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Autor: Max Ring
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Titel: Wanderungen in und um Berlin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29–30, S. 460, 462–463, 471–473
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Wanderungen in und um Berlin.

1.
Berlin als Maria Stuart – Das alte Rathhaus – Das Gemeindeleben des alten Berlins – Der Pranger und die Placaten-Literatur – Das tanzende und trinkende Berlin.

Wie Maria Stuart darf auch Berlin von sich behaupten: „Ich bin besser als mein Ruf“. Der Süddeutsche hegt ein zum Theil nicht ganz unbegründetes Vorurtheil gegen die sogenannte Metropole der Intelligenz, die er sich noch immer als eine Anhäufung von langweiligen Casernen, Exercirhäusern und Reitschulen in einem wüsten Sandmeer denkt, bewohnt von zugeknöpften, schnarrenden Gardelieutenants und steifen Geheimräthen mit ihren bleichsüchtigen Töchtern, welche ausschließlich von dünnem Thee und noch dünneren Butterbroden leben. Selbst die besser Unterrichteten finden Berlin mit seinen neuen schnurgeraden Straßen und seinen hohen Häusern, mit seinen prachtvollen Museen und meist jämmerlichen Kirchen, mit seinem staubigen Thiergarten und der schmutzigen Spree uninteressant und – wie sich besonders die Gelehrten auszudrücken pflegen – unhistorisch. Wie die meisten Vorurtheile wird auch dieses bei genauerer Prüfung und sorgfältiger Untersuchung immer mehr schwinden. Zu diesem Zwecke genügt schon eine Wanderung durch die Straßen Berlins, die keineswegs so uninteressant sind, als ein flüchtiger Beobachter vielleicht zu glauben geneigt ist. Allerdings sind hier mehr als anderswo die Spuren der Vorzeit durch das schnelle Wachsthum in den Hintergrund gedrängt und zum Theil verwischt worden, aber trotzdem fehlt es auch in Berlin nicht an ehrwürdigen Reliquien, uralten Gebäuden und Denkmälern, steinernen Chroniken, die uns von dem Leben der Vergangenheit erzählen und von dem Thun und Treiben der Vergangenheit Rechenschaft geben. Wer dieselben sehen will, der darf sie freilich nicht in den eleganten Stadttheilen suchen, wo Palast an Palast emporsteigt, sondern in abgelegenen Gäßchen, in verrufenen Winkeln und in den minder genannten, von der feinen Welt nur selten besuchten Straßen.

Das historisch merkwürdige Berlin umfaßt gegenwärtig die Brüder-, heilige Geist-, Spandauer-, Stralauer-, Jüden-, Kloster-, Bischofs-, Pagenstraße etc., welche jetzt hauptsächlich dem Handel und der Industrie dienen. Wo sonst stolze Ritter und vornehme Patricier hausten, wohnt jetzt der betriebsame Kaufmann, der geschäftige Fabrikant und oft der schmutzige Trödler. Die materiellen Interessen haben den Sieg davon getragen, die moderne Industrie das feudale Mittelalter fast bis auf die letzte Spur verdrängt. Das Alte mußte vergehen, damit ein neues Leben sich entwickelte, die Sonderinteressen vor dem allgemeinen Wohle schwinden, die Bevorrechtung einzelner Stände, ihre Freiheiten und Privilegien dem Recht und der Freiheit Aller weichen. Es ist dies ein allgemeines Naturgesetz, daß jede Neubildung nur auf Kosten einer früheren Schöpfung geschieht, daß die Blüthe verwelken muß, damit die Frucht sich erst daraus entwickeln kann. Ein solches Gefühl überkommt unwillkürlich den Wanderer, wenn er das alte Berlin durchschreitet, um unter dem geschäftigen Lärm des Tages und dem rastlosen Treiben der Gegenwart die Trümmer und Reliquien der Vergangenheit zu suchen, jene wunderlich alten Häuser mit engen, finstern Treppen, lang gestreckten, dunklen Höfen und kleinen, niedrigen Zimmern, jene altersgrauen Kirchen, aus rohen Quadern gebaut, jene oft unscheinbaren bemoosten Steine und Denkmäler, welche eine Fülle historischer Erinnerungen erwecken.

