, ohne dessen Gegenzeichnung keine Gesetzesmaßregel vollzugskräftig wird. Die Wahlen zu den zwei Kammern der Generalstaaten vollziehen sich in vollster Freiheit, wie aüch die Presse vielleicht nirgends so völliger Selbständigkeit und Unabhängigkeit sich erfreut.

Als ich vor einigen Jahren die großen Auszüge und Zusammenrottungen der Socialisten in Amsterdam sah, als ich beobachten konnte, wie das berüchtigte Blatt der Socialdemokraten „Het recht voor allen“ („Recht für alle“) auf allen öffentlichen Plätzen und in den Lokalen von Hunderten gekauft wurde, obwohl es die gröblichsten Schmähungen der Königsfamilie enthielt, da schien mir der monarchische Sinn der Holländer nicht sonderlich lebenskräftig. Erst wenn man sich eingelebt hat in die den unseren vielfach geradezu entgegengesetzten Verhältnisse, in denen nichts verboten und alles erlaubt ist, gewinnt man den richtigen Maßstab auch für die Beurteilung der socialen und politischen Zustände des Landes. Die Königstreue der Holländer ist eine andere, eine nüchternere, als es sich mit der uns lieb gewordenen Auffassung verträgt; frei von der Leber weg wird alles behandelt, was das Königshaus betrifft, die ehrerbietige Scheu verschließt die Lippe nicht.

Das Königsschloß in Amsterdam ist ein altes, unscheinbares Gebäude, in dem so selten nur höfisches Leben erwacht; im Haag wohnt die Königssamilie sicherlich angenehmer; dort ist das Schloß moderner und freundlicher anzusehen. Ueberhaupt ist Amsterdam nicht eben reich an schönen Bauwerken; die Holländer haben sich erst seit den fünfziger Jahren etwa frei zu machen gestrebt von dem rein praktischen Kasernenstil, ohne aber bisher über ein gährendes Vielerlei hinaus zu einem eigenen Baustil gelangen zu können. Die eigentümlichen Schwierigkeiten der Bodenverhältnisse zwingen zu einer außerordentlichen Sparsamkeit in Bezug auf den Raumverbrauch, denn erst, nachdem die gehörige Anzahl von Pfählen in den nicht sehr festen Boden eingetrieben ist, wird derselbe tragfähig. Die natürliche Folge davon ist, daß man möglichst tief und hoch baut, während die Fassade schmal und unansehnlich bleibt. Dasselbe Sparsystem pflanzt sich bei der inneren Einrichtung naturgemäß fort; um die mangelhafte Breite gehörig auszunutzen, wird jeder Vorraum, jedes Nebengelaß so eng als möglich ausgeführt, und die Treppen haben eine gefährliche Aehnlichkeit mit dörflichen Hühnerstallstiegen. Von der glänzenden Einrichtung der Wohnränme stechen diese langen, schmalen und wenig geschmückten Häuserfronten auffällig ab; doch muß man berücksichtigen, daß bei dem völligen Mangel an natürlichem Baumaterial die Architekten meist auf verputzten und unverputzten Backstein sich angewiesen sehen, wollen sie die Baukosten nicht ins Ungemessene steigern.

Mit alleiniger Ausnahme der bevorzugten „Grachten“ sind alle Straßen eng; wer zum erstenmal, gleich hinter dem Schloß, in die weltberühmte „Kalverstraat“ gerät, der ist nicht wenig enttäuscht, wenn er gezwungen ist, von dem kaum mannsbreiten Bürgersteig auf den Fahrdamm abzubiegen und selbst hier noch nicht vor Püffen und Stößen sicher ist. Denn ein nie rastendes Treiben durchflutet diesen Teil der alten Handelsstadt, und bei der Abwesenheit beaufsichtigender Polizisten ist jeder genötigt, für seine eigene Sicherheit Sorge zu tragen. Doppelt belohnt aber für alle Mühsale und Enttäuschungen wird man durch einen Blick auf die glanzerfüllten Schaufenster; hier erst bemerkt man, daß man in einer reichen Stadt, nicht nur, nein, daß man im Paradies der Diamanten angelangt ist. In jeder Größe, gefaßt und ungefaßt, liegen die kostbaren Edelsteine da zur Schau, wahllos durcheinander gestreut wie von der Hand eines schätzereichen Schahs. Eine Promenade durch die Kalverstraat ist nicht ungefährlich für Frauenherzen, das Feuer der prächtigen Steine hat schon so manche versengt und dem Heimatlande abspenstig gemacht, um eine „brillante“ Partie in Holland einzugehen!

Ein gänzlich anderes Gepräge trägt der malerisch schönste Teil der Stadt, jenes enge Viertel, welches vom Amstelstrom in ungezählten Sträßchen und Gäßchen sich fast bis zur sogenannten „Plantage“ erstreckt. Wohl beginnt auch hier die Neuzeit einzudringen mit ihren Bauten modernsten Stils. Aber auf dem größten Teil dieses Gewinkels lagert noch eine tausendjährige Patina. Eine kleine Welt für sich läuft und schreit hier in buntfarbigem Gewimmel durcheinander. Dazu türmen sich auf den Straßen saftige Südfrüchte, goldfarbige Orangen, Citronen, Quitten, Datteln, Feigen; Gemüsehändler rufen ihre leckere Ware aus, der Milchmann setzt die Hausklingeln in Bewegung und ruft sein „melk, vershe melk“ in die Thüren hinein; Kinder stolpern und fallen übereinander, daneben wird gefeilscht, gestritten, geliebt, gehaßt, gehandelt und gebetet. Dort die nahe Synagoge mit der grünlich schimmernden Kuppel ist die geschichtliche und sagenhafte Stätte, wo Baruch Spinozas Lehrer, Uriel Acosta, seine revolutionären Thesen widerrief, um seinen Geist dem stürmisch mahnenden Herzen zu opfern.

Ueberreich ist der Stoff und allzu knapp nur bemessen der Raum; wir müssen uns daher hier einen Ueberblick über das geistige und künstlerische Leben der Niederlande versagen. Wohl sind die Zeiten der Rembrandt und Rubens, der Franz Hals und Wouverman lange vorüber, und die führende Rolle der niederländischen Meister in der bildenden Kunst ist ausgespielt. Aber die unvergänglichen Schätze eines großen Zeitalters sind zum größten Teil dem Königreich erhalten geblieben. Die Galerie im Haag, vor allem aber das großartige „Rijksmuseum“ in Amsterdam bewähren sie der staunenden Nachwelt auf.