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Titel: Alexandrien
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aus: Die Gartenlaube, Heft 30, S. 496–498
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Alexandrien.*[1]

Ein zeitgemäßes Städtebild.

Seit Jahren drangen frohe Botschaften vom heiligen Nilstrande zu uns herüber. Bald vernahmen wir mit Staunen von den Früchten einer mühevollen Arbeit zahlreicher Gelehrter, welche aus dem Schuttgerölle Aegyptens der Menschheit die wunderbare Geschichte einer wichtigen Culturepoche offenbarten, bald lauschten wir den Nachrichten, die von dem großen Friedenswerke einer die Meere verbindenden Handelsstraße berichteten, und mit freudiger Zuversicht maßen wir die Fortschritte, welche in jenem von der Natur so reich ausgestatteten Lande die abendländische Civilisation zu erringen schien.

Selbst gewichtige Kenner des Orients wiegten sich in der Hoffnung, Aegypten werde sich in kurzer Zeit zu einer Vormacht der Cultur mitten in der trägen und verfallenden mohammedanischen Welt gestalten, zu einer grünenden Oase der Bildung und Gesittung, von welcher aus neues Leben in die verwilderten Völker Nordafrikas und Kleinasiens strömen müßte.

Die letzten Tage haben viele dieser Hoffnungen Lügen gestraft. Ein elender Pöbel mordete auf den Straßen Alexandriens die Europäer in cannibalischer Weise und vertrieb mit Knüppeln die Pioniere des Welthandels und der Industrie. Hunderte von Menschenleben und Millionen an Werth sind in kurzer Zeit durch blinden Fanatismus zu Grunde gerichtet worden, und der wichtigen Handelsstraße von Suez droht in dem Augenblick, wo wir diese Zeilen niederschreiben, die gleiche Gefahr. Unter diesen Umständen kann ein Rückblick auf die Entwickelung der jüngsten ägyptischen Wirren, eine Schilderung von Land und Leuten, wie sie noch vor Kurzem am Nilstrande dem Auge sich darboten, unseren Lesern nur erwünscht kommen; denn auf Grund derselben werden sie die Höhe des Verlustes, welchen hier die europäische Cultur erleidet, am besten ermessen, einen Einblick in die Bedeutung der ägyptischen Frage gewinnen und wohl zu der Ueberzeugung gelangen, daß hier eine vielversprechende Culturblüthe in roher Weise zerknickt wurde.

Wir betreten das Land an jener Stelle, an welcher jetzt die Kriegsfurie zuerst losbrach und der dröhnende Donner der Geschütze den Beginn einer neuen Aera in der Entwickelungsgeschichte des Pharaonenlandes verkündete.

Etwa eine Stunde vor dem Hafen Alexandriens erblickt der Reisende fern am Horizonte den Leuchtthurm dieser Stadt, das einzige Zeichen, welches die Nähe des Festlandes verräth. Vergebens späht sein Auge nach dem schmalen Landstreifen, welcher sonst das nahe Ende einer Seereise zu bedeuten pflegt; denn die Küste Aegyptens ist flach und daher auf weite Entfernungen hin dem Auge nicht sichtbar. Aber schon dieser erste einsame Gruß, den der weiße Thurm dem Fremdling im Namen Alexandriens entgegensendet, ist geeignet, in seiner Seele eine Fluth glanzvoller und düsterer Erinnerungen zu wecken; denn wem würde der Anblick dieses schlanken modernen Bauwerks, von dessen Spitze in tiefer Nacht ein helles Licht den Schiffen den Weg in den Hafen weist — wem würde er nicht das Bild jenes alten Leuchtthurms von Alexandrien vor die Seele zaubern, welchen einst die alten Griechen unter die vornehmsten Wunder der Welt zählten?

Der stolze Bau des Sostratus hieß nach dem Eiland, auf welchem er errichtet war, Pharus, und nach ihm trugen ja später alle Leuchtthürme denselben Namen. Die sagenhafte Ueberlieferung von der Pracht dieses Wahrzeichens der Stadt, von der ehrgeizigen Schlauheit seines Baumeisters, der wohl auf dem äußeren Stuckwerk den Namen des königlichen Bauherrn, Ptolemäus Philadelphus, anbrachte, aber seinen eigenen in den inneren Stein eingrub, damit nach dem Verfall des Marmors sein Ruhm den künftigen Geschlechtern bekannt würde — diese und viele andere mit dem alten Leuchtthurme verknüpften Sagen lassen wie mit einem Schlage das alte Alexandrien in seiner märchenhaften Pracht vor unsern Augen auftauchen, bevor wir die heutige Stadt erblickt. Und so ziehen an uns die wechselnden Ereignisse der Jahrhunderte vorüber.