Wir stehen vor einer solchen Ruine, die in diesem Augenblicke einer mächtigen Umwandlung entgegengeht, vor dem alten Berliner Rathhause an der Ecke der Spandauer- und Königsstraße. Von dem früheren Gebäude, das aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt, sind nur noch wenig Spuren erhalten, und auch diese werden bald für immer schwinden, da sich an derselben Stelle ein neuer prächtiger Bau erhebt. Das alte Rathhaus hatte das Unglück, in den Jahren 1380, 1484 und 1581 vom Feuer stark beschädigt zu werden, wobei viele werthvolle Documente mit verbrannt sind. Im Jahre 1693 wurde es nach dem Plane des [462] berühmten Architekten Nering gänzlich umgebaut, erweitert und renovirt; 1840 verlor es den aus jener Zeit noch stammenden Thurm, den einzigen Schmuck, den das graue, finstere und in keiner Beziehung seiner Bestimmung und geschichtlichen Bedeutung würdige Gebäude auszuweisen hatte. – In jenen alten Tagen besaß der Berliner Rath eine fast fürstliche Gewalt, indem er in seiner Hand die Communal-, Gerichts- und Polizeigewalt vereinigte. Anfänglich besaß Berlin, wie die meisten alten Städte in der Mark, eine vollkommen demokratische Verfassung. Die angesessene Bürgerschaft wählte zwölf Rathsherren aus ihrer Mitte, welche jedoch, ohne die gesammten Bürger zu befragen, nichts Wichtiges vornehmen durften. Von den Rathsmännern schieden jährlich Viere aus, die durch neue Wahlen ersetzt wurden. Daher findet man in den alten Urkunden die häufig vorkommende Bezeichnung: „Rademanne olde und nye“ (Rathmänner alte und neue). Schon im Jahre 1280 scheinen jedoch die Rathmänner von Berlin nach einer oligarchischen Regierung getrachtet zu haben, indem sie die Zustimmung der Bürger zu umgehen suchten, was zu mannigfachen Streitigkeiten Veranlassung gab. Unter dem Kurfürsten Sigismund erreichte endlich die aristokratische Partei ihr Ziel, indem von nun an nicht mehr die gesammte Bürgerschaft zur Wahl zugelassen wurde, sondern Bürgermeister und alte Rathmänner die neuen jährlich durch Stimmenmehrheit erwählten, so daß diese Aemter und Würden in bestimmten Patricierfamilien, die sich nach und nach in Berlin eingefunden oder allmählich gebildet hatten, so gut wie erblich wurden. Natürlich waren die gemeinen Bürger mit diesen Neuerungen keineswegs einverstanden; sie erregten Unruhen, und diese boten den Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern, da von ihnen Abhülfe gefordert wurde, willkommene Gelegenheit, sich in die innern Angelegenheiten der Bürger zu mischen und ihre freie Verfassung zu beseitigen. Dies geschah unter Friedrich II., den die über die Willkür des Raths empörten Bürger und Gewerke zum Schiedsrichter herbeiriefen. Durch seinen Ausspruch, dem sich die Rathmänner fügen mußten, wurde die bisherige Verfassung vollkommen aufgehoben. Der neue Rath sollte, wie es in der betreffenden Urkunde heißt, jährlich „frumme Lüte, sunderliken ut den Vierwerken verran (voran) und den „gemeynen Bergern“ to Borgermeister und to Ratmannen kesen (wählen).“ Zum Lohn stellte der Kurfürst die Bedingung, daß er fortan die Thorschlüssel der Stadt haben sollte. Die Wahlen wurden auch nicht eher für gültig angesehen, bis der Kurfürst sie zuvor bestätigt. Indem das Haus Hohenzollern sich mit den demokratischen Volkselementen gegen die angemaßten Rechte einer patricisch-oligarchischen Partei verband, gelang es ihm, seine eigene Macht zu vergrößern und den Grundstein zu der nothwendigen Einheit des Staats und der Souverainetät, allerdings auf Kosten der bürgerlichen Selbstständigkeit und Freiheit, zu legen.

In jenen Zeiten wurde auch von der Stadt auf dem Rathhause die Gerichtsbarkeit ausgeübt. Auch dieses Privilegium ging im Jahre 1484 mit vielen andern an Friedrich II. von Hohenzollern verloren. Damals verschwand auch der steinerne „Roland“, der auf dem Molkenmarkte stand und als Zeichen des der Stadt verliehenen Blutbannes galt. Die Gerichtsverhandlungen fanden öffentlich, im Freien und vor dem gesammten Volke statt; nur bei schlechtem Weiter wurden sie in der „Laube“, einer offenen Halle des Rathhauses, abgehalten. Der Schulze war der Vorstand des Gerichts, bei dem die Klage angebracht wurde; er berief die Schöppen, ähnlich unseren heutigen Geschworenen, um das Urtheil zu fällen. Auch die das Gericht umstehenden Zuschauer, welche theils Neugierde, theils Interesse herbeigeführt, blieben nicht unthätig. Sie bildeten den sogenannten „Umstand“, der zwar von dem eigentlichen Gericht durch eine Schranke, oft nur durch ein bloßes Seil getrennt war, aber häufig, zumal wenn er aus alten und erfahrenen Leuten bestand, um Rath und Beistand bei der Findung und Abfassung des Urtheils befragt und angegangen wurde. Der Schulze oder Richter mußte das so gefaßte Urtheil aussprechen und vollstrecken, wobei ihm nicht gestattet war, auch nur die geringste Veränderung weder im Wortlaut noch an der Strafe vorzunehmen. Das Gericht war im eigentlichsten Sinne ein volkstümliches und weit demokratischeres Institut als unsere Geschworenen, da auch die Umstehenden aufgefordert wurden, ihre Meinung in schwierigen Fällen abzugeben und die Verhandlungen durchaus den Charakter der unbeschränktesten Öffentlichkeit und Freiheit zeigten.

