Textdaten
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Autor: Dr. Franz Söhns
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Titel: Volksirrungen in der Sprache
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 336, 338
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Reihe Wandelungen in der Sprache
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Volksirrungen in der Sprache.[1]

Maulwurf und Heuschrecke. – Liebstöckel und Tausendgüldenkraut. – Sündfluth, Wetterleuchten. – Kegelschieben, Schur, Treff. – Schönbartspiel, Kümmelblättchen. – Flitterwochen. – Friedhof. – Zu guter Letzt.

Kaum hat der Frühling siegreich den Winter aus dem Felde geschlagen, kaum hat der fleißige Gärtner den Boden seines Gartens umgeackert und in musterhafter Weise durch Harke und Walze geebnet, so ist auch schon mit dem Frühling „das Verderben erwacht und lauert nicht länger verborgen; denn plötzlich bricht aus dem Hinterhalt der Feind“ – aller Ebenen der ohne Rücksicht auf äußere Schönheit des Bodens und auf die noch so zarten Pflänzlein seine Erdhügel aufwirft und nicht selten dadurch eine große Anzahl der Lieblinge des betriebsamen Gärtners und Landmannes, – der Maulwurf. Und treibt er sein Zerstörungswerk denn wirklich mit dem „Maule“, wie sein Name zu sagen scheint und wie vielleicht manch ein wackerer Landmann annehmen wird? Nicht genug, daß die Gelehrten dem widersprechen und uns beweisen, daß der kleine Bösewicht die Erde keineswegs mit dem Maule, sondern mit den Schaufeln seiner Vorderfüße aufwirft, müssen wir das ursprüngliche Vorhandensein des Wortes Maul in seinem Namen überhaupt in Abrede stellen. Das altdeutsche Wort moltworf, das über multwurf, mûlwurk zu unserm Maulwurf wurde, will nur ein Thier bezeichnen, welches die molte, d. h. die Erde, aufwirft, gleichviel mit welchen Werkzeugen es dabei arbeitet. So ist der Maulwurf nichts als der Erdaufwerfer.

Nicht weniger Unrecht als dem Maulwurf thut man gemeiniglich einem andern Garten- und Wiesenthierchen, der Heuschrecke, bei deren Namen man wohl an den Schrecken denkt, den das plötzlich aufspringende Geschöpf dem stillen Wanderer einjagt. Eine boshafte Zeit hat sie sogar der ihr ursprünglich innewohnenden Mannheit beraubt, während noch das so gefühlvolle Lied des Bruder Studio

„Was ein g’rechter Heuschreck is,
Sitzt im Sommer auf der Wies,
Auf der Wiese muß er singen,
Allweil hin und wieder springen, etc.“

dem Männlichen im Geschlechte des Thierleins gerecht wird. Ja noch mehr, das hochpoetische Lied führt uns sogar durch seine Hervorhebung der Thätigkeit des schreckhaften Springers auf das dem zweiten Theile des Wortes zu Grunde liegende Zeitwort schrekken = springen, hüpfen. Der hewiskrekkeo (hewi = Gras, Heu) ist also durchaus nichts weiter als ein ganz unschuldiger Grashüpfer, dem man sehr mit Unrecht etwaige Erschreckungsgelüste zumuthet.

Besonders viel sprachliche Irrungen des Volkes lassen sich in seinen Pflanzenbenennungen nachweisen; aus der reichen Zahl seien nur zwei hervorgehoben. Wie poetisch klingt nicht der Name Liebstöckel! Ein Blumenstöckchen der Liebe scheint es zu sein und ist doch im Grunde nichts anderes, als eine Wortentstellung der lateinischen Benennung der Pflanze ligusticum (das heißt in Ligurien heimisch) und seiner Nebenform levisticum. Schon im Mittelhochdeutschen heißt es lübestecke und öfter noch liebstuckel, woraus denn unser Liebstöckel entstanden ist. – Doch was ist dies Alles verglichen mit der Entstehung des deutschen Namens der Herba Centauria, des Tausendgüldenkrautes! Diese Benennung hat eine förmliche Geschichte ihrer Entstehung. Den lateinischen Namen trägt die Pflanze zu Ehren des Kentauren Chiron, des Kroniden, der, in allen Wissenschaften, besonders aber in der Arzneikunde wohl erfahren, in seiner am Pelion gelegenen Höhle viele Heldenjünglinge und Göttersöhne unterrichtet hat; so den Herakles, den göttlichen Asklepios, den Jason und endlich den „Renner“ Achilles. Eine Zeit, welche den heilkundigen Kentauren nicht mehr kannte, zerlegte sich die Benennung seiner Pflanze in centum (hundert) und aurum (Gold) und schuf sich so ein Hundertguldenkraut. Indeß war dies Wort eine mehr gelehrte als volksthümliche Schöpfung. Die Zahl Hundert ist nie so volksthümlich im Gebrauch gewesen, wie Tausend, welches namentlich dazu diente, hyperbolische Mengebezeichnungen in Zahlen auszudrücken. Noch heute ruft der Verliebte: Tausend Grüße send’ ich Dir; wie wenig volksthümlich würde es klingen? wenn er sagte „hundert Grüße“, und „ich grüße Dich viel tausendmal“ singt das schöne Mendelssohn’sche Lied. So ist auch in unserem Worte aus hundert tausend geworden, so aus der Pflanze des alten Kentauren irrthümlich und doch so schön unser liebliches, auch poetisch verklärtes Tausendgüldenkraut.