Einst lag an dieser Bucht des Mittelländischen Meeres, der Insel Pharus gegenüber, ein ägyptisches Fischerdorf, Rhakotis, in welchem auf seinen Kriegszügen der große Macedonier Alexander 332 v. Chr. Rast hielt. Hier erschien ihm im Traume ein würdiger Greis und redete ihn mit den Versen Homer’s an:

„Eine der Inseln liegt in der weit aufwogenden Meerfluth,
Vor des Aegyptos Strom, und Pharos wird sie geheißen.“

In Folge dieses Traumes, berichtet die Sage, beschloß Alexander an jenem Orte eine Stadt zu gründen, die zum Mittelpunkte des Handels zwischen dem Westen und Osten der damaligen Welt werden sollte. Der griechische Baumeister Dinokrates erhielt den Auftrag, den Plan der Stadt zu entwerfen, und er gab ihm die Gestalt eines Fächers. Unter seiner Leitung wurde auf dem ebenen Boden die Breite und Richtung der Straßen durch Auftragen weißer Kalkerde angedeutet, und als der Vorrath an derselben ausging, wurde Mehl zu diesem Zwecke verwendet. Da flogen zahlreiche Vögel herbei und fraßen das ausgestreute Mehl, was man allgemein als ein glückliches Vorzeichen mit Freude begrüßte.

Das Vorzeichen trog nicht. Bald ward Alexandrien zum Mittelpunkt des Handels, der Industrie und der Wissenschaft, und wohl steht das rasche Emporblühen der Stadt einzig in der Geschichte da; denn selbst das zauberhafte Wachsthum der Städte Amerikas in unserem Jahrhundert läßt sich kaum mit ihm vergleichen. Hier erhob sich das weltberühmte Museum mit zahllosen Sälen, Höfen und Säulengängen, mit vielen Abschreiberstuben und Buchbinderwerkstätten, mit jener großartigen zur Zeit Cäsar’s 900,000 Rollen umfassenden Bibliothek — der Sitz der Gelehrten, die der Wissenschaft und Kunst viele Generationen hindurch unter dem Namen der alexandrinischen Schule unvergeßliche Dienste leisteten. Hier stand die Wiege der Sprachenkunde, welche damals als Grammatik gepflegt wurde; hier blühten die Naturwissenschaften, von Männern wie Hero und Ptolemäus gefördert; hier ist das Ptolemäische Weltsystem aufgestellt worden, welchem bis zu Copernikus die gesammte Welt huldigte; hier wurden die Principien des ersten allgemein gültigen, von Cäsar eingeführten Kalenders ausgearbeitet; hier endlich wurde die christliche Lehre durch die Resultate griechischer Cultur veredelt und zur Weltreligion erzogen.

Auf die Tage der Blüthe folgte aber nach wenigen Jahrhunderten eine Zeit schwerer Prüfungen, und das leichtlebige, aus den Nationen des Orients und Occidents bunt zusammengewürfelte Volk von Alexandrien hatte viel zu leiden unter dem Druck der römischen Cäsaren, unter der späteren Nebenbuhlerschaft Byzantiums und unter den siegreich in seine Mauern einziehenden Nachfolgern des großen Propheten Mohammed.

Doch dem Reisenden bleibt wenig Zeit übrig zu weiteren geschichtlichen Betrachtungen. Schon steigt am Horizont ein Wald von Masten herauf; schon erheben sich am fernen blauen Himmel schlanke, rauchende Essen und die langausgestreckten Arme zahlreicher Windmühlen; schon mahnen die Spitzen der Minarets den Fremdling an die nahe Ausschiffung, und mit tausend neuen Bildern bestürmt und nimmt ihn gefangen das laute und bunte Treiben der Gegenwart.

Jetzt nahen Lootsen in orientalischen Gewändern auf leichten Booten dem Schiffe, und auf den blauen Wogen gleitet der Kiel sicher durch die enge klippenreiche Einfahrt in den alten Hafen von Alexandrien. Rechts erhebt sich das halbverfallene von Said Pascha erbaute Schloß El-Meks, an welches sich einige Strandbatterien anschließen, und zwischen ihnen und der Stadt grünen, zu Hainen vereinigt, hochgewachsene Palmen, die schlanken Töchter des Morgenlandes. An den vorspringenden Punkten des Strandes erheben sich einige Forts, die, mit guten Geschützen armirt, wohl die feindlichen Flotten von dem Hafen fernhalten könnten, aber man sagt uns, daß die europäischen Panzerkolosse die dort aufgestellte Artillerie nicht besonders zu fürchten brauchen.