Dicht an dem alten Berliner Rathhause und zwar in der Spandauer Straße stand auch der Pranger, damals der „Kaak“ genannt, ein Pfahl mit einem eisernen Halsbande, woran die Verbrecher angeschlossen und von dem Büttel öffentlich gezüchtigt wurden. Noch zu einem andern Zwecke wurde in früheren Zeiten der Pranger gebraucht und zwar zum Anheften von Placaten und Carricaturen. Jedem Bürger war es mit Bewilligung des Magistrats erlaubt, derartige „Scheltbriefe“ anzuschlagen, wenn ihm Jemand das Wort gebrochen oder sonst treulos an ihm gehandelt hatte. Der Schreiber eines solchen Pamphlets stand daneben und las mit lauter Stimme dem Volke seinen Angriff vor, erläuterte auch die dazu gehörigen Carricaturen zum Ergötzen des Publicums, das an diesem mittelalterlichen „Kladderadatsch“ seine Freude hatte und die etwas derben, oft zotenhaften Witze laut belachte. Allerdings mußte aber auch der Scribent für die Wahrheit seiner Beschuldigungen einstehen, widrigenfalls er dieselben Strafen zu erleiden hatte, die den Gegner für sein Vergehen trafen. Wurde ihm bewiesen, daß er gelogen, so mußte er seinen Scheltbrief öffentlich ablesen, dann mit der eigenen Hand sich einen Schlag auf den Mund geben und hinzusetzen: „Mund, als Du das sprachest, da logest Du die Worte.“ Hiermit war er also für sein ganzes Leben ehrlos erklärt, ein großes Unglück in jenen Tagen, wo die Ehre noch als das höchste Gut des Mannes galt. Das alte Berliner Stadtbuch bemerkt zu der betreffenden Verordnung ganz treuherzig: „Gott gebe, daß brave Leute es dazu nicht kommen lassen, sie verschlagen ja Leuten an Ehren. Doch sind deren viele, die selber sich muthwillig in Unehren bringen, aber sie sind nicht darum rechtlos, was wohl zu unterscheiden ist.“ Als ein Pröbchen der damaligen Placaten-Literatur mögen folgende Anreden dienen: „treuloser, vor der Welt aufgeblasener Betrüger, Lügner, Schelme, Beutelschneider, Schmutzteufel, falsche, siegellose, unehrliche, glaublose, böse, lügenhafte Leute, die Lügen mit Siegeln und falschen Zeugen getrieben, denen Betrug keine Schande deucht.“ – Auch die Carricaturen waren von demselben Schlage und meist so kräftiger Art, daß sie sich unmöglich wiedergeben lassen, da, wie bekannt, unsere Vorfahren eine Portion unfläthigen Humors vertragen konnten und nicht so zart und empfindlich in gewissen Dingen waren, wie unsere jetzige, darum aber schwerlich sittlichere Generation.

