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Artikel „Jerusalem, Karl Wilhelm“ von Jakob Minor in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 13 (1881), S. 783–785, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jerusalem,_Karl_Wilhelm&oldid=- (Version vom 4. Mai 2024, 00:42 Uhr UTC)
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Jerusalem: Karl Wilhelm J. ist mehr durch sein trauriges Ende und Goethe’s „Leiden des jungen Werther“, als durch seine philosophischen Schriften bekannt geworden. Als Sohn des berühmten Theologen Johann Friedrich [784] Wilhelm J. (s. o.) am 21. März 1747 zu Wolfenbüttel geboren, studirte er seit Ostern 1765 in Leipzig die Rechte, wo er mit Eschenburg Freundschaft schloß und im Vorbeigeben auch Goethe begegnete. Schon in Göttingen, wohin er im Herbst 1767 ging, finden wir ihn in der melancholischen, selbstquälerischen Stimmung, in welcher er in allen Vorfällen seines engen Lebens nichts als Sekkatur, in sich selbst und den Menschen nur „lustige Sekkatoren“ findet. Aber während sich diese innere Unruhe und Unzufriedenheit in den Briefen an Eschenburg ausspricht, der J. deshalb seinen wunderlichen Freund zu nennen liebte, – zeigt sich derselbe im persönlichen Verkehre mit Lessing ganz von der entgegengesetzten Seite. Im Juni 1770 wurde er als Assessor bei der Justizkanzlei in Wolfenbüttel angestellt; und Lessing lernte an ihm „einen wahren, nachdenkenden, kalten Philosophen“ schätzen. Ein Jahr später (Sept. 1771) wurde J. dem braunschw.-wolfenbüttelschen Subdelegatus bei der Kammergerichts-Visitation in Wetzlar, v. Höfler, als Secretär beigegeben und hier fanden sich alle die Motive zusammen, welche sein tragisches Ende veranlaßten. Goethe hat dieselben im zweiten Buche seines Werther nach authentischen mündlichen und schriftlichen Nachrichten geschildert. Eine gesellschaftliche Zurücksetzung, welche dem Subalternbeamten in der „noblen Gesellschaft“ bei dem Grafen Bassenheim (vgl. Werther, 2. Buch, Brief vom 15. März) widerfuhr, nahm J. als erwünschten Anlaß, sich in seiner beliebten Abneigung gegen die Gesellschaft und die Menschen zu bestärken. J. war von dem Freundschaftsenthusiasmus der Zeit mehr als andere angesteckt; aber er fand seine empfindsamen Bedürfnisse nirgends befriedigt. Nicht einmal seinem besten Freunde, dem Freiherrn von Kielmannsegge, vertraute er sich ganz an; in Goethe, mit dem er manchmal bei Freunden zusammentraf, fand er nur einen Zeitungsschreiber; noch härter urtheilt er über Gotter, der ihm aufrichtige Freundschaft entgegengebracht zu haben scheint und durch seinen Tod zu der berühmten Epistel über „Starkgeisterei“ (Merkur 1773, Julius 3–28) veranlaßt wurde. So fühlt er sich auf einsamen Spaziergängen im Walde und bei Mondenschein immer mehr verlassen; er lebt ganz ohne Geschöpfe, mit denen er auch nur eine einzige Empfindung theilen könnte. Wetzlar wird ihm immer mehr verhaßt; in vorahnendem Geiste nennt er den Schauplatz von „Werther’s Leiden“ eine Sekkopolis (Leidenstadt). Als Sohn eines wohlhabenden Mannes scheint J. niemals besondern Ernst und Ausdauer in seinen Geschäften gezeigt zu haben. Seine Thätigkeit bei der Gesandtschaft erschien ihm zu gering, er sah keine Nothwendigkeit in ihr und fand sie nur für die Nachwelt der Ratzen im herzogl. braunschweigischen Archive nützlich und gut genug. Das Mißverhältniß zu seinem Chef erregte vollends einen Ueberdruß und Ekel an jeder Arbeit in ihm (vgl. Werther, 2. Buch, Brief vom 17. Februar), sodaß der Gesandte nach vielen Zerwürfnissen mit J. endlich bei seinem Hof auf dessen Abberufung drang. Innere Unzufriedenheit mit sich selbst, ein allzu ängstliches Bestreben nach Wahrheit und Güte, endlich eine unglückliche Liebe zu der Frau des kurpfälzischen Geheimsecretärs Herd kamen hinzu und drängten ihn endlich zu dem Entschlusse, seinem Leben ein Ende zu machen. In der Nacht vom 29. auf den 30. Octbr. 