Hinter dem großen Wellenbrecher eröffnet sich vor unsern Augen ein weites Panorama: im Vordergrunde der stark belebte Hafen, hinter ihm die Stadt mit ihrem verworrenen Häusermeer. Bald erscheint ein Sanitätsofficier am Bord, und das Schiff wird [497] von zahllosen Booten umschwärmt, aus welchen sich braune, zerlumpte Gestalten erheben und unter Geschrei und lebhaften Gesticulationen den Reisenden ihre Dienste anbieten. Aber man bemerkt unter ihnen auch elegantere Fahrzeuge, deren Bootsleute die Namen der berühmteren Hôtels, wie „Hôtel de l’Europe“, „Hôtel Canal de Suês“ etc. in großen Buchstaben auf der Brust aufgenäht haben; manche von ihnen schwenken auch Fahnen, auf welchen in Riesenlettern die Namen der Gasthöfe zu lesen sind. Kaum hat nach einigen kurzen Formalitäten der Sanitätsofficier das Schiff verlassen, so stürzt diese Rotte auf’s Deck und sucht sich des Gepäcks der Passagiere zu bemächtigen. Da heißt es, ein wachsames Auge zu haben und sich Hab und Gut von diesen Nachkommen der Pharaonen, griechischen und arabischen Sprößlingen nicht verschleppen zu lassen. Bevor wir uns aber unter dem Schutze eines dieser Gesellen der Stadt selbst nähern, werfen wir noch einen Blick auf den Hafen, der eine interessante Vergangenheit aufweist.

Plan von Alexandrien.

Im Alterthum ragten hier zwei Landspitzen gegen die Insel Pharus hervor, welche eine für die Schiffe sichere Bucht bildeten. Heute sucht das Auge dieses Eiland vergebens. Ptolemäus Soter verband nämlich das Festland mit der Insel durch einen mit zwei Durchfahrten versehenen und sieben Stadien (1300 Meter) langen Damm und trennte so den Hafen in zwei Theile, von denen der östliche den Namen der „große Hafen“ erhielt, während dem westlichen, in den wir soeben eingefahren sind, der Name Eunostos (das heißt der Hafen der glücklichen Heimkehr) beigelegt wurde. Dieser nach seiner Länge Heptastadion getaufte Damm, der zugleich den auf der Insel sich erhebenden Stadttheilen als Wasserleitung diente, verfiel mit der Zeit und wurde durch die in’s Meer geworfenen Trümmer der alten Stadt und herangeschwemmten Schlamm in eine etwa 1500 Meter breite Landenge verwandelt. So ist hier die Insel Pharus verschwunden und so entstanden die beiden auf der obigen Karte angegebenen Häfen, von denen gegenwärtig fast ausschließlich der „alte“ benutzt wird, da die Türken den „neuen“ durch Hineinwerfen des Ballastes unbrauchbar gemacht haben.

Es wird mit Recht behauptet, daß für den Touristen ein Tag genügt, um die Sehenswürdigkeiten Alexandriens in Augenschein zu nehmen*[2]. In der That sind auch von dem früheren Glanze der Stadt nur geringe Spuren übrig geblieben, und im Großen und Ganzen trägt sie nur in ihrem nördlichen, arabischen Viertel das orientalische Gepräge, während das nach dem Süden hin sich ausbreitende Frankenviertel sich von den europäischen Städten nicht wesentlich unterscheidet.

Früher ging der Tourist von dem großen Platze des Mohammed Ali, auch Platz der Consuln genannt, welcher mit der Reiterstatue des um Aegypten hochverdienten Regenten, zwei Fontainen und Baumpflanzungen geschmückt ist, an das Meeresgestade, wo in der Nähe des Bahnhofes, auf dem Hofe einer Steinmetzerei, die „Nadel der Cleopatra“ stand und wo neben ihr ein anderer Obelisk auf dem Boden lag. Heute sind diese beiden Sehenswürdigkeiten aus Alexandrien entführt, und der eine Obelisk ist im Jahre 1877 nach London, die Nadel der Cleopatra dagegen im Jahre 1880 nach New-York gebracht worden. Auf dem neblig-ruhigen Themsequai behagt es nicht dem Symbol des glänzenden Sonnenstrahls, und man fürchtet, daß der riesige Stein, der in Aegypten dem Zahne der Zeit durch Jahrtausende trotzte, in London verhältnißmäßig rasch von Wind und Wetter zernagt werden wird.