Nicht immer ging es so streng und ernsthaft auf dem Berliner Rathhaus zu, sondern oft genug herrschte daselbst laute Luft und ausgelassene Fröhlichkeit. Bei festlichen Gelegenheiten wurde daselbst geschmaust und gezecht und wohl auch ein Tänzchen veranstaltet, wobei natürlich das schöne Geschlecht nicht fehlen durfte. Als der wilde Ritter Quitzow nach langer Fehde sich wieder mit der Stadt Berlin vertrug, da wurde ihm zu Ehren ein prächtiges Gastmahl gegeben, und bis zum Morgen tanzte der eben so galante als raublustige Herr mit den schönen Töchtern der Rathsherren und Geschlechter. Wie tanzlustig unsere Vorfahren aber waren, dafür spricht die alte Verordnung, welche den Bürgern bei Strafe verbietet, nach dem Läuten der Abendglocke auf den Straßen zu tanzen. Vielleicht dürfte es für unsere schönen Leserinnen nicht ohne Interesse sein, die verschiedenen Namen der Tänze und die betreffenden Touren kennen zu lernen. Da gab es einen „Zwölfmonatstanz“, worin die Paare durch verschiedene Bewegungen das Ab- und Zunehmen des Mondes und das Kommen und Schwinden der Jahreszeiten symbolisch ausdrückten. Sehr beliebt war der „Todtentanz“, wobei ein Tänzer niedersank und den Todten spielte, während er von allen anwesenden Damen im Vorbeischreiten geküßt wurde. Zuweilen übernahm auch wohl eine Jungfrau die Stelle des Verstorbenen und ließ sich zur Abwechslung von den Herren küssen. Jedenfalls verdiente dieser Tanz wieder Mode zu werden. Der „polnische Tanz“ bestand nach einer alten Beschreibung „in großen Reverenzen, lieblichem Neigen mit Kippen und Wippen“ und war muthmaßlich unserer Polonaise sehr ähnlich. Im „Taubentanz“ wurde das Trippeln der Tauben und vielleicht ihr zärtliches Liebesgirren nachgeahmt, während der „Schmoller“ das Schmollen und die Versöhnung der Liebenden darstellte. Das „Zäunen“ scheint die größte Aehnlichkeit mit unserer ebenfalls veralteten Ecossaise gehabt zu haben und der „Drehtanz“ unser gewöhnlicher Walzer mit entsprechenden Modifikationen gewesen zu sein.

Wie den Tanz, so liebten die alten Berliner auch einen guten Trunk, den sie in dem „Rathskeller“ fanden, der aber nicht im Rathhause selbst, sondern in der Nähe lag, wo jetzt das Haus Nr. 64 in der Spandauer Straße steht. Unsere Vorfahren waren kluge [463] Leute und ließen nicht so leicht den Wein hinaus, der einmal in ihre Stadt gekommen war. Jeder Weinhändler mußte seinen Wein in dem Stadtkeller ausschenken; nur wenn dieser vollständig gefüllt war oder bessere Waare ankommen sollte, war es ihm gestattet, den Wein außerhalb zu verkaufen. Sobald ein Weinhändler ein Faß fremden Weins nach Berlin brachte, so meldete er sich beim Rathe, der das Faß in den Rathskeller bringen, untersuchen und den Preis festsetzen ließ. Hiermit erhielt er erst die Erlaubniß, den Wein zu dem bestimmten Preise auszuschenken. War der Weinhändler mit der Abschätzung nicht zufrieden, so konnte er das Faß zuschlagen und damit weiter in’s Land ziehen, wenn er zuvor ein Lagergeld von vier Schillingen entrichtet hatte. Auch war es ihm gestattet, seinen Wein „auf der Stadt Gerechtigkeit“ auszuschenken, d. h. gegen eine von der Stadt bestellte, übermäßig hohe Abgabe den Preis selbst festzusetzen und ihn so theuer als möglich zu verkaufen. Alle diese Bestimmungen galten indeß nur für die fremden Weine, während die einheimischen Erzeugnisse von jedem derartigen Zwange frei waren. In der Mark und vor den Thoren von Berlin wurde ein ganz ansehnlicher Weinbau betrieben, wofür noch Namen wie die „Weinmeisterstraße“, „Wolank’s Weinberge“ etc. hinlänglich Zeugniß ablegen. Dieser Landwein wird wahrscheinlich seinem Naumburger und Grünberger Collegen an Säure und sonstigem Geschmack nichts nachgegeben haben.

