Wenn die Schakale feiern/Man wußte nicht, wessen das Morgen war

In Erwartung Wenn die Schakale feiern
von Hermann Sternbach
Welwale singt
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Man wußte nicht, wessen das Morgen war.

Man hatte den Tisch hart an die Wand gerückt, und im Winkel zwischen dem Tisch und dem hohen Räderkoffer saßen die Kinder zusammengeknickt. Etwa neun an der Zahl. Sie hielten sich an den Händen und zitterten wie fröstelndes Buschwerk. Sie bangten vor ihrer eigenen Furcht und sahen mit starren Augen in das Zimmerdunkel.

Vor wem man sich eigentlich fürchtete? dachten sie. Und wozu all die Anstalten wären?

Die Kinder wußten es nicht. Sie zitterten.

Kosaken!

Was das eigentlich wäre, diese Kosaken? Sie wußten es nicht – es waren gar junge Kinder. Schon hatte eines die Frage auf den Lippen. Es kam aber nicht weiter, denn Awrum legte seinen Finger auf den Mund und befahl leise: Scha! Man solle ruhig sein. Man müsse sich unbedingt ruhig verhalten.

Und die Versammelten knebelten förmlich ihren Atem und sahen unbewegt dem Gebaren Awrums zu, wie er ganz sachte die verhängten Fenster mit dichten, dunkeln Tüchern belegte. Daß kein Laut, kein Strahl hindurchkönne. Er zündete dann eine [9] schmale Kerze an und stellte sie auf einen niedrigen Schemel, daß ihre Flamme keinen Fuß hoch reichte und im Zimmer nur so geisterte.

Das Tor war verschlossen und mit einem Eisenstab verrammelt.

Alle waren still und warteten und saßen an der Wand zwischen den Fenstern oder in Winkeln, wo man vor einer verirrten Kugel sicher zu sein glaubte. Für heute war das Grausame erwartet. Ohne Warum. Seit dem Nachmittag hatte das Gerücht wie ein Lauffeuer die Gassen gepeitscht, und abends saß es schon in jedem Haus fest und kroch unter die Wangen und höhlte sie mit Maulwurfseifer. Es wollte keiner allein sein. Aus je drei oder vier Häusern kamen sie mit Kindern und Windeln bei einem Nachbar zusammen, bevor noch der Abend die Unmenschen zu ihrem Tun lockte.

In der Nacht sollte es aber losgehen. Der Kommandeur hatte den Kosaken diese Nacht geschenkt. Ganz einfach, wie man einen Rock verschenkt: „Soldaten! die Nacht ist euer!“ – hatte der Kommandeur gesagt. – „Und es darf keiner von der Sonne ertappt werden!“ – hatte er hinzugefügt.

Und die Nächte hatten sich schon so sehr ausgewachsen...

Awrum ging im Zimmer auf und nieder. Von den Jungens im Winkel abgesehen, war er der einzige Mann hier im Hause. Die anderen Männer waren eingerückt. Awrum gehörte zu den Alten. Zu den Alten, deren Vorsicht Vertrauen einflößt und deren Kraft, wenn’s nottut, einen sicher macht. Und [10] Awrum gehörte zu den Starken. Er war ein hoher, breitschulteriger und unerschrockener Jude. Es gab solcher in der Gasse nicht drei.

In der Tat: Awrum fürchtete nicht. In seinem mageren Gesicht waren Entschlossenheit und Bereitschaft. Sein langer grauender Bart lag wie ein Schild über seiner Brust und hob sich bei jedem Atmen. Er konnte wohl von den Kosaken niedergemacht werden. Da gabs keinen Starken. Doch dann starb er für Gott. Aber er fürchtete für die Weiber, für die Kinder, die in seinem Haus Schutz und Zuflucht suchten. Er selbst war sich jetzt der Gleichgültigste von allen.

Er warf einen Blick auf die Versammelten. Zag und bewegungslos wie Zaunpflöcke saßen sie da. Und die Kinder im Winkel zitterten und flatterten wie gewirbeltes Laub.

„Ihr könnet reden miteinander –“ ermunterte er sie.