Wir haben von unserem Consul eine Einlaßkarte zu dem Schlosse des Vicekönigs auf dem Râs-et-Tin, dem Feigencap, erhalten, und nachdem wir an der Pforte desselben noch den üblichen Bakschisch entrichtet haben, treten wir in dasselbe ein. Die Gemächer bieten wenig Interessantes, schön ist dagegen von hier der Ausblick auf das Meer, auf die stillen Gebäude des „Harîms“, den Leuchtthurm und die Festungswerke. Welchen traurigen Anblick mag wohl heute dieses Palais bieten, das englische Bomben in Brand steckten, welchen Anblick die regelmäßigen Forts, deren Leib Hunderte von Geschossen durchwühlten?

[498] Ueber die sonnenerhitzten staubigen Straßen rollt unser Wagen dem Nilthore (Porte de la colonne Pompée) zu. Da liegt vor uns die mit Bastionen versehene Stadtmauer, wie man berichtet, aus den Trümmern der Befestigungswerke des alten Alexandrien errichtet. Diese alten Festungswerke, welche einst Cäsar stürmte und welche den Angriffen der römischen und griechischen Kaiser kräftig trotzten, wurden bekanntlich auf den Befehl des Chalifen-Feldherrn Amru geschleift, welcher geschworen hatte, die Stadt von allen Seiten zugänglich zu machen, wie das Haus des Lasters.

Hinter einem großen mohammedanischen Friedhofe, an dem wir vorüberfahren, erhebt sich auf einem Hügel das einzige noch ziemlich erhaltene Denkmal des alten Alexandrien, die schon von Weitem sichtbare, aus rothem Granit erbaute Pompejus-Säule. Ihr aus einem einzigen Steine gehauener gewaltiger Schaft ist 20,4 Meter hoch und hat unten einen Durchmesser von 2,7 Meter; oben krönt ihn ein roh gearbeitetes korinthisches Capitäl. Dieses im Ganzen 31,8 Meter hohe Denkmal wurde im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung von dem römischen Präfecten Pompejus dem Kaiser Diocletian zu Ehren errichtet, da er der Stadt während einer Hungersnoth Getreide geschenkt hatte.

Auf der Spitze dieser Säule stand wohl einst die Büste des Kaisers, nach einer anderen Ueberlieferung aber ein ehernes Pferd, welches die Alexandriner zur Erinnerung an eine schwere Zeit errichtet haben sollten: Es hatte sich ein gewisser Achilleus als Gegenkaiser in Alexandrien niedergesetzt, und der echte und rechte Kaiser Diocletian zog gegen ihn zu Feld. Acht Monate lang mußte er die Stadt belagern, bis sie endlich in seine Macht fiel und der Pseudokaiser Achilleus getödtet wurde. Diocletian ließ nun Alexandrien durch seine siegreichen Legionen plündern, und zornentbrannt gab er den Befehl, so viele der aufsässigen Bürger zu tödten, bis das Blut das Knie seines Schlachtrosses benetzen würde. Als aber der Kaiser durch die von Mord erfüllten Straßen ritt, stolperte sein Pferd über einen Leichnam und befleckte sein Knie mit Blut. Das hohe Gebot ward also erfüllt und dem Morden Einhalt gethan.

Es mag viel Uebertreibung in dieser Geschichte enthalten sein; etwas Wahres wird sie aber immerhin berichten; denn die Cäsarenherrschaft in Alexandrien hat sich mehrmals mit ähnlichen Schandthaten befleckt. Hat doch Caracalla, aufgebracht durch einige Witzworte, ein Blutbad unter den Bürgern anrichten lassen, daß das Meer im Hafen roth schimmerte, und hat er doch an den Senat in Rom berichtet, er habe jene Tage in Alexandrien fromm verlebt und den Göttern mit dem Schlachtvieh Menschen geopfert.

Von der Pompejus-Säule begeben wir uns zu den am Meeresstrande gelegenen Katakomben; in diesen in Stein gehauenen Grabkammern setzten die Aegyptier ihre Mumien und die Griechen ihre Todtenurnen bei. Heute ist diese Stätte des Todes von der Speculation in Steinbrüche verwandelt worden, und die düsteren Gewölbe werden bald von der Erdoberfläche verschwinden — vielleicht ist schon heute keine Spur mehr von ihnen vorhanden.