Von der Leistungsfähigkeit der alten Berliner im Trinken haben wir mancherlei historische Beweise; so erzählt der alte Chronist Lockel: „Als Landgraf Moritz mit einem Gefolge von 3000 Pferden zu Berlin 1526 war, wo er sich zehn Tage aufhielt, sind Herr und Knecht so mächtig voll nach Spandau gegangen, daß sie fast das Spandauische Thor nicht finden konnten.“ – Der gelehrte Abt Johannes Tritheim schildert im Jahr 1505 den Charakter und die Sitten der Märker im Allgemeinen und der Berliner insbesondere folgendermaßen: „Das Land ist zwar gut und sehr fruchtbar, aber es bedarf fleißiger Bearbeitung, da es sehr weitläufig und von großem Umfange ist, die wenigen und überaus faulen Bauern aber Trunk und Müßiggang mehr lieben als die Arbeit. Wir können überhaupt von ihnen sagen: die Märker werden durch Gelage und Müßiggang arm, durch Fasten krank und durch Trinken beschleunigen sie den Tod. Ihre größere Zahl ist der Völlerei überaus ergeben, so daß hier zu Lande Leben fast nichts anderes heißt als Essen und Trinken.“ – Ein gewisser Andreas v. Röbell, der lustige Rath des Kurfürsten, erhielt das einträgliche Kanonikat zu Havelberg, wogegen er folgendes Document ausstellen mußte: „Als verpflichte ich mich dakegen hiemit ausdrücklich, daß S. Churf. Gnaden meynes Bartes zu sambt Grundes und Bodens mechtig seyn soll. Desgleichen will ich mich des Vollsaufens enthalten und auf jede Malzeit mit zween ziemblichen Bechern Weins und Biers die Malzeit schließen. Infall ich aber ohne Ihre Churfürst. Gnaden erlaubens dieses übertretten Und ich drunken befunden werde: Als soll und will ich mich so baltt ich gefordert werde in der Kuchen einstellen und mit vierzigh Streichen weniger einem Jemaßen dem heiligen Paulo geschehen, von denen, so Ihr Gnaden darzu verordenen werden, mit der Rutte geben lassen.“ – Ein Geistlicher entwirft in einer Leichenrede auf einen märkischen Edelmann aus dem Jahre 1604 ein Bild von den Sitten der Schlemmer: „und Epikurische Weltkinder, welche alle Tage mit Saufen und vollen Magen leben, und führen zu ihrer Ordensregel daß Symbolum, oder den Reimspruch deß Epikuri: Ede, bibe, lude, post mortem nulla voluptas, das ist so viel gesagt:

Die beste Speis; jag durch den Kragen;
Mit Bier und Wein füll stets den Magen,
Stirbstu einmal, so ist es auß,
Dort ist kein Lust, leb hier im Sauß.“ –

[471]
Das älteste Privathaus Berlins – Wie man König in Preußen wurde – Ein Literaturhaus – Das Haus der Aussätzigen – Der Hosenteufel.


In der Spandauer Straße steht auch das älteste noch vorhandene Privathaus in Berlin, welches gegenwärtig die Nummer 49 führt. Es gehörte dem berühmten und reichen Geschlechte der Blankenfelde, das außerdem noch die Güter Pankow und Weißensee besaß. Wie eine im Hause befindliche Tafel besagt, wurde das Haus im Jahre 1380 von einer Feuersbrunst verzehrt und später in seiner jetzigen klosterähnlichen Gestalt wieder aufgebaut. Besonders schön soll das Eckgemach gewesen sein, in Form einer Kapelle mit herrlichen bunten Glasfenstern und mit einem mächtigen Pfeiler in der Mitte, der die gewölbte al fresco gemalte Decke trug. In diesen Räumen wurde der allgemein gefürchtete Dietrich von Quitzow zur Zeit, wo er mit den Berlinern auf einem freundschaftlichen Fuße stand, von dem damaligen Bürgermeister Blankenfeld bewirthet und, wie der alte Chronist Engel naiv erzählt, „zu herrlichen Panketen geladen, dabei köstliche Weine, allerlei Saitenspiel, schöne Weibsbilder und was dergleichen mehr zur Freude und Fröligkeit dienen möge, gewesen. Ihn auch Abends mit Laternen, Fackeln, Gesängen und andern Freudenspiel nach Hause beleitet.“ In den katholischen Zeiten war hier eine Zeit lang ein Convent, der durch die Reformation beseitigt wurde. Der Sage nach führte ein unterirdischer Gang von dem alten Gebäude bis nach dem grauen Kloster in der Klosterstraße; jedoch hat man trotz aller Nachforschungen keine Spuren einer derartigen Verbindung aufgefunden. An der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts kam das Haus in den Besitz des berühmten Kammergerichtsraths Seidel, später war es Eigenthum des Geheimraths Stephani, der es 1721 einem Kaufmann Röben überließ. Wie die meisten Häuser der Spandauer Straße dient es gegenwärtig zum Geschäftslocal.

