ersten Blick, als ob der HErr die Bescheidenheit allein hervorheben wollte, wenn wir aber genau zusehen, finden wir, daß er etwas Höheres im Auge hatte. Wenn er die Bescheidenheit allein im Auge gehabt hätte, dann bedurfte es nicht eines Lehrers von Gott gekommen. Denn es heißt ja in unserm Texte: „Er sagte ihnen aber ein Gleichnis, als er merkte, wie sie erwählten, obenan zu sitzen. Alles dieses, was der HErr von der Platzjägerei sagt, wird übertragen auf das geistliche Leben. Der HErr bedient sich nur dieses Gleichnisses, um Geheimnisse des Himmelreichs zu enthüllen. Die Tischrede ist eine Lebensregel, die er den Christen geben will zum Reiche Gottes. An uns Christen ergeht der Spruch des HErrn: „Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden, wer sich aber selbst erhöhet, der wird erniedrigt werden.“ Wenn wir diesen Spruch recht fassen und den Kern herausschälen, dann haben wir die innere, die geistliche Bedeutung, Der HErr will durch diesen Spruch uns nicht zur Bescheidenheit sondern zu Tieferem ermahnen, nämlich zur Demut. Wer sich erniedrigt, ist demütig, wer aber demütig ist, ist mehr als bescheiden. Bescheiden kann der natürliche Mensch auch sein. Die Demütigkeit aber ist eine Frucht des Geistes. Demut ist ein Stück des wiederhergestellten Menschen, ein Stück der Gnade von dem der sagen konnte: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.“
Also die Frucht des Geistes ist es, welche uns der HErr empfielt und ans Herz legt. Die christliche Demut ist das Umgekehrte von Rang und Größe. Der natürliche Mensch liebt nicht untergeordnet zu sein, er beugt sich nicht unter den HErrn, er will nichts anders, als herrschen, nicht gehorchen, sondern kommandieren. Und der, der viel zu kommandieren hat, der gilt in der Welt. Der, unter den sich viele bücken, wird geehrt. So soll es aber im Reiche Gottes nicht sein, sondern, wer groß sein will, der werde ein Diener.
Also sehen wir, daß der HErr zur Demut ermahnt. Was ist Demut? Sie ist nichts anders als der willige Sinn und die Lust, sich selber zu erniedrigen. Und nun werdet ihr auch wohl begreifen, daß die Demut etwas Köstlicheres und Tieferes ist als die Bescheidenheit. Die Bescheidenheit macht keine ungebührlichen Ansprüche. Sie sieht andere größer an als sich selbst, sie bückt und beugt sich vor jedermann, sie ist gerne klein und macht sich zu Knechten aller
Johannes Deinzer: Zwei Predigten vom sel. Missionsinspektor Johannes Deinzer. ohne Verlag, Bryan (Ohio) 1908, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Predigten_vom_sel._Missionsinspektor_Johannes_Deinzer.pdf/9&oldid=- (Version vom 30.6.2016)