Aus dem Staub der Steinbrüche flüchten wir uns in das Grün des öffentlichen Gartens, Ginenet-en-Nuzha (Jardin pastré), wo die Gewächse der Tropen unter freiem Himmel gedeihen, wo uns der Schatten der Palmen zur Ruhe ladet. Wir sehen hier den berühmten Mahmudiye-Canal, der im Jahre 1819 von Mohammed-Ali gebaut wurde und an dessen Herstellung 250,000 Menschen ein Jahr lang arbeiteten. Auch die Werke der Cultur fordern ihre Opfer, und diese Wasserkunst, welcher Alexandrien sein neues Aufblühen verdankt, wurde nicht allein mit 7½ Millionen Franken, sondern noch mit 20,000 Menschenleben bezahlt. In Ginenet-en-Nuzha giebt sich die elegante Welt Rendez-vous. Es rauschen da wohl seidene Stoffe; es schimmert da wohl Gold, und es funkeln Edelsteine; denn die Griechen und Türken, die hier hausen, die Araber, die hier herrschen, die Franzosen und Engländer, die hier Handel und Industrie treiben, und die Juden, die hier Wechslergeschäfte verrichten — sie sind Alle wahrlich nicht arm. Elend und zerlumpt geht nur der Fellah einher, der Ureinwohner des Landes, der Nachkomme der Pharaonen, der mit dem Schweiße seiner Arbeit die oft kostspieligen Speculationen der Fremden und die verschwenderischen Launen seiner Regenten bezahlen muß. Ach, nur zu wahr ist das von einem Franzosen gesprochene Wort: „Unter der Peitsche des Steuereintreibers strömt aus den Adern des Fellahs Blut und Gold zugleich!“

Ein Reisender, der im vorigen Jahrhundert die Stadt besuchte, verglich sie mit einem Waisenkinde, dem von Allem, was sein Vater besessen, nichts übrig geblieben sei, als ein berühmter Name. Auf das heutige Alexandrien paßten diese Worte freilich nicht; denn Dank dem Einfluß der europäischen Cultur schien es zu neuem thatkräftigem Leben geweckt worden zu sein. Nach der Zählung vom Jahre 1877 betrug die Bevölkerung der Stadt 165,000 Seelen, darunter gegen 50,000 Fremde der verschiedensten Nationalitäten; sie besitzt Eisenbahnen, seit 1865 Gasbeleuchtung und eine neue Wasserleitung. Und wie einst Aegypter, Griechen und Juden in ihren Mauern ihren Cultus ungestört verrichteten, so erheben sich hier auch jetzt neben den Minarets christliche Kirchen, darunter eine protestantische, und jüdische Synagogen. Freilich — heute hat ein zügelloser Fanatismus die Fremden aus der Stadt verjagt; ihre Häuser stehen leer — vielleicht plündert der Pöbel ihre Kirchen. Hoffen wir, daß die barbarische Fluth bald zurückschäumt, daß in die Stadt wiederum Cultur und Gesittung den Einzug halten, um die Wunden zu heilen, welche blinde Unvernunft dem Lande geschlagen.

Doch in dem „halbfränkischen“ Alexandrien, dessen Straßen zum größten Theil französische Namen tragen, sind Aegyptens Land und Leute in ihrer nackten Urwüchsigkeit nicht zu schauen. Wer sie kennen lernen will, der muß weiter landeinwärts ziehen, der muß Ebers’ bezauberndem Rufe folgen:

„Auf denn nach Süden durch das Delta, den grünen Fächer, an dessen Griff, wie der Dichter sagt, als kostbarer Demantstein Kairo schimmert!“



  1. Während des Drucks dieser Nummer bringt uns der Telegraph die Nachricht von dem Brande Alexandriens und den in der Stadt begangenen Gräueln. Das von dem Verfasser diesen Artikels geschilderte Alexandrien dürfte somit aller Wahrscheinlichkeit nach als zerstört betrachtet werden. Wir bringen trotzdem diesen Aufsatz in unveränderter Form, da er für den Leser unter diesen Umständen wohl ein erhöhten Interesse beanspruchen darf.      D. Red.
  2. Vergl. „Meyer’s Reiseführer durch den Orient“, ein neu erschienenes Buch, dessen Lectüre heute allen denjenigen zu empfehlen ist, die sich über die ägyptischen Verhältnisse zu unterrichten wünschen.      D. Red.