Das Haus Nr. 72 in der Spandauer Straße gehörte dem Etatminister Freiherrn von Bartholdi, der, wie der bekannte Baron von Pöllnitz in seinen Memoiren behauptet, durch ein glückliches Mißverständniß dem Hause Hohenzollern die preußische Königskrone erwarb. Seitdem August der Starke von Sachsen König von Polen geworden, hatte der Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg keinen andern Wunsch, als ebenfalls die königliche Würde zu erlangen. Vergeblich hatte sich sein Gesandter in Wien, Graf Christoph von Dohna, bemüht, die nöthige Einwilligung des Kaisers Leopold zu diesem Schritte zu gewinnen. Was jedoch der feinsten Diplomatie nicht gelang, sollte der wunderliche Zufall bewirken. Der Gesandte, an dem glücklichen Ausgange der bisher gepflogenen Unterhandlungen verzweifelnd, hatte um seine Abberufung gebeten und sie auch erhalten. In seiner Abwesenheit versah der preußische Resident in Wien, Geheimer Rath Bartholdi, die Geschäfte. Dieser erhielt vom Hofe in Berlin eine Depesche in Chiffreschrift, worin ihm aufgetragen wurde, noch einen Versuch zu machen und einen einflußreichen kaiserlichen Minister zu bestechen. Der Name des Betreffenden war jedoch unleserlich; Bartholdi glaubte, daß damit der Pater Wolff, ein Jesuit und Beichtvater des Kaisers, gemeint sei. Der Jesuit fühlte sich geschmeichelt, daß einer der mächtigsten protestantischen Fürsten sich an ihn wendete; er gebrauchte seinen bedeutenden Einfluß und zwar mit so gutem Erfolge, daß Leopold seinen bisherigen Widerstand schwinden ließ [472] und seine Zustimmung dazu gab, daß der Kurfürst von Brandenburg König in Preußen, wie die Formel lautete, wurde. Nach einem andern Bericht hatte Bartholdi die Depesche, welche ihm anrieth, den Pater Wolff zu vermeiden, gänzlich mißverstanden und verwenden dafür gelesen. Die Jesuiten erhielten 200,000 Thaler zur Belohnung für ihre Dienste; der ebenso staatskluge als tapfere Prinz Eugen erkannte allein die Bedeutung dieses Ereignisses, indem er den charakteristischen Ausspruch that: „Die Minister, die dem Kaiser gerathen haben, den König in Preußen anzuerkennen, verdienten gehangen zu werden.“ Bartholdi, der aus einer bürgerlichen Familie stammte, wurde mit Geld und Ehren überhäuft und zum Etatminister erhoben. Sein Haus aber gelangte später in den Besitz des bekannten Kapellmeisters Graun, der ein Liebling Friedrich des Großen war und durch eine glänzende Heirath sein Glück gemacht hatte. Hier componirte er eine Reihe trefflicher Werke, von denen sich die berühmte Cantate „der Tod Jesu“ noch heute einer großen Popularität erfreut und jährlich während der Osterwoche in der hiesigen Garnisonkirche ausgeführt wird.

Von den Häusern, welche in der Spandauer Straße einen Theil des jetzigen General-Postamtes bilden und noch aus dem sechzehnten Jahrhunderte stammen, gehörte Nummer 21 dem berühmten Staatsminister von Meinders, Nummer 22 dem Feldzeugmeister Grafen von Sparr; hier fanden die früher längere Zeit sehr besuchten Flies’schen Concerte statt, der Sammelplatz der Berliner Musikfreunde im Anfange unseres Jahrhunderts. –

In derselben Straße Nummer 68 wohnte einige Zeit Lessing mit seinem Freunde Mylius im bescheidenen Dachstübchen, zuletzt aber Moses Mendelssohn, der das Haus kaufte und darin starb. An diese bescheidenen Räume knüpft sich eine der größten Epochen unserer deutschen Literatur; in Gemeinschaft mit seinen Berliner Freunden Nicolai und Mendelssohn ließ der damals jugendliche Lessing „Briefe die neueste Literatur betreffend“ erscheinen; hier wurde der „Phädon“ von Mendelssohn geschrieben, hier studirte Lessing das Original zu seinem Nathan; hier wurde jener schöne Freundschaftsbund zwischen dem Christen und Juden geschlossen, ein leuchtendes Vorbild humaner Duldung und höchster Toleranz, hier die Saat der schönen Menschlichkeit ausgestreut, die hundertfältige Früchte trug. Das kleine, unansehnliche Haus verwandelt sich vor unsern Augen in einen strahlenden Tempel, beschienen von der leuchtenden Sonne der wahren Aufklärung und echten Menschenliebe. Eine Gedenktafel mit goldenen Buchstaben bezeichnet die Stätte, wo Lessing und sein Freund Mendelssohn oft bis nach Mitternacht in philosophischen und literarischen Gesprächen verkehrten oder vertieft bei ihrer Schachpartie saßen. – Aber noch andere Geister umschweben diesen Ort und wecken die Erinnerung an jenes erste Aufblühen der Berliner Geselligkeit, an jene Tage, wo Bildung und Intelligenz die Schranken des Vorurtheils durchbrachen, wo die Töchter Mendelssohns mit ihren jüdischen Freundinnen von vornehmen christlichen Cavalieren aufgesucht wurden, wo Wilhelm von Humboldt zu den Füßen der schönen Henriette Herz schmachtete, wo der Geist zum Adelsbriefe wurde und sich mit Hülfe dieser frischen belebenden Elemente eine neue Gesellschaft bildete, deren Zierden eine Rahel, ein Schleiermacher, Schlegel und noch viele andere große und bedeutende Männer waren, zu welcher der geniale Prinz Louis Ferdinand, Gesandte, Minister und Diplomaten sich drängten, indem sie dazu beitrugen, die Standesunterschiede zu beseitigen und eine wahrhafte Republik der Geister zu bilden. –