„Die Fenster sind dicht verhängt –“ fügte er bekräftigend hinzu.

Weib und Kind atmeten erleichtert auf. Alle sahen sie zu ihm hin. Aber ans Reden kamen sie nicht. Denn was sie auf den Lippen hatten, war nur Würze für das Gruseln.

Im Zimmer war’s eng und schwül. Ein lichtsatter, heißer Septembertag war es gewesen.

„Daß die Septembertage so heiß sind –“ sagte Awrum, in der Absicht, die Kauernden aus ihrem sinnenden Schweigen herauszureißen und ein Gespräch zu erzwingen.

[11] „Ja, es ist wirklich heißer, als wir es sonst um diese Zeit haben –“ erwiderten kleinlaut zwei oder drei Weiber. Und das Gespräch stockte.

„Es waren heut sechzig Grad –“ kam es von Staschek her, der mit den Kindern im Winkel hockte.

„Unsinn –“ gab Awrum zurück. Um aber den Faden nicht zu reißen, fragte er, sich an Staschek wendend: „Woher weißt du das?“

Aber Staschek, um dessen Stirne acht junge Jahre wie acht Füllen spielten, schwieg.

Dem Alten war das Schweigen nicht lieb. Denn in stauenden Fluten lagerte sich die Angst auf der Oberfläche der Stille.

Er zog darum seine große silberne Uhr umständlich aus der Westentasche, drehte daran und tupfte mit den Fingern an der Kette entlang. „Es ist halber zehn die Uhr –“ sagte er, um den Bann des Geängstetseins zu brechen. Man hörte, wie das Räderwerk ticktackte. Ticktack, ticktack, ticktack. Dann schien’s, wie wenn das Ticktacken mit einemmal in die Tiefe des Schweigens eingesickert wäre. ...

Man hörte den Herzschlag der Stille – – –

Und dann kams, wie wenn eine Hand kleine, weiße Perlen an die Fensterscheibe würfe. Ein kurzes, silbernes Pochen. Im Zimmer zuckten sie zusammen. Alle zugleich, wie wenn sie sich an Händen hielten und einen Stoß erführen. Was war das nur? Sie horchten gespannt auf. Ihre bleichen Gesichter hatten etwas Fahles, Eckiges in diesem Augenblick bekommen.

[12] Awrum trat an die Wand heran, legte sein Ohr an den Fensterrahmen und lauschte. Sein Gesicht hatte er den übrigen zugewendet, die gleichfalls aufhorchten – mit aufgeschreckten, weit aufgerissenen, dunklen Augen. Sie wollten dort draußen Schritte gehört haben. Und ein Flüstern wie zwischen zweien. Man glaubte zwei verschiedene Stimmen gehört zu haben.

Pst! Stille!

Awrum schob behutsam Tuchrand und Fenstervorhang einen Fingerbreit zurück und lugte hinaus. Stockfinster war es. Nur ein Windeswehen trieb sich in den zerbrochenen Dachrinnen der Synagoge herum. Es drang durch Ritzen und Spalten, daß das Blech in Schwingung kam und nur so klingelte. Ob es nicht regnete, fragte wer. Er wisse nicht, sagte Awrum. Möglich sei’s schon, aber man könne nichts sehen.

Es war ihnen kühl geworden, denn ein Schauer lief durch ihre Poren. Die Frauen hüllten sich fester in ihre Tücher. Sie glaubten, jenes Pochen an die Fenster wieder herantreten zu sehen. Es kam nicht – Awrum lugte noch immer durch den schwarzen Spalt in den schwarzen Sack der Nacht hinein und er hörte nichts. Sah nichts. Oder er tat nur so, verdächtigten ihn die drinnen.

„Es ist ganz ruhig“ – sagte er. „Und ich glaube sogar, daß Welwale jetzt erst vom Bethaus heimgeht“. –

„Am Ende kann’s ja auch eine Lüge sein, das mit dem Nachtschenken –“ sagte eine junge Frau [13] ganz zaghaft, als wartete sie, daß die anderen ihr den Glauben an ihre eigenen Worte einredeten.