Noch die Puttkamer’sche Orthographie läßt dem Schreibenden die Wahl zwischen der Schreibung Sündfluth und Sintfluth, und [338] doch, wie gewaltig verschieden ist der Sinn der einen von dem der andern! Das ursprünglich allein Richtige ist die sinfluot oder sintfluot, in welcher sin, sint etwas Großes, Ausgedehntes und lange Anhaltendes (vergl. angelsächsisch sinlîf = ewiges Leben und unsere Pflanze Singrün = Immergrün) bedeutet; da nun diese große Fluth der allgemeinen Sündhaftigkeit der verderbten oder zu verderbenden Menschheit halber eintrat, so ward sie dem Volke und selbst den Gelehrten zur Sündfluth, wie sie z. B. in Luther’s Bibel erscheint. Und nicht nur die gedankliche Zusammenstellung der Worte, auch die äußere wörtliche hat diesen Uebergang sehr erleichtert; spricht doch schon Meister Heinrich Frauenlob (gestorben 1318) von menschlîcher sünden sintfluot. Man sieht, von hier aus bis zu der irrthümlichen und doch wieder treffenden Umbildung des Wortes zur Sündfluth konnte nur ein sehr kleiner Schritt sein.

Nicht minder schön hat das Volk sich aus der Erscheinung des „leuchtenden“ Blitzes bei einem fernen Gewitter oder einfach „Wetter“, wie es in Weber’s Freischütz „aufzieht“, die Bezeichnung Wetterleuchten gebildet, ein Wort, das in Schiller’s „Schlacht“ als Wetterleucht erscheint, und das doch in seiner ursprünglichen Gestalt weterleich mit leuchten ableitlich nichts gemein hat, sondern in Folge der Bedeutung seiner letzten Silbe leich lediglich als ein „Spiel“ und besonders als ein certamen, als ein Kampfspiel der Elemente aufzufassen ist. Das Wort leich ist in einzelnen Gegenden Deutschlands noch in der Bedeutung Spiel erhalten, wie denn der Thüringer eine bestimmte Art des Kegelspiels einen Kegelleich nennt. Und wie stolz ist er, wenn ihm nicht im Wortspiele mit „Treff“ (frz. trèfle, lat. trifolium, Kleeblatt), der hier meist Eicheln genannten Farbe der Karte, zugerufen zu werden braucht: „Treff ist Trumpf“; wie erhaben über alle Anderen fühlt er sich, wenn er es versteht möglichst viele Schuren (fälschlich oft jour gesprochen) zu schieben; wie wenig denkt er bei Gebrauch dieses Wortes schieben daran, daß man eigentlich nicht schieben, sondern „scheiben“ (schîben), das heißt die Kugeln rollend fortbewegen sagen müßte, wie der Baier auch richtiger noch spricht, und daß man erst den Sinn des Fortschiebens der Kugel oder Umschiebens der Kegel in das Zeitwort hinein legte, als das ursprüngliche scheiben anfing unverständlich zu werden.

Da wir einmal von den Naturerscheinungen zu den Spielen übergegangen sind, so mag uns zunächst noch das Nürnberger Schönbartspiel darthun, wie willkürlich das Volk oft mit den überlieferten, dem ursprünglichen Sinne nach aber allmählich nicht mehr verstandenen Worten verfährt. So nahe es nun auch liegt, bei Betrachtung des Namens an „schön“ zu denken, so sehr muß doch hervorgehoben werden, daß in der älteren Gestalt des Wortes schemebart der erste Bestandtheil scema, scheme eine oft sogar sehr „unschöne“ Larve oder Maske bezeichnet, daß der Name also für ein Spiel gebraucht sein will, dessen Theilnehmer in meist bärtigen Gesichtsmasken auftreten.