Einige Schritte genügen, um uns aus dem Jahrhundert der Aufklärung und Toleranz wieder in die dunkle Zeit des Mittelalters zu versetzen. Am Ausgange der Spandauer Straße, da, wo sie in die neue Friedrichsstraße mündet, lag „das Hospital nebst der Kirche zum heiligen Geiste“ an derselben Stelle, wo sich Beide, wenn auch in veränderter Gestalt, noch gegenwärtig befinden. Eine unverbürgte Tradition nennt eine Jungfrau aus dem edlen Geschlechte der Salzwedel zu Stendal als die Stifterin des Krankenhauses. Der Name selbst rührt von dem frommen Orden des heiligen Geistes her, der sich im Mittelalter hauptsächlich mit der Pflege der armen „Aussätzigen“ beschäftigte. Die Krankheit, welche wahrscheinlich aus dem Orient durch die Kreuzzüge nach Europa kam, war damals allgemein verbreitet, und die davon Befallenen befanden sich in der bejammernswerthesten Lage. Sie wurden von aller Welt und selbst von ihren nächsten Angehörigen gemieden, so daß ihnen keine weitere Zuflucht blieb als das Spital, worin sie bis zu ihrem Tode eingeschlossen waren. Wer von ihnen sein Gefängniß verließ, wurde mit den härtesten Strafen belegt und sogar für „vogelfrei“ erklärt, so daß Jeder ihn auf der Stelle tödten durfte. Ein derartiges Haus der Aussätzigen, domus leprosorum, war das „Spethal“ oder Spittel zum heiligen Geist in der Spandauer Straße, welches zum ersten Male in dem Gildebriefe der Berliner Bäcker vom 18. Juni 1272 erwähnt wird, wornach das zu leicht befundene Backwerk zur Strafe confiscirt und den Kranken zur Nahrung überliefert werden sollte. Das heilige Geist-Hospital ist bis in die neueste Zeit seiner Bestimmung treu geblieben, nur seine äußere Physiognomie hat sich wesentlich und zu seinem Vortheile verändert. An der Stelle des alten Hauses der Aussätzigen mit den hohen, finstern Mauern und verschlossenen Thoren, hinter denen die Elenden bei lebendigem Leibe begraben waren, steht jetzt ein ansehnliches, freundliches Gebäude mit zierlichem Gitter und Vorgarten, in dem die schönsten Rosen blühen und Reconvalescenten im Schatten der Bäume ruhen. – Dicht daneben, wo heut das Haus Nr. 2 steht, befand sich früher eine Klause mit einem Heiligenbilde, vor dem eine ewige Lampe brannte; darin wohnte der fromme Klausner, welcher von den milden Gaben der Vorübergehenden lebte und nur selten seine düstere Zelle verließ.

In der Nähe lag die „Ruppiner Herberge“, jetzt das Gasthaus zur „Stadt Ruppin“, eine Herberge für Fremde und Reisende, wo sie zwar eine Wohnung fanden, aber die Lebensmittel selbst mitbringen mußten. Nur Kaufleute, die zur Messe oder zum Jahrmarkt zogen, kehrten daselbst ein; die vornehmeren Stände wohnten meist im Privatquartier bei guten Freunden. Das Reisen war in jener Zeit nicht nur unbequem, sondern höchst gefährlich. Auf der Landstraße lauerten Diebe, Schnapphähne, Gesindel aller Art, aber auch edle Ritter, die sich kein Gewissen daraus machten, einen reichen Kaufmann auszuplündern, oder einen Gegner zu überfallen und nur gegen ansehnliches Lösegeld frei zu lassen. Die Herbergen auf dem Lande waren Mordlöcher und die Wirthe häufig mit den Strauchdieben einverstanden, wofür die Namen der übel berüchtigten Wirthshäuser „Paß auf!“, „Sieh dich für!“, „Trau nicht!“, „Mordkretscham“ u. s. w. sprechen. Man übernachtete auch in Mühlen, die gewöhnlich nicht in besserem Rufe standen, oder unter dem freien Himmel, wo dann ein Zelt aufgeschlagen und von mitgebrachten Teppichen und Decken ein Lager bereitet wurde. Selten reiste man allein, sondern in größerer Gesellschaft und bewaffnet, um im Falle der Noth den Räubern Widerstand leisten zu können.