1772 erschoß er sich unter Umständen, welche in Goethe’s Roman getreu auf die Nachwelt gekommen sind. J. ist nicht an einem blos persönlichen Zwiespalte zu Grunde gegangen, es stritten sich zwei Zeitströmungen in seiner Brust: die Periode der Aufklärung und die des Sturmes und Dranges. Er ist das erste der vielen Opfer gewesen, welche der neue Geist des Sturmes und Dranges unter den schwächern Zeitgenossen erlangte. Durch Goethe’s Roman, dessen thatsächlichen Beziehungen man sogleich bei seinem Erscheinen eifrig nachspürte, wurde der Tod Jerusalems in ganz Deutschland zu einem vielbeweinten Falle. Lessing, der J. nur von der einen Seite als Philosophen der Aufklärung kennen [785] gelernt hatte, gab in Opposition gegen Goethe’s Roman die „Philosophischen Aufsätze“ von J. heraus (Braunschweig 1776). Er rühmt in der Vorrede an seinem Freunde die Neigung zu deutlicher Erkenntniß, den Geist der kalten Betrachtung. Wie Mendelssohn’s Phädon neben den Schriften Leibnitz’ Jerusalems Lieblingslektüre war, so steht er hier ganz auf dem Boden der Aufklärungsphilosophie; überall anknüpfend an Mendelssohn oder die damals vielberührte Preisfrage der Berliner Akademie über den Ursprung der Sprache etc., immer nach den Grundsätzen der Leibnitz’schen Philosophie entwickelnd und widerlegend. Aber besser als ihn Lessing in vertrautem Verkehre in einem Zeitraume von einem Jahre kennen gelernt hatte, trat die wahre Gestalt Jerusalems Goethen, der seit sieben Jahren neben ihm herging, ohne sich ihm zu nähern, aus den Berichten der Freunde hervor. Der Verfasser der „Philosophischen Aufsätze“, der Jünger der Aufklärungsphilosophie wird bei Goethe zum Kraftgenie, zum Helden eines Sturm- und Drangromanes. Damit hat Goethe die andere Seite Jerusalems, welche Lessing unverstanden geblieben war, dargestellt. In der That hatte J., der Goethe verächtlich als Frankfurter Zeitungsschreiber bezeichnet hatte, gegen das Ende seines Lebens noch Gefallen an dem emancipirten Tone der Frankfurter gelehrten Anzeigen gefunden. Er klagt in faustischer Ueberhebung über die engen Grenzen, welche dem menschlichen Verstande gesetzt sind und trägt den Schmerz über die Unzulänglichkeit seiner Erkenntniß mit sich herum. So konnte J. mit Recht den späteren Genies als ein Vorbild dienen, welches sie bis auf die Aeußerlichkeiten der Kleidung nachzuahmen suchten.

Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem, herausgegeben von Gotthold Ephraim Lessing, Braunschweig, in der Buchhandlung des fürstl. Waisenhauses, 1776. – Goethe und Werther. Briefe Goethe’s, meistens aus seiner Jugendzeit, mit erläuternden Dokumenten. Herausgegeben von A. Kestner, königl. hannov. Legationsrath, Ministerresident bei dem päpstlichen Stuhle in Rom. Stuttgart u. Tübingen, Cotta’scher Verlag, 1854. – J. W. Appell, Werther und seine Zeit. Zur Goethe-Litteratur. Neue verbesserte und vermehrte Ausgabe, Leipzig, Verlag von Wilhelm Engelmann, 1865. – Elf Briefe von Jerusalem-Werther: Im neuen Reich, 1874, Nr. 25, 970 ff. – „Lessing u. Goethe“ von J. Minor in d. (Wiener) N. Fr. Presse v. 5. März 1881, Abendbl. Nr. 5938, S. 4. – W. Herbst, Goethe in Wetzlar, Gotha 1881, S. 59–76.