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Gilbert: Aber die Kritik ist ohne Frage selbst eine Kunst. Und gerade so wie das künstlerische Schaffen die Tätigkeit der Kritik einschließt und in Wirklichkeit ohne sie überhaupt nicht existieren kann, so ist die Kritik in der Tat schöpferisch im höchsten Sinne des Wortes. Die Kritik ist tatsächlich sowohl schöpferisch wie unabhängig.

Ernst: Unabhängig?

Gilbert: Jawohl, unabhängig. Die Kritik kann ebenso wenig mit Hilfe des niederen Maßstabes der Nachahmung oder Ähnlichkeit beurteilt werden wie das Werk des Dichters oder Bildhauers. Der Kritiker hat das nämliche Verhältnis zu dem Kunstwerk, das er kritisiert, wie der Künstler zu der sichtbaren Welt der Form und Farbe oder der unsichtbaren Welt der Gefühle und Gedanken. Er braucht zur Vollkommenheit seiner Kunst nicht einmal das beste Material. Seinem Zweck kann alles dienen. Und gerade wie aus den schmutzigen und sentimentalen Liebschaften des dummen Weibes eines kleinen Landarztes in dem dreckigen Dorfe Yonville-l’Abbaye bei Rouen Gustave Flaubert ein klassisches Werk schaffen konnte, ein Meisterstück des Stils, so kann der wahre Kritiker aus Gegenständen von wenig oder keinem Wert, zum Beispiel aus den Bildern in der großen Kunstausstellung dieses oder irgend eines Jahres, oder aus Lewis Morris’ Gedichten, Ohnets Romanen oder den Stücken Henry Arthur Jones’, wenn es ihm Vergnügen macht, seine Gabe der Versenkung auf solches Ziel zu richten oder zu verschwenden, eine Arbeit hervorbringen, deren Schönheit rein erglänzt und die geistiger Feinheit voll ist. Warum nicht? Torheit übt immer auf den glänzenden Geist eine unwiderstehliche Anziehung aus, und die Dummheit ist allezeit die Bestia