Und wem wäre nicht das namentlich in unserer Kaiserstadt beliebte Kümmelblättchen bekannt! Aber hast du wirklich, wenn du je diesem Spiele zugeschaut, die Spielenden so große Massen des edlen Kümmeltrankes vertilgen sehen, daß dir der Name des Spiels als von dieser Aeußerlichkeit hergenommen erscheint? Viel bezeichnender ist die richtige Ableitung, welche es als ein Spiel mit drei Karten hinstellt und dem Namen das Wort gimel zu Grunde legt, das sowohl den dritten Buchstaben des hebräischen Alphabets bedeutet, als auch für die Zahl drei in dieser Sprache gebräuchlich ist.

Woher leiten unsere verheiratheten Leserinnen die Bezeichnung der vielleicht schönsten Zeit der Ehe ab, den Namen der Flitterwochen? Gewiß wird der in den ersten Monden der Ehe so überaus willfährige Mann sein holdes Gemahl gerade in dieser Rosen- oder, wie der süßlichere Franzose meint, Honigzeit reich mit Flitter und Tand aller Art ausstatten, aber da sich selbstverständlich nur der bemittelte Gatte den Ankauf derartiger zum Theil sehr überflüssiger Gegenstände gestatten kann, so giebt es in der Ehe ärmerer Erdenbewohner überhaupt wohl keine Flitterwochen im eigentlichen Sinne? Wenn wir das Wort von Flitter, Tand ableiten, allerdings nicht; glücklicher Weise aber hat es damit nichts gemein, sondern stammt ab von dem altdeutschen Zeitworte flitarazjan, welches „schmeichelnd liebkosen“ (französisch flatter) bezeichnet, und vermöge dessen die Flitterwochen nun zu einer Zeit werden, welche so recht eigentlich die Zeit der Liebkosungen genannt werden kann, gleichviel ob das „gevlitter“ im Palaste des Reichen oder in der sogenannten „kleinsten Hütte“ die liebenden Herzen erfreut.

Vom Scherz zum Ernst! Vielleicht das schönste Beispiel irrthümlicher Umdeutung eines Wortes im Volksmunde, einer Umdeutung, welche dem Worte im Laufe der Zeit einen ungleich tieferen Sinn verliehen hat, als er in der ursprünglichen Gestalt und Bedeutung desselben lag, bietet unser Friedhof dar. Ursprünglich bezeichnete das Wort einen Hof, der in Folge der Ableitung seiner ersten Silbe vom altdeutschen vrîten (schonen) vom Anbau verschont bleiben sollte, der daher auch meist eingefriedigt wurde, in den nur die edelste aller Saaten eingesenkt werden sollte, wie Schiller’s Glocke ernst andeutet, einen „Freithof“, wie der Süddeutsche noch heute etymologisch richtig sagt. Aber im Laufe der Zeit hat ihn unser Volk in irrthümlicher Vertauschung des unverstandenen ersten Theiles des Wortes mit dem naheliegenden vride (Friede) zu einem Hofe umgewandelt, in welchem das Menschenherz endlich den langersehnten Frieden finden soll, den die rauhe Welt da draußen ihm nimmer geben kann.

Und nun „zu guter Letzt“ sei dieser Redensart selbst gedacht. Wenn schon ganz ungezwungen in ihr der Sinn des „Letzten“, des Endes einer Handlung zu liegen scheint, so hat sie doch mit diesem Letzten nichts zu thun, sondern stammt ab von letze, der Abschied, ein Wort, das seinerseits wieder dem letzten Geschenke oder Trunke sein Dasein verdankt, mit welchem der Scheidende sich noch einmal letzte; ist doch dem Schweizer die letzi noch heute der Abschiedsschmaus, und die Letzipredigt eine Abschiedspredigt. Unsern Volksliedern ist die Redensart „Jemandem etwas zur Letze lassen“ besonders als „beim Scheiden ein Andenken hinterlassen“ bekannt, und ihre letzte Anwendung in der Schriftsprache unserer Classiker dürfte sie in den Worten Wieland’s gefunden haben:

„Wie sie zu guter Letze
Den goldenen Becher mir bot.“

Dr. Söhns.