Die Kinder im Winkel waren wieder eingenickt. Sie schnarchten wie Alte und redeten durch den Schlaf. Ihre vagen Worte huschten gespensterhaft wie rumpflose Häupter durch das Zimmer. Auch von den Frauen war manche mit ihrer Angst in einen unruhigen Halbschlaf geraten.

Awrum war vom Auslug fort. Er ging im Zimmer auf und ab und hauchte sich in die Hände. Es mochte schon Mitternacht sein und man fühlte den Herbst. Zuweilen trat er an den Winkel zu den Kindern. Sah in ihre kleinen, von Angst geschmälerten Gesichter, und wie sich alle schlafend an den Händen hielten. Er sah sie schweigend an und dachte: „Eine traurige Welt, wenn Kinder sich vor Menschen fürchten –“.

Dann knallte es los. Heftig, hell und laut nacheinander. Teck! teck! teck! – Wie kurze, brennende Stundentage rann es in die Nacht.

Seit den Wahlen von neunzehnhundertelf hatten sie keine Schüsse gehört. Aber sie wußten, was Schüsse sind.....

Awrum blieb starr stehen. Die Weiber schnellten erschüttert in die Höhe und schrieen gellend auf: „Gott! unsere Kinder!“ und liefen durcheinander zu den Kleinen, die durch den Schlaf wimmerten.

Awrum gab’s einen Ruck. Aufrecht wie ein Pappelstamm blieb er vor ihnen stehen.

„Schweigt!“ – fuhr er sie an – „oder schert euch fort! Euer Gejammer wird uns alle hier verderben!“

[14] Sie sahen bittend zu ihm auf und weinten in sich hinein und murmelten Gebete. Aber ein Kind an der Brust war aus dem Schlaf gekommen und flennte laut, und das Wurm war nicht zu beruhigen. Alle waren sie nun giftig gegen das junge Geschöpf und dessen Mutter, und sagten ihr Bitteres, wie man es in der Not ohne Hülle zu sagen pflegt.

Die junge Mutter erwiderte nichts. Sie weinte nicht einmal mit ihren Augen. Sie wollte dem Kleinen die Brust in den Mund stecken? der nahm aber damit diesmal nicht fürlieb. Er radaute, daß man es bis in das fünfte Haus hören konnte –, meinten sie. Bis zu Chaim Bäcker.

Awrums Gattin verzweifelte, als sie die junge Mutter ansah, die ihr Kind zu beruhigen versuchte. Die pflegte es sonst wieder singend einzuschläfern. Und automatisch begann sie die ersten Worte einer üblichen Wiegenliederweise, brach aber bald ebenso automatisch in der Mitte des zweiten Wortes ab, als sie Awrums Gattin verzweifeln sah.

„Was wollt ihr von mir?“ rang diese die Hände. „Ist mein Haus eine Burg, eine Festung, wo man vor den Russen so sicher ist? Was hab ich euch getan, daß ihr mich und meine Kinder verderben wollt?“

Ihre Verzweiflung war auch nicht kleiner geworden, als sich das Kind endlich beruhigte und an der Brust seiner Mutter gierig zu saugen begann. Sie war sich mit Schrecken klar geworden, wie schön diese Mutter war und wie nahe hinter ihr das Unglück stand....

[15] Teck! teck! teck! – und wieder knallte es nacheinander ganz nahe, so schrecklich nahe. Und Pferdegetrappel in der Gasse.

Und ein wirres Hin- und Herrennen von Einzelnen, Schweigenden.

Und wieder Schüsse, die Einem nachzurennen schienen.

Und ein Klirren wie von zersprungenen Scheiben und Sprünge wie von Höhen.

Und einzelne harsche Worte; die klangen so, als hätten sie sich selbst gesprochen....

Und dann ein entsetzlich, schriller Aufschrei durch die Nacht, als hätte der Himmel seine Brust entzweigerissen und sich krachend zur Erde gestürzt.

„Rettet! rettet!“

Dann ward es still, als wäre die Nacht unter Wasser getaucht und versunken.

Die in Awrums Haus schluchzten Gebete. Daß die Seele rein zu Gott einkehre. Die Kinder! die Kinder!

Man wußte nicht, wessen das Morgen war – –