Sicherer und besser als die Krüge und Wirthschaften auf dem Lande waren die Herbergen in der Stadt, welche freilich sich mit unseren heutigen Hotels nicht vergleichen lassen und kaum unseren niedrigsten Anforderungen genügt haben würden. In früherer Zeit herrschte noch die Sitte, daß vor den Thoren der Stadt eine Tafel mit dem Verzeichniß sämmtlicher Wirthshäuser aushing, von denen eines der besten die „Ruppiner Herberge“ gewesen zu sein scheint.

Wo jetzt das Haus Nummer 67 in der Spandauer Straße liegt, stand früher das alte „Kramhaus“, eine auf Kosten der Stadt erbaute Halle, wo die Kaufleute und besonders die damals so bedeutenden Tuchhändler und Gewandschneider ihre Waaren auslegten und Sicherheit, Schutz und Bequemlichkeit fanden. Derartige Gebäude, welche schon in den ältesten Zeiten vorkommen, hatten gewöhnlich Schwibbogengänge, wie sie noch jetzt am „Mühlendamme“ sichtbar sind. In diesen Arcaden oder sogenannten „Lauben“ wurden die Waaren auf Bänken ausgestellt und zum Verkaufe ausgeboten. „Kaufleute“ hießen im Mittelalter nur die Großhändler, während alle Detaillisten „Krämer“ genannt wurden. Der Markt wurde mit einer Glocke eingeläutet und zugleich öffentlich ein großes Kreuz in der Mitte des dazu bestimmten Platzes aufgerichtet, zum Zeichen des gebotenen Friedens. Jeder Streit wurde deshalb als Friedensbruch angesehen und auch streng bestraft. Auch die Zelte der größeren Kaufleute waren mit kleinen Kreuzen geschmückt, um Alle an Ruhe und Ordnung zu mahnen. Für die Aufstellung der Zelte so wie für die stehenden Buden nahm der Magistrat einen bestimmten Zins, außerdem bezog derselbe ansehnliche Steuern und Zölle von den fremden Kaufleuten und Krämern. Besonders drückend für den Verkehr war das „Niederlagsrecht“ der Stadt, wonach alle durchgehenden Kaufmannsgüter lagern und für die Einwohner feil geboten werden mußten. Ein [473] solcher Aufenthalt mußte natürlich den Verkehr hemmen und verursachte außerdem große Kosten und Umstände. Trotzdem blühte Handel und Wandel in Berlin; es fehlte nicht an reichen Kaufleuten und Handelsherren und an einem verhältnißmäßig bedeutenden Wohlstande während des Mittelalters, Der Reichthum wurde von einem entsprechenden Luxus begleitet, wogegen von Seiten des Magistrats und der Kurfürsten durch strenge Gesetze vergebens angekämpft wurde. Schon in einer Polizeiordnung aus dem Jahre 1335 heißt es: „Keiner solle bei einer Hochzeit mehr als vierundzwanzig Schüsseln aufsetzen“. Auch die Kleider waren über alle Maßen prächtig, Sammt und Seide, edles Pelzwerk und goldner Schmuck ganz gewöhnlich. Die Verschwendung war so groß, daß von den Kanzeln dagegen geeifert wurde. Zu den großen Pluderhosen gehörten oft mehr als 30–60 Ellen kostbarer Stoffe; sie erregten allgemeines Aergerniß, und der Hofprediger Musculus schrieb dagegen seine berühmte Abhandlung über den „Hosenteufel“. Kurfürst Joachim gab seinen Widerwillen gegen diesen Kleiderluxus in drastischer Weise kund. Als nämlich drei Bürgersöhne in Berlin, um sich in ihren prächtigen Hosen zu zeigen, durch die Straßen zogen und, um die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen, vor sich her zu diesem Zwecke gedungene Musikanten fiedeln ließen, so gebot der strenge Herr, sie zu ergreifen und in das vergitterte Narrenhäuslein zu sperren, wo sie, während die Fiedler ununterbrochen spielen mußten, einen Tag und eine Nacht gefangen gehalten und dem Höhne des Pöbels preisgegeben wurden. Einem von Adel aber, der ebenfalls in seinen Pluderhosen stolzirte, ließ Joachim „vor dem Dohme durch die Wärter“ die langen Schnitte von den Hosen sammt dem Durchzuge oben an den Bändern durchschneiden, so daß die Hosen zur Erde fielen und sein jämmerliches Aussehen allgemeines Gelächter erregte.

Max Ring.